Komponieren für Streichquartett mit dem Arditti Quartett

Es gilt als Synonym für zeitgenössische Musik für Streichquartett: das Londoner Arditti Quartett. Seit 1974 widmet sich das Quartett rund um den Violinisten Irvine Arditti ganz dem neuen und neusten Repertoire, sowohl in Konzerten und Einspielungen als auch im Arbeiten mit jungen Komponistinnen und Komponisten. Ende Februar begleitete ich die vier Musiker an einem öffentlichen Workshop an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Da machte das Quartett Halt auf seiner Konzerttournee zum 50-Jahr-Jubiläum.

 

Das Arditti Quartett an der Lecture Performance zusammen mit Isabel Mundry in der ZHdK am 28.2.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Gabrielle Weber
«Gut ist ein Stück, wenn es Zeit und Raum gut füllt», erklärt mir Irvine Arditti im Gespräch am Vorabend des Workshops, nach einer Lecture Performance. Der quirlige Stargeiger mit dem charakteristischen grauen Lockenschopf äussert sich stets etwas doppeldeutig und humorvoll. Die Musik müsse «funktionieren», unabhängig vom Stil oder der Art. Auf Qualitätskriterien lässt er sich nicht ein: «Wir spielten viele gute und auch viele schlechte Stücke. Neue Stücke müssen zuerst einmal die Chance erhalten, gespielt zu werden. Erst dann zeigt sich ob sie gut oder schlecht sind».

 

«Gut ist ein Stück, wenn es Zeit und Raum gut füllt»

Und solche Chancen bietet das Arditti Quartett. Irvine Arditti, erster Geiger und Gründer des Quartetts, Lucas Fels, Cello, Ashot Sarkissjan, zweite Geige, und Ralf Ehlers, Bratsche, sind neugierig auf das junge Musikschaffen und fördern es gezielt. Sie unterrichten begeistert, sei es an internationalen Festivals wie den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik oder an Musikhochschulen wie der ZHdK.

An der Lecture Performance erläuterten sie zunächst generelle Herausforderungen der Notation und Einstudierung neuer Stücke für Streichquartett: dies anhand von Stücken von Komponisten, die für ihre komplexe Kompositionsweise berüchtigt sind, Iannis Xenakis und Helmut Lachenmann, und die sie gemeinsam uraufgeführt hatten.


An Tetras (1983) von Iannis Xenakis exemplifizierte das Arditti Quartett in der Lecture Performance Herausforderungen des Komponierens für Streichquartett, Eigenproduktion SRG/SSR 2023.

 

Mit neun Kompositionsstudierenden probten sie am Folgetag deren neue Stücke fürs Schlusskonzert. Fast alles sind Uraufführungen. Geprobt wird im grossen Konzertsaal mit Publikum.

Schmerzquartett heisst die Komposition von Franziska Eva Wilhelm. Wilhelm stammt aus München und studiert seit Herbst 2021 in Zürich Komposition bei Isabel Mundry. Mit Jahrgang 2003 ist sie eine der jüngsten Teilnehmerinnen am Workshop.

Portrait Franziska Eva Wilhelm © Franziska Eva Wilhelm


«Schmerz hat für mich viel mit Reibung zu tun und auch der Ton der Streichinstrumente entsteht durch eine Art Reibung», meint Wilhelm. «Schmerz ist ein schwieriges Thema und ich wollte es nicht romantisieren. Es geht mir um die Wahrnehmung von Schmerz und wie er sich in Musik verkörpern lässt: um die Textur, nicht um eine Geschichte».

Humor muss sein..

Es wird konzentriert gearbeitet und auch viel gelacht: An einer Stelle verlieren die Musiker die Orientierung in der Partitur und Lucas Fels lockert mit einer Episode auf: «New York, Carnegie Hall!», das sei die laute Antwort Sergej Rachmaninoffs mitten in einem von ihm dirigierten Konzert gewesen, auf die Frage eines Musikers, wo sie im Stück seien. Der Humor baut Spannung ab und integriert die Komponierenden.


In Schmerzquartett von Franziska Wilhelm geht es um die Textur des Schmerzes, UA Konzert Arditti Quartett ZHdK, 1.3.2024.

 

“That’s all? How’s that?” fragt Irvine Arditti zum Ende der Probe von Schmerzquartett, wieder lachend. Wilhelm ist zwar zufrieden, möchte aber noch Weiteres ausprobieren. Das wird fraglos ausgeführt.

Ihr Fazit nach den Proben: «Ich habe viel über spezifische Notationen gelernt. Sie überlassen nichts dem Zufall und wenn es etwas zu entscheiden gibt, entscheidet die Person, die komponiert hat. Ich muss als Komponistin genau wissen, was ich will. Und das muss ich auch kommunizieren können.».

Das Arditti Quartett am Konzert im grossen Saal der ZHdK vom 1.3.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Die notierte Idee so exakt wie möglich in Klang umsetzen

Bei Uraufführungen geht es dem Quartett stets darum, die notierte Idee so exakt wie möglich in Klang umzusetzen. Das gelte genauso für grosse Namen wie auch für junge, noch unbekannte Musikschaffende, sagt Irvine Arditti. Mehrere hundert Streichquartette sind dem Quartett über die 50 Jahre gewidmet worden. Die meisten erarbeiteten sie zusammen mit den Komponistinnen und Komponisten.

 «I really want to play the piece the way you want it to be played», lässt er in den Proben immer wieder verlauten, zum Beispiel bei Andrzej Ojczenasz.

Ojczenasz klärt letzte Notations-Fehler gleich vorab. Das wird geschätzt. Zum Beispiel soll das Cello, gleich im ersten Takt, eine Oktave tiefer spielen. «Das beginnt ja mal schon gut», kommentieren die Musiker lachend.

Sein Quartett Maris Stella ist inspiriert von Gregorianischem Choral. «Die Struktur basiert auf dem Kontrapunkt des Chorals. Ich verbinde dadurch Tradition und Gegenwart», erläutert er.

 

Portrait Andrzej Ojczenasz zVg. Andrzej Ojczenasz

 

Andrzej Ojczenasz stammt aus Polen. Er studierte zunächst an der Krysztof Penderecki Musikhochschule in Krakau, bildete sich dann an der University of Louisville in den USA weiter und absolviert nun den Master in Komposition bei Isabel Mundry.

Gröbere Notationsfehler kommen vor..

Ashot Sarkissjan deckt etwas später einen gröberen Notationsfehler auf: Was man hören wolle, müsse man auch genauso schreiben, sagt er. Gleichzeitig spürt man, dass das Stück die Musiker überzeugt. Das Probenklima ist vertrauensvoll und Ojczenasz nimmt die Korrektur gerne an.

 


Maris Stella von Andrzej Ojczenasz basiert auf Gregorianischem Choral, Aufnahme UA Konzert Arditti Quartett ZHdK, 1.3.2024.

Gegen Schluss der Probe fragt Irvine Arditti auch ihn, ob es ihm gefallen habe: «Ja, aber..» — auch er möchte noch ein paar Stellen korrigieren.

Ojczenaszs fasst seine Learnings folgendermassen: «Präzise notieren, dann wird es auch so gespielt! Und: unbedingt sich selbst und seiner Message gegenüber ehrlich bleiben und niemand anderen darstellen wollen.»
Gabrielle Weber

Das Arditti Quartett im Konzert im grossen Saal der ZHdK am 1.3.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Am Schlusskonzert vom 1.3.2024 im grossen Konzertsaal der ZHdK waren zu hören:
Wojciech Chalpuka: Wohin jetzt? (UA)
Luis Escobar Cifuentes: Ewige Leben (UA)
Wenjie Hu: The Rift (UA)
Amir Liberson: Emptiness (UA)
Franziska Eva Wilhelm: Schmerzquartett (UA)
Nuño Fernández Ezquerra: Lienzo de Luz (2021)
Fabienne Jeannine Müller: Incertain (UA)
Pengyi Li: … Echo … (UA)
Andrzej Ojczenasz: Maris Stella (UA)
Isabel Mundry: Linien, Zeichnungen (2004)

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 3.4.&14.8.2024: Streichquartett heute, Das Arditti Quartett und der NachwuchsRedaktion Gabrielle Weber
Neue Musik im Konzert, 3.4.&14.8.2024: Das Arditti Quartett im Konzert mit jungen Komponierenden, Redaktion Gabrielle Weber

neo-profiles:
Arditti QuartetIsabel Mundry, Franziska Eva Wilhelm, Andrzej OjczenaszWojciech ChalpukaLuis Escobar CifuentesWenjie HuAmir LibersonNuño Fernández EzquerraFabienne Jeannine MüllerPengyi Li

 

Thomas Kessler – Klangutopist und Elektronikpionier ist verstorben

 

Er hat die elektronische Musik in der Schweiz weiterentwickelt wie nur wenige, und er überraschte immer wieder mit frischen Ideen: Thomas Kessler.

Wie heute Mittag bekannt wurde, ist der Schweizer Komponist im Alter von 86 Jahren gestorben. Der Nachruf von Thomas Meyer.

 

Thomas Meyer
Ein Rapper und ein Streichquartett – eine ziemlich ungewöhnliche Kombination. 2007 trat der kalifornische Slam Poet Saul Williams zusammen mit dem Arditti Quartet bei den Tagen für Neue Musik Zürich auf, um das Stück NGH-WHT zu performen. Es war nicht seine erste Begegnung in einem klassischen Rahmen. Zwei Jahre zuvor hatte er schon in Basel mit einem Orchester seine Texte rezitiert, in ‘said the shotgun to the head. Beide Stücke stammten von Thomas Kessler.

