Eigenwilliger Avantgardist aus Zullwil: Der Komponist Hermann Meier

Hermann Meier (1906-2002) war Dorfschullehrer in Zullwil im Schwarzbubenland und hatte fünf Kinder zu ernähren. Trotzdem fand er immer die Zeit, um an seinen ungewöhnlichen Kompositionen zu arbeiten – wenn auch erstmal nur für die Schublade, weil größere Erfolge und Aufführungen zu seinen Lebzeiten ausblieben. Die Musikwissenschaftlerin Dr. Michelle Ziegler hat seinen Nachlass erforscht. Ein Gespräch mit Friederike Kenneweg.

 

Ausschnitt aus dem grafischen Plan von Hermann Meier für sein Stück für zwei Klaviere HMV44 aus dem Jahr 1958. Vergilbtes Papier mit Linien, darauf mit Buntstift in rot, schwarz und blau eingetragene Flächen-
Ein Ausschnitt des graphischen Plans zu einem Klavierstück von Hermann Meier aus dem Jahr 1958 (HMV44). “Mondriane” nannte Meier diese Pläne, die er seit den 1950er Jahren erstellte, bevor er die Werke in Notenschrift ausarbeitete. Der Nachlass des Komponisten ruht seit 2009 in der Paul Sacher Stiftung – und damit auch eine Vielzahl dieser Graphiken, eingerollt und in Kartons verstaut. © Paul Sacher Stiftung.

 

Friederike Kenneweg
“Angefangen hat es damit, dass ich 2011 erstmals Musik von Hermann Meier im Konzert gehört habe”, erinnert sich Michelle Ziegler, “und das hat mich gleich fasziniert.” Damals spielten Tamriko Kordzaia und Dominik Blum die Dreizehn Stücke für zwei Klaviere von Hermann Meier aus dem Jahr 1959. “Das sind dreizehn voneinander abgetrennte Abschnitte von sehr unterschiedlichem Charakter. Ich habe mich damals schon mit der Umsetzung von bildnerischen Vorstellungen in Musik beschäftigt, und das fand ich hier konsequent umgesetzt.”

 

 


In den Dreizehn Stücken für zwei Klaviere offenbart sich der Facettenreichtum von Hermann Meiers Musik, der laut und direkt, aber auch zart und manchmal humorvoll klingen kann. Tamriko Kordzaia, Dominik Blum, Konzert vom 19.Mai 2011, Museum für Gestaltung Zürich, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Als Michelle Ziegler hörte, der Nachlass dieses Komponisten läge noch weitgehend unerforscht in der Paul Sacher Stiftung und es gäbe dort allerhand graphische Pläne zu entdecken, hatte sie ihr Dissertationsprojekt gefunden. “Das war dann am Ende auch der Schwerpunkt meines Projekts: Meiers Klaviermusik und seine bildliche Notation.”

 

 Die Musikwissenschaftlerin Michelle Ziegler bei einer Führung durch die Ausstellung "Mondrian-Musik. Die graphischen Welten des Komponisten Hermann Meier". © Daniel Allenbach/HKB
Michelle Ziegler bei einer Führung durch die Ausstellung ‘Mondrian-Musik. Die graphischen Welten des Komponisten Hermann Meier’ (Kunstmuseum Solothurn, Oktober 2017 – Februar 2018) © Daniel Allenbach/HKB.

 

Aufzeichnungen in Schulheften

Um die Notizen von Hermann Meier lesen zu können, lernte Michelle Ziegler sogar eigens eine bestimmte Stenografie-Schrift. Denn in dieser Form hielt Meier, der als Primarschullehrer unbegrenzt Zugang zu Schulheften hatte, unentwegt seine Gedanken fest: zur Musik, zur zeitgenössischen Kunst und zum Fortgang seiner Arbeit. “Man kann ihn geradezu als graphoman bezeichnen”, sagt Michelle Ziegler. Mit der Vielzahl an Heften, Plänen und Noten, die heute in der Paul Sacher Stiftung ruhen, könne man sich noch ein ganzes Leben lang beschäftigen.

 

Quer zum Musikbetrieb seiner Zeit

Dass Hermann Meier trotz der stetigen Produktivität zu seinen Lebzeiten nur wenig Anerkennung erfuhr, hat mit seinem eigenwilligen kompositorischen Weg zu tun. Schon seit den 1930er Jahren beschäftigte er sich im Selbststudium mit der Zwölftonmusik und fand mit Wladimir Vogel nach dem Zweiten Weltkrieg auch zunächst einen wohlwollenden Lehrer. Doch er verabschiedete sich mehr und mehr davon, fand erst einen umso radikaleren Umgang mit dem seriellen Komponieren und ging schließlich, inspiriert von der Bildenden Kunst um Piet Mondrian und Hans Arp, zur Arbeit mit Klangflächen über. Seit 1955 arbeitete Meier mit graphischen Plänen, in denen er visuell die Struktur skizzierte, die er später in Notenschrift ausformulierte.

Mit seiner Art zu Komponieren stieß er damals auf Unverständnis. Obwohl er sich um Aufführungsmöglichkeiten bemühte, erhielt er nur Absagen. Er komponierte zwar unbeirrt weiter, aber für die Schublade.

 

Der Komponist Hermann Meier 1979 in Yverdon am Klavier.
Hermann Meier 1979 in Yverdon. © Privat

 

Klang als Leinwand

Eine zentrale Rolle im Werk Meiers, der selbst ein sehr guter Pianist war, spielen Tasteninstrumente. Das Klavierstück von Hermann Meier, das Michelle Ziegler besonders schätzt, ist das Stück für zwei Klaviere aus dem Jahr 1958 (Hermann-Meier-Verzeichnis HMV 44).

“Das ist für mich ein umwerfendes Stück. Ich kann es mir immer wieder anhören und höre immer wieder andere Dinge.”

 

 


Im Stück für zwei Klaviere HMV 44 aus dem Jahr 1958, hier gespielt von Tamriko Kordzaia und Dominik Blum, experimentiert Hermann Meier mit den drei Strukturelementen Punkte, Striche und Flächen. Diese werden gegeneinander gesetzt, überlagern sich, werden übereinander geschichtet.

 

 

Ausschnitt aus dem graphischen Plan zu dem Stück für zwei Klaviere HMV44 von Hermann Meier aus dem Jahr 1958. Auf vergilbten Karopapier sind schwarze, blaue und rote Flächen eingezeichnet, mit Bleistift Anmerkungen des Komponisten verzeichnet. © Paul-Sacher-Stiftung, Basel
Ausschnitt aus dem graphischen Plan zum Stück für zwei Klaviere HMV 44. In dem frühen Plan sind die drei Formelemente Punkte, Striche und Flächen in verschiedenen Farben ausgedrückt: Punkte rot, Striche blau und Flächen schwarz. © Paul-Sacher-Stiftung, Basel

 

Späte Anerkennung: ‘Klangschichten’

Dass Meiers Bemühungen um Aufführung seiner Werke nicht fruchten wollten, liegt auch daran, dass sie für die damaligen Instrumentalist:innen zu schwierig waren. So nimmt es nicht wunder, dass Meier sich der elektronischen Musik zuwandte. Und tatsächlich gelang es ihm, 1976 und damit im Alter von siebzig Jahren, im Experimentalstudio des SWF sein erstes Werk für Tonband Klangschichten zu realisieren – mit dem er im Dezember des gleichen Jahres einen Preis gewann.

 

Im Alter ein neuer Stil

Ab 1984 Jahren war es der Pianist und Komponist Urs Peter Schneider, der sich für Hermann Meiers Musik interessierte und einige seiner Werke im Rahmen der Konzertreihe “Neue Horizonte Bern” zur Uraufführung brachte.

