Mit der Zukunft verknüpft – 20 Jahre Lucerne Academy

Nur schöne Konzerte hören? Nein. Am Lucerne Festival kümmert sich eine Akademie für die Interessen des musikalischen Nachwuchses: Instrumentalist:innen, Komponierende, Dirigent:innen. Sie alle bringt die Lucerne Festival Academy zusammen. Die Idee zu dieser Akademie hatten vor 20 Jahren Festivalintendant Michael Haefliger und der Komponist und Dirigent Pierre Boulez.

Benjamin Herzog
Samstagnachmittag. Hitze über dem Vierwaldstättersee. Das Lucerne Festival läuft seit einer guten Woche auf Hochtouren. Das gilt nicht nur für die dichte Abfolge von Sinfoniekonzerten, Debütrezitals, Gratisformaten für die Besucher:innen vor und neben Jean Nouvels emblematischem Kultur- und Kongresszentrum KKL. Intensive Zeiten erleben in den ersten drei Festivalwochen auch die Mitwirkenden der Lucerne Festival Academy. 110 an der Zahl, aus 30 verschiedenen Ländern: Instrumentalist:innen, Komponierende, Dirigent:innen. Ein Teil von ihnen präsentiert an diesem Samstagnachmittag in einem Konzert im Luzerner Saal des KKL die Früchte einer ersten Arbeitsphase. Pierre Boulez’ enorm schwieriges Rituel in memoriam Bruno Maderna für acht Instrumentalgruppen, Wolfgang Rihms In-Schrift und ein Stück von Lisa Streich namens Ishjärta, was auf deutsch „Eisenherz“ heisst und worin die Komponistin versucht, zwei unterschiedliche Gefühlszustände gleichzeitig zu Gehör zu bringen.

Probe Lucerne Festival Academy, Leitung Heinz Holliger © Lucerne Festival / Stefan Deuber.

Ausführende, Dozierende, Lernende. Das Zusammenwirken ist sinnvoll. So sagt der britische Komponist Eden Lonsdale, Teilnehmer am Composer’s Programme: „Mit einem Orchester zu arbeiten, zeigt einem erst, was man in seiner Partitur geschrieben hat.“ Auch die chinesiche Komponistin Yixuan Hu ist froh um das künstlerisch-pädagogische Dreieck Akademie-Orchester, Dirigent:in und Lehrkraft. „Diese Zusammenarbeit hier ist einzigartig“, sagt sie. „So kommt man sehr schnell sehr weit.“ In Seminaren diskutieren dieses Jahr zwölf Komponierende für Orchestermusik und kleinere Ensemblestücke mit dem Komponisten Dieter Ammann und der Komponistin Unsuk Chin, die heuer für den im Juli verstorbenen Wolfgang Rihm eingesprungen ist, über neue Stücke. Der Tonfall ist freundlich, aber direkt. Die Intention: Theorie und Praxis zusammenzubringen.


Mit seinem Orchesterwerk Sub-Kontur schockierte der junge Wolfgang Rihm 1976 an den Donaueschinger Musiktagen, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leitung Sylvain Cambreling, Konzert 3.9.2022, KKL Luzern, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Mit seinem eigenen Orchester, dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO), dem Composers-Programm, einem Programm für Dirigent:innen, die ihre Kenntnisse in neuer Musik vertiefen wollen, sowie mit Workshops, an denen die Akademist:innen mit eingeladenen Fachkräften von Ensembles wie dem Ensemble Intercontemporain, dem Frankfurter Ensemble Modern oder dem Klangforum Wien aufführungspraktische Fragen diskutieren können, ist die Lucerne Festival Academy breit aufgestellt. Ein Management-Workshop und zwei Preise, der Fritz Gerber-Award für Instrumentalist:innen und die Roche Young Comissions für Komponierende runden das Programm ab.

Drei Wochen Campus-Atmosphäre

Drei Wochen Campus-Atmosphäre, drei Wochen voller Begegnungen. Ehemalige Akademist:innen erzählen, dass ihnen das Netzwerk, das sie in Luzern gespannt haben, in ihrer künstlerischen Karriere bis dato hilft. Sei es für konkrete Fragen bei einer Notation, einem spiel- oder dirigiertechnischen Problem, sei es auch nur einfach freundschaftlich. Die Verbundenheit innerhalb der ehemaligen und heutigen Akademist:innen wird auch vom Lucerne Festival selbst aktiv gepflegt: 2016 gründete man ein Alumni-Programm, das ehemalige Teilnehmer:innen aktiv in die laufenden Akademien einbindet.

