LUFF: Musikpreis für Noise aus Lausanne

LUFF,  Lausanne Underground Film & Music Festival, programmiert seit 2002 in Lausanne experimentelle Musik zu einem ausgesuchten Filmprogramm. Dieses Jahr erhielt das Festival einen der Spezial-Musikpreise des Bundesamts für Kultur (BAK). Ein paar Wochen vor Start der diesjährigen Ausgabe traf ich drei Mitglieder der Leitungsequippe im neuen Lausanner Kulturzentrum Pyxis, dem Arbeitsort des LUFF, direkt neben der Kathedrale in der Lausanner Altstadt. Ein Gespräch mit Thibault Walter und Dimitri Meier, künstlerische Leiter des Musikprogramms, und Marie Klay, Geschäftsführerin.

Marie Klay, Dimitri Meier and Thibault Walter / LUFF Swiss Music Prices 2024 © Gabrielle Weber

 

Gabrielle Weber
Marie Klay, Thibault Walter und Dimitri Meier kommen zu dritt zu unserem Treffen und sie spinnen ihre Gedanken im Gespräch gegenseitig laufend weiter. Das hat seinen Grund: «Das LUFF funktioniert als Kollektiv», sagt mir Marie Klay gleich zum Einstieg. «Die Equipe besteht aus zirka 50 Mitwirkenden und trifft sich übers ganze Jahr regelmässig ein Mal wöchentlich». Es werde gemeinsam entschieden und jeder und jede habe eine Stimme.  Klay ist seit einer Umstrukturierung 2014 als Geschäftsführerin im Team dabei: «Alle Bereiche sind gleich wichtig. Die Programmation zum Beispiel ist kein Elfenbeinturm». Kern des Programms bildeten gemeinsame Hörsitzungen, ergänzt Thibault Walter. Dort hörten und diskutierten sie zusammen Stücke, bevor entschieden werde, wer eingeladen werde. Dabei könnten sich alle einbringen. Thibault Walter ist seit dem Start, 2002, dabei. Dimitri Meier stiess 2015 dazu und baute kontinuierlich die Equipe Musikprogrammation auf.

Der Preis

Das LUFF entwickelte sich sukzessive von einem kleinen Insider-event in Vevey zum grossen Festival in Lausanne. Dennoch verortet es sich weiterhin im Underground. «Als wir den Anruf vom BAK erhielten, dachten wir zuerst, es sei ein Scherz, oder ein Phishing-Telefon: wir erwarteten nie einen Musikpreis zu erhalten», so Dimitri Meier. «Dass wir diesen Preis für die Musik erhalten, stellt uns profund in Frage. Aber es bedeutet gleichzeitig eine Anerkennung unserer existenziellen Arbeit und unserer Programmwahl, in all den Jahren“, meint Thibault Walter dazu.    

     

LUFF / Dimitri Meier and Thibault Walter @ Award Ceremony Swiss Music Prices 2024 © Sébastien Agnetti

        

Noise!

Sein Musikprogramm labelt das LUFF gerne mit «Noise». Unter dem Musikgenre, das seinen Ursprung im London der Siebziger Jahre hat, wird gängig verstanden: Geräusch, Rauschen, volle Lautstärke, ohne Melodie und Rhythmus. Was für die einen nur ‘Lärm’ ist, ist für die andere Musik – White noise, weisses Rauschen, findet sich mittlerweile auch im Mainstream. Das LUFF sieht Noise aber anders. «Noise ist für uns alles, was sich gegen gängige Musik-Praktiken richtet. Wir sprachen gewisse Jahre auch schon von ‘Nicht-Musik’ oder ‘Antimusik’», meint Dimitri Meier.

Für Thibault Walter ist Noise ein relativer Begriff: «Noise hat meist eine negative Bedeutung, das LUFF verwendet ihn aber immer positiv. Wir fragen uns weshalb gewisse Klänge unerwünscht und ausgeschlossen sind. Und genau für diese interessieren wir uns.»

Beim LUFF kann Noise auch humorvoll und melodiös oder leise und subtil sein. Regelmässig präsent sind Künstler:innen aus Japan, wo Noise seit den achtziger Jahren Fuss fasste und nebst England eine der grössten Noise-Communities existiert.


Jon the dog live @LUFF 2023

 

Die japanische Performerin Jon the Dog zum Beispiel trat bereits 2023 am LUFF auf und ist auch dieses Jahr wieder zu Gast in Lausanne: sie singt Lieder mit einer Art von Kinderstimme, die sie selbst auf dem Harmonium begleitet: melodiös, harmonisch, rhythmisch, und voller Humor: sie erinnern an japanische Animationsfilme. Ihr Name kommt daher, dass sie im Hundekostüm auftritt, in Japan manchmal auch überraschend in ‘harten’ Noise-Konzerten. Für Thibaut Walter ist sie eine fast mythische Figur. Er vermutet, dass sie mit dieser «positiven Unreifheit» der Szene einen Spiegel vorhalten wolle und meint, es sei eine Umkehrung, die viel über die Szene aussage.

«Noise heisst für uns nicht: immer mit voller Lautstärke, aggressiv und auch ausschliessend.. ein Klang kann auch ganz fein und nuancenreich geformt werden», so Thibault Walter weiter.


Lise Barkas live @ LUFF 2023

Ein weiteres Beispiel für das Noise-Verständnis des LUFF verkörpert Lise Barkas aus Strasbourg: sie tritt solo an der Drehleier auf. Barkas wurde früh vom LUFF nach Lausanne geholt und ist mittlerweile international gefragte Noise-Künstlerin. Ihre Musik changiert zwischen Klängen, die wie Alte Musik anmuten und kratziger, aber höchst differenzierter, Geräuschhaftigkeit. Für Dimitri Meier sind ihre Konzerte auch als Kritik an der Überverstärkung in der klassischen Noise-Szene zu lesen: diese sei komplett idiotisch.

Ein besetztes Haus in Vevey

Ursprung des LUFF bildete ein besetztes Haus in Vevey, wo ein kleiner Kleis Cinéphiler Filme vom New York Underground Film Festival zeigte, sagt Thibault Walter. Der Initiant habe die Schweiz verlassen und sie mit der Cinémathèque Suisse in Lausanne zusammengebracht. Im  Casino de Montbenon, dem Gebäude der Cinémathèque suisse in Lausanne, seien sie im Keller auf einen riesigen ungenutzten Raum gestossen, der sich ideal für Konzerte geeignet habe. Gemeinsam wurde eine Art amerikanischen New Wave-Kinos entwickelt: ausgesuchte Filme, eingerahmt von Konzerten Und so sei aus einem Filmfestival ein Film- UND Musikfestival entstanden. „Das ist ein weiteres Paradox. Einen Musikpreis zu erhalten für ein Musikfestival in einem Filmfestival“.

 

Lausanner Szene reich an experimentellen Formaten

Die Lausanner Szene sei schon davor reich an experimentellen Formaten gewesen. „Das Festival ermöglicht, Dinge sichtbar zu machen, die bereits vorhanden waren: in Wohnungen, Kellern oder Restaurants. Dass sich dann viele zusammentaten, war ein starker, fast magischer Moment. Wir realisierten, dass wir nicht allein sind, wenn wir etwas in unserer Ecke tun, und das ermutigte uns weiterzumachen“, meint Thibault Walter zum Festivalstart.

Bis heute finden alle Veranstaltungen im Casino de Montbenon, dem Sitz der Cinémathèque Suisse, statt. Durch die Konzentration an einem Ort will das Team auch die verschiedenen Publika in Kontakt bringen. Auch die Mitwirkenden im Kollektiv kommen aus unterschiedlichen Ecken, Marie Klay zum Beispiel aus der Filmszene. Die Equipe sei offen und achtsam, es herrsche ein freundschaftlicher, fast familiärer Umgang: sie alle glaubten an das Gute in der Welt und  kämpften dafür, meint Klay. «Wenn man sich zusammentut, kann man etwas Positives bewirken», und Thibault Walter ergänzt: «das LUFF ist ein Ort, der Hoffnung gibt», und  Dimitri Meier: «immer wenn eine Ausgabe vorbei ist freuen wir uns auf die nächste!».
Gabrielle Weber

 

Links tags
Das LUFF findet vom 16. Bis zum 20. Oktober zum 23igsten Mal statt.

New York Underground Film Festival, Pyxis – maison de la culture et de l’exploration numériqueCinémathèque suisse Lausanne.

Sendungen SRF Kultur
Musik unserer Zeit, SRF Kultur, 25.09.2024: LUFF – Lausanne Underground Film and Music Festival taucht auf, Redaktion Gabrielle Weber.
Musikmagazin, SRF Kultur, 5.10.24: Noise aus Lausanne: Das LUFF erhält Schweizer Musikspezialpreis, talk (min 10:30): Marie Klay, Dimitri Meier und Thibault Walter im Gespräch mit Gabrielle Weber.