 


Mit der späten Möglichkeit, seine Instrumentalstücke aufgeführt zu erleben, entwickelte Hermann Meier einmal mehr einen neuen Stil. Diesen entdeckt Michelle Ziegler zum Beispiel im Klavierstück für Urs Peter Schneider aus dem Jahr 1987, hier gespielt von Gilles Grimaître. Konzert HKB Bern 2017, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

“Das Rhythmische und das Element der Dauer werden dann sehr wichtig. Da war er schon über achtzig und hat sein Komponieren noch einmal ziemlich verändert, einfach weil ihn etwas anderes noch mehr fasziniert hat.”

Unterdessen hat das Werk Hermann Meiers doch noch einiges an Aufmerksamkeit erfahren. Im Jahr 2018 gelangte beispielsweise Meiers Stück für großes Orchester und Klavier vierhändig aus dem Jahr 1965 bei den Donaueschinger Musiktagen zur Uraufführung. Solche Konzerte freuen Michelle Ziegler besonders.
“Mir ist wichtig, dass die Musik von Hermann Meier nicht nur Papier bleibt, sondern dass sie unbedingt auch gehört werden soll.”
Friederike Kenneweg

 

Die Paul Sacher Stiftung hat den Nachlass von Hermann Meier geordnet, zu einem großen Teil restauriert und ein Werkverzeichnis angelegt.

Der Komponist und Fagottist Marc Kilchenmann hat die Noten als Faksimile-Ausgabe im aart Verlag zugänglich gemacht.

Der Pianist Dominik Blum hat sämtliche Werke für Klavier Solo von Hermann Meier ab 1948 vollständig eingespielt.

Michelle Ziegler veröffentlichte den Band Musikalische Geometrie. Die bildlichen Modelle und Arbeitsmittel im Klavierwerk Hermann Meiers im Verlag Peter Lang, Bern und gab gemeinsam mit Heidy Zimmermann und Roman Brotbek den Katalog zur Ausstellung Mondrian-Musik. Die graphischen Welten des Komponisten Hermann Meier im Chronos Verlag, Zürich heraus.

Webseite Hermann Meier, Paul Sacher Stiftung, Aart Verlag, Michelle Ziegler

 

Sendung SRF Kultur:
Kontext, 10.1.2018: Hermann Meier, ein lang verkannter Musikpionier, Autor Moritz Weber

neo-profile:
Hermann Meier, Urs Peter Schneider, Gilles Grimaître, Tamriko Kordzaia, Dominik Blum, Marc Kilchenmann

Simone Keller – vergessene Klaviermusik wiederentdeckt

Schwarz, schwul und provokant: Julius Eastman (1940–1990) zerfetzte die Oberfläche gepflegter minimal music. Mit seiner Bekenntnismusik platzte er in die Blase der weissen Avantgarde New Yorks. Die Schweizer Pianistin Simone Keller trug mit dem Kukuruz Quartett massgeblich zur Wiederentdeckung bei und setzt sich auch für weitere «vergessene» Klaviermusik ein.

Portrait Simone Keller © Doris Kessler

 

Corinne Holtz
Als Julius Eastman in der Aula Rämibühl in Zürich über eine Stunde improvisiert, ist Simone Keller drei Jahre alt. Der Maler Dieter Hall hat den unbekannten Pianisten, Komponisten, Sänger und Performer 1983 für ein Debüt in die Schweiz eingeladen, bevor er selbst für Jahrzehnte in die brodelnde Metropole eintauchen sollte.

Eastman hinterlässt in Zürich ein «verstörtes» Publikum und schenkt seinem Gastgeber eine mit fugue no 7 überschriebene Skizze, die das Kukuruz Quartett Jahre später zusammen mit anderen Transkripten sowie Fotos und Aufnahmen auswerten wird. Die «Eastman-Leidenschaft» setzte ein. Sie beförderte Einrichtungen und Ausdeutungen von Stücken, «die auch Insidern noch nicht bekannt waren», sagt Simone Keller.

Dazu zählt Buddha (1983), das den Interpretierenden gleichzeitig zu realisierende 20 Einzelstimmen auferlegt, ohne bestimmte Instrumente oder deren Anzahl festzulegen. Das Kukuruz Quartett hat sich für Präparationen entschieden, die Klangflächen im Pianissimo an der Schwelle der Hörbarkeit ermöglichen.

Ganz anders Gay Guerrilla (1979) und sein wilder Mix aus Jazzharmonik und Luther-Choral, eine Niederlegung von Eastmans Lebensfragen. «Ich habe lange mit Gott gekämpft», sagte er in einem Interview, und hoffte, dereinst Frieden mit ihm schliessen zu können. Seine panreligiöse Spiritualität fand auch auf die Bühne. 1984 etwa führte er das Solo The Lord give it and the Lord take it away auf, ein 15 Minuten langes Gebet in tiefem Ernst.

Julius Eastman: Gay Guerilla: https://neo.mx3.ch/t/1gxe
Das Kukuruz Quartett spielt Gay Guerilla 2019 an der Brown University, Providence, Rhode Island, USA.

 

Überschreiten von Grenzen, Stilen und Konventionen

Eastman überschreitet Grenzen von Stilen, Genres und Konventionen und hinterlässt Musik, die klanggewordener Protest ist. Das gilt insbesondere für die Trilogie Evil Nigger, deren Titel 1980 afroamerikanische Studierende auf dem Campus der Northwestern University in Evanston (Illinois) protestieren liess. Sie forderten, das «N.»-Wort müsse aus dem Programm gestrichen werden. Eastman wandte sich vor dem Konzert ans Publikum und begründete seinen sprachlichen Rassismus historisch. Das beleidigende Wort verwende er, um die Rolle der Afroamerikaner in der US-amerikanischen Geschichte sichtbar zu machen. «Die Grundlage des ökonomischen Aufstiegs des Landes baut auf der Arbeitskraft der Afroamerikaner, insbesondere der Field-Niggers.» 250 Jahre lang hatten Sklaven und Sklavinnen Reichtum für Weisse erwirtschaftet, während ihnen selbst Eigentum und Bildung in der Regel untersagt waren.

Eastman sagt, was ist, und wird dafür von der eigenen Community abgestraft. Ist hier ein Mechanismus im Gang, dem wir heute im Cancelling unerwünschter Meinungen begegnen? «Nein», findet Simone Keller. «Eastman wollte provozieren und damit zeigen können, warum es wichtig ist, über diese Titel und ihre Sprengkraft nachzudenken.» Es sei richtig, dass wir im Zuge «des kulturellen Wandels sensibler» mit dem tradierten Rassismus auch in der Sprache umgehen würden.

Heruntergewirtschaftete Klaviere machen schmerzhafte Schönheit hörbar..

Das Kukuruz Quartett hat Eastman für Europa entdeckt und seine Musik zuerst in Clubs, Bars und Bierbrauereien gespielt – auf vier «heruntergewirtschafteten» Klavieren, die bereits viele Präparationen überlebt haben und mit ihren «geschundenen Resonanzkörpern genügend Widerstand bieten», um die «Repetitionswut» bei gleichzeitig schmerzhafter «Schönheit» zeigen zu können.

Damit wird das Quartett einer von Drogenexzessen getriebenen Musik gerecht, die im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung während Demonstrationen durch die Strassen schallte und heute in etablierten Konzertsälen erklingt. MaerzMusik in Berlin gab 2017 den Auftakt, kürzlich zog das Lucerne Festival Forwardnach.