 

Thomas Kessler, Basel 29.11.2018 ©Copyright: Thomas Kessler / Priska Ketterer

 

Der Schweizer hatte sich 2001, frisch pensioniert, in Toronto auf die Suche nach dem ungewöhnlichen Sound gemacht. „Ich suchte Poetry, mit Rap, aber nicht mit einem aggressiven Bumm-Bumm-Rhythmus, sondern etwas Offeneres oder Experimentelles. Und ich suchte lange, aber plötzlich hörte ich etwas; da sprach ein Poet mit einem Cellosolo, das war phantastisch. Das hatte Rhythmus, Puls, aber nicht so, wie kommerzielle Musik klingt. Ich dachte, den Mann möchte ich kennenlernen.“ Kurz darauf stand er bei Saul Williams vor der Tür, der rappte ihm bei der ersten Begegnung gleich sein jüngstes Buch vor und meinte: Willst Du das nicht verwenden? So kam es zur Zusammenarbeit.

 


Thomas Kesslers NGH WHT für Sprecher und Streichquartett aus dem Jahr 2006/07, hier interpretiert vom Mivos Quartet und Saul Williams am Lucerne Festival, KKL Luzern 17.8.2019, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Diese Suche nach dem Unverbrauchten, diese Neugierde zeichnete Thomas Kessler zeitlebens aus. Geboren 1937 in Zürich, hatte er sich von jeher eigenständig in – und neben der Avantgarde bewegt. In den 60er Jahren gründete er in Berlin ein eigenes Studio. Bald gingen in diesem Electronic Beat Studio die jungen Rockmusiker ein und aus, entdeckten neue Geräte und entwickelten einen neuen Sound. Von da her war es kaum erstaunlich, dass sich Kessler später dem Rap zuwandte.

 

Thomas Kessler und Saul Williams © Werner Schnetz

 

Ab 1973 baute er in Basel das Elektronische Studio der Musik-Akademie auf und führte es zu internationalem Renommee. Aber auch da suchte er nach unkonventionellen Lösungen. Eine bedeutende Schiene seines Schaffens waren etwa jene live-elektronischen Stücke, bei denen die Solomusiker selber die Kontrolle über den Sound übernehmen und das Klangergebnis somit nicht mehr von einem zentral gesteuerten Mischpult beherrscht wird. Was 1974 mit dem Solo „Piano Control“ begann, kulminierte im neuen Jahrtausend in einer Serie von Orchesterstücken, Utopia genannt.“

 


Thomas Kessler, Utopia II, für Orchester und Elektronik, 2010/11, Basel Sinfonietta, Leitung Jonathan Stockhammer, Stadtcasino Basel 30.3.2014,  Eigenproduktion SRG/SSR.

 

„Ich wollte das ultimative Live-Elektronik-Stück zu machen, eine Utopie. Ich brauche dafür achtzig Steckdosen auf der Bühne, mehr nicht. Jeder Orchestermusiker kommt mit seinem eigenen Setup, mit einem kleinen Köfferchen, in dem der Synthesizer oder ein Laptop liegt. Er steckt die Kabel ein; neben dem Stuhl steht ein Lautsprecher und fertig. Keiner mischt im Saal den Sound zusammen; keine Lautsprecher rundherum.  Der Klang kommt vom Podium, aus den Musikern heraus.“ Die Orchester hatten tatsächlich Spass daran, diesen neuartigen Mischsound selber entstehen zu lassen, einen Klang, so Kessler, „wie er so noch nie gehört wurde“.

 


Thomas Kessler, Utopia III für Orchester (in fünf Gruppen) und multiple Live-Elektronik, Tonhalle-Orchester Zürich, Leitung Pierre-André Valade, Tonhalle Zürich 18.10.2016, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Er war ein quer- und eigenständig denkender Komponist, und doch wäre es falsch, Thomas Kessler auf den Technikfreak oder den genreübergreifenden Innovator zu beschränken. All das wurde nie zum Selbstzweck, sondern mündete jeweils in ein erfrischendes, sensibel ausformuliertes und durchaus mitreissendes musikalisches Endergebnis.
Thomas Meyer

 

Thomas Kessler, Basel, den 29.11.2018  © Thomas Kessler / Priska Ketterer

 

Saul WilliamsElektronische Studio der Musik-Akademie Basel

Sendungen SRF Kultur:
Neue Musik im Konzert, Oratorium von Thomas Kessler und Lukas Bärfuss, 5.1.2022, Redaktion Florian Hauser.
Musik unserer Zeit, My lady Soul I, 28.10.2020, Redaktion Florian Hauser.
neoblog, 8.8.2019: „Ein Mischklang, den man noch nie gehört hat: Thomas Kessler – composer in residence am Lucerne Festival, Autor Thomas Meyer

Neo-Profil:
Thomas Kessler

Musik ist immer politisch! Luigi Nono 100

Luigi Nono (1924-1990) gilt als zentrale Figur der internationalen Musikavantgarde: Ein Portrait von Florian Hauser zu seinem 100. Geburtstag am 29. Januar.

Florian Hauser
Alle sind sie gekommen. Mehrere Tausend Arbeiter versammeln sich in ihrer Betriebspause und wollen hören, was Nono aus den Geräuschen gemacht hat. Das brüllend laute Dröhnen und Zischen des Hochofens in ihrer Stahlfabrik hatte er aufgenommen, und jetzt stellt er ihnen seine Tonbandcollage vor. Und anschliessend diskutieren die Arbeiter darüber, beginnen sie nachzudenken über ihre Arbeitsbedingungen. ‘La fabbrica illuminata’ heisst das Stück, das Luigi Nono Mitte der 60er Jahre den Stahlarbeitern in Genua widmet. Ein Paradebeispiel von Partizipation, würde man heute sagen. Hochmodern, bis heute. Und darum war es ihm immer gegangen: Luigi Nono machte Musik, um ein politisches Bewusstsein zu schaffen.

Luigi Nono, am 12. November 1976 in der Roten Fabrik in Zürich. Nono führt elektronisch bearbeitete Originalgeräusche aus einer Fabrik vor und diskutiert mit den Zuhörern über seine Werke © Keystone.

 

Luigi Nono stammt aus einem Venezianischen Bildungsbürgerhaushalt. Als er ein Jahr alt ist, wird Benito Mussolini zum faschistischen Diktator Italiens. Das prägt Nonos gesamte Entwicklung, ja sein ganzes Leben. Gegen Unterdrückung, Krieg und soziale Missstände will er kämpfen. Dass er das als Komponist tut, ist nur ein Zufall, sagt er: denn er findet Anschluss an die musikalische Avantgarde nach dem 2. Weltkrieg.

Es ist die Zeit des grossen Aufbruchs. Eine junge Komponistengeneration will auch musikalisch eine neue Welt errichten, die alten Expressionen haben ausgedient, klare Strukturen müssen her, neue Komponier-Techniken, auch neue Hilfsmittel wie Elektronik.
Ein wichtiges Zentrum der neuen Avantgarde, die sich formiert, ist das deutsche Darmstadt.


Luigi Nono, Incontri für 24 Instrumente, UA 1955, Eigenproduktion SRG/SSR: 1955 – Nono ist bereits fest eingebunden in die Darmstädter Ferienkurse – schreibt er eine musikalische Liebeserklärung an seine zukünftige Frau, Nuria, die Tochter Arnold Schönbergs: Incontri für 24 Instrumente, die Begegnung selbstständiger musikalischer Strukturen. „So wie zwei Wesen, verschieden voneinander und selbstständig in sich, sich begegnen und aus ihrer Begegnung zwar keine Einheit werden kann, aber ein Sich-Entsprechen, ein Zusammensein, eine Symbiose”. Nach der Uraufführung in Darmstadt verloben sich Nuria Schönberg und Luigi Nono, kurze Zeit später heiraten sie.

 

Drei Komponisten werden bei den sogenannten ‘Internationalen Ferienkurse für neue Musik’ Darmstadt zu den zentralen Figuren: der Franzose Pierre Boulez, der Deutsche Karlheinz Stockhausen und der Italiener Luigi Nono.

Was zunächst als wunderbare und intensive Künstlerfreundschaft beginnt, ändert sich bald, Differenzen werden deutlich. Nono ist derjenige, der nicht l’art pour l’art machen will, wie die Kollegen. Er will raus aus dem Elfenbeinturm, auf die Strasse, zu den Menschen. Und vertont zum Beispiel Abschiedsbriefe zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer….

“Das Menschliche, das Politische lässt sich nicht trennen von Musik” 

Das Menschliche, das Politische lässt sich nicht trennen von der Musik, sagt Luigi Nono. Er versucht immer dringlicher, den Finger auf soziale Missstände zu legen. Mit allen musikalischen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, macht er das: wilden Orchesterimpulsen, Klängen an der Grenze zum Verstummen, mit Collagen, Elektronik oder Musik, die sich im ganzen Raum verteilt.

„Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz, die grösstmögliche entäusserte Innerlichkeit”, mit diesen Worten umschrieb Nono 1983 sein ewiges Ziel, „als Musiker wie als Mensch Zeugnis abzulegen”.


Luigi Nono, No hay caminos, hay que caminar, UA 1987, Eigenproduktion SRG/SSR: Den Satz „Caminantes, no hay caminos, hay que caminar« (Wanderer, es gibt keinen Weg, du musst einfach gehen) hatte Nono auf der Wand eines Klosters in Toledo gelesen. Daraus wurde sein letztes Orchesterwerk, der Titel könnte geradezu als Motto für Nonos gesamte kompositorische Arbeit stehen. No hay caminos, hay que caminar. Dynamik und Tempo sind extrem zurückgenommen, nur für kurze Augenblicke entstehen dramatische Klangrisse. Nono verwendet nur einen Ton, das g mit vierteltönigen Erhöhungen und Erniedrigungen, also sieben Töne im Vierteltonabstand in allen Oktavlagen. Die Unterschiede zwischen Tonhöhen und Klangfarben verschwinden, es ist ein magisches Spiel, das die Beziehungen zwischen den Parametern radikal überdenkt.

 

Sein Leben, sein Musik-Machen ist anstrengend, und letztlich zerbricht Nono vielleicht an seinem eigenen Anspruch. ‘Ich habe eine Selbstzerstörung an mir vorgenommen,’ wird er am Ende sagen, und als er mit Mitte 60 stirbt, hat er einsehen müssen, dass auch Musik keine Revolutionen auslösen kann.