 

Neo-profile
Lausanne Underground Film&Music Festival (LUFF), Swiss Music Prizes

 

Sol Gabetta erhält den Grand Prix Suisse de musique 2024

Sol Gabetta, Cellistin, Weltbürgerin und Wahlschweizerin, bekam den Grand Prix suisse de musique 2024 verliehen.

Florian Hauser
Was braucht es für eine Weltkarriere in der klassischen Musik? Talent, Glück, eine starke Persönlichkeit und nicht zuletzt die Bereitschaft, sich auf Teamwork einzulassen, also auf die Zusammenarbeit mit Künstleragentur, Presseagentur und Plattenlabel. Sol Gabetta hat all das.

 

Sol Gabetta © Julia Wesely

 

Damals, vor dreissig Jahren, als ihre Karriere begann, hätte sie sich das nicht im Traum vorstellen können. “Ich war eine romantische Musikerin, eine junge Frau mit viel Hoffnung, alles an Kunst und Musik kennenzulernen – es war alles offen für mich.” Nach dem Glück einer behüteten Kindheit in Argentinien, in der Sol Gabetta nach Kräften gefördert wird, sich nach Herzenslust entfalten und in geschütztem Raum zu einer starken, selbstbewussten Person werden kann, startet sie durch. 1998 gewinnt sie beim renommierten ARD Musikwettbewerb den 3. Preis, da ist sie 17 Jahre alt. 2004 zündet so etwas wie der Turbo: der Credit Suisse Young Artist Award beschert ihr ein Maximum an Aufmerksamkeit. Sie gründet ihr eigenes Festival, räumt einen Preis nach dem anderen ab und bald stehen die grossen Orchester an: die Wiener Philharmoniker, das London Philharmonic Orchestra und viele andere. Festspiele laden sie ein, ab 2010 kommt noch das Magazin KlickKlack im Bayerischen Fernsehen dazu und spätestens seit diesem Zeitpunkt ist Sol Gabetta medial omnipräsent.

 

Teamwork ist alles

Eins kommt zum anderen. Es bietet sich ein CD-Label an, eine Assistentin, eine Agentur, Sol Gabetta beginnt, ein Team um sich herum aufzubauen und hat dabei ein gutes Händchen: “Man entwickelt feine und sensible Antennen, um zu spüren, was man wirklich ist, was man wirklich will.” Sie lässt sich in Basel von dem Cellisten Ivan Monighetti ausbilden, der heute noch ein Coach für sie ist, wenn sie ihn braucht. Sie trifft Christoph Müller, der vom Cellisten mehr und mehr zum Musikmanager mutierte, zeitweise ihr Lebensgefährte war und  heute ihr Schweizer Management inklusive ihr Solsberg Festival betreut. Sie trifft ihren heutigen Partner, den Geigenbauer und Restaurator Balthazar Soulier, der sich um all die kleineren und grösseren Wehwehchen ihres fast 300 Jahre alten Goffriller-Cellos oder des Stradivari-Cellos von 1717 kümmern kann.

Sie lernt Dirigenten wie Giovanni Antonini, Simon Rattle, Christian Thielemann kennen und kann sie von sich überzeugen. Und ist heute nach Jacqueline du Pré erst der zweite Superstar, der eine Cello-Männerdomäne erobert hat. Denn es ist ja schon frappant: Da behaupten sich in der oberen Liga zwar Frauen wie Alisa Weilerstein in den USA oder dann die ganz junge Julia Hagen hierzulande – das aber war’s dann auch schon. Denn jetzt kommen viele Männer: Gautier Capucon, Jean-Guihen Qeyras, Nicolas Altstaedt, Truls Mörk, Daniel Müller-Schott, Bruno Philippe, Johannes Moser, YoYo Ma…. Warum ist das so? Sol Gabetta hat eine Erklärung: “Das ist eine ganz einfache Frage: die Familiensituation. Ein Reise-Leben mit Kindern ist machbar, aber schwierig. Man braucht einen unglaublichen Partner, man braucht eine unglaubliche Organisation und eine unterstützende Familie.”

Nicht zuletzt dank ihres grossen Netzwerks im Hintergrund ist Sol Gabetta auch in der Zusammenstellung der Tourneen so frei und kompromisslos wie in der Wahl des Repertoires: das erstreckt sich über aller Epochen bis hin zu allerneuesten Werken wie etwa dem Concerto en Sol, das Grossmeister Wolfgang Rihm vor vier Jahren für sie geschrieben hat.

 


Wolfgang Rihm, Concerto en Sol, Cellokonzert für Sol Gabetta (2018-19), Kammerorchester Basel, Leitung Sylvain Cambreling, Konzertaufnahme und UA: Victoria Hall Genève 2020.

 

Der Vulkan

“Ich bin fast wie ein Vulkan, aber ein ruhiger. Es gibt tatsächlich diese Klarheit bei mir, was ich suche und welchen Weg ich gehen will. Dabei gibt es natürlich auch Unsicherheiten, logisch. Und deswegen versuche ich einfach, wichtige Menschen zu um mich herum zu haben.” Wichtig dabei auch: Disziplin und Routine. “Nach dem Aufwachen mache ich tatsächlich gleich das Wichtigste: Üben. Der Lernprozess im Gehirns braucht eine Frische, die wenigen Stunden, die mir am Morgen bleiben, sind Gold wert.”

Sol Gabetta ist ein glückliches Beispiel, wie eine Solistin durch den Markt schwebt. Die es versteht, mit dem richtigen Riecher, positiver Ausstrahlung und einem einnehmenden Wesen auf und jenseits der Bühne zu agieren und dabei den nötigen Schwung und Enthusiasmus zu haben, um das Publikum zu begeistern.
Florian Hauser

 

ARD Musikwettbewerb, Credit Suisse Young Artist Award, Wiener Philharmoniker, London Philharmonic Orchestra , KlickKlack, Ivan MonighettiSolsberg Festival, Gautier Capucon, Jean-Guihen Qeyras, Nicolas Altstaedt, Truls Mörk, Daniel Müller-Schott, Bruno Philippe, Johannes Moser, YoYo Ma, Giovanni Antonini, Simon Rattle, Christian Thielemann, Jacqueline du Pré, Alisa Weilerstein, Julia Hagen, Wolfgang Rihm

 

Sendungen SRF Kultur
Passage, SRF Kultur, 13.9.2024: Teamwork ist alles. Cellistin Sol Gabetta und das Musikbusiness, Redaktion Florian Hauser.
Musikmagazin, Grand Prix suisse de musique für Sol Gabetta, SRF Kultur, 25.5.24 (ab Min 06:00): Talk: Sol Gabetta im Gespräch mit Florian Hauser.
neoblog, 10.1.2020: Melancholische Eleganz – Wolfgang Rihm schreibt für Sol Gabetta, Autorin Gabrielle Weber.

 

neo-profile
Sol Gabetta, Wolfgang Rihm

Marianthi Papalexandri-Alexandri und die Unabhängigkeit der Objekte

Die Arbeiten von Marianthi Papalexandri-Alexandri faszinieren das Ohr wie das Auge gleichermassen. Ihr Werk besteht aus einer Vielzahl von Objekten, Klanginstallationen und Performances und überrascht durch Einfachheit und Eleganz seiner Funktionsweise. Alexandre Babel unterhielt sich bei einem Treffen mit der Künstlerin über die intime Beziehung der Objekte zum Klang in ihren Arbeiten.

 

Portrait Marianthi Papalexandri-Alexandri made available by Marianthi Papalexandri-Alexandri

 

Alexandre Babel
Sobald man den Ausstellungsraum betritt, füllt eine Klangkomposition, bestehend aus einer Vielzahl kurzer Impulse, den Saal. Die Klänge liegen so dicht beieinander, dass sie wie eine einzige, sich ständig bewegende Struktur erscheinen. Beim Annähern ans Objekt Modular n.3 das gleichzeitig die Klangquelle ist, lassen sich allmählich einzelne Impulse voneinander unterscheiden und je näher man ihm kommt, desto mehr enthüllt dieses Installations-Objekt seine Identität und seinen Klang. Durch eine ständige Drehbewegung und Reibung von Rohren mit einem Nylonfaden werden Klangimpulse erzeugt, die von zahlreichen kleinen aufgehängten Lautsprechern verstärkt werden.

 

 

Marianthi Papalexandri-Alexandri, modular n.3, en collaboration avec Pe Lang, 2019.

