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Tapiwa Svosve fräst Saxofonklänge in die Kanalisation
Der junge Zürcher Jazzsaxofonist Tapiwa Svosve (*1995) gewann dieses Jahr einen der BAK-Musikpreise. Svosve legt sich auf keinen Stil fest: er wechselt agil zwischen Free Jazz, Ambient, Noise und Progressive Rock. Seine musikalische Praxis ist jedoch fest in der Jazztradition verankert. Ein Porträt von Jaronas Scheurer.
Jaronas Scheurer
Tapiwa Svosve hat schon viel erreicht für seine junge Karriere: Schon kurz nach seinem Studium an der Jazzschule Zürich gewann er mit der Band District Five den ZKB-Jazzpreis, es folgten unter anderem ein Auftritt mit den Jazzlegenden Hamid Drake und William Parker und ein Werkjahr der Stadt Zürich. Als Organisator und Kurator war er für das Zürcher Taktlos-Festival tätig und gründete das transdisziplinäre Kunstkollektiv Gamut mit. Er trat in Produktionen der gefeierten Künstlerin und Filmemacherin Wu Tsang auf, machte Musik für die Louis Vuitton-Fashionshow, veröffentlichte zahlreiche Alben – Solo, mit seinen verschiedenen Bands oder zum Beispiel 2023 das Album The Sport of Love mit der amerikanischen Elektronik-Produzentin Asma Maroof und dem englischen Cellisten Patrick Belaga, die er im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit Wu Tsang kennenlernte. 2024 wurde diese beachtliche Laufbahn mit einer Tour durch Südostasien und einem der begehrten BAK-Musikpreise gekrönt.
Tapiwa Svosve klingt im dem Song G Major Kinda Love aus dem Album The Sport of Love zusammen mit Patrick Belaga (Cello) und Asma Maroof (Produktion, Elektronik) von 2023 sehr sanft. Das ist jedoch nur eine Seite von Svosves vielfältigem Schaffen.
Finanzielle Knappheit und künstlerische Konsequenz
Trotzdem – finanziell kommt Svosve gerade so knapp durch: «Ich lebe zum Grossteil von meiner Musik. Das geht mal besser und mal weniger gut.» meint er im Interview. «Vielleicht hat man gerade viel gespielt, dann kommt aber wieder eine Dürreperiode und man begrenzt sich: geht nicht mehr aus, isst vielleicht nur noch Reis mit Soyasauce. Ich kann das akzeptieren, wenn es dann auch wieder nach oben geht.» Der BAK-Preis und das damit verbundene Preisgeld kam da genau zum richtigen Zeitpunkt: «Ich machte mir gerade grosse Gedanken, wie ich die nächsten Monate über die Runden kommen soll. Der Preis riss mich von einer Realität in eine ganz andere: Am einten Tag hatte ich minus zwanzig Franken auf dem Konto und am nächsten plötzlich dieses riesige Preisgeld.»
Die finanzielle Knappheit ist wohl auch Svosves künstlerischer Konsequenz geschuldet, der sich wenig bis gar nicht Verkaufsargumenten oder Marktlogiken beugt. «Grundlegend für mich ist ein improvisatorischer Ansatz – sei das jetzt in einem Jazztrio, in einer Noiseband oder wenn ich Ambient mache: Offen sein, für das Potential der Kollaborationen, und schauen, wohin es einen in dieser Konstellation von Menschen treibt.» Svosve versteht sich als Jazzmusiker: «Ich bin durch den Jazz musikalisch sozialisiert worden. Und in welcher anderen westlichen Musiktradition steht sonst diese extreme Offenheit ganz im Zentrum?»
Jazz und Gemeinschaft
Die Offenheit und der improvisatorische Ansatz des Jazz gehen bei Svosve über das tatsächliche Musizieren hinaus. Auch seine Arbeit als Organisator und Kurator sind davon geprägt: «Dass ich nicht nur Musik mache, sondern auch proaktiv Räume für Musik schaffe, für die der Mainstream vielleicht noch nicht bereit ist, ist für mich essentieller Bestandteil des Musikerdaseins. Und wenn ich in die Jazzgeschichte schaue, war das schon immer ein wichtiger Bestandteil des Jazz.»
Ein Jazzmusiker in ganz unterschiedlichen Echoräumen
Svosve ist im Wesen Jazzmusiker. Er hat sich intensiv mit der Jazzgeschichte auseinandergesetzt und unterrichtet auch Jazzgeschichte am Winterthurer Institut für aktuelle Musik (WIAM). Doch das hört man teilweise kaum in seinen Projekten. Es prägt eher seine Art des Daseins und der Zusammenarbeit, denn die tatsächlichen musikalischen Resultate. Ein gutes Beispiel ist das 2022 erschiene Album «A Lung in a Horn in a Horn». In einer nächtlichen Aktion ist er mit dem Künstler, Labelbetreiber und Sounddesigner Rafal Skoczek in ein grosses, offenes Rohr gestiegen, das unter der Sihl und der Limmat verlegt wurde. Dort ist dann das Album entstanden – nur er, das Saxofon und die psychedelisch hallende Zürcher Kanalisation, aufgenommen von Skoczek. Da wurde nicht gross abgeklärt, was möglich oder legal sei. Es gab keine Proben, keinen Soundcheck: «Das Ziel der Aktion war eher der Weg dorthin als das tatsächliche Resultat. Aber die Platte gefällt mir heute noch. Sie ist so puristisch. Es geht gar nicht so um mein Saxofonspiel, sondern mehr darum, wie dieser Tunnel eigentlich klingt, wenn ich da ein paar Klänge reinfräse.»
Jaronas Scheurer
Tapiwa Svosve und sein Saxofon sind hier im Stück A Lung in a Horn in a Horn aufgenommen in der Zürcher Kanalisation zu hören.
Tapiwa Svosve spielt mit District Five bis Ende 2024 jeden letzten Sonntag des Monats ein Konzert im Zürcher Helsinki Klub.
Sendung SRF Kultur:
Musikmagazin, SRF 2 Kultur, 28.9.2024: Preisgekrönt: Der Saxophonist Tapiwa Svosve: Tapiwa Svosve im Talk mit Jaronas Scheurer.
Neo-Profile:
Tapiwa Svosve, Swiss Music Prizes
LUFF: Musikpreis für Noise aus Lausanne
LUFF, Lausanne Underground Film & Music Festival, programmiert seit 2002 in Lausanne experimentelle Musik zu einem ausgesuchten Filmprogramm. Dieses Jahr erhielt das Festival einen der Spezial-Musikpreise des Bundesamts für Kultur (BAK). Ein paar Wochen vor Start der diesjährigen Ausgabe traf ich drei Mitglieder der Leitungsequippe im neuen Lausanner Kulturzentrum Pyxis, dem Arbeitsort des LUFF, direkt neben der Kathedrale in der Lausanner Altstadt. Ein Gespräch mit Thibault Walter und Dimitri Meier, künstlerische Leiter des Musikprogramms, und Marie Klay, Geschäftsführerin.
Gabrielle Weber
Marie Klay, Thibault Walter und Dimitri Meier kommen zu dritt zu unserem Treffen und sie spinnen ihre Gedanken im Gespräch gegenseitig laufend weiter. Das hat seinen Grund: «Das LUFF funktioniert als Kollektiv», sagt mir Marie Klay gleich zum Einstieg. «Die Equipe besteht aus zirka 50 Mitwirkenden und trifft sich übers ganze Jahr regelmässig ein Mal wöchentlich». Es werde gemeinsam entschieden und jeder und jede habe eine Stimme. Klay ist seit einer Umstrukturierung 2014 als Geschäftsführerin im Team dabei: «Alle Bereiche sind gleich wichtig. Die Programmation zum Beispiel ist kein Elfenbeinturm». Kern des Programms bildeten gemeinsame Hörsitzungen, ergänzt Thibault Walter. Dort hörten und diskutierten sie zusammen Stücke, bevor entschieden werde, wer eingeladen werde. Dabei könnten sich alle einbringen. Thibault Walter ist seit dem Start, 2002, dabei. Dimitri Meier stiess 2015 dazu und baute kontinuierlich die Equipe Musikprogrammation auf.