Was von ihm bleibt? Seine kompromisslose Haltung. Sein Motto. Ascolta! Hör doch zu!
Florian Hauser

Luigi Nono (1924 – 1990) conducting his piece ‘Canti di vita e d’amore: sul ponte di Hiroshima’ in rehearsal at the Royal College of Music, London, 7th September 1963. © Erich Auerbach/Hulton Archive/Getty Images.

 

Sendungen SRF Kultur:
Luigi Nono zum 100: Helmut Lachenmann und seine Erinnerungen an Luigi Nono, Musik unserer Zeit, 31.01.2024, Redaktion Florian Hauser.
Er vertonte die Abschiedsbriefe von Widerstandskämpfern, online-Text srf.ch, 29.01.2024: Autor Florian Hauser.
Zum 100. Geburtstag: Luigi Nono: Fragmente – Stille. An Diotima, Diskothek, 29.01.2024, Redaktion Annelis Berger

neo-profil:
Luigi Nono

Schmiedwerk der Improvisation am Jazz Festival Willisau 2023


Seit seiner Gründung im Jahr 1975 ist das Jazz Festival Willisau eine Schmiede der improvisierten Musik. Jedes Jahr pilgern im Spätsommer Improvisator:innen aus aller Welt ins Luzerner Hinterland: sie sind in intimen Konzerten oder in grossen Acts in der Festhalle zu erleben und werden alljährlich in verschiedenen Sendungen auf SRF 2 Kultur portraitiert. Roman Hošek und Luca Koch von der Musikredaktion SRF Kultur haben dieses Jahr auch Live-Video-Interviews mit verschiedenen Improvisations-Bands geführt.
Luca Koch stellt im neoblog zwei der portraitierten Bands vor: Der Verboten und How Noisy Are The Rooms? 

 

‘Der Verboten’: Antoine Chessex, Christian Wolfarth, Frantz Loriot, Cédric Piromalli

 

Luca Koch
Wer ihren Bandnamen im Programm entdeckt, denkt vielleicht sofort an ein weisses, rundes Schild mit rotem Rand oder hält den Namen gar für einen Tippfehler: Ist «das Verbot» oder «die Verbotenen» oder «Der Vorbote» gemeint? Was grammatikalisch falsch anmutet, ist ursprünglich aus einem Witz entstanden. Das Quartett mit Christian Wolfarth, Frantz Loriot, Antoine Chessex und Cédric Piromalli probt sowohl auf Deutsch wie auch Französisch, Übersetzungsfehler sind da inklusive. Entstanden und geblieben ist der Name, denn wer definiert schon was richtig und was falsch ist. Unsere Sprachen bestehen wie die Musik aus Regeln und Strukturen, die aufgebrochen werden können. Die Musik von Der Verboten ist frei von Regeln und ineinander verzahnt. Genau dieses Zusammenspiel treibt die Band an.

 

Der Verboten: Vertiefung statt Innovation

Das Erkunden neuer Klänge und das Erweitern des Klangs der einzelnen Instrumente steht nicht im Fokus der Band, viel mehr versucht sie, klanglich ineinander zu verschmelzen und ihren gemeinsamen Bandsound zu vertiefen. Christian Wolfarth betont im Interview immer wieder, wie wichtig es sei, die richtigen Bandkollegen zu finden. In diesem Quartett sei es so, wie in einer alten Freundschaft, auch wenn lange nicht geprobt oder Konzerte gespielt hätten, knüpften sie genau da an, wo sie das letzte Mal aufgehört hätten.

Zeit verschmilzt.

Damit Piano, Schlagzeug, Viola und Tenorsaxofon zu einem einzigen musikalischen Organismus verwachsen können, braucht die Band vor allem eines – Zeit. Erst in langen Improvisationen tritt die erwünschte Form von verwobenem Interplay ein. «Ich glaube behaupten zu dürfen, dass uns das bei jedem Konzert gelingt», meint Christian Wolfarth im Interview. Ganze zwei Stücke spielte das Ensemble am Jazz Festival Willisau in ihrem einstündigen Set und die Pause dazwischen diente – vor allem dem Publikum – als Verschnaufmöglichkeit. Langsame Entwicklungen, kaum merkliche Veränderungen führen dazu, dass sich das Publikum  im Konzertsaal immer wieder frägt, wie der Verboten musikalisch von A nach B gekommen ist.

 


Christian Wolfarth und Antoine Chessex vor ihrem Konzert im Live-Interview am Jazz Festival Willisau 2023.

 

Mit der gleichen Ruhe und Reflektiertheit wie im Gespräch standen Der Verboten auch auf der Bühne. Sie entführten so sehr in ihre Klangwelt, dass ich während des Konzerts nicht mehr wusste, ob schon zwanzig oder erst zwei Minuten vergangen waren.

Eine weitere Band, die mit dem Zeitempfinden ihres Publikums spielt, ist How Noisy Are The Rooms?. Im Gegensatz zu Der Verboten scheinen bei ihnen die Minuten aber zu rennen. Ein hohes Tempo und eine grosse Dichte an Sounds prägen ihre Klangästhetik.

 

‘How Noisy Are The Rooms?: Almut Kühne, Joke Lanz und Alfred Vogel

 

How Noisy Are The Rooms? stellt gerne Fragen..

Das Trio mit Alfred Vogel, Joke Lanz und Almut Kühne stellt gerne Fragen: Wieviel Noise erträgt ein Raum oder auch: kann Musik ein Schleudertrauma auslösen? Improvisation mit viel Energie, punkiger Ästhetik und schneller Interaktion vermittelt  den Zuhörenden an Konzerten von How noisy are the rooms?  das Gefühl, Kugeln in Flipperkästen zu sein, die hin und her geschleudert werden. Die kreative musikalische Anarchie des Trios auf der Bühne fordert ihr Publikum heraus, manchmal überfordert sie sogar. Alfred Vogel betont: «Ich will die Leute eigentlich nicht überfordern. Verstehen folgt auf Zuhören. Man muss einfach die Ohren aufmachen und im besten Fall macht’s was mit dir.»

 

Turntables und Whistle Notes

Die treibenden Rhythmen von Alfred Vogel am Schlagzeug und die Stimmakrobatik von Almut Kühne verleihen der Musik von How Noisy Are The Rooms? archaischen Charakter — Perkussion und Stimme sind wohl die ältesten Instrumente der Menschheit. Joke Lanz, der mit seinen Turntables Soundsamples loopt und verzerrt, bringt eine performative, elektro-analoge und auch humoristische Komponente ins Spiel.

 


Alfred Vogel vor dem Konzert von How Noisy Are The Rooms? im Live-Interview am Jazz Festival Willisau 2023.

 

Alfred Vogel wollte früher Rockstar werden, diese Energie steckt heute noch in How Noisy Are The Rooms?. Er sei aber froh, habe er einen anderen Weg eingeschlagen: sein jetziges Musikschaffen sei divers und reichhaltig.

 

Postmusikalisches Wimmelbild

Wie ein Wimmelbild setzt sich die Musik des Trios aus eklektischen Klängen und kurzen, pointierten Phrasen zusammen. Klare Strukturen, Harmonien und greifbare Melodien gibt es nicht in ihrem Klangmosaik. Trotzdem wecken die musikalischen Streitgespräche der drei Musiker:innen Bilder in den Köpfen: Ich fühle mich in eine dröhnende Grossstadt versetzt oder als Teil einer Game-Animation.

 


How Noisy Are The Rooms? Video ©Denis Laner / Alfred Vogel 2021

 

Durch ihre Dichte und Fülle an musikalischen Einzelteilen treffen How Noisy Are TheRooms? den heutigen Zeitgeist einer unruhigen Welt.  Alfred Vogel erzählt im Interview: «Musik oder Kunst soll immer auch die Welt spiegeln in der wir leben. Was ist überwältigend? Die Geschehnisse heutzutage in dieser Welt sind auch alle überwältigend. Alles passiert gleichzeitig. Everything, everywhere, all at once. So ist das auch in unserem Sound». How Noisy Are the Rooms? ist  die grösste Entdeckung für mich an der diesjährigen Ausgabe des Jazz Festival Willisau.
Luca Koch

 

Cédric Piromalli, Christian Wolfarth, Frantz LoriotAlmut Kühne, Alfred VogelSudden infant

Sendung SRF Kultur:
Neue Musik im Konzert, 25.10.2023: Anarchie und Energie am Jazzfestival Willisau, Redaktion Benjamin Herzog.

Neo-Profiles:
How Noisy Are The Rooms?, Joke LanzDer Verboten, Antoine Chessex

 

 

 

 

 

 

 

 

Contrechamps Genève feiert das Hören

Ensemble Contrechamps Genève startete eine dichte Saison mit zahlreichen Highlights. Das Programm ist exemplarisch für die neue Ausrichtung des wichtigsten Genfer Ensemble für zeitgenössische Musik unter der künstlerischen Leitung des Perkussionisten Serge Vuille. Er übernahm Contrechamps vor fünf Jahren und hat die Ensemble-DNA seither radikal neu geprägt. Serge Vuille im Gespräch:

 

Portrait Serge Vuille © Serge Vuille

 

Gabrielle Weber
Contrechamps bespielt den grossen Konzertsaal der Victoria Hall in Genf, es eröffnet die Festivals Biennale Musica Venezia oder Sonic Matter Zürich oder es lädt ganz einfach – ohne Konzert – zu einem Vinyl- und neo.mx3.ch-Release-Hörwochenende in Genf ein. Die unterschiedlichen Veranstaltungen sind charakteristisch für die neue Ausrichtung des traditionsreichen Ensembles unter Serge Vuille.