Was der visionäre Eklektiker zur Anerkennung durch das Establishment sagen würde, wissen wir nicht. Er selbst verbrachte seine letzten Lebensjahre im Obdachlosenlager im Tompkins Square Park in New York und starb 1990 vergessen in einem Spital in Buffalo.

St. Gallen – Portrait der Pianistin Simone Keller anlässlich der Verleihung des IBK-Preises für Musikvermittlung © Lisa Jenny

 

«Ich bin als weisse Musikerin verpflichtet, auch Musik von Menschen anderer Hautfarbe zu spielen», sagt Simone Keller. Im Studium habe sie ausschliesslich Musik von weissen Männern gespielt und das noch in den 2000er-Jahren, als bereits die eine und andere weisse Komponistin wiederentdeckt wurde, etwa Clara Schumann, Fanny Mendelssohn und Lili Boulanger.

Höchste Zeit, auch an afroamerikanische Komponistinnen wie etwa Irene Higginbotham und ihre berühmteste Komposition Good Morning Heartache (1945) zu erinnern und «Ungleichheits- und Machtverhältnisse» sichtbar zu machen, findet Simone Keller und titelt ihre neuste CD mitsamt Buch Hidden Heartache.

Irene Higginbotham (1918-1988), Good Morning Heartache, interpretiert von Simone Keller, Klavier, und Michael Flury, Posaune, 2024.

 

Anders als Julius Eastman ist Julia Amanda Perry (1924–1979) vergessen. Die afroamerikanische Pianistin, Komponistin und Dirigentin feiert am 25. März ihren 100. Geburtstag. Nach ihrer Grundausbildung am Westminster Choir College Princeton studierte sie in Europa bei Luigi Dallapiccola und Nadia Boulanger, war Guggenheim-Stipendiatin in Florenz und dirigierte zwischen 1952 und 1957 so berühmte Orchester wie das BBC Philharmonic und die Wiener Philharmoniker. Dennoch standen Perry zurück in den USA kaum Türen offen. Mit Hidden Heartache verweist Simone Keller auf Strukturen dieses Vergessens und bringt Klaviermusik von Ausgesperrten der Musikgeschichte ans Licht.
Corinne Holtz

Julius Eastman (1940-1990), Irene Higginbotham (1918-1988), Olga Diener (1890-1963), Lucerne Festival ForwardFestival MärzMusik.

An Julia Amanda Perrys Geburtstag (25.3.2024), erscheinen Buch und Doppel-CD mit 100 Minuten Klaviermusik der letzten 100 Jahre, mit Werken von u.a. Julius Eastman, Julia Amanda Perry, OIga Diener, Jessie Cox u.a., Intakt records.
CD: Kukuruz Quartet, Julius Eastman, Piano interpretations, Intakt records 2018.

Simone Keller: Hidden Tour, 19.–27. März 2024.

Julia Perry Centenary Celebration & Festival, New York City, 13.–16. März 2024.

Sendung SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 17.1.2024: Erst vergessen, heute ein Hype: Julius Eastman (1940–1990), Redaktion Corinne Holtz.

neo-profiles:
Simone Keller, Kukuruz Quartett, Jessie Cox.

Musik ist immer politisch! Luigi Nono 100

Luigi Nono (1924-1990) gilt als zentrale Figur der internationalen Musikavantgarde: Ein Portrait von Florian Hauser zu seinem 100. Geburtstag am 29. Januar.

Florian Hauser
Alle sind sie gekommen. Mehrere Tausend Arbeiter versammeln sich in ihrer Betriebspause und wollen hören, was Nono aus den Geräuschen gemacht hat. Das brüllend laute Dröhnen und Zischen des Hochofens in ihrer Stahlfabrik hatte er aufgenommen, und jetzt stellt er ihnen seine Tonbandcollage vor. Und anschliessend diskutieren die Arbeiter darüber, beginnen sie nachzudenken über ihre Arbeitsbedingungen. ‘La fabbrica illuminata’ heisst das Stück, das Luigi Nono Mitte der 60er Jahre den Stahlarbeitern in Genua widmet. Ein Paradebeispiel von Partizipation, würde man heute sagen. Hochmodern, bis heute. Und darum war es ihm immer gegangen: Luigi Nono machte Musik, um ein politisches Bewusstsein zu schaffen.

Luigi Nono, am 12. November 1976 in der Roten Fabrik in Zürich. Nono führt elektronisch bearbeitete Originalgeräusche aus einer Fabrik vor und diskutiert mit den Zuhörern über seine Werke © Keystone.

 

Luigi Nono stammt aus einem Venezianischen Bildungsbürgerhaushalt. Als er ein Jahr alt ist, wird Benito Mussolini zum faschistischen Diktator Italiens. Das prägt Nonos gesamte Entwicklung, ja sein ganzes Leben. Gegen Unterdrückung, Krieg und soziale Missstände will er kämpfen. Dass er das als Komponist tut, ist nur ein Zufall, sagt er: denn er findet Anschluss an die musikalische Avantgarde nach dem 2. Weltkrieg.

Es ist die Zeit des grossen Aufbruchs. Eine junge Komponistengeneration will auch musikalisch eine neue Welt errichten, die alten Expressionen haben ausgedient, klare Strukturen müssen her, neue Komponier-Techniken, auch neue Hilfsmittel wie Elektronik.
Ein wichtiges Zentrum der neuen Avantgarde, die sich formiert, ist das deutsche Darmstadt.


Luigi Nono, Incontri für 24 Instrumente, UA 1955, Eigenproduktion SRG/SSR: 1955 – Nono ist bereits fest eingebunden in die Darmstädter Ferienkurse – schreibt er eine musikalische Liebeserklärung an seine zukünftige Frau, Nuria, die Tochter Arnold Schönbergs: Incontri für 24 Instrumente, die Begegnung selbstständiger musikalischer Strukturen. „So wie zwei Wesen, verschieden voneinander und selbstständig in sich, sich begegnen und aus ihrer Begegnung zwar keine Einheit werden kann, aber ein Sich-Entsprechen, ein Zusammensein, eine Symbiose”. Nach der Uraufführung in Darmstadt verloben sich Nuria Schönberg und Luigi Nono, kurze Zeit später heiraten sie.

 

Drei Komponisten werden bei den sogenannten ‘Internationalen Ferienkurse für neue Musik’ Darmstadt zu den zentralen Figuren: der Franzose Pierre Boulez, der Deutsche Karlheinz Stockhausen und der Italiener Luigi Nono.

Was zunächst als wunderbare und intensive Künstlerfreundschaft beginnt, ändert sich bald, Differenzen werden deutlich. Nono ist derjenige, der nicht l’art pour l’art machen will, wie die Kollegen. Er will raus aus dem Elfenbeinturm, auf die Strasse, zu den Menschen. Und vertont zum Beispiel Abschiedsbriefe zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer….

“Das Menschliche, das Politische lässt sich nicht trennen von Musik” 

Das Menschliche, das Politische lässt sich nicht trennen von der Musik, sagt Luigi Nono. Er versucht immer dringlicher, den Finger auf soziale Missstände zu legen. Mit allen musikalischen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, macht er das: wilden Orchesterimpulsen, Klängen an der Grenze zum Verstummen, mit Collagen, Elektronik oder Musik, die sich im ganzen Raum verteilt.

„Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz, die grösstmögliche entäusserte Innerlichkeit”, mit diesen Worten umschrieb Nono 1983 sein ewiges Ziel, „als Musiker wie als Mensch Zeugnis abzulegen”.