Der Preis
Das LUFF entwickelte sich sukzessive von einem kleinen Insider-event in Vevey zum grossen Festival in Lausanne. Dennoch verortet es sich weiterhin im Underground. «Als wir den Anruf vom BAK erhielten, dachten wir zuerst, es sei ein Scherz, oder ein Phishing-Telefon: wir erwarteten nie einen Musikpreis zu erhalten», so Dimitri Meier. «Dass wir diesen Preis für die Musik erhalten, stellt uns profund in Frage. Aber es bedeutet gleichzeitig eine Anerkennung unserer existenziellen Arbeit und unserer Programmwahl, in all den Jahren“, meint Thibault Walter dazu.
Noise!
Sein Musikprogramm labelt das LUFF gerne mit «Noise». Unter dem Musikgenre, das seinen Ursprung im London der Siebziger Jahre hat, wird gängig verstanden: Geräusch, Rauschen, volle Lautstärke, ohne Melodie und Rhythmus. Was für die einen nur ‘Lärm’ ist, ist für die andere Musik – White noise, weisses Rauschen, findet sich mittlerweile auch im Mainstream. Das LUFF sieht Noise aber anders. «Noise ist für uns alles, was sich gegen gängige Musik-Praktiken richtet. Wir sprachen gewisse Jahre auch schon von ‘Nicht-Musik’ oder ‘Antimusik’», meint Dimitri Meier.
Für Thibault Walter ist Noise ein relativer Begriff: «Noise hat meist eine negative Bedeutung, das LUFF verwendet ihn aber immer positiv. Wir fragen uns weshalb gewisse Klänge unerwünscht und ausgeschlossen sind. Und genau für diese interessieren wir uns.»
Beim LUFF kann Noise auch humorvoll und melodiös oder leise und subtil sein. Regelmässig präsent sind Künstler:innen aus Japan, wo Noise seit den achtziger Jahren Fuss fasste und nebst England eine der grössten Noise-Communities existiert.
Jon the dog live @LUFF 2023
Die japanische Performerin Jon the Dog zum Beispiel trat bereits 2023 am LUFF auf und ist auch dieses Jahr wieder zu Gast in Lausanne: sie singt Lieder mit einer Art von Kinderstimme, die sie selbst auf dem Harmonium begleitet: melodiös, harmonisch, rhythmisch, und voller Humor: sie erinnern an japanische Animationsfilme. Ihr Name kommt daher, dass sie im Hundekostüm auftritt, in Japan manchmal auch überraschend in ‘harten’ Noise-Konzerten. Für Thibaut Walter ist sie eine fast mythische Figur. Er vermutet, dass sie mit dieser «positiven Unreifheit» der Szene einen Spiegel vorhalten wolle und meint, es sei eine Umkehrung, die viel über die Szene aussage.
«Noise heisst für uns nicht: immer mit voller Lautstärke, aggressiv und auch ausschliessend.. ein Klang kann auch ganz fein und nuancenreich geformt werden», so Thibault Walter weiter.
Lise Barkas live @ LUFF 2023
Ein weiteres Beispiel für das Noise-Verständnis des LUFF verkörpert Lise Barkas aus Strasbourg: sie tritt solo an der Drehleier auf. Barkas wurde früh vom LUFF nach Lausanne geholt und ist mittlerweile international gefragte Noise-Künstlerin. Ihre Musik changiert zwischen Klängen, die wie Alte Musik anmuten und kratziger, aber höchst differenzierter, Geräuschhaftigkeit. Für Dimitri Meier sind ihre Konzerte auch als Kritik an der Überverstärkung in der klassischen Noise-Szene zu lesen: diese sei komplett idiotisch.
Ein besetztes Haus in Vevey
Ursprung des LUFF bildete ein besetztes Haus in Vevey, wo ein kleiner Kleis Cinéphiler Filme vom New York Underground Film Festival zeigte, sagt Thibault Walter. Der Initiant habe die Schweiz verlassen und sie mit der Cinémathèque Suisse in Lausanne zusammengebracht. Im Casino de Montbenon, dem Gebäude der Cinémathèque suisse in Lausanne, seien sie im Keller auf einen riesigen ungenutzten Raum gestossen, der sich ideal für Konzerte geeignet habe. Gemeinsam wurde eine Art amerikanischen New Wave-Kinos entwickelt: ausgesuchte Filme, eingerahmt von Konzerten Und so sei aus einem Filmfestival ein Film- UND Musikfestival entstanden. „Das ist ein weiteres Paradox. Einen Musikpreis zu erhalten für ein Musikfestival in einem Filmfestival“.
Lausanner Szene reich an experimentellen Formaten
Die Lausanner Szene sei schon davor reich an experimentellen Formaten gewesen. „Das Festival ermöglicht, Dinge sichtbar zu machen, die bereits vorhanden waren: in Wohnungen, Kellern oder Restaurants. Dass sich dann viele zusammentaten, war ein starker, fast magischer Moment. Wir realisierten, dass wir nicht allein sind, wenn wir etwas in unserer Ecke tun, und das ermutigte uns weiterzumachen“, meint Thibault Walter zum Festivalstart.
Bis heute finden alle Veranstaltungen im Casino de Montbenon, dem Sitz der Cinémathèque Suisse, statt. Durch die Konzentration an einem Ort will das Team auch die verschiedenen Publika in Kontakt bringen. Auch die Mitwirkenden im Kollektiv kommen aus unterschiedlichen Ecken, Marie Klay zum Beispiel aus der Filmszene. Die Equipe sei offen und achtsam, es herrsche ein freundschaftlicher, fast familiärer Umgang: sie alle glaubten an das Gute in der Welt und kämpften dafür, meint Klay. «Wenn man sich zusammentut, kann man etwas Positives bewirken», und Thibault Walter ergänzt: «das LUFF ist ein Ort, der Hoffnung gibt», und Dimitri Meier: «immer wenn eine Ausgabe vorbei ist freuen wir uns auf die nächste!».
Gabrielle Weber
Links tags
Das LUFF findet vom 16. Bis zum 20. Oktober zum 23igsten Mal statt.
New York Underground Film Festival, Pyxis – maison de la culture et de l’exploration numérique, Cinémathèque suisse Lausanne.
Sendungen SRF Kultur
Musik unserer Zeit, SRF Kultur, 25.09.2024: LUFF – Lausanne Underground Film and Music Festival taucht auf, Redaktion Gabrielle Weber.
Musikmagazin, SRF Kultur, 5.10.24: Noise aus Lausanne: Das LUFF erhält Schweizer Musikspezialpreis, talk (min 10:30): Marie Klay, Dimitri Meier und Thibault Walter im Gespräch mit Gabrielle Weber.
Neo-profile
Lausanne Underground Film&Music Festival (LUFF), Swiss Music Prizes
Mit der Zukunft verknüpft – 20 Jahre Lucerne Academy
Nur schöne Konzerte hören? Nein. Am Lucerne Festival kümmert sich eine Akademie für die Interessen des musikalischen Nachwuchses: Instrumentalist:innen, Komponierende, Dirigent:innen. Sie alle bringt die Lucerne Festival Academy zusammen. Die Idee zu dieser Akademie hatten vor 20 Jahren Festivalintendant Michael Haefliger und der Komponist und Dirigent Pierre Boulez.
Benjamin Herzog
Samstagnachmittag. Hitze über dem Vierwaldstättersee. Das Lucerne Festival läuft seit einer guten Woche auf Hochtouren. Das gilt nicht nur für die dichte Abfolge von Sinfoniekonzerten, Debütrezitals, Gratisformaten für die Besucher:innen vor und neben Jean Nouvels emblematischem Kultur- und Kongresszentrum KKL. Intensive Zeiten erleben in den ersten drei Festivalwochen auch die Mitwirkenden der Lucerne Festival Academy. 110 an der Zahl, aus 30 verschiedenen Ländern: Instrumentalist:innen, Komponierende, Dirigent:innen. Ein Teil von ihnen präsentiert an diesem Samstagnachmittag in einem Konzert im Luzerner Saal des KKL die Früchte einer ersten Arbeitsphase. Pierre Boulez’ enorm schwieriges Rituel in memoriam Bruno Maderna für acht Instrumentalgruppen, Wolfgang Rihms In-Schrift und ein Stück von Lisa Streich namens Ishjärta, was auf deutsch „Eisenherz“ heisst und worin die Komponistin versucht, zwei unterschiedliche Gefühlszustände gleichzeitig zu Gehör zu bringen.