„Contrechamps sucht ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Musik-Praktiken“, sagt Vuille. Da sind einerseits Konzerte mit Instrumentalmusik für grosses Ensemble, oft verbunden mit Komponistenpersönlichkeiten und der jungen Szene der Romandie, andererseits Projekte in Verbindung mit anderen Sparten und Musikgenres, in Kombination mit Visuellem und Performativem, Elektronik, Pop oder Jazz. Und immer geht es Vuille auch um ganz spezielle Hörerlebnisse.

Für Ersteres stand anfangs Saison beispielsweise ein Konzert zum 65. Geburtstag des Genfer Komponisten Michael Jarrell, ein „traditionelles“, dirigiertes Konzert für große Ensembles in der Victoria Hall. Contrechamps gab dazu sieben neue kurze Stücke an seine Studierenden in Auftrag. „Damit unterstützen und fördern wir die regionale Kreationsszene, das ist uns ein wichtiges Anliegen“, sagt Vuille.

Ende 2022 veranstaltete es bereits eine Hommage an Éric Gaudibert, vor zehn Jahren verstorbener Lausanner Komponist, der die Szene wesentlich prägte. Dabei führte es nebst Gaudibert 22 neue Stücke ehemaliger Studierender auf, Miniaturen von je nur zirka einer Minute Dauer, in ganz unterschiedlicher, frei gewählter Besetzung.

 


Éric Gaudibert, Skript, pour vibraphone et ensemble, Contrechamps, Bâtiment des Forces Motrices de Genève, Concours de Genève, 2009, Eigenproduktion SRG/SSR

 

In einem ganz anderen Kontext und Setting, zur Eröffnung der Biennale Musica Venezia, zeigte Contrechamps GLIA für Instrumente und Elektronik, ein Werk der 2009 verstorbenen US- Elektropionieren und Klangkünstlerin Maryanne Amacher aus dem Jahr 2005. An Amachers Schaffen interessiert Vuille auch der Aspekt spezieller gemeinsamer Hörerfahrung: Zur Festivaleröffnung in einer grossen leergeräumten und abgedunkelten Halle der umgenutzten Schiffswerft Arsenale, ging das zahlreiche Publikum (darunter auch die Autorin), umgeben von Lautsprechern, extremen Klangveränderungen umherwandernd nach: die Instrumentalist:innen spielten auf einem Podest, als vibrierende Klangskulptur, oder sie bewegten sich mit den Zuhörenden. „GLIA ist  fast eine Klanginstallation, ein Teil des Stücks spielt sich in den Innenschwingungen im Ohr ab, nicht im Raum und es basiert nicht auf einer Partitur, sondern auf mündlichen Schilderungen damals Beteiligter: das fordert einen hohen kreativen Anteil von jedem Einzelnen der Interpreten“, sagt Vuille.

 

Maryanne Amacher, ‘GLIA’ am Eröffnungskonzert der Biennale Musica Venezia, Contrechamps, Arsenale 16.10.2023 © Gabrielle Weber

 

Zurück zu den Gaudibert-Miniaturen: sie finden sich nun auf einer der eingangs erwähnten neuen Vinyl-Schallplatten und markieren den Beginn der neuen Vinyl-Reihe Contrechamps/Speckled-Toshe, zusammen mit dem Lausanner Label Speckled-Toshe. „Die 22 Kompositionsaufträge von je einer Minute, das war eine immense Arbeit und es entstanden so vielfältige Werke, dass wir die Hommage mit einem bleibenden Objekt dieser neuen Generation beschliessen wollten. Die Schallplatte ist dafür das passendste Format: es gibt kaum etwas Besseres sowohl in Bezug auf die Aufnahme- und Übertragungsqualität, als aufs Objekt“.

 


Daniel Zeas, «Eric – Cara de Tigre» für Ensemble und Tonband, eine der 22 Miniaturen auf der neuen Vinyl-Schallplatte, Contrechamps / Speckled-Toshe 2023: Der Hintergrund: Gaudibert sei Zea im Traum kurz nach dessen Tod als lachender Tiger erschienen: er habe danach lange geweint zwischen Trauer und Freude.

 

Zum Vinyl-launch lud Contrechamps wieder zu einem speziellen Hörerlebnis ein: im les 6 toits , einem angesagten Genfer Kulturzentrum auf einer ehemaligen Industriebrache, konnte man sich ein Wochenende lang in Hörlounges die neuen Vinyl-Releases und eigene Lieblings-Schallplatten zu Ohr führen. Und mit einer Vernissage wurde auch das frisch veröffentlichte Contrechamps-Audioarchiv auf neo.mx3.ch gefeiert. Dazu gab’s live-aufgenommene oder -ausgestrahlte Radiosendungen auf RTS und SRF2Kultur rund ums Hören und qualitatives Aufnehmen zeitgenössischer Musik.

Wie Vinyl stehe die SRG-online-Plattform neo.mx3.ch für eine Art des Hörens und eine Sorgfalt der Produktion: „Beide sind darin verbunden, dass sie der zeitgenössischen Musik Visibilität und Dauer verleihen – durch sorgfältige Neueditionen und die Pflege von historischen Archiven“.

Auf der Plattform für das Schweizer zeitgenössische Musikschaffen finden sich auch zahlreiche selten gespielte Werke in ungewöhnlicher Besetzung, wie Michael Jarrells «Droben schmettert ein greller Stein» von 2001 für Kontrabass, Ensemble und Elektronik.

 


Contrechamps nahm Jarrells Stück 2005 im Radiostudio Ansermet unter der Leitung von George Benjamin auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Contrechamps lädt sukzessive sein gesamtes umfangreiches Radioarchiv hoch, zurückgehend bis 1986, den frühsten Aufnahmen. Es sei wichtig, dass solche Plattformen existierten und  geschätzt  würden. „Viele der Stücke sind sonst nirgends hörbar: das ist einzigartig“, sagt Serge Vuille.

Entdecken lässt sich auch zum Beispiel Feux von Caroline Charrière. Die 1960 in Fribourg geborene Komponistin Charrière verstarb früh, bereits 2018, und Contrechamps setzt sich für ihr Werk ein. Vuille ist es auch ein Anliegen, dem Schaffen von Komponistinnen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und zu einer ausgewogeneren Genderbalance in der zeitgenössischen Musik beizutragen.

 


Feux für Flöte, Klarinette, Marimba, und Streicher von Caroline Charrière, dirigiert von Kaziboni Vimbayi, führte Contrechamps 2019 in der Genfer Victoria Hall auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Am Eröffnungskonzert des diesjährigen Zürcher Festivals Sonic matter präsentiert Contrechamps neue Stücke von drei Komponistinnen aus dem Nahen Osten für kleines elektronisches Ensemble. Da kommen weitere Leidenschaften Vuilles zusammen: „Ich interessiere mich schon lange sehr für die Szene des Nahen Ostens. Sie ist in Bezug auf Kreation, insbesondere in allem, was mit Elektronik zu tun hat, sehr lebendig“, sagt Vuille. Dass Sonic Matter dieses Jahr mit dem Gastfestival Irtijal aus Bejrut kollaboriert, sei eine hervorragende Gelegenheit zur ersten Zusammenarbeit. Und sicherlich auch für einzigartige Hörerfahrungen.
Gabrielle Weber

 

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Sonic Matter: Becoming / Contrechamps 30.11.2023, 19h (Einführung 18h)
Biennale Musica Venezia, Maryanna Amacher, GLIA / Contrechamps, 16.10.2023
Genève, Les 6 toits: Contrechamps: Partage ton Vinyle!, 20-22.10.2023

Speckled-Toshe; Contrechamps/Speckled-Toshe:
1.Vinyl: 22 Miniatures en hommage à Éric Gaudibert
2.Vinyl: Benoit Moreau, Les mortes

Sonic matter, Nilufar Habibian, Irtijal, les 6 toits

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 18.10/21.10.23: Partage ton Vinyle! Ensemble Contrechamps Genève feiert das Hören, Redaktion Gabrielle Weber
neoblog, 7.12.22: Communiquer au-delà de la musique, Autorin Gabrielle Weber
neoblog, 19.6.2019: Ensemble Contrechamps Genève – Expérimentation et héritage, auteur Gabrielle Weber

Sendungen RTS:
L’écho des pavanes, 21.10.23: Aux 6 toits, enregistrer la musique contemporaine,  auteur: Benoît Perrier
Musique d‘avenir, 30.10.23, Partage ton Vinyle, ta cassette ou ta bande Revox!  auteur: Anne Gillot

Neo-Profile:
Contrechamps, Daniel Zea, Festival Sonic Matter, Benoit Moreau

 

 

Neue Energien: Klangkunst im Wallis

Die Biennale Son findet im Herbst 2023 zum ersten Mal statt. Mit Sion, Martigny und Sierre (und ein paar kleineren Spielorten etwas außerhalb) bespielt sie den französischsprachigen Teil des Wallis entlang der Rhône über sechs Wochen mit Klanginstallationen, Konzerten und Performances.

 

Friedemann Dupelius
Eisblau liegt auf 2.364 Metern Höhe der Lac des Dix. Seine Staumauer gilt mit 285 Metern als das höchste Bauwerk der Schweiz. Über Druckleitungen ist der Damm unter anderem mit dem Chandoline-Kraftwerk in Sion verbunden. Seit Juli 2013 fließt darin kein Wasser mehr hinab ins Rhône-Tal, die Rohre sind stillgelegt. Und doch knistert es weiter in dem modernistischen Bau, seiner Aura wegen. So stark, dass er ins Visier dreier Kuratoren geriet. Seit Mitte September ist das Kraftwerk nun die Zentrale der neuen Biennale Son. Hier erzeugen internationale Künstler:innen durch den Dialog ihrer Arbeiten mit der industriellen Architektur neue Energie. Und von hier aus versorgt die Biennale Son verschiedene Orte entlang der Rhône mit künstlerischem Strom.

 

(c) Olivier Lovey
Der Tessiner Architekt Daniele Buzzi entwarf 1934 das Kraftwerk “Chandoline”, das die Hauptausstellung der Biennale Son beherbergt.