Luigi Nono, No hay caminos, hay que caminar, UA 1987, Eigenproduktion SRG/SSR: Den Satz „Caminantes, no hay caminos, hay que caminar« (Wanderer, es gibt keinen Weg, du musst einfach gehen) hatte Nono auf der Wand eines Klosters in Toledo gelesen. Daraus wurde sein letztes Orchesterwerk, der Titel könnte geradezu als Motto für Nonos gesamte kompositorische Arbeit stehen. No hay caminos, hay que caminar. Dynamik und Tempo sind extrem zurückgenommen, nur für kurze Augenblicke entstehen dramatische Klangrisse. Nono verwendet nur einen Ton, das g mit vierteltönigen Erhöhungen und Erniedrigungen, also sieben Töne im Vierteltonabstand in allen Oktavlagen. Die Unterschiede zwischen Tonhöhen und Klangfarben verschwinden, es ist ein magisches Spiel, das die Beziehungen zwischen den Parametern radikal überdenkt.

 

Sein Leben, sein Musik-Machen ist anstrengend, und letztlich zerbricht Nono vielleicht an seinem eigenen Anspruch. ‘Ich habe eine Selbstzerstörung an mir vorgenommen,’ wird er am Ende sagen, und als er mit Mitte 60 stirbt, hat er einsehen müssen, dass auch Musik keine Revolutionen auslösen kann.

Was von ihm bleibt? Seine kompromisslose Haltung. Sein Motto. Ascolta! Hör doch zu!
Florian Hauser

Luigi Nono (1924 – 1990) conducting his piece ‘Canti di vita e d’amore: sul ponte di Hiroshima’ in rehearsal at the Royal College of Music, London, 7th September 1963. © Erich Auerbach/Hulton Archive/Getty Images.

 

Sendungen SRF Kultur:
Luigi Nono zum 100: Helmut Lachenmann und seine Erinnerungen an Luigi Nono, Musik unserer Zeit, 31.01.2024, Redaktion Florian Hauser.
Er vertonte die Abschiedsbriefe von Widerstandskämpfern, online-Text srf.ch, 29.01.2024: Autor Florian Hauser.
Zum 100. Geburtstag: Luigi Nono: Fragmente – Stille. An Diotima, Diskothek, 29.01.2024, Redaktion Annelis Berger

neo-profil:
Luigi Nono

Klangkunst und Musik von Martina Lussi

Die Luzernerin Martina Lussi hat Kunst studiert. Über das Hören kam sie dazu, selbst Klangkunst und Musik zu produzieren. Mit Mikrofonen und Audiorekorder bewegt sie sich durch Natur und Alltag und geht mit ihren Eindrücken zurück ins Studio. Dort verdichtet sie ihre Hörerlebnisse in Installationen, Performances und Studioalben, aber auch in Fieldrecordings und Soundwalks.

Friedemann Dupelius
Am Anfang unseres Zoom-Gesprächs gesteht Martina Lussi ein, dass sie sich etwas unsortiert fühlt. Sie arbeitet gerade viel in einer Kunst-Bibliothek, so fehle momentan die Zeit, die für sie so wichtig ist: Zum Hören, sich auf Klänge einzulassen. „Hören ist etwas sehr Langsames. Man kann nicht einfach in etwas hineinhören – man muss von vorne beginnen und sich darin absorbieren, sonst verliert man den Zusammenhang. Wer hat denn heute noch wirklich Zeit zu hören?“

 

Martina Lussi © Calypso Mahieu

 

Um sich auf unsere Unterhaltung einzustimmen, hat sie an diesem Morgen ihre Routine-Route am Vierwaldstätter See zu einem Soundwalk gemacht – zu einem Spaziergang also, bei dem man aktiv auf die Umgebung hört. Sie liest mir ihr Hör-Protokoll wie eine Einkaufsliste vor: „Rollkoffer, Gespräche, vorbeirennende Joggerin, meine Jacke, Atmen eines Hundes, Schiffsmasten, ein Mensch ahmt eine Ente nach…“ Wir merken beide, dass wir uns zwar die einzelnen Geräusche vorstellen können, dass solch einer Beschreibung aber eines abgeht: Die Räumlichkeit und Gleichzeitigkeit der Szenerie. „Meine Musik lebt davon, dass sich viele unterschiedliche Geräusche miteinander verbinden und ineinander fließen. Sie ist wie ein Stream, in dem Klänge plötzlich ganz nahe sind, um sich dann wieder in etwas aufzulösen.“

 

Frösche oder Holz?
Ende 2019 war Martina Lussi auf einer Residency im brasilianischen Regenwald und konnte dort in eine unbekannte Klangwelt eintauchen. „Manche Sounds waren beunruhigend, weil ich sie nicht kannte, vor allem nachts. Und es gab einen Frosch, der wie Holz klingt – das musste mir erst jemand erklären.“ Ihre Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk basiert auf einem Hörspaziergang in dem gleichnamigen Ort.

 

Hören als gemeinsame Erfahrung: Martina Lussi und ihre Soundwalk-Gruppe im Regenwald von Brasilien, © Karina Duarte

 

Schritte einer Gruppe von Menschen knirschen auf unebenem Untergrund und geben den Rhythmus vor, über dem die Stimmen verschiedener Vögel zirpen. Allmählich steigt eine Synthesizer-Klangfläche wie Nebelschwaden aus der Geräuschkulisse des Regenwaldes und geht über in sanften tropischen Regen, bis irgendwann die Frösche klappern. Es geht Martina Lussi nicht darum, die Umwelt wiederzugeben, wie sie scheinbar real klingt – sie fügt künstliche Klänge hinzu und erzeugt so neue Klangräume, wie traumhafte Erinnerungen. Auch den Wind, der manchmal in den Audiorekorder pustet, hat sie nicht herausgeschnitten. Manche Fieldrecording-Purist:innen würden das für eine schlechte Aufnahme halten. Martina Lussi nicht.

 


Die Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk erschien 2020 auf Vinyl beim Label Ōtium, zusammen mit einem Stück von Loïse Bulot.

 

Jacke oder Vögel?
Im Gegenteil: Immer wieder lässt sie in ihren Arbeiten ungewollte Nebengeräusche mit in die Kompositionen einfließen. In ihrem Stück The Listener werden diese sogar zum einzigen Klangmaterial. Es besteht ausschließlich aus den Geräuschen von Jacken. Die gerieten in Martina Lussis Fokus, als sie im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Vogelklängen Aufnahmen in der Natur machte: „Man stellt sich das so idyllisch vor, aber frühmorgens ist es oft so kalt, dass ich friere und mich ständig bewegen muss. Und in einer dicken Jacke eingepackt, klingt diese eben mit.“ Ihr fiel auf, dass diese Klänge oft selbst wie die Stimmen oder auch die Flügelschläge von Vögeln anmuteten. Sie nahm vier Jacken, improvisierte mit jeder für zehn Minuten und erstellte daraus eine Vierkanal-Installation und eine Komposition.