Ausführende, Dozierende, Lernende. Das Zusammenwirken ist sinnvoll. So sagt der britische Komponist Eden Lonsdale, Teilnehmer am Composer’s Programme: „Mit einem Orchester zu arbeiten, zeigt einem erst, was man in seiner Partitur geschrieben hat.“ Auch die chinesiche Komponistin Yixuan Hu ist froh um das künstlerisch-pädagogische Dreieck Akademie-Orchester, Dirigent:in und Lehrkraft. „Diese Zusammenarbeit hier ist einzigartig“, sagt sie. „So kommt man sehr schnell sehr weit.“ In Seminaren diskutieren dieses Jahr zwölf Komponierende für Orchestermusik und kleinere Ensemblestücke mit dem Komponisten Dieter Ammann und der Komponistin Unsuk Chin, die heuer für den im Juli verstorbenen Wolfgang Rihm eingesprungen ist, über neue Stücke. Der Tonfall ist freundlich, aber direkt. Die Intention: Theorie und Praxis zusammenzubringen.
Mit seinem Orchesterwerk Sub-Kontur schockierte der junge Wolfgang Rihm 1976 an den Donaueschinger Musiktagen, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leitung Sylvain Cambreling, Konzert 3.9.2022, KKL Luzern, Eigenproduktion SRG/SSR.
Mit seinem eigenen Orchester, dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO), dem Composers-Programm, einem Programm für Dirigent:innen, die ihre Kenntnisse in neuer Musik vertiefen wollen, sowie mit Workshops, an denen die Akademist:innen mit eingeladenen Fachkräften von Ensembles wie dem Ensemble Intercontemporain, dem Frankfurter Ensemble Modern oder dem Klangforum Wien aufführungspraktische Fragen diskutieren können, ist die Lucerne Festival Academy breit aufgestellt. Ein Management-Workshop und zwei Preise, der Fritz Gerber-Award für Instrumentalist:innen und die Roche Young Comissions für Komponierende runden das Programm ab.
Drei Wochen Campus-Atmosphäre
Drei Wochen Campus-Atmosphäre, drei Wochen voller Begegnungen. Ehemalige Akademist:innen erzählen, dass ihnen das Netzwerk, das sie in Luzern gespannt haben, in ihrer künstlerischen Karriere bis dato hilft. Sei es für konkrete Fragen bei einer Notation, einem spiel- oder dirigiertechnischen Problem, sei es auch nur einfach freundschaftlich. Die Verbundenheit innerhalb der ehemaligen und heutigen Akademist:innen wird auch vom Lucerne Festival selbst aktiv gepflegt: 2016 gründete man ein Alumni-Programm, das ehemalige Teilnehmer:innen aktiv in die laufenden Akademien einbindet.
Reigen der diesjährigen Komponistin in Residence Lisa Streich interpretierte das LFCO als spontanes Vorprogramm zum Festival-Eröffnungskonzert im grossen Saal des KKL am 16.8.24, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leitung Johanna Malangré, Eigenproduktion SRG/SSR.
Der 2016 verstorbene Komponist und Dirigent Pierre Boulez, der vor 20 Jahren zusammen mit dem Intendanten des Lucerne Festivals, Michael Haefliger, die Akademie gegründet hatte, erklärte in einem Interview im Gründungsjahr, die Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts werde „in den Ausbildungsstätten vernachlässigt“, weshalb eine solche Akademie dringend Not täte. Sich drei Wochen lang auf dieses Repertoire konzentrieren zu können, sei übers Jahr sonst „kaum möglich“. Die skeptische Haltung der Hochschulen gegenüber der musikalischen Moderne hat sich seither sicher geändert. Doch wird konzentrierte Arbeit, Studierende können davon sein Lied singen, während des Semesters durch die vielen weiteren Verpflichtungen oft verunmöglicht.
Wolfgang Rihm, dessen Rolle nach dem Tod Boulez’ an der Lucerne Festival Academy führend wurde, verstand die Akademie bei aller Spezifikation weniger als Sondertruppe für den Sound der Avantgarde, denn als notwendige und logische Ergänzung zum Lucerne Festival. Die Musiker:innen der Akademie sollten, so Rihm, „die Moderne aus ihren Wurzeln heraus verstehen. Diese Wurzeln reichen weit und gehen irgendwann einmal auch in das romantische Repertoire zurück.“ Also zu Brahms oder Schönberg, dem hierbei eine Schlüsselrolle zukommt. Symptomatisch, dass dieses Jahr Schönbergs monumentale Gurrelieder am Lucerne Festival aufgeführt werden. Ein Werk, dem sowohl die Apotheose der Romantik eingeschrieben ist wie auch der Aufbruch in die Moderne, das folglich die beiden Festival-Ideen „Konzert“ und „Akademie“ aufs Beste verbindet.
Arnold Schönberg begleitet das LFCO durch die Festivals. 2019 führte das Orchester seine fünf Orchesterstücke op 16 von 1909 auf, LFCO, Leitung Riccardo Chailly, Konzert 8.9.2019, KKL Luzern, Eigenproduktion SRG/SSR.
Am Konzert an jenem heissen Samstagnachmittag mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra wird klar, auf welch hohem Niveau hier moderne und zeitgenössische Musik gespielt wird. Das Orchester, obwohl die meisten sich vor einer Woche erstmals begegnet sind, hat die teils abenteuerlichen Schwierigkeiten mit erstaunlicher Präzision locker im Griff. Mit seiner vielgestaltigen und grossen Akademie stemmt das Festival Arbeit, die es eigentlich gar nicht stemmen müsste. Für den Nachwuchs verantwortlich könnten ja die Schulen und Musikhochschulen sein. Und doch ist die Verknüpfung mit der nächsten Generation für ein Klassikfestival natürlich auch eine solche mit der eigenen Zukunft.
Benjamin Herzog
Pierre Boulez, Eden Lonsdale, Yixuan Hu, Ensemble Intercontemporain, Ensemble Modern, Klangforum Wien, Fritz Gerber-Award, Roche Young Comissions, Unsuk Chin
Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 4.9.2024, SRF 2 Kultur, 20 Jahre Lucerne Festival Academy, Autor Benjamin Herzog.
Musikmagazin, 24.8.2024, SRF 2 Kultur, Komponieren an einem Epochenübergang – Lisa Streich, Autor Benjamin Herzog
Neo-profiles:
Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO), Lisa Streich, Dieter Ammann
Ein lebendes Archiv – das Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente
Erst sieben Jahre ist es alt, und schon hat es einen der drei Spezialpreise der Schweizer Musikpreise eingeheimst: Das Schweizer Museum und Zentrum elektronischer Musikinstrumente – kurz: SMEM – in Fribourg macht es die Technik, Geschichte und Praxis elektronischen Musikmachens erfahrbar.
Friedemann Dupelius
„Der Preis kam total überraschend für uns“, sagt Victorien Genna, Projektkoordinator am SMEM, „so etwas hätten wir uns frühestens in ein paar Jahren vorgestellt. Es ist wunderbar, dass wir jetzt eine anerkannte Schweizer Institution sind.“ Die längst nicht nur in der Schweiz bekannt ist. Neben Gästen aus Frankreich und Deutschland reisen auch zahlreiche Fans aus England, den USA, Japan, Australien oder Neuseeland nach Fribourg, um die beachtliche Sammlung zu bestaunen. Rund 5000 elektronische Musikinstrumente stellt das SMEM aus, darunter fast alle erdenkliche Arten von Geräten: Sampler, Drummachines, Synthesizer, Mischpulte, Effektgeräte, Verstärker, Aufnahmedevices, Mikrofone – sogar Software wie die erste Version des heute weit verbreiteten Musikprogramms Ableton Live aus dem Jahr 2001 und die entsprechend alten Computer, auf denen diese läuft.
Meterhoch ragen die Regale an die Decke einer ehemaligen Brauerei – heute zu einem Areal für Startups und kulturelle Initiativen umfunktioniert. Doch wer nun dicke Staubschichten auf den Keyboards befürchtet, darf beruhigt aufatmen: Das SMEM versteht sich als „lebendiges Archiv“. All diese Geräte werden nicht nur professionell gewartet, sondern können auch gespielt werden. Im “Playroom“ des Museums steht immer eine breite Auswahl unterschiedlicher Instrumente angeschlossen bereit, darunter Klassiker wie die Drumcomputer TR-808 und TR-909 der Firma Roland. Für wenig Geld kann man sich hier eine Session buchen, die eigenen Jams auch aufnehmen und auf dem Stick mit nach Hause nehmen.
