Der Klangutopist Thomas Kessler

 

Er hat die elektronische Musik in der Schweiz weiterentwickelt wie nur wenige, und er überraschte immer wieder mit frischen Ideen: Thomas Kessler.

Wie heute Mittag bekannt wurde, ist der Schweizer Komponist im Alter von 86 Jahren gestorben. Der Nachruf von Thomas Meyer.

 

Ein Rapper und ein Streichquartett – eine ziemlich ungewöhnliche Kombination. 2007 trat der kalifornische Slam Poet Saul Williams zusammen mit dem Arditti Quartet bei den Tagen für Neue Musik Zürich auf, um das Stück NGH-WHT zu performen. Es war nicht seine erste Begegnung in einem klassischen Rahmen. Zwei Jahre zuvor hatte er schon in Basel mit einem Orchester seine Texte rezitiert, in ‘said the shotgun to the head. Beide Stücke stammten von Thomas Kessler.

 

Thomas Kessler, Basel 29.11.2018 ©Copyright: Thomas Kessler / Priska Ketterer

 

Der Schweizer hatte sich 2001, frisch pensioniert, in Toronto auf die Suche nach dem ungewöhnlichen Sound gemacht. „Ich suchte Poetry, mit Rap, aber nicht mit einem aggressiven Bumm-Bumm-Rhythmus, sondern etwas Offeneres oder Experimentelles. Und ich suchte lange, aber plötzlich hörte ich etwas; da sprach ein Poet mit einem Cellosolo, das war phantastisch. Das hatte Rhythmus, Puls, aber nicht so, wie kommerzielle Musik klingt. Ich dachte, den Mann möchte ich kennenlernen.“ Kurz darauf stand er bei Saul Williams vor der Tür, der rappte ihm bei der ersten Begegnung gleich sein jüngstes Buch vor und meinte: Willst Du das nicht verwenden? So kam es zur Zusammenarbeit.

 


Thomas Kesslers NGH WHT für Sprecher und Streichquartett aus dem Jahr 2006/07, hier interpretiert vom Mivos Quartet und Saul Williams am Lucerne Festival, KKL Luzern 17.8.2019, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Diese Suche nach dem Unverbrauchten, diese Neugierde zeichnete Thomas Kessler zeitlebens aus. Geboren 1937 in Zürich, hatte er sich von jeher eigenständig in – und neben der Avantgarde bewegt. In den 60er Jahren gründete er in Berlin ein eigenes Studio. Bald gingen in diesem Electronic Beat Studio die jungen Rockmusiker ein und aus, entdeckten neue Geräte und entwickelten einen neuen Sound. Von da her war es kaum erstaunlich, dass sich Kessler später dem Rap zuwandte.

 

Thomas Kessler und Saul Williams © Werner Schnetz

 

Ab 1973 baute er in Basel das Elektronische Studio der Musik-Akademie auf und führte es zu internationalem Renommee. Aber auch da suchte er nach unkonventionellen Lösungen. Eine bedeutende Schiene seines Schaffens waren etwa jene live-elektronischen Stücke, bei denen die Solomusiker selber die Kontrolle über den Sound übernehmen und das Klangergebnis somit nicht mehr von einem zentral gesteuerten Mischpult beherrscht wird. Was 1974 mit dem Solo „Piano Control“ begann, kulminierte im neuen Jahrtausend in einer Serie von Orchesterstücken, Utopia genannt.“

 


Thomas Kessler, Utopia II, für Orchester und Elektronik, 2010/11, Basel Sinfonietta, Leitung Jonathan Stockhammer, Stadtcasino Basel 30.3.2014,  Eigenproduktion SRG/SSR.

 

„Ich wollte das ultimative Live-Elektronik-Stück zu machen, eine Utopie. Ich brauche dafür achtzig Steckdosen auf der Bühne, mehr nicht. Jeder Orchestermusiker kommt mit seinem eigenen Setup, mit einem kleinen Köfferchen, in dem der Synthesizer oder ein Laptop liegt. Er steckt die Kabel ein; neben dem Stuhl steht ein Lautsprecher und fertig. Keiner mischt im Saal den Sound zusammen; keine Lautsprecher rundherum.  Der Klang kommt vom Podium, aus den Musikern heraus.“ Die Orchester hatten tatsächlich Spass daran, diesen neuartigen Mischsound selber entstehen zu lassen, einen Klang, so Kessler, „wie er so noch nie gehört wurde“.

 


Thomas Kessler, Utopia III für Orchester (in fünf Gruppen) und multiple Live-Elektronik, Tonhalle-Orchester Zürich, Leitung Pierre-André Valade, Tonhalle Zürich 18.10.2016, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Er war ein quer- und eigenständig denkender Komponist, und doch wäre es falsch, Thomas Kessler auf den Technikfreak oder den genreübergreifenden Innovator zu beschränken. All das wurde nie zum Selbstzweck, sondern mündete jeweils in ein erfrischendes, sensibel ausformuliertes und durchaus mitreissendes musikalisches Endergebnis.
Thomas Meyer

 

Thomas Kessler, Basel, den 29.11.2018  © Thomas Kessler / Priska Ketterer

 

Sendungen SRF Kultur:
Neue Musik im Konzert, Oratorium von Thomas Kessler und Lukas Bärfuss, 5.1.2022, Redaktion Florian Hauser.
Musik unserer Zeit, My lady Soul I, 28.10.2020, Redaktion Florian Hauser.
neoblog, 8.8.2019: „Ein Mischklang, den man noch nie gehört hat: Thomas Kessler – composer in residence am Lucerne Festival, Autor Thomas Meyer

Neo-Profil:
Thomas Kessler

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