 

Modular n.3, das dritte Werk einer gleichnamigen Serie, entstand in enger Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Pe Lang und ist praktisch von seiner physischen Erscheinung untrennbar. Während die Vielzahl von Lautsprechern ein eigenständiges Klanguniversum erzeugen, eröffnet das Verstehen des Produktionsmechanismus eine konkrete wie auch eine poetische Dimension. „Ich mag es, die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Art und Weise wie ein Instrument gebaut ist zu lenken. Meine Werke beinhalten oft auch eine etwas didaktische Demonstration: es geht darum zu verstehen, wie sie funktionieren“, erklärt Papalexandri-Alexandri.

Das Prinzip von Modular n.3 findet sich auch in anderen Werken der Künstlerin wie Untitled n.V oder Speaking of Membranes. Sie thematisieren die mit der Funktion von Objekten verbunden Erwartungen in poetischer Weise. Ein Lautsprecher wird normalerweise zur Verbreitung von Schall durch Verstärkung von elektrischem Strom eingesetzt. Hier sind die Lautsprecher jedoch nicht angeschlossen: der Klang ist also ganz akustisch.

„Man erkennt zwar, dass es sich um einen Lautsprecher handelt, aber ich möchte ihm einen privilegierten Raum geben, ich möchte seine eigene Stimme hören.“ Papalexandri-Alexandri macht das Publikum auf das Wesen des Objekts aufmerksam, indem es durch das Bewegungsgerät in Schwingung versetzt wird. Wie sieht das Objekt dann aus, wenn die Installation nicht eingeschaltet? Die Künstlerin fährt fort: „Manchmal frage ich mich was passiert, wenn ein Klang- oder Musikobjekt keinen Ton erzeugt. Ist es ein totes Objekt? Ich denke, dass jedes musikalische Objekt funktional ist. Indem ich es in Bewegung setze, erforsche ich eine bestimmte Art von Funktionalität, und meist existieren verschiedene Funktionalitäten, die ich am selben Objekt erforschen kann.“

Solo for generators, motors and wind resonators komponierte Papalexandri Alexandri für die Blockflötistin Susanne Fröhlich, mit der sie schon lange zusammenarbeitet. Auch hier umgeht die Beziehung zum Instrument die konventionelle Erwartung. Eine in ihren Einzelteilen zerlegte Blockflöte wird flach auf einem Tisch liegend präsentiert. Auf demselben Tisch befindet sich ein motorisiertes Gerät, welches Drähte in Rotation versetzt. Diese sind mit über die offenen Teile der Flöte gespannten Membranen verbunden. Das akustische Resultat erinnert an lange Klangwellen. „Da wir das Instrument zerlegt haben, sind nur Fragmente davon zu sehen“, erklärt die Komponistin. Ein musikalisches Objekts, das man normalerweise mit einer bestimmten Nutzung verbindet, in diesem Fall der Tonerzeugung durch Blasen in das Mundstück, wird ganz anders verwendet. Die Klangmanifestation wird vom Instrument selbst erzeugt. „Wenn man dieses Instrument auf einer Bühne oder in einer installativen Situation platziert, wird es zu einem Resonanzobjekt. Man sieht es als Körper und nicht mehr als ein Musikinstrument, das man wiedererkennt. Durch diese Art von Verfahren habe ich das Gefühl, dem Publikum einen neuen Zugang zum Instrument zu bieten, ihm eine Art Hommage zu verschaffen“, so Papalexandri-Alexandri.

 

Marianthi Papalexandri-Alexandri, salon de musique du 31, Susanne Fröhlich, Festival Archipel Genève, march 2019.

Marianthi Papalexandri-Alexandris Welt lenkt die Aufmerksamkeit  auf die Präzision der Herstellung. Man könnte meinen, dass die Komponistin durch die makellose Inszenierung der Objekte eine gewisse Kontrolle über den Ablauf der Ereignisse sucht. Die Werke erscheinen aber während den Performances nicht starr. Im Gegenteil, sie lassen eine Dimension der Zerbrechlichkeit erkennen, die von möglichen Unvollkommenheiten, die sich im Lauf von Performances einstellen, ausgeht. Zu Solo for generators, motors and wind resonators meint Papalexandri-Alexandri, dass die Kontrolle nie absolut sei. „Wenn ich selbst mit diesem Gerät spiele, kann ich es spüren und wunderschöne Klänge erzeugen, und das Gleiche gilt für Susanne (Fröhlich). Ich habe aber auch schon Situationen erlebt, in denen das Gerät während der Performance nicht funktioniert hat. Das liegt an einer Spannung zwischen dem Performer und der Maschine, die notwendig ist, damit das Stück Gestalt annimmt.“

Die Dualität zwischen Kontrolle und Zerbrechlichkeit trägt zur Poesie der Werke von Papalexandri-Alexandri bei: „Letztendlich geht es nicht wirklich um Kontrolle. Meine Haltung ist eher, die Ereignisse so zu akzeptieren, wie sie sich entwickeln.“ Auf die Frage, wie sie diese Ereignisse gerne weiterentwickeln würde, antwortet sie: „Was kann ich selbst dazu beitragen? Ich möchte mich einfach mit den vorhandenen Objekten auseinandersetzen, sie haben bereits unheimlich viel zu erzählen“.
Alexandre Babel

Susanne Fröhlich

neo-profiles :
Marianthi Papalexandri-AlexandriPe LangFestival Archipel

Mit der Zukunft verknüpft – 20 Jahre Lucerne Academy

Nur schöne Konzerte hören? Nein. Am Lucerne Festival kümmert sich eine Akademie für die Interessen des musikalischen Nachwuchses: Instrumentalist:innen, Komponierende, Dirigent:innen. Sie alle bringt die Lucerne Festival Academy zusammen. Die Idee zu dieser Akademie hatten vor 20 Jahren Festivalintendant Michael Haefliger und der Komponist und Dirigent Pierre Boulez.

Benjamin Herzog
Samstagnachmittag. Hitze über dem Vierwaldstättersee. Das Lucerne Festival läuft seit einer guten Woche auf Hochtouren. Das gilt nicht nur für die dichte Abfolge von Sinfoniekonzerten, Debütrezitals, Gratisformaten für die Besucher:innen vor und neben Jean Nouvels emblematischem Kultur- und Kongresszentrum KKL. Intensive Zeiten erleben in den ersten drei Festivalwochen auch die Mitwirkenden der Lucerne Festival Academy. 110 an der Zahl, aus 30 verschiedenen Ländern: Instrumentalist:innen, Komponierende, Dirigent:innen. Ein Teil von ihnen präsentiert an diesem Samstagnachmittag in einem Konzert im Luzerner Saal des KKL die Früchte einer ersten Arbeitsphase. Pierre Boulez’ enorm schwieriges Rituel in memoriam Bruno Maderna für acht Instrumentalgruppen, Wolfgang Rihms In-Schrift und ein Stück von Lisa Streich namens Ishjärta, was auf deutsch „Eisenherz“ heisst und worin die Komponistin versucht, zwei unterschiedliche Gefühlszustände gleichzeitig zu Gehör zu bringen.

Probe Lucerne Festival Academy, Leitung Heinz Holliger © Lucerne Festival / Stefan Deuber.

Ausführende, Dozierende, Lernende. Das Zusammenwirken ist sinnvoll. So sagt der britische Komponist Eden Lonsdale, Teilnehmer am Composer’s Programme: „Mit einem Orchester zu arbeiten, zeigt einem erst, was man in seiner Partitur geschrieben hat.“ Auch die chinesiche Komponistin Yixuan Hu ist froh um das künstlerisch-pädagogische Dreieck Akademie-Orchester, Dirigent:in und Lehrkraft. „Diese Zusammenarbeit hier ist einzigartig“, sagt sie. „So kommt man sehr schnell sehr weit.“ In Seminaren diskutieren dieses Jahr zwölf Komponierende für Orchestermusik und kleinere Ensemblestücke mit dem Komponisten Dieter Ammann und der Komponistin Unsuk Chin, die heuer für den im Juli verstorbenen Wolfgang Rihm eingesprungen ist, über neue Stücke. Der Tonfall ist freundlich, aber direkt. Die Intention: Theorie und Praxis zusammenzubringen.


Mit seinem Orchesterwerk Sub-Kontur schockierte der junge Wolfgang Rihm 1976 an den Donaueschinger Musiktagen, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leitung Sylvain Cambreling, Konzert 3.9.2022, KKL Luzern, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Mit seinem eigenen Orchester, dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO), dem Composers-Programm, einem Programm für Dirigent:innen, die ihre Kenntnisse in neuer Musik vertiefen wollen, sowie mit Workshops, an denen die Akademist:innen mit eingeladenen Fachkräften von Ensembles wie dem Ensemble Intercontemporain, dem Frankfurter Ensemble Modern oder dem Klangforum Wien aufführungspraktische Fragen diskutieren können, ist die Lucerne Festival Academy breit aufgestellt. Ein Management-Workshop und zwei Preise, der Fritz Gerber-Award für Instrumentalist:innen und die Roche Young Comissions für Komponierende runden das Programm ab.