Ein Museum für Kids wie für Nerds
Auf die Frage, ob das SMEM eigentlich eine Unterscheidung zwischen akademisch geprägter, „ernster“ elektronischer Musik und ihren popkulturellen Spielarten macht, fragt Victorien Genna zurück, was ich damit eigentlich meine – und gibt damit schon eine indirekte Antwort. Er ist kein Musikwissenschaftler oder Komponist, sondern stieß als Philosophie-Student, der gerne privat mit Synthies spielt, zum SMEM. „Die FM-Synthese ist ein gutes Beispiel: Sie gelangte von den Laboren der Universitäten auf den Konsummarkt und wurde mit dem Yamaha DX7 in den 80ern weltberühmt. Bei uns kommen die Nerds auf ihre Kosten, man kann hier richtig ins Detail gehen. Aber auch fünfjährige Kinder oder jemand von 100 Jahren soll hier Spaß haben können.“
Der erste Schaltkreis schließt sich auf einer Zugfahrt
Dass das SMEM überhaupt existiert, war glückliche Fügung: Der Großteil der Sammlung stammt von Klemens Niklaus Trenkle – einem Schauspieler aus Basel, der seit den 70er-Jahren elektronische Instrumente sammelt. So viel, dass es seinem Vermieter irgendwann zu bunt wurde, er solle das Zeug wegschaffen. Auf einer Zugfahrt kam er mit dem Architektur-Professoren Christoph Allenspach aus Fribourg ins Gespräch. Allenspach hatte seit Jahren die Idee, ein Museum mit Musikbezug zu eröffnen und so war die erste Verkabelung unverhofft gelungen. Bald zogen die Instrumente von Basel in die Westschweiz um, ein Verein wurde gegründet und ein Team von Freiwilligen zusammen gestellt. 2017 eröffnete das Museum. Bis heute hat sich nicht viel geändert: Die Menge an Instrumenten ist groß, das Budget gering.
Victorien Genna vom SMEM hat eine Dokumentarfilm-Reihe über Instrumente aus der SMEM-Sammlung produziert.
Das SMEM lebt – neben öffentlicher Förderung und privaten Spenden – durch den Einsatz von Ehrenamtlichen, so wie es auch Victorien Genna einer war, bis er vor kurzem eine der drei festen Stellen am Museum bekam. Die Freiwilligen reparieren die Instrumente, mischen Konzerte ab oder übernehmen Barschichten dort. Der frisch erhaltene Preis ist für das Museum daher natürlich Gold wert, denn die Sammlung wächst stetig. Doch wie soll man aus einer Flut technischer Neuerscheinungen herausfiltern, welches Delay-Modul, welcher Wavetable-Synthie wirklich historisch relevant sein werden? „Manchmal kann man technische Revolutionen schnell erkennen“, sagt Victorien Genna und verweist auf den Elektron Digitakt, 2017 erschienen, „da war es schon mit dem Erscheinen klar, dass das ein wichtiger Sampler für das 21. Jahrhundert sein wird. Oft kann man aber nur spekulieren und weiß es erst nach ein paar Jahren.“ Klemens Niklaus Trenkle kauft immer noch selbst neue Instrumente für das Museum ein. „Er hat einen ziemlich guten Riecher dafür, was relevant ist oder sein wird.“
Das SMEM veranstaltet u.a. Konzerte, Workshops und Vorträge – mindestens einmal im Monat. Mehrmals im Jahr sind auch Residenz-Künstler:innen für eine bis vier Wochen zu Gast in Fribourg, um mit Instrumenten ihrer Wahl zu experimentieren. Ein künstlerisches Ergebnis ist dafür nicht verpflichtend. Doch immer wieder kommt etwas dabei heraus, das dann in der Regel auf dem Fribourger Label oos erscheint. Im Oktober steht ein Release des Wiener Musikers Oliver Thomas Johnson alias Dorian Concept an, der sich am SMEM mit dem Yamaha CS01-Synthesizer beschäftigt hat. Die polyrhythmischen Geflechte aus perkussiven Synthesizern beginnen mit jeder neuen Schichtung mehr zu grooven, die 200 Beats per Minute Geschwindigkeit merkt man dieser leichtfüßigen Musik nicht an. Es ist eben ein lebendiges Archiv, in dem Geschichte nicht nur dokumentiert, sondern auch aktiv mitgestaltet wird.
Friedemann Dupelius
Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente (SMEM)
SMEM auf Instagram
Das Online-Magazin des SMEM
Dorian Concept auf Bandcamp
Klemens Niklaus Trenkle
Das Album Unconditional Contours von Legowelt, das auch am SMEM entstand
Termine
04.09.2024 – Modular-Synthesizer-Workshop mit dem Duo OK EG (Lauren Squire & Matthew Wilson) aus Melbourne
09.09.2024 – 25 Jahre Anyma (Audiovisuelles Kunst-Kollektiv aus Fribourg): SMEM Open Doors und Konzert von Synkie
Oktober 2024 – Veröffentlichung von Dorian Concept auf ous
Metaebenen und zerstörte Faszination im Musiktheater Léo Collins
Er mischt Klang, Performance, Video und Theater mit Kochen, Sport, Krimi oder Umwelt-Aktivismus. Der junge, in Frankreich geborene und in Zürich lebende Komponist Léo Collin produziert aufrüttelnde Musiktheater-happenings. Ich besuchte ihn in seinem Atelier in der roten Fabrik in Zürich.
Gabrielle Weber
Den grössten Teil seines kleinen Ateliers nimmt ein einfacher Holztisch ein. Er ist mit einem Schaltpult, Mikrofonen, Kopfhörern und Kabeln bedeckt. Eine E-Gitarre lehnt am Tisch, an den Wänden hängen grosse bunte Skizzen. Hier entwickelt Léo Collin seine immer ortsbezogenen Musiktheater: sie spielen in der freien Natur, in Industrieräumen oder Tankstellen.
Léo Collin, Video: Fastnacht, Neue Musik Rümlingen 2020.
In Tarnanzüge gekleidet stürmen Perfomer:innen aus einem Waldstück einen grasbewachsenen Hügel herab. Sie verfolgen sich gegenseitig und führen dabei fast choreografierte Handlungen aus. Fastnacht, ein Musiktheater mit Elektroakustik, uraufgeführt auf der grünen Wiese am Festival Rümlingen 2020, thematisiert eine Community, die Kriegsspiele zelebriert. Das Stück sei charakteristisch für seinen Begriff von Musiktheater und für seine Arbeitsweise. Collins interdisziplinäre ortsspezifische Musiktheater verbinden Klang mit Video, Elektronik und theatralen Aktionen und meist ist das Publikum mittendrin.
«Für Fastnacht gab es wenig Zeit für Proben vor Ort und zudem wurde das Stück mehrere Male gespielt. Das erfordert eine präzise konzeptionelle Vorbereitung und genaue Anweisungen für die Performer:innen». Die Partitur für Fastnacht ist eine Audiospur, die allen Mitwirkenden mittels ‘in ear-headphones’ eigene Aktionen zuweist. In die Performance sind Rollen eingebaut, die die Handlung brechen: Die Darsteller:innen werden von einer Soundcrew mit Mikrofon (Collin selbst) und Schaltpult verfolgt. «Indem ich zeige wie eine Szene aufgezeichnet wird, zerstöre ich die Faszination. Ich mag solche Metaebenen.», meint Collin. Zur Live-Performance erhält jede Zuschauerin und jeder Zuschauer einen Kopfhörer mit Live-Sound und einem fiktiven Audiobeitrag: die Tonspur schafft eine weitere Metaebene. «Viele Menschen spielen am Wochenende zu Hause solche Kriegsspiele. Den Krieg möchten sie selbst nicht erleben müssen. Solche Dualitäten will ich zeigen».
Gebrochene Re-enactments
Collin kreiert gebrochene Re-enactment die immer auch einen persönlichen Hintergrund haben: «die Idee entstammt einer Fotografie aus der Photobastei in Zürich – eine unscheinbare Landschaft mit Apfelbäumen mit Titel ‘Verdun 2017’. Meine Familie stammt aus der Gegend. In der idyllischen Landschaft fand 1916 eine der blutigsten Schlachten des ersten Weltkriegs statt. Die Foto zeigt aber ein harmloses Motiv». Ein Ort beinhalte immer auch Geschichte, meint Collin. «Durch Klang kann ich einer malerischen Landschaft eine völlig unerwartete Ebene hinzufügen.»