 


Reigen der diesjährigen Komponistin in Residence Lisa Streich interpretierte das LFCO als spontanes Vorprogramm zum Festival-Eröffnungskonzert im grossen Saal des KKL am 16.8.24, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leitung Johanna Malangré, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Der 2016 verstorbene Komponist und Dirigent Pierre Boulez, der vor 20 Jahren zusammen mit dem Intendanten des Lucerne Festivals, Michael Haefliger, die Akademie gegründet hatte, erklärte in einem Interview im Gründungsjahr, die Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts werde „in den Ausbildungsstätten vernachlässigt“, weshalb eine solche Akademie dringend Not täte. Sich drei Wochen lang auf dieses Repertoire konzentrieren zu können, sei übers Jahr sonst „kaum möglich“. Die skeptische Haltung der Hochschulen gegenüber der musikalischen Moderne hat sich seither sicher geändert. Doch wird konzentrierte Arbeit, Studierende können davon sein Lied singen, während des Semesters durch die vielen weiteren Verpflichtungen oft verunmöglicht.

Lucerne Festival Academy, Probe SK14, Leitung Sir George Benjamin © Lucerne Festival / Manuela Jans.

Wolfgang Rihm, dessen Rolle nach dem Tod Boulez’ an der Lucerne Festival Academy führend wurde, verstand die Akademie bei aller Spezifikation weniger als Sondertruppe für den Sound der Avantgarde, denn als notwendige und logische Ergänzung zum Lucerne Festival. Die Musiker:innen der Akademie sollten, so Rihm, „die Moderne aus ihren Wurzeln heraus verstehen. Diese Wurzeln reichen weit und gehen irgendwann einmal auch in das romantische Repertoire zurück.“ Also zu Brahms oder Schönberg, dem hierbei eine Schlüsselrolle zukommt. Symptomatisch, dass dieses Jahr Schönbergs monumentale Gurrelieder am Lucerne Festival aufgeführt werden. Ein Werk, dem sowohl die Apotheose der Romantik eingeschrieben ist wie auch der Aufbruch in die Moderne, das folglich die beiden Festival-Ideen „Konzert“ und „Akademie“ aufs Beste verbindet.


Arnold Schönberg begleitet das LFCO durch die Festivals. 2019 führte das Orchester seine fünf Orchesterstücke op 16 von 1909 auf, LFCO, Leitung Riccardo Chailly, Konzert 8.9.2019, KKL Luzern, Eigenproduktion SRG/SSR.

Am Konzert an jenem heissen Samstagnachmittag mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra wird klar, auf welch hohem Niveau hier moderne und zeitgenössische Musik gespielt wird. Das Orchester, obwohl die meisten sich vor einer Woche erstmals begegnet sind, hat die teils abenteuerlichen Schwierigkeiten mit erstaunlicher Präzision locker im Griff. Mit seiner vielgestaltigen und grossen Akademie stemmt das Festival Arbeit, die es eigentlich gar nicht stemmen müsste. Für den Nachwuchs verantwortlich könnten ja die Schulen und Musikhochschulen sein. Und doch ist die Verknüpfung mit der nächsten Generation für ein Klassikfestival natürlich auch eine solche mit der eigenen Zukunft. 
Benjamin Herzog

Pierre Boulez, Eden Lonsdale, Yixuan Hu, Ensemble Intercontemporain, Ensemble Modern, Klangforum Wien, Fritz Gerber-Award, Roche Young Comissions, Unsuk Chin

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 4.9.2024, SRF 2 Kultur, 20 Jahre Lucerne Festival Academy, Autor Benjamin Herzog.
Musikmagazin, 24.8.2024, SRF 2 Kultur, Komponieren an einem Epochenübergang – Lisa Streich, Autor Benjamin Herzog

Neo-profiles:
Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO), Lisa StreichDieter Ammann

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