Drei Wochen Campus-Atmosphäre

Drei Wochen Campus-Atmosphäre, drei Wochen voller Begegnungen. Ehemalige Akademist:innen erzählen, dass ihnen das Netzwerk, das sie in Luzern gespannt haben, in ihrer künstlerischen Karriere bis dato hilft. Sei es für konkrete Fragen bei einer Notation, einem spiel- oder dirigiertechnischen Problem, sei es auch nur einfach freundschaftlich. Die Verbundenheit innerhalb der ehemaligen und heutigen Akademist:innen wird auch vom Lucerne Festival selbst aktiv gepflegt: 2016 gründete man ein Alumni-Programm, das ehemalige Teilnehmer:innen aktiv in die laufenden Akademien einbindet.

 


Reigen der diesjährigen Komponistin in Residence Lisa Streich interpretierte das LFCO als spontanes Vorprogramm zum Festival-Eröffnungskonzert im grossen Saal des KKL am 16.8.24, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leitung Johanna Malangré, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Der 2016 verstorbene Komponist und Dirigent Pierre Boulez, der vor 20 Jahren zusammen mit dem Intendanten des Lucerne Festivals, Michael Haefliger, die Akademie gegründet hatte, erklärte in einem Interview im Gründungsjahr, die Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts werde „in den Ausbildungsstätten vernachlässigt“, weshalb eine solche Akademie dringend Not täte. Sich drei Wochen lang auf dieses Repertoire konzentrieren zu können, sei übers Jahr sonst „kaum möglich“. Die skeptische Haltung der Hochschulen gegenüber der musikalischen Moderne hat sich seither sicher geändert. Doch wird konzentrierte Arbeit, Studierende können davon sein Lied singen, während des Semesters durch die vielen weiteren Verpflichtungen oft verunmöglicht.

Lucerne Festival Academy, Probe SK14, Leitung Sir George Benjamin © Lucerne Festival / Manuela Jans.

Wolfgang Rihm, dessen Rolle nach dem Tod Boulez’ an der Lucerne Festival Academy führend wurde, verstand die Akademie bei aller Spezifikation weniger als Sondertruppe für den Sound der Avantgarde, denn als notwendige und logische Ergänzung zum Lucerne Festival. Die Musiker:innen der Akademie sollten, so Rihm, „die Moderne aus ihren Wurzeln heraus verstehen. Diese Wurzeln reichen weit und gehen irgendwann einmal auch in das romantische Repertoire zurück.“ Also zu Brahms oder Schönberg, dem hierbei eine Schlüsselrolle zukommt. Symptomatisch, dass dieses Jahr Schönbergs monumentale Gurrelieder am Lucerne Festival aufgeführt werden. Ein Werk, dem sowohl die Apotheose der Romantik eingeschrieben ist wie auch der Aufbruch in die Moderne, das folglich die beiden Festival-Ideen „Konzert“ und „Akademie“ aufs Beste verbindet.


Arnold Schönberg begleitet das LFCO durch die Festivals. 2019 führte das Orchester seine fünf Orchesterstücke op 16 von 1909 auf, LFCO, Leitung Riccardo Chailly, Konzert 8.9.2019, KKL Luzern, Eigenproduktion SRG/SSR.

Am Konzert an jenem heissen Samstagnachmittag mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra wird klar, auf welch hohem Niveau hier moderne und zeitgenössische Musik gespielt wird. Das Orchester, obwohl die meisten sich vor einer Woche erstmals begegnet sind, hat die teils abenteuerlichen Schwierigkeiten mit erstaunlicher Präzision locker im Griff. Mit seiner vielgestaltigen und grossen Akademie stemmt das Festival Arbeit, die es eigentlich gar nicht stemmen müsste. Für den Nachwuchs verantwortlich könnten ja die Schulen und Musikhochschulen sein. Und doch ist die Verknüpfung mit der nächsten Generation für ein Klassikfestival natürlich auch eine solche mit der eigenen Zukunft. 
Benjamin Herzog

Pierre Boulez, Eden Lonsdale, Yixuan Hu, Ensemble Intercontemporain, Ensemble Modern, Klangforum Wien, Fritz Gerber-Award, Roche Young Comissions, Unsuk Chin

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 4.9.2024, SRF 2 Kultur, 20 Jahre Lucerne Festival Academy, Autor Benjamin Herzog.
Musikmagazin, 24.8.2024, SRF 2 Kultur, Komponieren an einem Epochenübergang – Lisa Streich, Autor Benjamin Herzog

Neo-profiles:
Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO), Lisa StreichDieter Ammann

Metaebenen und zerstörte Faszination im Musiktheater Léo Collins

Er mischt Klang, Performance, Video und Theater mit Kochen, Sport, Krimi oder Umwelt-Aktivismus. Der junge, in Frankreich geborene und in Zürich lebende Komponist Léo Collin produziert aufrüttelnde Musiktheater-happenings. Ich besuchte ihn in seinem Atelier in der roten Fabrik in Zürich.

Léo Collin working on Corals © Lea Huser

Gabrielle Weber
Den grössten Teil seines kleinen Ateliers nimmt ein einfacher Holztisch ein. Er ist mit einem Schaltpult, Mikrofonen, Kopfhörern und Kabeln bedeckt. Eine E-Gitarre lehnt am Tisch, an den Wänden hängen grosse bunte Skizzen. Hier entwickelt Léo Collin seine immer ortsbezogenen Musiktheater: sie spielen in der freien Natur, in Industrieräumen oder Tankstellen.

Léo Collin, Video: Fastnacht, Neue Musik Rümlingen 2020.

In Tarnanzüge gekleidet stürmen Perfomer:innen aus einem Waldstück einen grasbewachsenen Hügel herab. Sie verfolgen sich gegenseitig und führen dabei fast choreografierte Handlungen aus. Fastnacht, ein Musiktheater mit Elektroakustik, uraufgeführt auf der grünen Wiese am Festival Rümlingen 2020, thematisiert eine Community, die Kriegsspiele zelebriert. Das Stück sei charakteristisch für seinen Begriff von Musiktheater und für seine Arbeitsweise. Collins interdisziplinäre ortsspezifische Musiktheater verbinden Klang mit Video, Elektronik und theatralen Aktionen und meist ist das Publikum mittendrin.

«Für Fastnacht gab es wenig Zeit für Proben vor Ort und zudem wurde das Stück mehrere Male gespielt. Das erfordert eine präzise konzeptionelle Vorbereitung und genaue Anweisungen für die Performer:innen». Die Partitur für Fastnacht ist eine Audiospur, die allen Mitwirkenden mittels ‘in ear-headphones’ eigene Aktionen zuweist. In die Performance sind Rollen eingebaut, die die Handlung brechen: Die Darsteller:innen werden von einer Soundcrew mit Mikrofon (Collin selbst) und Schaltpult verfolgt. «Indem ich zeige wie eine Szene aufgezeichnet wird, zerstöre ich die Faszination. Ich mag solche Metaebenen.», meint Collin. Zur Live-Performance erhält jede Zuschauerin und jeder Zuschauer einen Kopfhörer mit Live-Sound und einem fiktiven Audiobeitrag: die Tonspur schafft eine weitere Metaebene. «Viele Menschen spielen am Wochenende zu Hause solche Kriegsspiele. Den Krieg möchten sie selbst nicht erleben müssen. Solche Dualitäten will ich zeigen».

Gebrochene Re-enactments

Collin kreiert gebrochene Re-enactment die immer auch einen persönlichen Hintergrund haben: «die Idee entstammt einer Fotografie aus der Photobastei in Zürich – eine unscheinbare Landschaft mit Apfelbäumen mit Titel ‘Verdun 2017’. Meine Familie stammt aus der Gegend. In der idyllischen Landschaft fand 1916 eine der blutigsten Schlachten des ersten Weltkriegs statt. Die Foto zeigt aber ein harmloses Motiv». Ein Ort beinhalte immer auch Geschichte, meint Collin. «Durch Klang kann ich einer malerischen Landschaft eine völlig unerwartete Ebene hinzufügen.»

Léo Collin wuchs in einem kleinen Dorf im französischen Jura auf, studierte in Lyon, Genf und zuletzt an der ZHdK in Zürich, zunächst Musikwissenschaft, dann Klavier, Elektroakustik und Komposition. Er komponiert elektronische Musik für Theater und Tanz, auch schon fürs Schauspielhaus Zürich oder das Deutsche Theater Berlin, konzipiert Musiktheater oder auch Vermittlungsprojekte bspw. fürs Sonic Matter Festival Zürich.

Collins Stücke sind immer auf spezifische Räume ausgerichtet und meist mit einer festen Gruppe von Musiker:innen entwickelt, dem Kollektiv International TOTEM (KIT). Er performt in der Regel auch selbst und bindet weitere Musik- und Kunstschaffende ein. Das Publikum ist Teil seiner Stücke, es partizipiert musikalisch oder ist mittendrin, umgeben von Lautsprechern oder mit Kopfhörern ausgestattet.