Léo Collin wuchs in einem kleinen Dorf im französischen Jura auf, studierte in Lyon, Genf und zuletzt an der ZHdK in Zürich, zunächst Musikwissenschaft, dann Klavier, Elektroakustik und Komposition. Er komponiert elektronische Musik für Theater und Tanz, auch schon fürs Schauspielhaus Zürich oder das Deutsche Theater Berlin, konzipiert Musiktheater oder auch Vermittlungsprojekte bspw. fürs Sonic Matter Festival Zürich.
Collins Stücke sind immer auf spezifische Räume ausgerichtet und meist mit einer festen Gruppe von Musiker:innen entwickelt, dem Kollektiv International TOTEM (KIT). Er performt in der Regel auch selbst und bindet weitere Musik- und Kunstschaffende ein. Das Publikum ist Teil seiner Stücke, es partizipiert musikalisch oder ist mittendrin, umgeben von Lautsprechern oder mit Kopfhörern ausgestattet.
Inhaltlich aufgeladene Orte
Inhaltlich aufgeladene Ort sind auch in der Trilogie, einer dreiteiligen szenischen Arbeit mit den Titeln Baleen, Medusen und Corals, wesentlich. Corals, der dritte Teil, spielt zum Beispiel in einer Tankstelle. Sie ist das Pendant in der Menschenwelt für Korallenriffe, Mikrokosmen wie Städte, die aus dem Nichts auftauchen und kontinuierlich wachsen. «In den grossen Weiten der USA oder Australiens gibt es oft lange nichts und plötzlich eine Tankstelle voller Menschen, Essen und Benzin. Und gleichzeitig ist Benzin Inbegriff von Umweltzerstörung.»
Léo Collin, Corals, music for Gas stations, Ensemble Inverspace, Eigenproduktion SRG SSR.
Das übergreifende Thema von Trilogie ist die Sorge um das Verschwinden der Artenvielfalt. Die drei Titel Baleen, Medusen, Corals – Wale, Medusen, Korallen – stehen für unterschiedliche Meeresbewohner und deren Biosphären. «Es geht um die Nahrungskette im ‘Web food’: die Grossen essen die Kleinen», so Collin. «In meiner Jugend schwebte ‘No future’, also Kapitalismus- und Konsumkritik, über allem. Heute begleitet mich das Thema weiter».
Medusen, der zweite Teil von Léo Collins Trilogie, fand in einer trashigen Industriehalle am Rande Zürichs statt. Vier Zuschauergruppen begehen mit Kopfhörern, angeleitet von Devices auf ihren Handys oder von einem Schauspieler verschiedene Räume auf den Spuren eines vergangenen Verbrechens.
Ein Puzzle von Ereignissen
Die Handlung besteht aus einem Puzzle von Ereignissen: im ersten Teil, Balleen, zwischen Selbsterfahrungsgruppe, Sportevent oder TV-Koch-Show, im zweiten Teil, Medusen. zwischen Krimi, Konzert und Reality-TV: «Ich beschäftigte mich mit sehr Unterschiedlichem bevor ich Musik machte. In Trilogie gehe ich meinen Kindheits- und Jugenderinnerungen nach und setze sie in Klang um», so Collin. «Als Kind wurde ich zum Beispiel oft vor den Fernsehapparat gesetzt und schaute dann meist Sport. Später wurde mir klar, dass die Sportkommentare ihm erst diese Art Magie verleihen. Meine Arbeit konfrontiert diese Erinnerungen mit zeitgenössischer Musik, in der Hoffnung auf eine Art Emanzipation.»
Léo Collin, Trilogie: Balleen, Corals, Medusen
Trilogie begleitet Collins musikalischen Weg schon über viele Jahre. Das Stück wächst, wuchert und verändert sich laufend – wie die Biosphären innerhalb des worldwide web food.
Gabrielle Weber
Eine Erweiterung von Fastnacht, das Musiktheater Blind Test, kommt am kommenden Festival Neue Musik Rümlingen, zusammen mit Kollektiv International Totem und dem Hyper Duo am 24 und 25. August 2024 zur Aufführung.
Am 19. Juni 2025 widmet sich Léo Collin mit dem Collegium Novum Zürich, erneut der Biodiversität in: Plankton, Musiktheater für Performer·innen, Ensemble und bewegliches Publikum (2025, UA), Zentralwäscherei Zürich.
Neo-Profiles
Léo Collin, Kollektiv International Totem (KIT), Neue Musik Rümlingen, Hyper Duo, Sonic Matter Festival, Collegium Novum Zürich
Lauren Newtons Stimmkunst
Sie ist eine Pionierin der Stimmkunst – die US-amerikanische Vokalistin Lauren Newton. Das volle Potential der Stimme zu entdecken, treibt ihr Schaffen in der Freien Improvisation, im Jazz und der Zeitgenössischen Musik voran. Mit der Schweizer experimentellen Musikszene eng verbunden, unterrichtete sie von 1993 bis 2019 an der Musikhochschule Luzern (HSLU) Jazzgesang und Freie Improvisation.
Luca Koch
Die verschiedensten Formationen von langjährigen Duos, über Vokalensembles zum grossen Jazzorchester prägen ihre Karriere. Ihre Konzerte zeichnen sich durch einnehmende Tiefe und Dringlichkeit auf. Dieses Jahr feiert Lauren Newton ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum. Für die SRF Kultur-Sendung Living Past besuchte ich Lauren Newton in Tübingen in Deutschland, wo sie zuhause ist, und hörte mich mit ihr durch wegweisende Live-Aufnahmen.
Wink des Schicksal
Eigentlich wollte Lauren Newton in Oregon in den USA Kunst studieren, doch bekam sie dort keinen Studienplatz. Als Wink des Schicksals versuchte sie dann ihr Glück in der Musikabteilung. Schon zuhause waren sowohl Klassik wie auch Jazz präsent. Ihr Vater spielte Kontrabass und sang in Nachtclubs. Auch Lauren hatte eine solide Stimme und begann ein klassisches Gesangsstudium. In ihrem dritten Bachelorjahr durfte sie an einem Austauschjahr in Stuttgart teilnehmen. Das war unüblich für Bachelor-Studierende, doch ihr damaliger Lehrer bürgte für sie. Ein grosser Schritt, denn Deutschland wurde ihr neues Zuhause.
Lauren Newton, Sound Songs, Improviation solo 2006.
Klassik-Studentin by Day, Jazz-Rock Sängerin by Night
In Stuttgart trat Lauren Newton ihren Master in der Gesangsklasse der Opernsängerin Sylvia Geszty an und gleichzeitig tauchte sie in die junge Jazzszene der Stadt ein. An einer Jam-Session lernte sie den Trompeter Frederic Rabold kennen, der von Newtons Stimme begeistert war. Kurze Zeit später sang Lauren Newton in seiner Jazz-Rock Band der Frederic Rabold Crew. Der Mix aus einfach komponierten Themen und freier Improvisation, war ideal für sie. Konnte sie so die gelernte Technik des Studiums in der Freiheit der Improvisation ausarbeiten. Beide Tätigkeiten gingen nahtlos ineinander über, es fühlte sich nie wie ein Doppelleben an, erzählte sie mir im Interview.
Vienna Art Orchestra
Die Frederic Rabold Crew wurde 1979 in die Fernseh-Sendung Bourbon Street nach Wien eingeladen, was vom Schweizer Jazzmusiker Mathias Rüegg nicht unbemerkt blieb. Er selbst gründete zwei Jahre zuvor mit Wolfgang Puschnig das Vienna Art Orchestra. Nach dem TV-Auftritt fragte er Lauren Newton sofort an, ob sie ein Teil davon werden wolle. Zehn Jahre lang war Lauren Newton ein unersetzlicher Bestandteil das Vienna Art Orchestra, welches durch dutzende Album-Produktionen und grossen Tours zu einer Instanz des experimentellen Jazz wurde. Ihre Stimme sticht mit messerscharfer Präzision und verspielter Virtuosität aus dem Jazz-Orchester heraus. Eine Zeit, die Lauren Newton um nichts in der Welt missen wollte, auch wenn die ständigen Reisen im Tourbus als einzige Frau herausfordernd waren.