 

Die Biennale Son präsentiert Kunstformen, die in der Romandie für gewöhnlich eher in Genf oder Lausanne stattfinden. Und doch gibt es auch hier eine Tradition und eine kleine Szene für experimentelle Musik. Seit den 90er-Jahren ist die Vereinigung Dolmen in der Region aktiv, daneben ist das etwas mehr am Pop orientierte Palp-Festival für Experimente bekannt.

 


Christian Marclay, Screenplay part 2, gespielt vom Ensemble Babel

 

Auch der klangaffine Bildende Künstler Christian Marclay kommt aus dem Wallis – genauso wie Luc Meier, Co-Kurator der Biennale Son, der sich darüber freut, dass er Marclay für die Erstausgabe des Festivals in der gemeinsamen Heimat gewinnen konnte. Der Exil-Schweizer ist mit zwei Arbeiten Teil der Hauptausstellung im Kraftwerk. Künstler:innen wie Christian Marclay sind Gründe dafür, warum die Biennale Son ins Leben gerufen wurde: „Seit langem befruchten sich Klang und Bildende Kunst gegenseitig“, sagt Luc Meier, „doch gerade in den letzten Jahren hat das nochmal deutlich zugenommen. Die Grenzen zwischen den Disziplinen werden durchlässiger. Das zeigt sich auch in Begriffen, die neuerdings in den Kunstdiskurs geschwappt sind: Man spricht etwa davon, sich auf andere, nicht-menschliche Lebensformen einzuschwingen oder mit der Umwelt zu resonieren.“

 

Die Basilique Valère auf dem südlichen Burghügel von Sion

 

Himmelblaue Rhône, spätgotische Orgel

Die Auseinandersetzung mit der Landschaft und ihres Wandels ist bei einem Kunstfestival in solch einer Umgebung unvermeidbar. In Sion ist die Rhône noch himmelblau, wirkt frisch und gesund, malerisch eingebettet in die kantigen Gebirgszüge am Horizont. Doch machen sich klimatische Veränderungen auch hier bemerkbar. Der Rhône-Gletscher ist seit vielen Jahren im Rückgang begriffen. So mikrofonierte die kanadische Klangkünstlerin Crys Cole den Grande Dixence-Staudamm und brachte den tönenden Geist des Wassers wieder in das ansonsten spukend leere Kraftwerk zurück. Und auf organisatorischer Ebene versucht die Biennale Son, ihren eigenen ökologischen Fußabdruck in den Alpen möglichst gering zu halten. Sie hält Flugzeugreisen minimal und achtet auf möglichst geringen Stromverbrauch und Materialverschleiß.

Neben Stauseen und Bergen mit Gipfelkreuzen prägen Kirchen das Landschaftsbild im Wallis. „Es ist ein traditionell katholischer Kanton und religiöser als andere Orte in der Romandie“, weiß Luc Meier. In einigen der Kapellen und Basiliken fand die Biennale Son ihre Spielorte. Meier vergleicht sie mit dem Kraftwerk in Sion: „Ohne esoterisch klingen zu wollen, aber auch in diesen Kirchen gibt es eine Art von Energie, die sich transformieren lässt. So wie wir das Kraftwerk in Schwingung versetzen können, können wir auch diese Kirchen neu resonieren lassen.“ In der Sioner Basilique de Valère findet sich eine der ältesten Orgeln der Welt, fast 600 Jahre alt. Wenn das queere Duo Judith Hamann und James Rushford dieses Instrument spielen darf, wird die Floskel von der Transformation dringlich und greifbar. „Wer durfte hier bislang eintreten? Wer durfte hier Musik machen?“, fragt Luc Meier. „Welches Echo werden solche Performances haben? In den Bergen um uns, aber auch in den sozialen Räumen, die wir dabei schaffen?“

 

Die Schwalbennestorgel der Basilique de Valère wurde 1435 gebaut

 

Begegnungen im Rhône-Tal

Diese Orte der Begegnung sind tatsächlich erst im Entstehen begriffen. Das Team der Biennale Son verlässt sich auf ein allgemein kunst- und musikinteressiertes Schweizer Publikum, das den Weg in die Alpen nicht scheut. Zugleich sieht Luc Meier aber auch das Potenzial, ein lokales Publikum neugierig zu machen. Außerdem habe das kuratorische Team darauf geachtet, dass die Live-Performances an Freitagen und Samstagen stattfinden. In Locations wie Jazzclubs und Theatern treten nahmafte Künstler:innen wie Saâdane Afif, Félicia Atkinson, Alvin Curran, David Toop oder Kassel Jaeger auf. Und wer sich eingehender mit der Geschichte klangbasierter Kunst beschäftigen möchte, kann die Ausstellung der Sammlung FRAC Franche-Comté aus dem französischen Besançon in der Médiathèque Martigny besuchen.

 


Das Eklekto Geneva Percussion Center spielt Choeur Mixte für 15 snare drums (2018) von Alexandre Babel. Beide sind zu Gast bei der Biennale Son.

 

Und dann ist da noch die Hochschule Édhéa (École de design et haute école d’art du Valais). Im beschaulichen Sierre kann man mittlerweile einen künstlerischen Bachelor explizit im Bereich Klang studieren. Studierende und Alumni der Édhéa sind aktiv an der Biennale Son beteiligt, hinter den Kulissen und als Ausführende: Claire Frachebourg hat quer durch den Keller des Kraftwerks eine Skulptur gezogen, die an ein Boot oder eine Mumie erinnert. Den Soundtrack zum Objekt hat Frachebourg während einer Künstlerinnen-Residenz auf einem Boot aufgenommen, das von Island nach Grönland fuhr. Noch mehr klingendes Wasser, noch mehr Power fürs Kraftwerk, das endlich wieder tun darf, wofür es einst gebaut wurde: Energie erzeugen und verteilen.
Friedemann Dupelius

Biennale Son, 16.9.-29.10., Wallis
Der Podcast der Biennale Son führt ins Programm ein
Podcast bei Spotify

École de design et haute école d’art du Valais (Édhéa)Klangkunst-Sammlung; FRAC Franche ComtéWalliser Musik-Initiative DolmenFestival PalpClaire Frachebourg

neo-Profile:
Alexandre BabelEklektoFrançois BonnetEnsemble Babel

Klangwandern im Tessin auf den Spuren von Utopisten

Das Basellandschaftliche Neue Musik-Festival Rümlingen, das Tessiner Pendant la Via Lattea und die Associazione Olocene im Onsernonetal laden gemeinsam ins Tessin zu einem speziellen Klangwanderungs-Festival ein. Unter dem Motto Finisterre  kann man sich vom 28.7. bis zum 1.8., gemeinsam entlang symbolträchtiger Orte auf die Suche nach dem Ende der alten und einer besseren neuen Welt begeben: auf dem Monte Verità, der alten via delle Vose im Onsernonetal und auf den Brissago-Inseln.

Gabrielle Weber
Sich auf den Spuren vergangener Weltverbesserer mit Musik und Kunst in die Natur begeben: Dazu lädt das gemeinsame Festival an vier Tagen ein: Ausreichend Zeit also, um ausgehend von den gesellschaftlichen Utopien der natur- und körpernahen Kommune des Monte Verità alternative Lebensentwürfe zu entdecken. Sie werden durch zahlreiche internationale Kunstschaffende wie Isabel Mundry, Carola Baukholt, Jürg Kienberger, Mario Pagliarani oder der New Yorker Komponistin Du Yun und dem Norweger Trond Reinholdtsen in neuen, auf konkrete Orte, Visionen und Visionäre bezogenen Werken zum Leben erweckt.

 

“Het Geluid”  bei Proben auf dem Walkürefelsen / Monte Verità ©Johannes Rühl

 

Ausgangspunkt bildet der Monte Verità, ein Hügel oberhalb Asconas, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem magischen Ort für Zivilisationsfliehende und Sinnsuchende wurde. Zum Festivalauftakt wird er am ersten Tag bereits ab Sonnenaufgang mit neuen Werken und Installationen von Manos Tsangaris, Trond Reinholdtsen oder Lukas Berchtold bespielt.

Den “Berg der Wahrheit” erwarben 1900 der Sohn eines belgischen Industriellen mit seiner Geliebten, der Münchener Pianistin und Musiklehrerin Ida Hofmann. Auf dem anfangs 1,5 Hektar großen Stück Land realisierten sie ihren Traum eines naturnahen Lebens in klassenloser Freiheit, abseits von Industrialisierung, Kapitalismus und Materialismus. Zahlreiche namhafte Schriftsteller, Künstler:innen, Intellektuelle und Anarchisten aus ganz Europa und Übersee schlossen sich an, später Emigrant:innen der Weltkriege. 1913 folgte bspw. Rudolf Laban, Münchner Choreograf, und eröffnete seine wegweisende Tanzschule für Ausdruckstanz. Licht, Luft, Wasser und Sonne bildeten Elixier für eine Seele-Geist-Körper-Einheit, gelebt in Eurythmie, Feminismus, Gartenarbeit und Sonnenbad in luftigem Gewand oder freiem Körper.

Auch der 2005 verstorbene Schweizer Kurator Harald Szeemann, Leiter der Kasseler documenta5 1972,  fing Feuer und machte das Tessin ab den siebziger Jahren zu seiner Wahlheimat. Den Hügel bezeichnete er als «Ort an dem unsere Stirn den Himmel berührt..». Er sammelte alles was er dazu fand, und vereinte es 1978 in der Ausstellung «Monte verità – le mammelle della verità / die Brüste der Wahrheit». Sie tourte international, in Zürich, Berlin, München und Wien, und machte den Berg berühmt. Die 2017 wieder eröffnete Originalausstellung ist während des Festivals zugänglich. Die neuen Werke auf dem Berg lehnen sich an Ausdruckstanz, Naturverbundenheit und Wagnerverehrung der Kommune an.

 

“Het Geluid” bei Proben auf dem Walkürefelsen / Monte Verità ©Johannes Rühl

 

An den Folgetagen geht es auf Spuren weiterer historischer Tessiner Sinnsuchender.