 

Léo Collin: Corals © Lea Huser

Inhaltlich aufgeladene Orte

Inhaltlich aufgeladene Ort sind auch in der Trilogie, einer dreiteiligen szenischen Arbeit mit den Titeln Baleen, Medusen und Corals, wesentlich. Corals, der dritte Teil, spielt zum Beispiel in einer Tankstelle. Sie ist das Pendant in der Menschenwelt für Korallenriffe, Mikrokosmen wie Städte, die aus dem Nichts auftauchen und kontinuierlich wachsen. «In den grossen Weiten der USA oder Australiens gibt es oft lange nichts und plötzlich eine Tankstelle voller Menschen, Essen und Benzin. Und gleichzeitig ist Benzin Inbegriff von Umweltzerstörung.»


Léo Collin, Corals, music for Gas stations, Ensemble Inverspace, Eigenproduktion SRG SSR.

Das übergreifende Thema von Trilogie ist die Sorge um das Verschwinden der Artenvielfalt. Die drei Titel Baleen, Medusen, Corals – Wale, Medusen, Korallen – stehen für unterschiedliche Meeresbewohner und deren Biosphären. «Es geht um die Nahrungskette im ‘Web food’: die Grossen essen die Kleinen», so Collin. «In meiner Jugend schwebte ‘No future’, also Kapitalismus- und Konsumkritik, über allem. Heute begleitet mich das Thema weiter».

Medusen, der zweite Teil von Léo Collins Trilogie, fand in einer trashigen Industriehalle am Rande Zürichs statt. Vier Zuschauergruppen begehen mit Kopfhörern, angeleitet von Devices auf ihren Handys oder von einem Schauspieler verschiedene Räume auf den Spuren eines vergangenen Verbrechens.

 

Ein Puzzle von Ereignissen

Die Handlung besteht aus einem Puzzle von Ereignissen: im ersten Teil, Balleen, zwischen Selbsterfahrungsgruppe, Sportevent oder TV-Koch-Show, im zweiten Teil, Medusen. zwischen Krimi, Konzert und Reality-TV: «Ich beschäftigte mich mit sehr Unterschiedlichem bevor ich Musik machte. In Trilogie gehe ich meinen Kindheits- und Jugenderinnerungen nach und setze sie in Klang um», so Collin. «Als Kind wurde ich zum Beispiel oft vor den Fernsehapparat gesetzt und schaute dann meist Sport. Später wurde mir klar, dass die Sportkommentare ihm erst diese Art Magie verleihen. Meine Arbeit konfrontiert diese Erinnerungen mit zeitgenössischer Musik, in der Hoffnung auf eine Art Emanzipation.»


Léo Collin, Trilogie: Balleen, Corals, Medusen

Trilogie begleitet Collins musikalischen Weg schon über viele Jahre. Das Stück wächst, wuchert und verändert sich laufend – wie die Biosphären innerhalb des worldwide web food.
Gabrielle Weber

Eine Erweiterung von Fastnacht, das Musiktheater Blind Test, kommt am kommenden Festival Neue Musik Rümlingen, zusammen mit Kollektiv International Totem und dem Hyper Duo am 24 und 25. August 2024 zur Aufführung.

Am 19. Juni 2025 widmet sich Léo Collin mit dem Collegium Novum Zürich, erneut der Biodiversität in: Plankton,  Musiktheater für Performer·innen, Ensemble und bewegliches Publikum (2025, UA), Zentralwäscherei Zürich.

Neo-Profiles
Léo Collin, Kollektiv International Totem (KIT), Neue Musik Rümlingen, Hyper Duo, Sonic Matter Festival, Collegium Novum Zürich

Lauren Newtons Stimmkunst

Sie ist eine Pionierin der Stimmkunst – die US-amerikanische Vokalistin Lauren Newton. Das volle Potential der Stimme zu entdecken, treibt ihr Schaffen in der Freien Improvisation, im Jazz und der Zeitgenössischen Musik voran. Mit der Schweizer experimentellen Musikszene eng verbunden, unterrichtete sie von 1993 bis 2019 an der Musikhochschule Luzern (HSLU)  Jazzgesang und Freie Improvisation.

Portrait Lauren Newton © Peter Purgar

 

Luca Koch
Die verschiedensten Formationen von langjährigen Duos, über Vokalensembles zum grossen Jazzorchester prägen ihre Karriere. Ihre Konzerte zeichnen sich durch einnehmende Tiefe und Dringlichkeit auf. Dieses Jahr feiert Lauren Newton ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum. Für die SRF Kultur-Sendung Living Past besuchte ich Lauren Newton in Tübingen in Deutschland, wo sie zuhause ist, und hörte mich mit ihr durch wegweisende Live-Aufnahmen.

 

Wink des Schicksal

Eigentlich wollte Lauren Newton in Oregon in den USA Kunst studieren, doch bekam sie dort keinen Studienplatz. Als Wink des Schicksals versuchte sie dann ihr Glück in der Musikabteilung. Schon zuhause waren sowohl Klassik wie auch Jazz präsent. Ihr Vater spielte Kontrabass und sang in Nachtclubs. Auch Lauren hatte eine solide Stimme und begann ein klassisches Gesangsstudium. In ihrem dritten Bachelorjahr durfte sie an einem Austauschjahr in Stuttgart teilnehmen. Das war unüblich für Bachelor-Studierende, doch ihr damaliger Lehrer bürgte für sie. Ein grosser Schritt, denn Deutschland wurde ihr neues Zuhause.

 


Lauren Newton, Sound Songs, Improviation solo 2006.

 

Klassik-Studentin by Day, Jazz-Rock Sängerin by Night

In Stuttgart trat Lauren Newton ihren Master in der Gesangsklasse der Opernsängerin Sylvia Geszty an und gleichzeitig tauchte sie in die junge Jazzszene der Stadt ein. An einer Jam-Session lernte sie den Trompeter Frederic Rabold kennen, der von Newtons Stimme begeistert war. Kurze Zeit später sang Lauren Newton in seiner Jazz-Rock Band der Frederic Rabold Crew. Der Mix aus einfach komponierten Themen und freier Improvisation, war ideal für sie. Konnte sie so die gelernte Technik des Studiums in der Freiheit der Improvisation ausarbeiten. Beide Tätigkeiten gingen nahtlos ineinander über, es fühlte sich nie wie ein Doppelleben an, erzählte sie mir im Interview.

 

Vienna Art Orchestra

Die Frederic Rabold Crew wurde 1979 in die Fernseh-Sendung Bourbon Street nach Wien eingeladen, was vom Schweizer Jazzmusiker Mathias Rüegg nicht unbemerkt blieb. Er selbst gründete zwei Jahre zuvor mit Wolfgang Puschnig das Vienna Art Orchestra. Nach dem TV-Auftritt fragte er Lauren Newton sofort an, ob sie ein Teil davon werden wolle. Zehn Jahre lang war Lauren Newton ein unersetzlicher Bestandteil das Vienna Art Orchestra, welches durch dutzende Album-Produktionen und grossen Tours zu einer Instanz des experimentellen Jazz wurde. Ihre Stimme sticht mit messerscharfer Präzision und verspielter Virtuosität aus dem Jazz-Orchester heraus. Eine Zeit, die Lauren Newton um nichts in der Welt missen wollte, auch wenn die ständigen Reisen im Tourbus als einzige Frau herausfordernd waren.

Vocal Summit

Persönlich lernte ich Lauren Newton in ihrer Unterrichtstätigkeit an der Hochschule Luzern kennen. Für mich war sie nicht nur als Vokalistin mit grosser stimmlicher Bandbreite eine wichtige Figur, sondern auch als Musikerin, die grosses Interesse für andere Stimmen mitbringt. Nicht nur als Dozentin half sie ihren Studierenden ihre eigene Stimme zu entdecken, auch auf der Bühne kollaborierte sie immer wieder mit anderen Sänger:innen. Gemeinsam mit Bobby McFerrin, Urszula Dudziak, Jeanne Lee und Jay Clayton bildete sie die Gesangs-Allstar-Band: das Vocal Summit. Fünf komplett unterschiedliche Stimmen kreieren zusammen Soundscapes, die atmen. Die Arbeit mit Stimmen in grösseren Formationen führte Lauren Newton mit der Vokalensemble Timbre fort.