 


Das Stück The Listener ist Teil der Compilation Synthetic Bird Music und 2023 auf dem Label mappa als Kassette erschienen

 

Die 4-Kanal-Klanginstallation „The Listener“ wurde 2022 im Kunstraum sic! Elephanthouse in Luzern gezeigt, © Andri Stadler

 

Martina Lussi schärft ihre Ohren nicht bewusst mit Hörübungen, bevor sie sich ins Feld begibt: „Das passiert ganz beiläufig. Wenn ich in den Wald gehe, rieche ich die Öle der Bäume, ich sehe nicht weit, da komme ich automatisch in einen aufmerksamen Zustand, auf den ich mich gar nicht vorbereiten muss.“ So eindringlich, wie sie Jahre später noch vom brasilianischen Regenwald erzählt, wird klar: Hören geht über den Moment hinaus. Es erzeugt Erinnerungen, die lange nachwirken und von denen man auch in unruhigeren Zeiten zehren kann.
Friedemann Dupelius

 

Portrait Martina Lussi © Johanna Saxen

Martina LussiMartina Lussi auf BandcampSerrinha Do Alambari (Vinyl)Forschungsprojekt „Birdscapes“Kunstraum sic! Elephanthouse in LuzernCompilation: „Synthetic Bird Music“

Kommende Veranstaltungen:
16.05.2024 – Konzert in Tbilisi (Georgien), Left Bank
Konzerte mit dem Ensemble Proton (Neues Werk, UA):
18.06., 19:30 Uhr – Dampfzentrale Bern (+ Offene Probe am 17.06.)
23.06., 17 Uhr – Postremise Chur

neo-Profil: Martina Lussi

Komponieren mit mobiler Technologie: Lara Stanic – Medienkünstlerin

 

Elektronische Komposition, Performance, Klangkunst: die Zürcher Komponistin, Performerin, Medienkünstlerin und Flötistin Lara Stanic ist schwer zu labeln. In ihren Konzertperformances verbindet sie Medien, Instrumente, Objekte und Musikerkörper und bezieht sich dabei auf die jeweils konkreten Orte und Kontexte. Im Gespräch gibt sie Einblick in die Entstehung ihrer neusten Werke für das Zürcher Barockorchester.

 

Lara Stanic in ‘waves’, Festival Rümlingen 2020 © Kathrin Schulthess

 

Gabrielle Weber
Lara Stanic treffe ich an einem verschneiten Samstag anfangs Januar zum morgendlichen Kaffee an ihrem Küchentisch. Wir sprechen über ihre jüngste Komposition Du matin au soir: Sie entstand im Sommer 2023 für das Zürcher Barockorchester und besteht aus acht Sound-Interventionen, die zwischen einzelnen Symphoniesätzen von Haydn aufgeführt wurden. Die Konzerte fanden zu verschiedenen Tageszeiten an verschiedenen Orten in Zürich statt: im botanischen Garten, in einem Freibad und in der Kirche St. Peter.

Lara Stanic verwendet für ihre Stücke in der Regel elektronische Medien und integriert oft auch kontextbezogene Objekte. Die Auswahl der konkreten Medien sei ein Prozess, meint Stanic. «Ich lasse mich inspirieren vom Kontext, den Interpreten, den Instrumenten und deren möglicher Spielweisen. Dann höre ich Klänge in meinem Kopf und sehe Spielweisen.»
In Sonnenstand, der Sound-Intervention zur Haydn-Sinfonie Der Mittag, ‘spielen’ die Musikerinnen und Musiker mit runden Handspiegeln, die mittels Smartphones Klang erzeugen. Die Idee stammt aus einer Kindheitserinnerung. «Als Kind fing ich mit Handspiegeln das Sonnenlicht der Mittagssonne ein und erzeugte damit an einer nahen Wand Schatten und Lichtspiegelungen», sagt Stanic.

 

Sonnenstand von Lara Stanic aus Du matin au soir, komponiert für das Zürcher Barockorchester, Uraufführung Zürich 2023. Botanischer Garten und Kirche St. Peter Zürich, Videos © Andreas Pfister und Philip Bartels.

 

Auch in Sonnenstand fangen die Musiker:innen mit Handspiegeln Sonnenlicht ein, wobei diesmal daraus Musik entsteht. Auf der Rückseite der Spiegel sind Handys angebracht. Darin eingebaute Bewegungssensoren, Mikrofone und Lautsprecher erfassen die Bewegungen der Spiegel und setzen sie in Klänge um. So sei, erklärt Stanic, eine hybride Form aus zwei Medien, dem Handspiegel und dem Smartphone, entstanden.

Sonnenstand spiegelt damit auch ein Grundthema, das Stanics künstlerische Arbeit prägt: In der elektronischen Musik stört sie sich oft an der Schwerfälligkeit von grossen, fürs Publikum fast bedrohlichen Lautsprechern und Mischpulten. Mit dem Einsatz von mobilen Geräten sucht sie nach Leichtigkeit und Beweglichkeit. Stanic tritt auch oft als Performerin ihrer eigenen Werke auf. Was sie entwickelt, erprobt sie zunächst an sich selbst. «Ich war und bin mein bestes Versuchskaninchen», meint sie.

Stanic studierte zunächst Querflöte, dann Musik und Medienkunst in Zürich und Bern. Die Querflöte spielt und unterrichtet sie weiterhin und sieht sie als ihr musikalisches Zuhause. «Die Ausbildung zur Interpretin und Pädagogin lieferte mir einen Boden und ein Wissen über kompositorische Denkweisen. Das Kreieren von Klängen interessiert mich gleichermassen auf akustischen Instrumenten wie in der Elektronik.» Den ersten Zugang zu Musik hat sie in ihrer Kindheit im damaligen Jugoslawien über Radio und Fernsehen erfahren. Schon da sei sie fasziniert gewesen, wieviel an Emotionen Schallwellen auslösten. Die Verbindung von Musik und Elektronik sei deshalb naheliegend gewesen, ergänzt sie lachend: «Natürlich wusste ich damals nicht, dass es sich um Schallwellen handelte.»

 

Lara Stanic Performance ‘Spielfeld Feedback’ 2003 © EDITION DUMPF – Florian Japp

 

Humor und spielerische Leichtigkeit prägen auch ihre Arbeiten mit Alltagsgegenständen. In Kafi, einer weiteren Sound-Intervention, diesmal zur Haydn-Sinfonie Der Morgen, wird zum Beispiel eine überdimensionale Bialletti-Espressomaschine zum Instrument: die zwei Konzertmeisterinnen brühen auf der Bühne Kaffee und ‘spielen’ mit den Klängen des Blubberns. «Wenn ich am Morgen aufstehe, koche ich mir den Kaffee und in einer Bialetti-Maschine. Das klingt sehr schön und ich verbinde den Kaffeeduft immer mit diesem Klang. Ich erinnere mich an die Klänge und Düfte seit meiner Kindheit. Und dann muss ja auch ein Orchester in den Probenpausen immer Kaffee trinken. Das ist also ganz praktisch gedacht…»
Kafi, eine weitere Sound-Intervention von Lara Stanic aus Du matin au soir, komponiert zur Hayn-Sinfonie Der Morgen, Zürcher Barockorchester, UA Zürich 2023, Kirche St. Peter, Video © Andreas Pfister, Renate Steinmann.

 

In Kafi geht es um Verwandlung: Klang und Duft des Kaffes werden in Musik verwandelt. Hinzu kommt die elektronische Erweiterung der klassischen Instrumente: die Geigenbögen der Konzertmeisterinnen sind mit Bewegungssensoren versehen. Mit ihnen berühren sie die Kaffeemaschine wie mit Zauberstäben, die sie anschliessend durch die Luft schwingen. Dadurch verstärkt sich der Klang des Brodelns, verteilt sich im Raum und mischt sich mit dem Beginn der Sinfonie. «Die Geigenbögen werden zu Zauberstäben, die den Duft des Kaffees wiederum in Musik verwandeln» so Stanic.

Der Prozess dahinter sei aber ganz einfach. Zuerst gebe es die Idee, dann einen Klang, hier das Brodeln des Kaffees, und dann suche sie nach einer Lösung, wie dieser mit dem Klang der Instrumente in Verbindung gebracht werden könne. Die performativen Aktionen der Konzertmeisterinnen bilden für das Publikum eine Brücke zwischen dem klingenden Alltagsgegenstand und den Instrumenten. Aus diesem einfachen Grundprinzip verzaubert Stanic Alltagsobjekte in Musik und hinterlässt auch bei mir bleibende Spuren beim morgendlichen Kaffee.
Gabrielle Weber

 


Lara Stanic, Du matin au soir, Videocollage der acht Sound-Interventionen für das Zürcher Barockorchester zu Haydn-Symphonien, UA Zürich 2023, Video © Andreas Pfister, Renate Steinmann, Philipp Bartels.