La Via Lattea («Milchstrasse»), das Tessiner Kooperationsfestival, macht sich auf die Fährte des heiligen Brendan.  Der irische Mönch suchte gemäss mittelalterlichen Legende auf einer abenteuerlichen Schifffahrt mit weiteren fratres das irdische Paradies auf einer sagenumwobenen Insel. Das Festival mit dem klingenden Namen verbindet Theater mit Mitteln der Musik und Musik mit Mitteln des Theaters. Es ist im Mendrisiotto im Sottoceneri, südlich des Ceneri, beheimatet und bringt in der Regel historisch-kulturelle Orte um und auf dem Lago di Lugano, dem Ceresio, zum Klingen.

 

La Via Lattea 10, Argonauti 2013, Trailer

 

Dieses Jahr ist es erstmals in Locarno zu Gast und bespielt den Lagio Maggiore: ausgehend von einem Konzertspektakel in der romanischen Chiesa di San Vittore in Locarno Muralto und einem theatralen Spaziergang durch die Gassen von Muralto, unternimmt es Brendans Schiffsroute, begleitet von Musik. Ziel sind nächtlich-meditative Konzerte unter freiem Himmel auf denBrissago Inseln.

Dort ist u.a. die Uraufführung von Composizione per l’Isola di San Pancrazio ,, für verschiedene Gegenstände und 16 Spielende von Mario Pagliarani, Komponist und künstlerischer Leiter von La Via Lattea zu hören.

 


Mario Pagliarani, Debussy – Le jet d’eau, UA Lugano 2009, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Die Täler rund um Locarno waren ab den sechziger Jahren bei Hyppie-Aussteigerkommunen beliebt. Im Onsernone-Tal, auf der alten Via delle Vose, begegnen den Besucher:innen historische Figuren in neuer Gestalt und werden historische Orte neu belebt. Isabel Mundry bspw. wählte für ihr neues Stück Niva-Engramme die kulturhistorisch aufgeladene Kapelle des Oratorio Giovanni Nepumoceno von Niva. Die Niva-Engramme basieren auf einer Motette von Claudio Monteverdi, die sie für Solo-Viola übersetzt und im Dialog mit dem Ort fragmentiert. Mundrys Wahl fiel auf die Kapelle und deren Einschreibung als faszinierendem Ort, an dem ein Visionär verschiedene Kulturen und Religionen im abgelegenen Tessiner Tal zusammenführte. Eine Vision, die ihr zeitgemässer scheint als die für sie – wenn auch –reizvolle Zivilisationsflucht des Monte Verità, wie Isabel Mundry im Gespräch für den neoblog erläutert.
Gabrielle Weber

 


«Komponieren als Form des Zuhörens», Audiointerview mit Isabel Mundry, exklusiv für den neoblog, 17.7.2023, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Sendungen SFR 2 Kultur:
MusikMagazin, 29.7.2023, Redaktion Lea Hagmann: Cafégespräch Mario Pagliarani mit Gabrielle Weber
Musik unserer Zeit, 20.9.2023: Festival Rümlingen im Tessin, Redaktion Gabrielle Weber

Neo-Profile:
Neue Musik RümlingenIsabel Mundry, Mario Pagliarani

 

Empathisches Spekulieren: Magda Drozd

Die Zürcher Klangkünstlerin und Musikerin Magda Drozd setzt sich in Beziehung zu den Klängen und Wesen ihrer Umwelt. Dabei arbeitet sie genauso erkenntnisgeleitet und reflektiert wie spekulativ und fantastisch. Im Frühjahr 2023 erschien ihr drittes Album „Viscera“. Derweil komponiert sie Musik für Theater und Hörspiel und tritt auch als Solo-Performin in experimentellen Soundkontexten zwischen den Szenen in Erscheinung.

Friedemann Dupelius
Welche Musik würde eine Aloe Vera hören? Wozu möchte der Gummibaum im Wohnzimmer tanzen? Wäre die Playlist des Kaktus auf dem Fenstersims gespickt mit Piek Time Hits? Darüber können wir nur spekulieren. Die Zürcherin Magda Drozd hat ein ganzes Album darüber geschrieben: „Songs for Plants“ erschien Ende 2019 auf dem Luzerner Label „Präsens Editionen“ und passte nur zu gut in die Zeit, in der gefühlt alle zu Heimgärtner:innen mutierten.

 

Für die Sound-Installation “Intra-Action / Traces” (2017) zapfte Magda Drozd 200 selbst gezüchtete Kakteen an und machte ihre Klänge hörbar.

 

Ausgangspunkt war ein Kunstprojekt, das für Magda Drozd zunächst darin bestand, 200 Kakteen zu züchten. Zwei Jahre später war eine Klanginstallation daraus gewachsen: „Intra-Action / Traces“. An der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) besuchte die Künstlerin das von Marcus Maeder initiierte „treelab“. Dort fand sie die technischen Behelfsmittel, um die Klänge unterschiedlichster Pflanzen hörbar zu machen. Eine feine Nadel nimmt die Bewegungen von Flüssigkeiten in den Kapillaren (quasi den Adern) der Pflanzen ab. Mehrere Verstärker und eine Software transponieren das Innere der Pflanze dann in den menschlichen Hörbereich. Je durstiger eine Pflanze ist, desto mehr Luftblasen bewegen sich in ihren Kapillaren und desto lauter sind ihre nun klickartigen Laute.

Klänge zwischen Kapillaren und Spiel

Magda Drozd interessierte sich nicht nur für die Bioakustik der Kakteen, sondern auch für ihre eigene Position als Mensch in Bezug auf diese so andersartigen Lebewesen. Dabei ist ihr klar, dass bereits der Schritt der Transponierung ein künstlicher Kniff ist. „Ich repräsentiere die Pflanzen nicht und versuche auch nicht, so gut wie möglich ihren Klang darzustellen. Es ist letztendlich ein Spiel mit dem Material.“

Magda Drozd · Weaving into shoresDie Klanginstallation „Weaving into shores“ kombiniert Aufnahmen vom Zürichsee mit Drones aus Synthesizern und von der Violine. Wie hören wir dem See zu? Was bedeutet er für uns?

Mit den fertigen Kaktus-Instrumenten trat Magda Drozd nun ins Spiel. Sie goss die Gewächse, hörte auf deren Reaktion und bezog auch die Klänge der Erde und Keramik, wenn sie diese berührte, mit ein. „Daraus entsteht erst mal ein Klangteppich. Ich arbeite dann viel mit Frequenzverschiebungen. Unterschiedliche Aufnahmen verändere ich so, dass man nur noch eine Frequenz hört. Dann lege ich Effekte darüber und langsam entsteht aus dem Material, das nur vermeintlich die Pflanze ist, Musik.“ Diese speist sich auch aus Rhythmen oder Melodien, die sich aus den Kapillar-Klängen erkennen lassen, und die Drozd mit Synthesizern oder ihrem Herzensinstrument – der Geige – weiterspinnt. Nicht ohne Grund heißt das resultierende Album dann auch „Songs for Plants“ und nicht „Songs by Plants“.


„Painkiller“ vom Album „Songs for Plants“

 

Magda Drozd wurde 1987 in Polen geboren, wuchs in München auf und zog 2011 nach Zürich, um Theater-Dramaturgie und später Bildende Kunst an der Zürcher Hochschule der Künste zu studieren. Von Theater und Performance fand sie den Weg zur Klangkunst und der experimentellen Musik. Die verschiedenen Kunstformen und ihre Formate durchdringen und vermischen sich in ihren Arbeiten. Von 2019 bis 2021 war sie „Research Fellow“ an der ZhdK und beschäftigte sich mit Klang und Hören als Mittel der Wissensproduktion. In diese Zeit fiel auch die Arbeit an ihrem zweiten Album „18 Floors“. Der Titel bezieht sich auf das Lochergut-Hochhaus in Zürich, in dem die Künstlerin damals wohnte. Sie horchte das Gebäude und seine 18 Stockwerke in allen (ihr zugänglichen) Nischen und Winkeln ab und hielt viele Hörmomente in Fieldrecordings fest. Daraus ergaben sich Fragen wie: Was heißt urbanes Zusammenleben auf engstem Raum? Inwiefern kann man ein Wohngebäude als lebendigen Organismus verstehen? Welches Wissen kann aus genauem Hinhören an einem Ort generiert werden?“


„Dreamy Monster“ vom Album „18 Floors“

 

Hören zwischen Erkenntnis und Spekulation

„Wissen, das sich über Sound vermittelt, ist ein anderes Wissen als das, was wir für gewöhnlich gelten lassen. Es ist fragil, fluide und ephemer. Und es führte mich bald zur Spekulation. Ich habe ja nicht die Gespräche in diesem Haus aufgenommen, sondern seine harten Materialien.“ So ist „18 Floors“ zugleich die Dokumentation eines minutiösen, erkenntnisgeleiteten Hörprozesses – und die in Musik gefasste Spekulation über all die Geschichten, Wesen und geheimen Abläufe, die ein Betongebäude in sich birgt. „Mir ging es nicht darum, jeden Sound einer bestimmten Ecke oder Etage in dem Haus zuzuordnen. Ich habe vieles vermischt. Das ist für mich diese Spekulation: Es entsteht etwas Neues, das unsere Fantasie anregt: Okay, auch das kann ein Haus sein, auch so kann es klingen. Dabei geht es auch darum, durch das Hören empathisch zu werden, durch die Musik auch einen emotionalen Zugang zu einem möglichen Wissen zu bekommen.“ Zunächst sollte „18 Floors“ die Gestalt einer konzeptuellen Performance annehmen. Dass daraus ein Musikalbum wurde hat Magda Drozd der Klangkünstlerin und -forscherin Salomé Voegelin zu verdanken, mit der sie in engem Austausch stand.

 

2022 beschäftigten sich Magda Drozd und Salomé Voegelin in einer Performance mit dem Zürcher Kräutergarten von Conrad Gessner aus dem 16. Jahrhundert und unserer heutigen vieldeutigen Beziehung zu Heilpflanzen.