 

Vom Vom Zum Zum

Lauren Newton machte sich als experimentelle Vokalistin einen Namen, die sich besonders durch Klänge ausdrückt. Aber auch die Arbeit mit Text nimmt eine wichtige Rolle in ihrer Musik ein. Die Zusammenarbeit mit dem österreichischen Dichter Ernst Jandl war besonders prägend. Seine Gedichte wurden dekonstruiert und neu zusammengesetzt, Worte wurden gedreht, gedehnt und rückwärts gesprochen. Das Album Vom Vom Zum Zum auf dem Ernst Jandl selber spricht und Lauren Newton seine Worte umspielt war eine besondere Entdeckung für mich.


Pi aus Vom Vom Zum Zum, Lauren Newton mit Wolfgang Puschnig, Mathias Rüegg und Uli Scherer, 1988.

 

Duos im Gespräch

Freie Improvisation ist wie ein musikalisches Gespräch. Die Mitspieler:innen gehen aufeinander ein, kommentieren, sind sich einig oder streiten miteinander. Am besten gelänge dies im Duo, erzählt mir Lauren Newton im SWR-Studio in Tübingen.


O How We, Lauren Newton und Phil Minton performten zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne am Festival A Voix Haute in Bagnères de Bigorre, France, am 13. August 2010.

 

Duo-Aufnahmen bilden denn auch einen grossen Teil ihres Gesamtwerks. Sie kollaboriert beispielsweise mit Anthony Braxton, Phil Minton, Aki Takase und Joëlle Léandre. Besonders die Kontrabassistin Joëlle Léandre begleitet sie bis heute. Ihre Tiefe musikalische Freundschaft spiegelt sich in ihrem Interplay wider. Der reiche kernige Klang von Léandres Kontrabass-Spiel ergänzt Newtons glasklare Stimme perfekt. Erst kürzlich erschien das neue Album des Duos: Great Star Theatre, San Francisco.
Luca Koch

Lauren Newton und Joëlle Léandre © Friedrich Förster

 

Frederic Rabold, Frederic Rabold Crew, Mathias Rüegg, Bobby McFerrin, Urszula Dudziak, Jeanne LeeJay Clayton, Wolfgang Puschnig, Vienna Art Orchestra, Ernst Jandl, Anthony Braxton, Phil Minton, Aki Takase, Joëlle Léandre.

Neoprofil:
Lauren Newton

Sendung SRF Kultur:
Living Past – Lauren Newton, Pionierin der Stimmkunst, 13.02.2024, made by Luca Koch.

Cathy van Eck: Die transzendierte Rolle eines Konzertstücks

Cathy van Eck, Komponistin und Medienkünstlerin, prägt die Schweizer und internationale zeitgenössische Musikszene mit ihren subtilen und hochästhetischen Klangperformances. Ihr Stück In the Woods of Golden Resonances für Schlagzeugsolo nahm innerhalb eines Konzertabends für Schlagzeugsolo eine spezielle Rolle ein. Ein Portrait von Alexandre Babel.

Alexandre Babel
Das Motto klingt wie eine Einladung: mit dem Titel Aufbau/Abbbau kuratierte der spanische Perkussionist Miguel Angel Garcia Martin in der Reihe Friendly Takeover der Gare du Nord in Basel einen Konzertabend der ganz dem Schlagzeugsolo gewidmet war. Sechs Uraufführungen sollten die logistische Realität des professionellen Schlagzeugers durchleuchten. Denn Auf- und Abbaus des Instrumentariums für ein Konzert nehmen in der Regel oft fast ebenso viel Raum und Bedeutung ein, wie der musikalische Moment selbst. Auch wenn das Thema des Abends auf den ersten Blick anekdotisch wirkt, war es in diesem Fall die Grundlage für eine verzweigte Fragestellung, die sich alle eingeladenen Mitwirkenden mit der Schaffung eines neuen Werkes zu eigen machten. Cathy van Ecks In the Woods of Golden Resonances ist dafür ein verbindendes Beispiel.

 

Portrait Cathy van Eck zVg. Cathy van Eck.

 

In the Woods of Golden Resonances zeigt den Schlagzeuger Miguel Angel Garcia Martin im Zentrum der Bühne, in relativer Dunkelheit mit einer roten Stirnlampe, so dass das Publikum nur seine verdunkelte Silhouette erkennt. Mit langsamen und kontrollierten Bewegungen geht er zu einem Becken, das in einer Ecke der Bühne auf dem Boden liegt, hebt es an und hält es dann auf Mundhöhe in horizontaler Position. Ein deutlicher, verstärkter Atemton zeigt, dass der Performer ein Mikrofon trägt und auf das Instrument bläst, als würde er versuchen, den Staub von ihm zu entfernen. Dieser Ton wird offensichtlich elektronisch verarbeitet, und die Wiedergabe über die Lautsprecher macht den Großteil der Klangumgebung aus. “Durch das Pusten wird das ‚Volume‘ der beiden Lautsprecher im Raum höher, und es entsteht ein akustischer Feedback -Klang. Das ganze Stück besteht aus solchen Feedback-Klängen, als würde Miguel den Raum ‚beatmen‘ meint dazu Cathy van Eck.

Anschließend geht er zu einem Metallständer, auf den er sein Instrument legt. Diese einfache, aber sorgfältig choreografierte Handlung wird mit weiteren im Raum versteckten Becken mehrmals wiederholt. Es ermöglicht dem Publikum den schrittweisen und ritualisierten Aufbau einer Perkussionsinstallation auf der Bühne zu beobachten.

In Cathy van Ecks Werken steht der Musikerkörper oft im Zentrum. Die Holländerin Van Eck doktorierte an der Universität Leiden. Sie publiziert und forscht unter anderen über mögliche Verbindungen zwischen Gesten, Sensoren und Klängen und unterrichtet am Sound Arts Department der Hochschule der Künste in Bern. „Auch in In the Woods of Golden Resonances gibt es eine ziemlich starke Beziehung zwischen den Bewegungen des Performers und seinem Material. Seine Bewegungen sind nicht als eine Geste des ‚Nach aussen Zeigens‘ gemeint, mit der Bedeutung ‚ich kontrolliere den Klang‘, sondern eher als ein vorsichtiges Suchen und Wahrnehmen. Deswegen hat Miguel in dem Stück auch eine andere Haltung auf der Bühne als in den andern Stücken des Abends”, so van Eck.

 

Cathy van Eck, In the Woods of Golden Resonances, Miguel Angel Garcia Martin, UA gare du Nord Basel, 9.4.2024.

 

Die Stärke von In the Woods of Golden Resonances liegt in der repetitiven, schlichten formalen Anlage. Das Stück dient dazu, von einem Zustand A zu einem Zustand B zu gelangen und endet, sobald die Installation fertiggestellt ist. Die Partitur von Cathy van Eck sieht nicht vor, dass auf den Becken gespielt wird, wenn sie einmal aufgebaut sind. Stattdessen dienen sie als Aufbau für ein weiteres Stück des Programms, Cymbals von Barblina Meierhans. Van Ecks Stück übersetzt damit nicht nur das Thema des Konzerts genau, sondern knüpft in sich auch eine konkrete Verbindung zum nächsten Element des Abends.

Der Moment der Installation, der Bühnenumbau, bildet das eigentliche Stück. Und während man normalerweise versucht, Dauer und Bedeutung des Umbaus zu reduzieren, um den musikalischen Fluss zu gewährleisten, macht In the Woods of Golden Resonances genau das Gegenteil: es nutzt diesen Zwischenraum zwischen zwei Zuständen für einen Moment der Introspektion in die Intimsphäre des Musikers. Van Ecks ästhetische Entscheidungen, wie die verträumte Atmosphäre, die durch das Halbdunkel erzeugt wird, oder der sinnliche Eindruck, den die Verstärkung der Atemgeräusche des Musikers hinterlässt, unterstreichen diese Introspektion.

Die Wirkung des Werks liegt darin, die technische Realität des Schlagzeugers mit seinem Instrumentarium auf poetische Weise heraufzubeschwören und sie gleichzeitig mit seiner Umweltrealität zu verbinden. Dabei wird auch die räumliche Dimension des Konzertraums betont. Dazu Cathy van Eck: “Die Klängen entstehen aus einem Zusammenspiel zwischen der genauen Position im Raum von Miguel, von den Becken und von den Lautsprechern, und dann natürlich auch mit der Raumakustik.”

Van Eck geht jedoch noch einen Schritt weiter: sie lädt das Publikum ein, sich als Teil des Prozesses zu fühlen: Klangeffekte wie die elektronische Bearbeitung mit hoher Lautstärke schaffen einen immersiven Eindruck, und das eigentliche ‚Ballett‘ des Schlagzeugers vermittelt dem Publikum die Illusion, es sei Teil des Prozesses. Und schließlich ‚neutralisiert‘ sie die Figur des Schlagzeugers durch den Lichteffekt auf eine einfache Silhouette, mit der sich jede:r im Publikum identifizieren kann. Van Eck erklärt dazu: “In diesem Fall war das Licht eine Entscheidung des Schlagzeugers Miguel, der mit mir und der Regie zusammengearbeitet hat. Ich kann mir dieses Stück auch gut in einer helleren Umgebung vorstellen. Für mich hängt es sehr vom Raum ab, wie das Licht gestaltet wird.