 

Lara Stanic ist Mitbegründerin und Mitglied des Trios „Funkloch“ mit Petra Ronner und Sebastian Hofmann, das jährlich sechs Komponist:innen zum experimentellen Studiokonzert mit Direktübertragung on air einlädt, oder des GingerEnsemble, einem in Bern basierten Composer-Performer-Kollektiv. Sie komponiert für Soli, Ensemble oder Orchester, sowie für eigene Performances, und ist damit regelmässig an den internationalen Festivals präsent, und sie ist seit 2011 Dozentin für Performing New Technologies an der Hochschule der Künste Bern.

FunkLoch feierte am Samstag, 20.1.24, 17h im Kunstraum Walcheturm sein sechsjähriges Jubiläum mit Stücken von Annette Schmucki, Daniel Weissberg, Svetlana Maraš, Dorothea Rust und Joke Lanz.

 

Sendungen SRF Kultur:
MusikMagazin, 10.2.2024: Cafégespräch mit Lara Stanic von Gabrielle Weber, Redaktion Benjamin Herzog.
Zämestah, 21.12.2020: TV-Portrait Lara Stanic
Musik unserer Zeit, 21.09.2013: Spiel mit urzeitlicher Elektronik: Das Ginger Ensemble, Redaktion Lislot Frey

neo-profiles:
Lara StanicFunkloch OnAir, Kunstraum Walcheturm, Sebastian Hofmann, petra ronner, Annette SchmuckiDaniel WeissbergSvetlana Maraš, Joke Lanz, Neue Musik Rümlingen.

 

Autodidakt mit Herz für Lyrik: Christoph Gallio

Christoph Gallio, Saxofonist, Komponist und Veranstalter, prägt seit bald 40 Jahren die Schweizer und internationale Free Jazz- und Neue Improvisationsszene mit. Im Gespräch mit Friederike Kenneweg verrät er, wie er von der Improvisation zur Komposition fand und was für eine Rolle Lyrik dabei spielt.

 

Christoph Gallio spielt Saxophon vor einem Mikrofon. Foto von John Sharpe
Der Saxophonist Christoph Gallio. © John Sharpe

 

Friederike Kenneweg
Von seinem ersten selbstverdienten Geld kaufte sich der junge Christoph Gallio (*1957) ein Sopransaxophon und brachte sich anschließend das Spielen selber bei. Auch wenn er danach ein Jahr am Konservatorium in Basel verbrachte und irgendwann sogar doch noch ein Studium abschloss: Dieser Haltung des Autodidakten, der einfach macht und währenddessen herausfindet, wie es am besten geht, ist er bis heute treu geblieben – als Improvisationsmusiker u.a. im Freejazz, als Komponist, als Veranstalter und als Betreiber des Labels PERCASO.

Auf der Suche nach neuen Impulsen

Um sich auf seinem eigenwilligen Weg weiter zu entwickeln, hat Christoph Gallio aber immer wieder im Außen nach neuen Impulsen gesucht.

“Das ist ja die Krux des Autodidakten, dass er irgendwann doch wieder etwas Neues machen muss. Ich kann nicht immer nur alleine sein mit meiner Eigenheit. Es braucht immer wieder einen neuen Input.”

Nach seiner Zeit als Saxophonist in der Schweizer Jazzszene und nach musikalischen Begegnungen mit Größen wie Irène Schweitzer oder Urs Voerkel beispielsweise, da musste eine Veränderung her.

 

Von der Improvisation zur Komposition

“Ich habe ja ausschließlich frei improvisiert. Das ging teilweise auch in den Free Jazz rein. Und das hat mich irgendwann nicht mehr befriedigt, weil die Gefahr da war, dass ich mich im Kreis drehe, dass ich nicht weiter komme und immer nur die gleichen Sachen abrufe.” Im Kontrast zu den vielen unwiderbringlichen Momenten improvisierter Musik wollte Gallio nun etwas schaffen, das sich wiederholen lässt – und begann mit dem Komponieren. Erst schrieb Gallio vor allem Stücke für seine eigenen Bandprojekte, wie zum Beispiel für das Trio Day&Taxi, das ihn inzwischen schon seit 35 Jahren begleitet. Im Laufe der Zeit kamen dann auch Auftragswerke für andere Künstler:innen hinzu.

 

Die Band Day&Taxi, Schwarz-Weiß-Foto in urbanem Setting, Foto von Jordan Hemingway
Im Schnitt alle sieben Jahre hat ‘Day&Taxi’ seit der Gründung im Jahr 1988 die Besetzung gewechselt. Silvan Jeger (Bass), Gerry Hemingway (Schlagzeug) und Christoph Gallio (Saxophon) spielen seit 2013 zusammen. © Jordan Hemingway

 

Auf der Platte Devotion von Day&Taxi aus dem Jahr 2019 dienten Gedichte von Friederike Mayröcker für Christoph Gallio als Inspirationsquelle. Der Bassist Silvan Jeger übernimmt hier den Gesangspart.

 

Miniaturen zu einem Ganzen verschmelzen

Am liebsten nimmt Christoph Gallio Texte zum Ausgangspunkt für seine Musik- vor allem Lyrik, zum Beispiel von Robert Filliou oder Gertrude Stein.

“Wenn ich einen Text als Basis habe, dann läuft es einfach. Ohne Text ist es für mich viel schwieriger, Stücke zu komponieren.”

In dem Stück The Ocarina Chapter für Streichtrio und Stimme, das das Mondrian Ensemble zusammen mit dem Bariton Robin Adams im Juni 2022 zur Uraufführung brachte, zeigt sich eine Eigenheit von Gallios Musik besonders gut: die Arbeit mit Miniaturen. Diese entstehen aus seiner Vorliebe für kurze, lyrische, oft humorvolle Texte, von denen er sich kompositorisch anregen lässt.

“An kleinen Stücke gefällt mir das scheinbar Unwichtige. Das Alltägliche. Warum nicht auch lustige Sachen machen, warum keinen Humor in die Musik bringen, warum ist die meiste Musik so streng und so ernsthaft, warum nehmen sich gewisse Menschen denn so wichtig, die Musik machen?”

 

In The Ocarina Chapter (2021) bringt Christoph Gallio Gedichte von Annina Luzie Schmid (*1983), Markus Stegmann (*1962) und Peter Z Herzog (*1950) zusammen.

 

Jede Miniatur ist ein eigenes Bild

Dreißig Miniaturen, teils rein musikalisch, teils vertonte Texte, sind in The Ocarina Chapter zu einer Abfolge von knapp vierzig Minuten zusammen gesetzt. Die raschen Wechsel, die das erforderlich macht, sind für die Interpret:innen eine besondere Herausforderung.

“Die Musiker müssen da sehr viel üben mit diesen Miniaturen. Jede ist ein Bild für sich. Das eine muss so gesungen werden,das nächste anders, da muss geschrien werden, dort geflüstert, ohne viel Überganzszeit dazwischen.”

 

Freiraum für Interpret:innen

Die richtige Abfolge für die einzelnen Abschnitte findet Christoph Gallio, indem er die vorskizzierten Miniaturen am Computer so lange unterschiedlich zusammen fügt, bis alles richtig klingt. Auch der Abstand zwischen den einzelnen Teilen ist wichtig, um die gewünschte Wirkung hervorzubringen. Besonders an solchen Stellen gibt Christoph Gallio den Interpret:innen seiner Stücke für die Aufführung nicht alles vor, sondern überlässt ihnen die genaue Ausgestaltung.