 

Mit ihren Arbeiten bewegt sich Magda Drozd in verschiedenen Disziplinen und Formaten: Soundinstallation, Theaterperformance, Hörspielmusik, Komposition, Forschung. „Ich bewege mich zwischen den Szenen und fühle mich da auch wohl. Das ist auch manchmal anstrengend, aber je länger ich aktiv bin, desto mehr wissen die Leute, was ich mache.“

Die Leute, die sie schon sehr lange kennen – namentlich ihre deutschen Freund:innen – sagen, Magda spräche mittlerweile in Schweizer Sprachmelodie. Das will sie so nicht stehen lassen – und auch im Gespräch mit ihr erkennt das am Süddeutschen geschulte Autorenohr nichts dergleichen. Aber vielleicht ist auch etwas dran: Zwischen und über all die herausfordernden, forschenden, schwebenden und schürfenden Soundpassagen schieben sich immer wieder Melodien – das ist selten genug in experimenteller, an Klangkunst orientierter Musik. „Ich habe keine Angst vor ein bisschen Kitsch oder emotionalen Momenten. Für mich spiegelt sich darin das Leben wieder: Es gibt Ecken und Kanten, und es gibt die runden Momente, in denen man sich von einer Melodie treiben lassen kann. Wenn ich dabei die Geige benutze ist es immer eine feine Gratwanderung, nicht zu pathetisch zu werden. Generell glaube ich, dass Melodien auch in experimenteller Musik wieder mehr im Trend liegen.“


Magda Drozd: Clipped Wings vom Album Viscera

Am Unverblümtesten hört man sie in Magda Drozds neuestem Album „Viscera“. Auch hier eröffnet der Titel wieder spekulative Räume. Musik für Eingeweide? Der Klang des Körpers? Oder vielleicht diesmal: „Songs for Humans“? Es darf weiter spekuliert werden.
Friedemann Dupelius

Konzerte & Performances
20.+23.06.23 – Musik für Charlotte Mathiessen: Der Boden ist verhältnismässig hart – ein performativer Spaziergang oder ein Protestmarsch (ZHdK Zürich)

08.07.23 – Musik für die Performance „Warp“ von Nicola Genovese (Fondazione Teatro, Lugano)

Mit Katja Brunner als Paula Rot (Spoken Word trifft auf Sound Scape):
24.06.23 – Sofalesungen, Basel
09.07.23 – 
Hinterhalt-Festival, Uster 

Solo-Konzerte
19.08.23 – Les Digitales, Luzern
25.08.23 – Natures of Pop Festival, ZHdK Zürich
09.09.23 – Les Digitales, Biel

Magda Drozd
Songs for Plants (Präsens Editionen, 2019)
18 Floors (Präsens Editionen, 2021)
Viscera (Präsens Editionen, 2023)

neo-Profile:
Magda Drozd

Auf dem Weg zu Neuem


Neuerdings – Faszination Sound: Launch SRF-Videoreihe

Neuerdings – eine Videoserie in Zusammenarbeit von SRF 3 Sounds! und SRF Kultur präsentiert experimentelles Musikschaffen hautnah. In vier Portraits spürt sie den Arbeitsprozessen im Klanglabor von Noémi Büchi, Julian Sartorius, Martina Berther und Janiv Oron nach.

Roman Hošek stellt die die Reihe und die Portraitierten vor – zum Launch am Festival Bad Bonn Kilbi am 2.6.2023.

 

Roman Hošek
Sie sind gestandene Musikerpersönlichkeiten, die teils schon wichtige Preise gewonnen haben und die regelmässig in renommierten Projekten anzutreffen sind. Sie alle verfolgen auch einen radikal eigenen Schaffensweg – auf dem die Perspektive des grossen Erfolgs eine untergeordnete Rolle spielt. Es geht ihnen ums Machen. Diese vier Musiker:innen erzählen in einer neuen Dokuserie von ihrem kompromisslosen Gestaltungswillen.

 

Sound ist Materie

Noémi Büchi nimmt Alltagsgegenstände, wie Papier oder Schrauben, holt Klänge aus ihnen heraus und macht daraus Musik. Sie zerreisst beispielsweise das Papier, nimmt den Klang mit einem Mikrofon auf und verfremdet diesen mit Effekten und Computer-Software.

So wird alles, was klingt, zu einem Instrument für Noémi Büchi. Früher hat sie klassisches Klavier gespielt. Heute sind es Keyboards, Klangregler und Computerpads, welche die Zürcherin bedient und mit denen sie ihre selbst generierten Klangquellen ansteuert. So entstehen Collagen, die auf eine atemberaubende Klangreise einladen und das Publikum auch zum Sich-Bewegen animieren.

Denn etwas zu bewegen, ist wichtig für Noémi Büchi. Ihre sinfonisch anmutende Musik sei kein Kommentar und habe keine Botschaft. Sondern Klang sichtbar und erlebbar zu machen, das sei ihre Absicht. Das merke sie vor allem live, wenn Schallwellen körperlich werden.

 


Video-Portrait Noémi Büchi: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Sound ist Handwerk

Julian Sartorius bewegt sich gerne im Freien oder beispielsweise durch Fabrikhallen und trommelt mit seinen Schlagzeug-Sticks auf Objekten. Dabei ist es erstaunlich, welch breite Palette von Klängen er scheinbar gewöhnlichen Gegenständen entlockt, wie Deckeln, Rohren oder Drähten und wie er es schafft, damit attraktiv klingende Beats zu fabrizieren.

Der Berner Schlagzeuger ist stark von der elektronischen Musik inspiriert. Selbst erzeugt er seine Sounds aber ausschliesslich mit seinen Händen und auf akustischen Instrumenten und Objekten. Es ist diese Übersetzungsarbeit, die ihn reizt: Mit etwas Natürlichem etwas zu erschaffen, das fast künstlich klingt.

Eine weitere Facette von Sartorius’ künstlerischem Schaffen ist das Produzieren von Beats und auch da geht er eigene Wege. Er arbeitet beispielsweise gerne mit einem altmodischen Kassettengerät, das ihn – im Vergleich zu einem digitalen Sequenzerprogramm – von den technischen Möglichkeiten her zwar limitiert, aber dafür zu sofortigen, künstlerischen Entscheidungen zwingt.

 


Video-Portrait Julian Sartorius: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Sound ist Suche

Martina Berther holt aus ihrem elektrischen Bass sehr viel mehr heraus, als einfach Basstöne. Heftige Stürme oder weite Klanglandschaften tun sich vor dem geistigen Auge auf, wenn sie mit ihren Effektgeräten und Präparations-Werkzeugen – wie Stahlwolle, Schleifblock, Flaschenhals oder Geigenbogen – ihr Instrument in Schwingung versetzt.

Die Bündner Soloperformerin sagt, sie mache experimentelle Musik, weil sie sich dann selbst überraschen könne und so viel Freiheit habe. Gleichzeitig sei der Umgang mit dieser Freiheit nicht immer einfach. Ein Widerspruch? Nein! Es ist diese Spannung – zwischen Gelingen und Absturz – die für Martina Berther den Reiz ausmacht.

Genauso wie eine Soloperformance könne auch die Suche nach Sounds zum Balanceakt werden. Denn auch da gibt es viele Ungewissheiten und sogar Zweifel. Hinter jedem Sound muss für Martina Berther eine Absicht stecken, bevor sie ihn in ihr Repertoire aufnimmt. Platz für Beliebigkeit gibt es dabei nicht.

 


Video-Portrait Martina Berther: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Sound ist Reaktion

Janiv Oron wirkt wie ein Erfinder in einem Musiklabor. Wenn der frühere DJ seine Sounds kreiert, dann steht zwar nach wie vor der Plattenspieler oft im Zentrum, diesen erweitert er aber auf experimentelle Weise mit anderen Klangquellen, wie beispielsweise mit einem rotierenden Lautsprecher oder einer Murmelbahn.

Der Basler Klangperformer dirigiert seine Klangmaschinen aber nicht nur, sondern er reagiert auch auf zufällige Impulse, die er zurückbekommt. Janiv Oron sieht das als «Quelle des Ungewissen» und lässt sich bewusst darauf ein, um Improvisation zum Teil seines Schaffens zu machen.

Von der digitalen Klangwelt wendet sich Janiv Oron zwar nicht ab, aber er verspürt eine stärkere Faszination zu analogen und physisch-funktionierenden Klangquellen. Diese bieten im Vergleich zwar nur eine beschränkte Anzahl von Möglichkeiten, dafür sind sie haptisch und können von Hand bedient werden, statt auf einem Bildschirm.

 


Video-Portrait Janiv Oron: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

«Neuerdings – Faszination Sound»

«Neuerdings» ist eine Videoporträt-Serie über diese vier Schweizer Musiker:innen. Sie sind Vorboten der Musik von morgen, die sich in ihrem Schaffen an der Schnittstelle zwischen kontemporärer Elektroakustik, Experimentalmusik und Pop bewegen und damit auch international auf Anklang stossen.

In diesen Zwischenbereichen ist die Schweiz besonders stark, nicht zuletzt wegen der zahlreichen Studiengänge, die auf transdisziplinäre und progressive musikalische Praxis setzen. Andererseits entstehen dafür auch immer mehr Veranstaltungen und wachsendes Interesse beim Publikum.