In the Woods of Golden Resonances ist Teil einer Reihe von aufeinanderfolgenden und differenzierten Werken Es unterwandert innerhalb der Reihe die üblichen Erwartungen an ein Konzertstück, während es gleichzeitig seinen primären Code respektiert. Die Klangbehandlung ist so interessant, dass es sich auch gut einfach nur ‚hören‘ lässt.

In Frage gestellt wird aber die Rolle des einzelnen Werks resp. seiner Schöpferin oder seines Schöpfers zugunsten einer Einheit, die eine Verbindung zwischen den Elementen schafft. Mir stellt sich die Frage, ob die Notwendigkeit der Kreation nicht darin liegt, dass sie von einem Zustand in einen anderen überführt?
Alexandre Babel

 

Alexandre Babel stammt aus Genf und lebt in Berlin. Komponist, Perkussionist, Kurator und Publizist, schliesst er sich mit diesem Text dem Team der neoblogger:innen an.

Neo-profiles :
Cathy van Eck, Gare du Nord, Alexandre Babel, Barblina Meierhans

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 29.01.2014: Grünes Rauschen – Klangkunst mit Cathy van Eck, Redaktion Cécile Olshausen.
Onlinetext, 28.01.2014Bei Cathy van Eck klingt Gewöhnliches ungewöhnlich, Autorin Cécile Olshausen.
Musik unserer Zeit, 16.6.2021: Alexandre Babel: Perkussionist, Komponist, Kurator, Redaktion Gabrielle Weber.
neoblog, 10.09.2021un projet est avant tout une rencontre.., Autorin Gabrielle Weber.

Uraufführung in 100 Jahren?

„Zukunftsmusik – dem Zeitgeist entkommen“ heißt ein Projekt zum 100. Geburtstag SUISA. 40 Schweizer Musikerinnen und Musiker sollten ihre Ideen zu einer Musik notieren, die erst in hundert Jahren uraufgeführt werden soll: Ein Gruß aus der Gegenwart für das Jahr 2123 zum hoffentlich 200. Geburtstag der SUISA. Am 16. April 2024 wurde das Projekt im Yehudi Menuhin Forum in Bern vorgestellt. Bettina Mittelstraß hat sich unter beteiligten Musikerinnen und Musikern umgehört.

Die Komposition des HYPER DUOs trägt als Titel die Anzahl Sekunden die von Jetzt aus bis 2123 vergehen – 3 406 699 560, hier eine Aufnahme des HYPER DUOs an einer Vinylséance am 21.11.2020 © 2020 Pablo Fernandez.

 

Bettina Mittelstrass
Helena Winkelman, das HYPER DUO, Joke Lanz, Martina Berther, Patrick Frank, Annette Schmucki, Fritz Hauser, Leo Hofmann oder Nik Bärtsch – das sind nur sieben von insgesamt 40 Schweizer Musikerinnen und Musikern, deren „Zukunftsmusik“ im April 2024 in einer Archivbox landete, ohne zuvor zu Gehör zu kommen. Hermetisch verschlossen wird dieses Archiv für 100 Jahre von der eidgenössischen Nationalphonothek in Lugano beaufsichtigt und im Eingangsbereich der «Città della Musica» ausgestellt. Erst 2123 wird das Archiv hoffentlich wieder geöffnet, die Musik aus dem Dornröschenschlaf geweckt und für ein Publikum gespielt, das heute noch nicht einmal geboren ist.

Leo Hofmann beschreibt seine Zukunftsmusik in grafisch gestaltetem Text.

 

 

Wie klingt die Schweiz in 100 Jahren?

Wie klingt die Schweiz in 100 Jahren? Eine erste Antwort könnte in der Archivbox schlummern. Leicht fielen die Antworten den 40 Befragten nicht. Skepsis herrschte vor. Welche Instrumente stehen in 100 Jahren überhaupt zur Verfügung? Gibt es noch westliche Notenschrift? Holzinstrumente? Oder hat der Klimawandel die Bäume dahingerafft? Man könne nicht wissen, ob man vor dem Hintergrund schwindender Ressourcen auf diesem Planeten „schlussendlich die Geige verbrennen muss, um nicht zu erfrieren, oder ob man dann die Darmseiten aufkochen muss, um nicht zu verhungern“, sagt der Schlagzeuger Fritz Hauser. Daher hat er seine Komposition in Morsezeichen hinterlegt – in der Hoffnung, dass diese archaischen Zeichen die Menschen der Zukunft zum rhythmischen Musizieren inspirieren, mit welcher Instrumentierung dann auch immer.

Fritz Hauser notiert seine Zukunftsmusik in reinem Morsecode. Hier sein Schraffur für Gong und Orchester, Basel Sinfonietta 2010, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Musik als Botschafterin des Zusammenspiels?

Bei aller Skepsis gegenüber dem, was in 100 Jahren Musik noch ausmacht oder überhaupt möglich macht – zwei gesellschaftliche Funktionen werden ihr wohl bleiben, meint die schweizerisch-niederländische Komponistin und Violinistin Helena Winkelmann: Musik als Botschafterin des Zusammenspiels und als Vermittlerin einer integrierenden guten Energie. Noch eine andere Sache bleibe menschlichen Gesellschaften wahrscheinlich erhalten, nämlich „dass die Menschen auch zukünftig Probleme mit Ihrem Zusammenleben haben werden.“

Helena Winkelmann hat daher die Anleitung zu einem „Musikrat“ der Zukunft in die Archivbox gelegt. Es ist die musikalische Variante eines tausende Jahre alten Konzepts, dem „Council of Chiefs“ indigener amerikanischer Gesellschaften. In einem Kreis übernehmen Musizierende unterschiedliche Funktionen – musikalisch wie gesellschaftlich. Es gibt zum Beispiel eine hinterfragende, eine erfinderische, eine bewahrende, eine warnende, eine erzählerische und eine entwickelnde Stimme. „Das ist dann auch die Magie von diesem ganzen Kreis, dass das, was uns wirklich weiterbringt, der Austausch von Perspektiven ist.“


Helena Winkelmann trägt zur Archivbox die Anleitung zu einem Musikrat der Zukunft bei. Auch in Geisterlieder, einem Zyklus über Gedichte in 18 europäischen Originalsprachen mit Begleitung verschiedener Instrumentalgruppen, befasst sich Helena Winkelmann mit der Überwindung von zeitlichen und regionalen Grenzen, UA 5.8.2023, Kirche Ernen, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Ein Raumschiff voller Perspektiven und Gegenwartskritik

„In diesem kleinen Raumschiff befindet sich im Grunde ein Querschnitt durch das momentane Schweizer Musikschaffen“, so beschreibt es der Musikethnologe und Kurator Johannes Rühl, Erfinder der Projekts. Neue Musik, elektronische Musik, Jazz, Pop und Volksmusik sind unter den 40 Kompositionsvorschlägen vertreten, aber auch Klanginstallationen und so verrückte Ideen wie eine Musik mit Pilzen, deren Aminosäuren man heute schon in Klänge umwandeln kann. Ein anderer Vorschlag nimmt das Geräusch von schmelzenden Gletschern auf und transportiert es in Form von DNA in eine Zukunft, in der es in den Schweizer Alpen vermutlich kein ewiges Eis mehr geben wird.

Das Geräusch von schmelzenden Gletschern transportiert Pablo Diserens in listening to glacial thaw in der Form von DNA in die Zukunft. © Clément Coudeyre.

 

Die meisten der eingereichten Vorschläge für die Archivbox wurden von einem skeptischen und gesellschaftskritischen Zeitgeist geprägt, bestätigt Johannes Rühl. Der Versuch, dem Zeitgeist zu entkommen, müsse verständlicherweise scheitern. „Wir kommen aus dem Jetzt offensichtlich nicht raus. Man hat zudem das Gefühl, dass heutzutage eine Dynamik in der Entwicklung ist, die es in der Vergangenheit so nicht gegeben hat.“ Ob das so stimmt? Wir werden 2123 nicht mehr da sein, um das zu überprüfen. Mögen die nach uns „unsere“ Zukunftsmusik spielen oder nicht.
Bettina Mittelstrass

 

Zukunftsmusik – dem Zeitgeist entkommen: 100 Jahre SUISA.
Die Idee stammt von Johannes Rühl, dem Ethnologen und Kurator von Musikprogrammen.
Città della Musica 

Sendung SRF Kultur:
Zukunftsmusik, Passage, 12.4.2014: Redaktorin Bettina Mittelstrass

Neoprofile:
Helena Winkelman, HYPER DUO, Joke Lanz, Martina Berther, Patrick Frank, Annette Schmucki, Fritz Hauser, Leo Hofmann, Nik Bärtsch, u.a.