Vocal Summit
Persönlich lernte ich Lauren Newton in ihrer Unterrichtstätigkeit an der Hochschule Luzern kennen. Für mich war sie nicht nur als Vokalistin mit grosser stimmlicher Bandbreite eine wichtige Figur, sondern auch als Musikerin, die grosses Interesse für andere Stimmen mitbringt. Nicht nur als Dozentin half sie ihren Studierenden ihre eigene Stimme zu entdecken, auch auf der Bühne kollaborierte sie immer wieder mit anderen Sänger:innen. Gemeinsam mit Bobby McFerrin, Urszula Dudziak, Jeanne Lee und Jay Clayton bildete sie die Gesangs-Allstar-Band: das Vocal Summit. Fünf komplett unterschiedliche Stimmen kreieren zusammen Soundscapes, die atmen. Die Arbeit mit Stimmen in grösseren Formationen führte Lauren Newton mit der Vokalensemble Timbre fort.
Vom Vom Zum Zum
Lauren Newton machte sich als experimentelle Vokalistin einen Namen, die sich besonders durch Klänge ausdrückt. Aber auch die Arbeit mit Text nimmt eine wichtige Rolle in ihrer Musik ein. Die Zusammenarbeit mit dem österreichischen Dichter Ernst Jandl war besonders prägend. Seine Gedichte wurden dekonstruiert und neu zusammengesetzt, Worte wurden gedreht, gedehnt und rückwärts gesprochen. Das Album Vom Vom Zum Zum auf dem Ernst Jandl selber spricht und Lauren Newton seine Worte umspielt war eine besondere Entdeckung für mich.
Pi aus Vom Vom Zum Zum, Lauren Newton mit Wolfgang Puschnig, Mathias Rüegg und Uli Scherer, 1988.
Duos im Gespräch
Freie Improvisation ist wie ein musikalisches Gespräch. Die Mitspieler:innen gehen aufeinander ein, kommentieren, sind sich einig oder streiten miteinander. Am besten gelänge dies im Duo, erzählt mir Lauren Newton im SWR-Studio in Tübingen.
O How We, Lauren Newton und Phil Minton performten zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne am Festival A Voix Haute in Bagnères de Bigorre, France, am 13. August 2010.
Duo-Aufnahmen bilden denn auch einen grossen Teil ihres Gesamtwerks. Sie kollaboriert beispielsweise mit Anthony Braxton, Phil Minton, Aki Takase und Joëlle Léandre. Besonders die Kontrabassistin Joëlle Léandre begleitet sie bis heute. Ihre Tiefe musikalische Freundschaft spiegelt sich in ihrem Interplay wider. Der reiche kernige Klang von Léandres Kontrabass-Spiel ergänzt Newtons glasklare Stimme perfekt. Erst kürzlich erschien das neue Album des Duos: Great Star Theatre, San Francisco.
Luca Koch
Frederic Rabold, Frederic Rabold Crew, Mathias Rüegg, Bobby McFerrin, Urszula Dudziak, Jeanne Lee, Jay Clayton, Wolfgang Puschnig, Vienna Art Orchestra, Ernst Jandl, Anthony Braxton, Phil Minton, Aki Takase, Joëlle Léandre.
Neoprofil:
Lauren Newton
Sendung SRF Kultur:
Living Past – Lauren Newton, Pionierin der Stimmkunst, 13.02.2024, made by Luca Koch.
Cathy van Eck: Die transzendierte Rolle eines Konzertstücks
Cathy van Eck, Komponistin und Medienkünstlerin, prägt die Schweizer und internationale zeitgenössische Musikszene mit ihren subtilen und hochästhetischen Klangperformances. Ihr Stück In the Woods of Golden Resonances für Schlagzeugsolo nahm innerhalb eines Konzertabends für Schlagzeugsolo eine spezielle Rolle ein. Ein Portrait von Alexandre Babel.
Alexandre Babel
Das Motto klingt wie eine Einladung: mit dem Titel Aufbau/Abbbau kuratierte der spanische Perkussionist Miguel Angel Garcia Martin in der Reihe Friendly Takeover der Gare du Nord in Basel einen Konzertabend der ganz dem Schlagzeugsolo gewidmet war. Sechs Uraufführungen sollten die logistische Realität des professionellen Schlagzeugers durchleuchten. Denn Auf- und Abbaus des Instrumentariums für ein Konzert nehmen in der Regel oft fast ebenso viel Raum und Bedeutung ein, wie der musikalische Moment selbst. Auch wenn das Thema des Abends auf den ersten Blick anekdotisch wirkt, war es in diesem Fall die Grundlage für eine verzweigte Fragestellung, die sich alle eingeladenen Mitwirkenden mit der Schaffung eines neuen Werkes zu eigen machten. Cathy van Ecks In the Woods of Golden Resonances ist dafür ein verbindendes Beispiel.
In the Woods of Golden Resonances zeigt den Schlagzeuger Miguel Angel Garcia Martin im Zentrum der Bühne, in relativer Dunkelheit mit einer roten Stirnlampe, so dass das Publikum nur seine verdunkelte Silhouette erkennt. Mit langsamen und kontrollierten Bewegungen geht er zu einem Becken, das in einer Ecke der Bühne auf dem Boden liegt, hebt es an und hält es dann auf Mundhöhe in horizontaler Position. Ein deutlicher, verstärkter Atemton zeigt, dass der Performer ein Mikrofon trägt und auf das Instrument bläst, als würde er versuchen, den Staub von ihm zu entfernen. Dieser Ton wird offensichtlich elektronisch verarbeitet, und die Wiedergabe über die Lautsprecher macht den Großteil der Klangumgebung aus. “Durch das Pusten wird das ‚Volume‘ der beiden Lautsprecher im Raum höher, und es entsteht ein akustischer Feedback -Klang. Das ganze Stück besteht aus solchen Feedback-Klängen, als würde Miguel den Raum ‚beatmen‘ meint dazu Cathy van Eck.
Anschließend geht er zu einem Metallständer, auf den er sein Instrument legt. Diese einfache, aber sorgfältig choreografierte Handlung wird mit weiteren im Raum versteckten Becken mehrmals wiederholt. Es ermöglicht dem Publikum den schrittweisen und ritualisierten Aufbau einer Perkussionsinstallation auf der Bühne zu beobachten.
In Cathy van Ecks Werken steht der Musikerkörper oft im Zentrum. Die Holländerin Van Eck doktorierte an der Universität Leiden. Sie publiziert und forscht unter anderen über mögliche Verbindungen zwischen Gesten, Sensoren und Klängen und unterrichtet am Sound Arts Department der Hochschule der Künste in Bern. „Auch in In the Woods of Golden Resonances gibt es eine ziemlich starke Beziehung zwischen den Bewegungen des Performers und seinem Material. Seine Bewegungen sind nicht als eine Geste des ‚Nach aussen Zeigens‘ gemeint, mit der Bedeutung ‚ich kontrolliere den Klang‘, sondern eher als ein vorsichtiges Suchen und Wahrnehmen. Deswegen hat Miguel in dem Stück auch eine andere Haltung auf der Bühne als in den andern Stücken des Abends”, so van Eck.
Cathy van Eck, In the Woods of Golden Resonances, Miguel Angel Garcia Martin, UA gare du Nord Basel, 9.4.2024.
Die Stärke von In the Woods of Golden Resonances liegt in der repetitiven, schlichten formalen Anlage. Das Stück dient dazu, von einem Zustand A zu einem Zustand B zu gelangen und endet, sobald die Installation fertiggestellt ist. Die Partitur von Cathy van Eck sieht nicht vor, dass auf den Becken gespielt wird, wenn sie einmal aufgebaut sind. Stattdessen dienen sie als Aufbau für ein weiteres Stück des Programms, Cymbals von Barblina Meierhans. Van Ecks Stück übersetzt damit nicht nur das Thema des Konzerts genau, sondern knüpft in sich auch eine konkrete Verbindung zum nächsten Element des Abends.
Der Moment der Installation, der Bühnenumbau, bildet das eigentliche Stück. Und während man normalerweise versucht, Dauer und Bedeutung des Umbaus zu reduzieren, um den musikalischen Fluss zu gewährleisten, macht In the Woods of Golden Resonances genau das Gegenteil: es nutzt diesen Zwischenraum zwischen zwei Zuständen für einen Moment der Introspektion in die Intimsphäre des Musikers. Van Ecks ästhetische Entscheidungen, wie die verträumte Atmosphäre, die durch das Halbdunkel erzeugt wird, oder der sinnliche Eindruck, den die Verstärkung der Atemgeräusche des Musikers hinterlässt, unterstreichen diese Introspektion.