Bei der Uraufführung von The Ocarina Chapter gab die Violinistin Ivana Pristašová die Länge der Pause zwischen den Abschnitten vor. “Ivana hat das einfach dirigiert und hat Entscheidungen getroffen, wie lange das Ensemble wartet und wann es weiter geht, und dabei das richtige Gespür bewiesen.”

Auch die Lautstärken sind in der Komposition nicht ausnotiert, sondern das Ensemble musste selbst Entscheidungen über die Dynamik des Stückes treffen.

“Ich möchte den Musikern immer viel Freiheit geben, in der Hoffnung, dass sie so Freude entwickeln am Stück. Das gelingt, wenn sie merken, ich habe die Freiheit und ich kann es selber so erarbeiten, wie es mir gefällt.”

Und eine solche Freiheit nimmt sich Christoph Gallio selbst auf seinem Weg immer wieder aufs Neue.
Friederike Kenneweg

Robin Adams, DAY&TAXI, Silvan Jeger, Gerry Hemingway, PERCASO, Ivana Pristašová, Irène Schweitzer, Urs Voerkel, Annina Luzie Schmid, Markus Stegmann, Friederike Mayröcker

neo-profile:
Christoph Gallio, Petra Ackermann, Karolina Öhman, Mondrian Ensemble

Schmiedwerk der Improvisation am Jazz Festival Willisau 2023


Seit seiner Gründung im Jahr 1975 ist das Jazz Festival Willisau eine Schmiede der improvisierten Musik. Jedes Jahr pilgern im Spätsommer Improvisator:innen aus aller Welt ins Luzerner Hinterland: sie sind in intimen Konzerten oder in grossen Acts in der Festhalle zu erleben und werden alljährlich in verschiedenen Sendungen auf SRF 2 Kultur portraitiert. Roman Hošek und Luca Koch von der Musikredaktion SRF Kultur haben dieses Jahr auch Live-Video-Interviews mit verschiedenen Improvisations-Bands geführt.
Luca Koch stellt im neoblog zwei der portraitierten Bands vor: Der Verboten und How Noisy Are The Rooms? 

 

‘Der Verboten’: Antoine Chessex, Christian Wolfarth, Frantz Loriot, Cédric Piromalli

 

Luca Koch
Wer ihren Bandnamen im Programm entdeckt, denkt vielleicht sofort an ein weisses, rundes Schild mit rotem Rand oder hält den Namen gar für einen Tippfehler: Ist «das Verbot» oder «die Verbotenen» oder «Der Vorbote» gemeint? Was grammatikalisch falsch anmutet, ist ursprünglich aus einem Witz entstanden. Das Quartett mit Christian Wolfarth, Frantz Loriot, Antoine Chessex und Cédric Piromalli probt sowohl auf Deutsch wie auch Französisch, Übersetzungsfehler sind da inklusive. Entstanden und geblieben ist der Name, denn wer definiert schon was richtig und was falsch ist. Unsere Sprachen bestehen wie die Musik aus Regeln und Strukturen, die aufgebrochen werden können. Die Musik von Der Verboten ist frei von Regeln und ineinander verzahnt. Genau dieses Zusammenspiel treibt die Band an.

 

Der Verboten: Vertiefung statt Innovation

Das Erkunden neuer Klänge und das Erweitern des Klangs der einzelnen Instrumente steht nicht im Fokus der Band, viel mehr versucht sie, klanglich ineinander zu verschmelzen und ihren gemeinsamen Bandsound zu vertiefen. Christian Wolfarth betont im Interview immer wieder, wie wichtig es sei, die richtigen Bandkollegen zu finden. In diesem Quartett sei es so, wie in einer alten Freundschaft, auch wenn lange nicht geprobt oder Konzerte gespielt hätten, knüpften sie genau da an, wo sie das letzte Mal aufgehört hätten.

Zeit verschmilzt.

Damit Piano, Schlagzeug, Viola und Tenorsaxofon zu einem einzigen musikalischen Organismus verwachsen können, braucht die Band vor allem eines – Zeit. Erst in langen Improvisationen tritt die erwünschte Form von verwobenem Interplay ein. «Ich glaube behaupten zu dürfen, dass uns das bei jedem Konzert gelingt», meint Christian Wolfarth im Interview. Ganze zwei Stücke spielte das Ensemble am Jazz Festival Willisau in ihrem einstündigen Set und die Pause dazwischen diente – vor allem dem Publikum – als Verschnaufmöglichkeit. Langsame Entwicklungen, kaum merkliche Veränderungen führen dazu, dass sich das Publikum  im Konzertsaal immer wieder frägt, wie der Verboten musikalisch von A nach B gekommen ist.

 


Christian Wolfarth und Antoine Chessex vor ihrem Konzert im Live-Interview am Jazz Festival Willisau 2023.

 

Mit der gleichen Ruhe und Reflektiertheit wie im Gespräch standen Der Verboten auch auf der Bühne. Sie entführten so sehr in ihre Klangwelt, dass ich während des Konzerts nicht mehr wusste, ob schon zwanzig oder erst zwei Minuten vergangen waren.

Eine weitere Band, die mit dem Zeitempfinden ihres Publikums spielt, ist How Noisy Are The Rooms?. Im Gegensatz zu Der Verboten scheinen bei ihnen die Minuten aber zu rennen. Ein hohes Tempo und eine grosse Dichte an Sounds prägen ihre Klangästhetik.

 

‘How Noisy Are The Rooms?: Almut Kühne, Joke Lanz und Alfred Vogel

 

How Noisy Are The Rooms? stellt gerne Fragen..

Das Trio mit Alfred Vogel, Joke Lanz und Almut Kühne stellt gerne Fragen: Wieviel Noise erträgt ein Raum oder auch: kann Musik ein Schleudertrauma auslösen? Improvisation mit viel Energie, punkiger Ästhetik und schneller Interaktion vermittelt  den Zuhörenden an Konzerten von How noisy are the rooms?  das Gefühl, Kugeln in Flipperkästen zu sein, die hin und her geschleudert werden. Die kreative musikalische Anarchie des Trios auf der Bühne fordert ihr Publikum heraus, manchmal überfordert sie sogar. Alfred Vogel betont: «Ich will die Leute eigentlich nicht überfordern. Verstehen folgt auf Zuhören. Man muss einfach die Ohren aufmachen und im besten Fall macht’s was mit dir.»

 

Turntables und Whistle Notes

Die treibenden Rhythmen von Alfred Vogel am Schlagzeug und die Stimmakrobatik von Almut Kühne verleihen der Musik von How Noisy Are The Rooms? archaischen Charakter — Perkussion und Stimme sind wohl die ältesten Instrumente der Menschheit. Joke Lanz, der mit seinen Turntables Soundsamples loopt und verzerrt, bringt eine performative, elektro-analoge und auch humoristische Komponente ins Spiel.

 


Alfred Vogel vor dem Konzert von How Noisy Are The Rooms? im Live-Interview am Jazz Festival Willisau 2023.

 

Alfred Vogel wollte früher Rockstar werden, diese Energie steckt heute noch in How Noisy Are The Rooms?. Er sei aber froh, habe er einen anderen Weg eingeschlagen: sein jetziges Musikschaffen sei divers und reichhaltig.

 

Postmusikalisches Wimmelbild

Wie ein Wimmelbild setzt sich die Musik des Trios aus eklektischen Klängen und kurzen, pointierten Phrasen zusammen. Klare Strukturen, Harmonien und greifbare Melodien gibt es nicht in ihrem Klangmosaik. Trotzdem wecken die musikalischen Streitgespräche der drei Musiker:innen Bilder in den Köpfen: Ich fühle mich in eine dröhnende Grossstadt versetzt oder als Teil einer Game-Animation.