Komponieren für Streichquartett mit dem Arditti Quartett

Es gilt als Synonym für zeitgenössische Musik für Streichquartett: das Londoner Arditti Quartett. Seit 1974 widmet sich das Quartett rund um den Violinisten Irvine Arditti ganz dem neuen und neusten Repertoire, sowohl in Konzerten und Einspielungen als auch im Arbeiten mit jungen Komponistinnen und Komponisten. Ende Februar begleitete ich die vier Musiker an einem öffentlichen Workshop an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Da machte das Quartett Halt auf seiner Konzerttournee zum 50-Jahr-Jubiläum.

 

Das Arditti Quartett an der Lecture Performance zusammen mit Isabel Mundry in der ZHdK am 28.2.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Gabrielle Weber
«Gut ist ein Stück, wenn es Zeit und Raum gut füllt», erklärt mir Irvine Arditti im Gespräch am Vorabend des Workshops, nach einer Lecture Performance. Der quirlige Stargeiger mit dem charakteristischen grauen Lockenschopf äussert sich stets etwas doppeldeutig und humorvoll. Die Musik müsse «funktionieren», unabhängig vom Stil oder der Art. Auf Qualitätskriterien lässt er sich nicht ein: «Wir spielten viele gute und auch viele schlechte Stücke. Neue Stücke müssen zuerst einmal die Chance erhalten, gespielt zu werden. Erst dann zeigt sich ob sie gut oder schlecht sind».

 

«Gut ist ein Stück, wenn es Zeit und Raum gut füllt»

Und solche Chancen bietet das Arditti Quartett. Irvine Arditti, erster Geiger und Gründer des Quartetts, Lucas Fels, Cello, Ashot Sarkissjan, zweite Geige, und Ralf Ehlers, Bratsche, sind neugierig auf das junge Musikschaffen und fördern es gezielt. Sie unterrichten begeistert, sei es an internationalen Festivals wie den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik oder an Musikhochschulen wie der ZHdK.

An der Lecture Performance erläuterten sie zunächst generelle Herausforderungen der Notation und Einstudierung neuer Stücke für Streichquartett: dies anhand von Stücken von Komponisten, die für ihre komplexe Kompositionsweise berüchtigt sind, Iannis Xenakis und Helmut Lachenmann, und die sie gemeinsam uraufgeführt hatten.


An Tetras (1983) von Iannis Xenakis exemplifizierte das Arditti Quartett in der Lecture Performance Herausforderungen des Komponierens für Streichquartett, Eigenproduktion SRG/SSR 2023.

 

Mit neun Kompositionsstudierenden probten sie am Folgetag deren neue Stücke fürs Schlusskonzert. Fast alles sind Uraufführungen. Geprobt wird im grossen Konzertsaal mit Publikum.

Schmerzquartett heisst die Komposition von Franziska Eva Wilhelm. Wilhelm stammt aus München und studiert seit Herbst 2021 in Zürich Komposition bei Isabel Mundry. Mit Jahrgang 2003 ist sie eine der jüngsten Teilnehmerinnen am Workshop.

Portrait Franziska Eva Wilhelm © Franziska Eva Wilhelm


«Schmerz hat für mich viel mit Reibung zu tun und auch der Ton der Streichinstrumente entsteht durch eine Art Reibung», meint Wilhelm. «Schmerz ist ein schwieriges Thema und ich wollte es nicht romantisieren. Es geht mir um die Wahrnehmung von Schmerz und wie er sich in Musik verkörpern lässt: um die Textur, nicht um eine Geschichte».

Humor muss sein..

Es wird konzentriert gearbeitet und auch viel gelacht: An einer Stelle verlieren die Musiker die Orientierung in der Partitur und Lucas Fels lockert mit einer Episode auf: «New York, Carnegie Hall!», das sei die laute Antwort Sergej Rachmaninoffs mitten in einem von ihm dirigierten Konzert gewesen, auf die Frage eines Musikers, wo sie im Stück seien. Der Humor baut Spannung ab und integriert die Komponierenden.


In Schmerzquartett von Franziska Wilhelm geht es um die Textur des Schmerzes, UA Konzert Arditti Quartett ZHdK, 1.3.2024.

 

“That’s all? How’s that?” fragt Irvine Arditti zum Ende der Probe von Schmerzquartett, wieder lachend. Wilhelm ist zwar zufrieden, möchte aber noch Weiteres ausprobieren. Das wird fraglos ausgeführt.

Ihr Fazit nach den Proben: «Ich habe viel über spezifische Notationen gelernt. Sie überlassen nichts dem Zufall und wenn es etwas zu entscheiden gibt, entscheidet die Person, die komponiert hat. Ich muss als Komponistin genau wissen, was ich will. Und das muss ich auch kommunizieren können.».

Das Arditti Quartett am Konzert im grossen Saal der ZHdK vom 1.3.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Die notierte Idee so exakt wie möglich in Klang umsetzen

Bei Uraufführungen geht es dem Quartett stets darum, die notierte Idee so exakt wie möglich in Klang umzusetzen. Das gelte genauso für grosse Namen wie auch für junge, noch unbekannte Musikschaffende, sagt Irvine Arditti. Mehrere hundert Streichquartette sind dem Quartett über die 50 Jahre gewidmet worden. Die meisten erarbeiteten sie zusammen mit den Komponistinnen und Komponisten.

 «I really want to play the piece the way you want it to be played», lässt er in den Proben immer wieder verlauten, zum Beispiel bei Andrzej Ojczenasz.

Ojczenasz klärt letzte Notations-Fehler gleich vorab. Das wird geschätzt. Zum Beispiel soll das Cello, gleich im ersten Takt, eine Oktave tiefer spielen. «Das beginnt ja mal schon gut», kommentieren die Musiker lachend.

Sein Quartett Maris Stella ist inspiriert von Gregorianischem Choral. «Die Struktur basiert auf dem Kontrapunkt des Chorals. Ich verbinde dadurch Tradition und Gegenwart», erläutert er.

 

Portrait Andrzej Ojczenasz zVg. Andrzej Ojczenasz

 

Andrzej Ojczenasz stammt aus Polen. Er studierte zunächst an der Krysztof Penderecki Musikhochschule in Krakau, bildete sich dann an der University of Louisville in den USA weiter und absolviert nun den Master in Komposition bei Isabel Mundry.

Gröbere Notationsfehler kommen vor..

Ashot Sarkissjan deckt etwas später einen gröberen Notationsfehler auf: Was man hören wolle, müsse man auch genauso schreiben, sagt er. Gleichzeitig spürt man, dass das Stück die Musiker überzeugt. Das Probenklima ist vertrauensvoll und Ojczenasz nimmt die Korrektur gerne an.

 


Maris Stella von Andrzej Ojczenasz basiert auf Gregorianischem Choral, Aufnahme UA Konzert Arditti Quartett ZHdK, 1.3.2024.

Gegen Schluss der Probe fragt Irvine Arditti auch ihn, ob es ihm gefallen habe: «Ja, aber..» — auch er möchte noch ein paar Stellen korrigieren.

Ojczenaszs fasst seine Learnings folgendermassen: «Präzise notieren, dann wird es auch so gespielt! Und: unbedingt sich selbst und seiner Message gegenüber ehrlich bleiben und niemand anderen darstellen wollen.»
Gabrielle Weber

Das Arditti Quartett im Konzert im grossen Saal der ZHdK am 1.3.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Am Schlusskonzert vom 1.3.2024 im grossen Konzertsaal der ZHdK waren zu hören:
Wojciech Chalpuka: Wohin jetzt? (UA)
Luis Escobar Cifuentes: Ewige Leben (UA)
Wenjie Hu: The Rift (UA)
Amir Liberson: Emptiness (UA)
Franziska Eva Wilhelm: Schmerzquartett (UA)
Nuño Fernández Ezquerra: Lienzo de Luz (2021)
Fabienne Jeannine Müller: Incertain (UA)
Pengyi Li: … Echo … (UA)
Andrzej Ojczenasz: Maris Stella (UA)
Isabel Mundry: Linien, Zeichnungen (2004)

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 3.4.&14.8.2024: Streichquartett heute, Das Arditti Quartett und der NachwuchsRedaktion Gabrielle Weber
Neue Musik im Konzert, 3.4.&14.8.2024: Das Arditti Quartett im Konzert mit jungen Komponierenden, Redaktion Gabrielle Weber

neo-profiles:
Arditti QuartetIsabel Mundry, Franziska Eva Wilhelm, Andrzej OjczenaszWojciech ChalpukaLuis Escobar CifuentesWenjie HuAmir LibersonNuño Fernández EzquerraFabienne Jeannine MüllerPengyi Li