Die Wirkung des Werks liegt darin, die technische Realität des Schlagzeugers mit seinem Instrumentarium auf poetische Weise heraufzubeschwören und sie gleichzeitig mit seiner Umweltrealität zu verbinden. Dabei wird auch die räumliche Dimension des Konzertraums betont. Dazu Cathy van Eck: “Die Klängen entstehen aus einem Zusammenspiel zwischen der genauen Position im Raum von Miguel, von den Becken und von den Lautsprechern, und dann natürlich auch mit der Raumakustik.”
Van Eck geht jedoch noch einen Schritt weiter: sie lädt das Publikum ein, sich als Teil des Prozesses zu fühlen: Klangeffekte wie die elektronische Bearbeitung mit hoher Lautstärke schaffen einen immersiven Eindruck, und das eigentliche ‚Ballett‘ des Schlagzeugers vermittelt dem Publikum die Illusion, es sei Teil des Prozesses. Und schließlich ‚neutralisiert‘ sie die Figur des Schlagzeugers durch den Lichteffekt auf eine einfache Silhouette, mit der sich jede:r im Publikum identifizieren kann. Van Eck erklärt dazu: “In diesem Fall war das Licht eine Entscheidung des Schlagzeugers Miguel, der mit mir und der Regie zusammengearbeitet hat. Ich kann mir dieses Stück auch gut in einer helleren Umgebung vorstellen. Für mich hängt es sehr vom Raum ab, wie das Licht gestaltet wird.”
In the Woods of Golden Resonances ist Teil einer Reihe von aufeinanderfolgenden und differenzierten Werken Es unterwandert innerhalb der Reihe die üblichen Erwartungen an ein Konzertstück, während es gleichzeitig seinen primären Code respektiert. Die Klangbehandlung ist so interessant, dass es sich auch gut einfach nur ‚hören‘ lässt.
In Frage gestellt wird aber die Rolle des einzelnen Werks resp. seiner Schöpferin oder seines Schöpfers zugunsten einer Einheit, die eine Verbindung zwischen den Elementen schafft. Mir stellt sich die Frage, ob die Notwendigkeit der Kreation nicht darin liegt, dass sie von einem Zustand in einen anderen überführt?
Alexandre Babel
Alexandre Babel stammt aus Genf und lebt in Berlin. Komponist, Perkussionist, Kurator und Publizist, schliesst er sich mit diesem Text dem Team der neoblogger:innen an.
Neo-profiles :
Cathy van Eck, Gare du Nord, Alexandre Babel, Barblina Meierhans
Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 29.01.2014: Grünes Rauschen – Klangkunst mit Cathy van Eck, Redaktion Cécile Olshausen.
Onlinetext, 28.01.2014: Bei Cathy van Eck klingt Gewöhnliches ungewöhnlich, Autorin Cécile Olshausen.
Musik unserer Zeit, 16.6.2021: Alexandre Babel: Perkussionist, Komponist, Kurator, Redaktion Gabrielle Weber.
neoblog, 10.09.2021: un projet est avant tout une rencontre.., Autorin Gabrielle Weber.
Klangkunst von „Sonic Architect“ Merlin Modulaw
Merlin Züllig alias Merlin Modulaw bezeichnet sich als „Sonic Architect“. Der in Paris lebende Zürcher hat Komposition und Sound Design in der Schweiz studiert und entdeckt mit seinen Verknüpfungen von Akusmatik, 3D-Klang, Sound Design und Pop-Referenzen neue künstlerische Räume.
Friedemann Dupelius
„Einen Tisch dekorieren ist komponieren, ein Blumenstrauß ist eine Komposition. Für mich ist Komposition ein sehr weiter Begriff. Auch Sound Design gehört dazu“. Merlin Züllig alias Merlin Modulaw denkt viel in Verbindungen und Assoziationen. Kaum ein Musikgenre und kaum eine gestalterische Tätigkeit gibt es, die er nicht im Zusammenhang miteinander sieht. Das zeigt sich schon früh in seiner musikalischen Biografie: Merlin Modulaw ist noch keine 30 und gehört zu einer jungen Generation, die in den 2010er-Jahren auf Online-Musikplattformen wie Soundcloud sozialisiert wurde. Hier tummelten sich Musiker:innen, die (oft aus dem Jugendzimmer heraus) ihre Stücke mit der Welt teilten, ohne dass ein Plattenlabel oder ein Vertrieb nachhelfen mussten. Angefixt von HipHop-Produktion und elektronischer Clubmusik vertiefte Modulaw seine Fähigkeiten in Komposition und Klangkunst in Studien in den Musikhochschulen in Basel und Bern. Dort kam er in Kontakt mit zeitgenössischer und akusmatischer Musik, Musik für Lautsprecher ohne sichtbare Instrumente, und vertiefte sich in das Thema 3D-Audio.
Klänge für Räume: Der „Sonic Architect“
So entstand die Selbstbezeichnung „Sonic Architect“. Denn: Ob Musiker, Komponist, Produzent, Klangkünstler oder Sound Designer, all diese Begriffe reichten für Merlin Modulaw nicht aus, um den zitierten Blumenstrauß zu beschreiben, aus dem sich seine Aktivitäten komponieren. „Sonic Architect“ bedeutet einerseits, Klänge und Musik für spezifische Räume zu gestalten, wie etwa in der Konzertreihe „Spectres“, die Modulaw gemeinsam mit Axel Kolb in Zürich veranstaltet. Hier erschließen sich Komponist:innen unterschiedlichste Räume mit Lautsprecher-Konstellationen – von großen Industriehallen über Kellergewölbe bis zu Kunstgalerien.
Die akusmatischen Kompositionen von Merlin Modulaw kombinieren Fieldrecordings und Synthesizerklänge und führen an verschiedene imaginäre Orte
Je nach Ort und künstlerischer Intention werden die Boxen im Kreis aufgestellt, frontal aufs Publikum gerichtet oder beschallen auch mal Wände und Winkel des Raumes mit elektronisch-akusmatischen Kompositionen, die speziell für diese Lautsprecher und die Räume mit ihren Eigenfrequenzen und Nachhallzeiten abgemischt und inszeniert werden. Die beteiligten Komponist:innen rotieren von Ausgabe zu Ausgabe. Im Dezember 2023 war die „Spectres“-Reihe Teil des Zürcher Sonic Matter-Festivals. Bei der „Biennale Son“ im Herbst 2023 im Wallis verräumlichte Merlin Modulaw die Klangspuren anderer Künstler:innen in einer Installation von Deborah Joyce-Holman. Er verteilte das Tonmaterial auf fünf in einer Reihe aufgestellte Lautsprecher und auf Subwoofer unter einer Sitzbank für das Publikum. Auch das ist für ihn ein eigener kompositorischer Akt, selbst wenn er die Klänge nicht selbst gestaltet hat.
„Sonic Architect“ bedeutet für Merlin Modulaw aber noch mehr: Nicht nur, mit Klängen Architektur zu betreiben, sonder auch, Identitäten zu schaffen – aus dem unbestimmten Klangstrom der Gegenwart etwas Spezifisches festzuhalten und zugänglich zu machen. Das lässt sich auf alle Tätigkeitsfelder von Merlin Modulaw übertragen, auch etwa auf seine Arbeit als Mastering-Engineer, wenn er der Musik anderer Künstler:innen den filigranen Schliff gibt, der sowohl ihre als auch seine eigene Identität in Szene setzt – oder als Sound Designer, der mit Klängen für Atmosphäre und Identität in Filmen oder Werbeclips sorgt.