Durch die Porträtserie, die eine Zusammenarbeit von SRF 3 Sounds! und SRF 2 Kultur ist, wird ein Besuch in die Klangtüftlerstuben dieser vier Musiker:innen möglich, die mit ihrem Schaffen neue Wege gehen und deshalb schwer zu verorten sind. Sie reden in den Videos über ihre radikale Herangehensweisen und beschreiben ihre Zugänge zum Unzugänglichen und das Innovationspotenzial von neuen Klängen.
Roman Hošek

Der Launch fand statt am Festival: Bad Bonn Kilbi, Freitag 2.6.2023

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 7.6.2023, 20h: “Neuerdings”: Schweizer Musik mit Pioniergeist, Redakteur Roman Hošek
in: MusikMagazin, 3./4.6.2023: Swisscorner, Vier Schweizer Soundartists (ab Min 46:59), Redaktion Lea Hagmann
srf online-Text: Sie schrauben am Sound der Zukunft, Autor: Claudio Landolt

Sendung SRF 3:

Sounds!, 7.6.2023, 20h: “Neuerdings”: Schweizer Musik mit Pioniergeist, Redaktion Claudio Landolt

Neuerdings
auf playsuisse

Neo-profiles:
Noémi Büchi, Julian Sartorius, Martina Berther, Janiv Oron

 

 

 

Poetisch-futuristische Expedition

Ein Projekt in der grossen Halle des Pariser Centre Pompidou zu realisieren ist etwas Einzigartiges. Der Schweiz-Französische Komponist Mathieu Corajod und die Bieler Compagnie Mixt Forma erleben dies mit ihrem ersten gemeinsamen Werk gleich am ausstrahlenden Pariser Manifeste-Festival. Das interdisziplinäre Projekt Laquelle se passe ailleurs, ein «szenisches Gedicht für vier hybride Performer», verwebt Musik, Text, Tanz und Schauspiel mit Elektronik. Es kommt auch in der Schweiz mehrfach zur Aufführung. Im Zoom-Interview nach Paris, wo sich Corajod gerade am IRCAM mitten in den Schlussproben befand, sprach er über seinen Ansatz von Musiktheater, Hybridität und Interdisziplinarität.

 

Gabrielle Weber
Die Compagnie Mixt Forma gründete Corajod mit Ziel, die Möglichkeiten experimentellen Musiktheaters mit Gleichgesinnten zu erforschen. Laquelle se passe ailleur wurde während zwei Jahren gemeinsam entwickelt und überzeugte in ersten Projektetappen bereits die Pariser Association Beaumarchais-SACD, die die Realisation durch einen Förderpreis möglich machte. Und das bezeichnenderweise im Bereich der Choreografie.

Den Hintergrund in Musiktheater bringt Corajod vom Studium an der Hochschule der Künste Bern mit, wo er auch Chloé Bieri, Sängerin, und Stanislas Pili, Perkussionist, kennenlernte, zwei Mitglieder der jungen Compagnie.

 

Portrait Mathieu Corajod © Liliane Holdener

 

Corajods eigene Vorstellung geht in der Verwebung verschiedener Disziplinen, Medien und Technologien weit über das traditionelle Verständnis von experimentellem Musiktheater als szenische Strömung der zeitgenössischen Musik hinaus. Im weiterführenden Studien am Pariser IRCAM befasste er sich intensiv mit Elektronik wie auch mit zeitgenössischem Tanz. Insbesondere die Verschmelzung von Komposition und Choreografie liess ihn nicht mehr los. In Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen Pierre Lison und Marie Albert erarbeitete er sein erstes Stück für Tanz. Weitere folgten, wobei auch der zusätzliche Einsatz von Stimme, sowie kollaborative und inklusive Aspekte für Corajod zentral sind. Gemeinsam mit Lison zeichnet Corajod nun auch für die Choreografie von Laquelle se passe ailleurs, wobei Lison erneut als Tänzer-Performer mitwirkt.

 

Mathieu Corajod, ça va bien avec comment tu vis (2019)  für zwei TänzerInnen und Elektronik, Marie Albert und Piere Lison

 

Forscher:innen auf einer gemeinsamen Suche

Ergänzt durch den Schauspieler Antonin Noël, unternehmen die vier Performer:innen des Stücks eine gemeinsame «poetisch-futuristische Expedition». Die je eigene Expertise bringen sie dabei so ins Ganze ein, dass etwas komplett Neues entsteht. Sie seien Forscher:innen auf einer gemeinsamen Suche, so Corajod. Er bezeichnet diese Art von Zusammenarbeit als „Hybridisierung“. Da ist einerseits die Hybridität zwischen Körper und Maschine, ermöglicht durch ein technisches Dispositiv auf der Bühne in Koproduktion mit dem IRCAM. Andererseits agieren die Performer:innen selbst hybrid. Alle führen alles aus. Sie bringen dabei ihren eigenen Zugang ein und lernen voneinander.

 

Interdisziplinarität ist immer dabei- ob sichtbar oder unsichtbar

Laquelle se passe ailleurs sei von Anfang an intermedial gedacht gewesen. „Die Impulse, die ich durch den Tänzer, den Schauspieler und den Schriftsteller erhielt, haben die Forderungen an die Bühne extrem erhöht“, sagt Corajod. Der französische Autor Dominique Quélen trug neue Texte bei, die wiederum auf Ideen der Companie zurückgehen. Sie wurden dann in Musikpartitur und Choreografie übersetzt. Für einen Auftritt der Sängerin Bieri bspw. hätten sie einen der Texte nicht nur strukturell, sondern Silbe für Silbe auf einzelne Gesten übertragen, und Bieri ergänzt dies durch spezielle Klangfarben der Stimme. Alles sei in jedem der auftretenden Körper vorhanden – Tanz, Text und Musikalisation, meint Corajod dazu. Interdisziplinarität sei immer dabei, auf die eine oder die andere Art, ob sichtbar oder unsichtbar.

 


Chloé Bieri in Five young lights für Stimme und Elektronik von Pietro Caramelli, 2019

 

Szenen einer Exploration – verbunden durch einen spielerisch-poetischen Ansatz 

Eine eigentliche Geschichte gibt es im Stück keine. Hingegen arbeiteten sie mit versteckten Erzählungen, die sich die Mitwirkenden gegenseitig ausmalten, um auf der Bühne agieren zu können. „Bei der Entwicklung eines Stücks tauchen immer Fragen auf wie: Wer bin ich in diesem Stück? Was mache ich? Wie verhalte ich mich? Und es hilft bei der Interpretation, sich etwas imaginieren zu können“, meint so Corajod. So entstanden verschiedene Szenen einer Exploration mit einer Art lückenhaften Handlung, verbunden durch einen spielerisch-poetischen Ansatz: „Wir wollen das Publikum auf diese Reise mitnehmen“, sagt Corajod und vergleicht die Atmosphäre des Projekts mit Filmen von Andrei Tarkowski, David Lynch oder Stanley Kubrick.

Auch die Choreografie verfolgt keine Handlung. Sie hätten unterschiedliche Strategien für einzelne Szenen angewandt. Nur manche, wie Bieris‘ Solo, seien ganz auschoreografiert. Andere basierten auf Improvisation und seien dann Schritt für Schritt einstudiert und fixiert worden. In einzelnen Objekten des Bühnenbilds befinden sich zudem Bewegungssensoren, die bei Manipulation durch die Performer:innen Klang erzeugen. Und diese Manipulationen wiederum sind bis ins Detail choreografiert.

 

Compagnie Mixt Forma © Anna Ladeira

 

Was ihn dabei interessiere, sei, Bewegungen so zu gestalten, dass sie im größeren Zusammenhang der Bühne etwas auslösten, sagt Corajod. Als Bestätigung für diesen neuartigen Ansatz, Choreografie und Komposition eng miteinander zu verweben, sieht er die Förderung der SACD für die Choreographie. Sie sei einerseits eine Auszeichnung und freue ihn andererseits besonders, da er von der Musik herkomme. Die Produktion werde dadurch nicht „nur“ in der zeitgenössischen Musik, sondern auch im Theater- und im Tanzbereich wahrgenommen.

 

Mathieu Corajod et Pierre Lison (mouvement), Axes (2021), Instrumentaler Tanz, Duo Alto, UA Paris 2021

 

Denn Corajod möchte zeitgenössische Musik auch an ein breiteres Publikum bringen und er lotet dabei stets die Grenzen des Genres aus. Mit seinem Vorgängerprojekt, der experimentellen Oper Rendez-vous près du feu, aufgeführt im Rahmen der „Nancy Opera Experience“ am Festival Musica 2022, gelang ihm das: Corajod war nicht nur Komponist, sondern zeichnete auch für die Regie. Das neue Werk fand teils im Freien – auf dem weitläufigen Platz Stanislas vor der Oper – teils im Innern der Opéra national de Lorraine statt. Mitglieder des Opernorchesters und Darsteller:innen spielten im Innern, nah an den Fenstern zum Platz. Der Chor sang als Flash-Mob- im Publikum auf dem Vorplatz, und das Geschehen wurde per Videomapping auf die Fassade projiziert.

 

Mathieu Corajod, Rendez-vous près du feu (2022): Théâtre musical und experimentelle Oper vereinigt in einem aussergewöhnlichen Format (In situ, Videomapping, Flash-Mob), Kompositionsauftrag Opéra national de Lorraine und Festival Musica

 

Die Oper öffnete sich zum Platz und zur Stadt und wurde durch Licht, Szenographie und Aktionen anders als üblich belebt – und sie zog zahlreiche zufällige Passant:innen während des ganzen Stücks in den Bann szenischer hybridisierter zeitgenössischer Musik.

Nach den beiden Grossprojekten ist nun erstmal eine kreative Pause angesagt, in der sich Corajod seinem Forschungsprojekt zum Schweizer Musiktheaterpionier Hans Wüthrich widmet.
Gabrielle Weber

Laquelle se passe ailleurs :
2. / 3.6.23, 19:30h,Theater am Rennweg 26 Biel
8.6.23, 20h, Gare du Nord Basel
12.6.23, 20h, Festival ManiFeste, Centre Pompidou Paris
9.9.23, 21h, Musikfestival Bern, Dampfzentrale Turbinensaal

Festival ManiFeste IRCAM/Centre Pompidou Paris, 7. Juni – 1. Juli 2023

IRCAM, Nancy Opera Experience, Opéra national de Lorraine, Musica Festival Strasbourg

Neo-Profile:
Mathieu CorajodCompagnie Mixt FormaChloé BieriHans WüthrichGare du Nord, Musikfestival Bern