„Oft nerven mich Filme mit einer markanten Filmmusik, die einfach drübergeklatscht ist und dir vorschreibt, welche Emotionen du fühlen musst. Also versuche ich, die musikalische Information bereits auf der Ebene des Sound Designs und diegetisch, also direkt in der Szene einzubringen. So könnte dann ein Wind im Hintergrund einen Moll-Akkord beinhalten, den niemand bewusst als solchen wahrnimmt, der aber die Umgebung subtil einfärbt und eine bestimmte Aura erzeugt.“
Für die Zürcher Design-Marke Casella Meyer gestaltete Merlin Modulaw das Sound Design eines Image-Videos mit der für ihn typischen Klangsprache
Klänge für Stimmen: Der Assoziierer
Die musikalischen Ergebnisse, die aus dieser Denk- und Arbeitsweise resultieren, haben andere Künstler:innen neugierig darauf gemacht, mit Merlin Modulaw zu kooperieren. Oft sind es Vokalist:innen – singend, rappend, mit der Stimme oder mit Effekten wie Autotune experimentierend –, die ihre Stimme in Modulaws Soundgewand kleiden wollen. Neun davon fanden Platz auf dem 2023 veröffentlichten Album Ignition. Auch in der Arbeit mit Vokalist:innen geht es Merlin Modulaw viel um Assoziationen: „Die Stimme ist für mich ein Referenzpunkt, an dem sich Hörer:innen schnell orientieren können. Ich kann dann Stimm-Elemente, die oft mit Popmusik im weitesten Sinne assoziiert sind, mit Referenzen aus zeitgenössischer oder elektroakustischer Musik kombinieren und damit experimentelle Musik einem anderen Publikum näherbringen.“
Das Stück C ist Teil des Modulaw-Albums Ignition und entstand in Kollaboration mit dem kalifornischen Rapper DÆMON.
Diese Kombinationen von Referenzen sind für Merlin Modulaw – neben technischen Neuerungen – die Möglichkeit, mit der Innovation in der Musik stattfinden kann. Als Grenzgänger zwischen dem Noch-Bekannten und dem So-noch-nicht-Dagewesenen hat sich Merlin Modulaw in den letzten Jahren gleich mehrere neue Räume erschlossen.
Friedemann Dupelius
Merlin Modulaw, Merlin Modulaw auf Bandcamp, Merlin Modulaw – Ignition (Album), Konzertreihe Spectres in Zürich, Deborah Joyce-Holman, Axel Kolb
neo-Profile:
Merlin Modulaw, Festival Sonic Matter
Uraufführung in 100 Jahren?
„Zukunftsmusik – dem Zeitgeist entkommen“ heißt ein Projekt zum 100. Geburtstag SUISA. 40 Schweizer Musikerinnen und Musiker sollten ihre Ideen zu einer Musik notieren, die erst in hundert Jahren uraufgeführt werden soll: Ein Gruß aus der Gegenwart für das Jahr 2123 zum hoffentlich 200. Geburtstag der SUISA. Am 16. April 2024 wurde das Projekt im Yehudi Menuhin Forum in Bern vorgestellt. Bettina Mittelstraß hat sich unter beteiligten Musikerinnen und Musikern umgehört.
Bettina Mittelstrass
Helena Winkelman, das HYPER DUO, Joke Lanz, Martina Berther, Patrick Frank, Annette Schmucki, Fritz Hauser, Leo Hofmann oder Nik Bärtsch – das sind nur sieben von insgesamt 40 Schweizer Musikerinnen und Musikern, deren „Zukunftsmusik“ im April 2024 in einer Archivbox landete, ohne zuvor zu Gehör zu kommen. Hermetisch verschlossen wird dieses Archiv für 100 Jahre von der eidgenössischen Nationalphonothek in Lugano beaufsichtigt und im Eingangsbereich der «Città della Musica» ausgestellt. Erst 2123 wird das Archiv hoffentlich wieder geöffnet, die Musik aus dem Dornröschenschlaf geweckt und für ein Publikum gespielt, das heute noch nicht einmal geboren ist.
Wie klingt die Schweiz in 100 Jahren?
Wie klingt die Schweiz in 100 Jahren? Eine erste Antwort könnte in der Archivbox schlummern. Leicht fielen die Antworten den 40 Befragten nicht. Skepsis herrschte vor. Welche Instrumente stehen in 100 Jahren überhaupt zur Verfügung? Gibt es noch westliche Notenschrift? Holzinstrumente? Oder hat der Klimawandel die Bäume dahingerafft? Man könne nicht wissen, ob man vor dem Hintergrund schwindender Ressourcen auf diesem Planeten „schlussendlich die Geige verbrennen muss, um nicht zu erfrieren, oder ob man dann die Darmseiten aufkochen muss, um nicht zu verhungern“, sagt der Schlagzeuger Fritz Hauser. Daher hat er seine Komposition in Morsezeichen hinterlegt – in der Hoffnung, dass diese archaischen Zeichen die Menschen der Zukunft zum rhythmischen Musizieren inspirieren, mit welcher Instrumentierung dann auch immer.
Fritz Hauser notiert seine Zukunftsmusik in reinem Morsecode. Hier sein Schraffur für Gong und Orchester, Basel Sinfonietta 2010, Eigenproduktion SRG/SSR.
Musik als Botschafterin des Zusammenspiels?
Bei aller Skepsis gegenüber dem, was in 100 Jahren Musik noch ausmacht oder überhaupt möglich macht – zwei gesellschaftliche Funktionen werden ihr wohl bleiben, meint die schweizerisch-niederländische Komponistin und Violinistin Helena Winkelmann: Musik als Botschafterin des Zusammenspiels und als Vermittlerin einer integrierenden guten Energie. Noch eine andere Sache bleibe menschlichen Gesellschaften wahrscheinlich erhalten, nämlich „dass die Menschen auch zukünftig Probleme mit Ihrem Zusammenleben haben werden.“
Helena Winkelmann hat daher die Anleitung zu einem „Musikrat“ der Zukunft in die Archivbox gelegt. Es ist die musikalische Variante eines tausende Jahre alten Konzepts, dem „Council of Chiefs“ indigener amerikanischer Gesellschaften. In einem Kreis übernehmen Musizierende unterschiedliche Funktionen – musikalisch wie gesellschaftlich. Es gibt zum Beispiel eine hinterfragende, eine erfinderische, eine bewahrende, eine warnende, eine erzählerische und eine entwickelnde Stimme. „Das ist dann auch die Magie von diesem ganzen Kreis, dass das, was uns wirklich weiterbringt, der Austausch von Perspektiven ist.“
Helena Winkelmann trägt zur Archivbox die Anleitung zu einem Musikrat der Zukunft bei. Auch in Geisterlieder, einem Zyklus über Gedichte in 18 europäischen Originalsprachen mit Begleitung verschiedener Instrumentalgruppen, befasst sich Helena Winkelmann mit der Überwindung von zeitlichen und regionalen Grenzen, UA 5.8.2023, Kirche Ernen, Eigenproduktion SRG/SSR.
Ein Raumschiff voller Perspektiven und Gegenwartskritik
„In diesem kleinen Raumschiff befindet sich im Grunde ein Querschnitt durch das momentane Schweizer Musikschaffen“, so beschreibt es der Musikethnologe und Kurator Johannes Rühl, Erfinder der Projekts. Neue Musik, elektronische Musik, Jazz, Pop und Volksmusik sind unter den 40 Kompositionsvorschlägen vertreten, aber auch Klanginstallationen und so verrückte Ideen wie eine Musik mit Pilzen, deren Aminosäuren man heute schon in Klänge umwandeln kann. Ein anderer Vorschlag nimmt das Geräusch von schmelzenden Gletschern auf und transportiert es in Form von DNA in eine Zukunft, in der es in den Schweizer Alpen vermutlich kein ewiges Eis mehr geben wird.
Die meisten der eingereichten Vorschläge für die Archivbox wurden von einem skeptischen und gesellschaftskritischen Zeitgeist geprägt, bestätigt Johannes Rühl. Der Versuch, dem Zeitgeist zu entkommen, müsse verständlicherweise scheitern. „Wir kommen aus dem Jetzt offensichtlich nicht raus. Man hat zudem das Gefühl, dass heutzutage eine Dynamik in der Entwicklung ist, die es in der Vergangenheit so nicht gegeben hat.“ Ob das so stimmt? Wir werden 2123 nicht mehr da sein, um das zu überprüfen. Mögen die nach uns „unsere“ Zukunftsmusik spielen oder nicht.
Bettina Mittelstrass
Zukunftsmusik – dem Zeitgeist entkommen: 100 Jahre SUISA.
Die Idee stammt von Johannes Rühl, dem Ethnologen und Kurator von Musikprogrammen.
Città della Musica
Sendung SRF Kultur:
Zukunftsmusik, Passage, 12.4.2014: Redaktorin Bettina Mittelstrass
Neoprofile:
Helena Winkelman, HYPER DUO, Joke Lanz, Martina Berther, Patrick Frank, Annette Schmucki, Fritz Hauser, Leo Hofmann, Nik Bärtsch, u.a.