 


How Noisy Are The Rooms? Video ©Denis Laner / Alfred Vogel 2021

 

Durch ihre Dichte und Fülle an musikalischen Einzelteilen treffen How Noisy Are TheRooms? den heutigen Zeitgeist einer unruhigen Welt.  Alfred Vogel erzählt im Interview: «Musik oder Kunst soll immer auch die Welt spiegeln in der wir leben. Was ist überwältigend? Die Geschehnisse heutzutage in dieser Welt sind auch alle überwältigend. Alles passiert gleichzeitig. Everything, everywhere, all at once. So ist das auch in unserem Sound». How Noisy Are the Rooms? ist  die grösste Entdeckung für mich an der diesjährigen Ausgabe des Jazz Festival Willisau.
Luca Koch

 

Cédric Piromalli, Christian Wolfarth, Frantz LoriotAlmut Kühne, Alfred VogelSudden infant

Sendung SRF Kultur:
Neue Musik im Konzert, 25.10.2023: Anarchie und Energie am Jazzfestival Willisau, Redaktion Benjamin Herzog.

Neo-Profiles:
How Noisy Are The Rooms?, Joke LanzDer Verboten, Antoine Chessex

 

 

 

 

 

 

 

 

Entschleunigt fliesst der Atem – Pianistin Judith Wegmann

Die Bieler Pianistin Judith Wegmann geht der musikalischen Zeit auf den Grund. So tief, dass sie fast aufhört, zu existieren. Ob in Werken von Morton Feldman, in eigenen Improvisationen oder einer regen Ensemble-Tätigkeit: Für Judith Wegmann sollte man sich Zeit nehmen.

 

Portrait Judith Wegmann © Simone Haug

 

Friedemann Dupelius
„Ich habe früher nie etwas eingespielt, sondern mich immer ganz dem Live-Moment hingegeben“, erzählt die Musikerin, die im Kanton Zug geboren ist und in Biel lebt. „Das veränderte sich 2016, als ich über mehrere Wochen im Krankenhaus war und daher über Monate nicht Klavier spielen konnte. Die Musik als täglicher Lebensinhalt, als meine Sprache fehlte mir sehr.“ Als Musikerin, die sonst täglich die Beziehung zu ihrem Instrument pflegt, muss sich dieses halbe Jahr schier endlos angefühlt haben. „So entwickelte ich eine Strategie, um mich trotzdem mit Musik beschäftigen zu können und meine Gedanken in eine positive Richtung zu leiten und entwarf innerlich Konzepte für mein Album Le souffle du temps. Als ich nach Monaten endlich wieder in mein Atelier gehen konnte, habe ich mich gleich mehrere Wochen zurückgezogen, um das Album zu realisieren. Ohne viel Vorerfahrung habe ich selbst eingespielt und gemischt.“

 


In Ihrer Improvisation Reflexion IV aus dem Jahr 2019 spinnt Judith Wegmann Ihr Projekt Le souffle du temps als Eigenkomposition aus dem Moment weiter.

 

Bereits in den Jahren zuvor hatte sich Judith Wegmann intensiv mit der Zeit in der Musik beschäftigt. Seit über zehn Jahren ist das ein Schwerpunkt ihres Schaffens. Musik ist Zeitkunst, wir wissen das alle. Wegmanns chronopoetische Tiefenbohrung führt sie jedoch auf eine Weise zum Kern dieser einfachen Wahrheit – bis dorthin, wo Zeit aufhört, gemessene Zeit, strenge Taktung zu sein
„Ich habe begonnen, sehr lange Konzerte zu spielen – zwei Stunden im Schnitt. Mir ist es wichtig, einen Kosmos für das Publikum und für mich zu schaffen, in dem man für einen Moment entschleunigen und das Drumherum vergessen kann.“ Das Tempo im Zeitalter der sozialen Medien ist hoch. Konzerte können für Wegmann ein ruhiger Gegenpol dazu sein.

 

Der Atem der Zeit
Judith Wegmann ist ein Nachtmensch. Ab Nachmittag wird sie aktiv und verbringt ganze Abende und Nächte am Flügel spielend im Atelier. „Das ist für mich seelischer Balsam – Erholung und Entschleunigung. Das Studio liegt im 2. Untergeschoss, dort gibt es keinen Empfang, man kann mich nicht erreichen. Wenn ich spiele, denke ich nicht mehr.“

 

 

Portrait Judith Wegmann @ Algis Jakstas

 

Zeitdehnung und Entschleunigung sind das eine prägende Element im Schaffen der Bielerin – zwischenmenschliche Beziehungen das andere, nicht minder wichtige. Mit dem Projekt Réflexion ging Le souffle du temps in die zweite Runde. Sie bat Komponist:innen, die sie persönlich schätzt, auf die Musik zu reagieren. Da ist zum Beispiel Edu Haubensak, den Judith Wegmann hoch schätzt.

 


Edu Haubensak hat mit Manga eine Réflexion (2019) für Judith Wegmann geschrieben. Die Kollaboration der beiden wird 2024 weitergehen.

 

Und es wurde auch ein generationenübergreifendes Projekt. Der 86-jährige Daniel Andres ist nicht nur Wegmanns Nachbar in Biel, „sondern auch ein wunderbarer und inspiererender Komponist. Ich habe ein Bauchgefühl dafür, mit wem ich gut zusammenarbeiten kann. Das täuscht mich fast nie. Es braucht einfach eine gemeinsame Ebene im Grundverständnis vom Leben, so individuell auch alle Menschen sind.“

 


Auch Daniel Andres’ Zyklus: Souvenir d’un instant entstand als Reaktion auf Le souffle du temps von Judith Wegmann.

 

Morton Feldman konnte Judith Wegmann nie kennen lernen. Es ist also eine abstrakte Beziehung, die sich ausschliesslich aus der von Feldman hinterlassenen Musik speist. Auch hier zentral: Die Zeit, und wie man sie aushebeln kann. „Ich habe auch schon mit dem Taschenrechner versucht, die komplexe rhythmische Struktur von Feldmans Musik mathematisch zu analyiseren und verstehen zu lernen, sodass ich sie überhaupt verkörperlichen konnte. Letztendlich kann ich sie aber doch kaum erklären. Es gibt zahlreiche Wiederholungen in dieser Musik mit ihren immensen Dauern. Es ist unglaublich, wie man diese selbst während den Konzerten erlebt und welche körperlichen Veränderungen dabei entstehen.“

Intensiv hat sich Judith Wegmann auch damit beschäftigt hat, einen adäquaten Tasten-Anschlag für Feldmans Werke zu finden, die zwischen feinsten Piano- und Pianissimo-Abstufungen changieren. Obwohl das Klavierpedal stets gedrückt bleibt, braucht es präzise gesetzte Anschläge, um die einzelnen Töne klanglich zu formen.

 


Judith Wegmann hat fast alle Klavierwerke von Morton Feldman gespielt, auch Triadic Memories (1981). Für die Zukunft hat sie sich noch das Trio For Philip Guston (1984) für Flöte, Schlagzeug und Klavier vorgenommen.

 

Ich frage Judith Wegmann, ob sie im Publikum in den letzten krisenhaften Jahren ein verstärktes Interesse für kontemplative Musik feststellt – was zumindest mir so auffällt. „Es war schon immer ein eher kleines Publikum bei experimentelleren Programmen. Das liegt auch daran, dass ich seit Jahren fast alle meine Konzerte selbst veranstalte. Ich spiele vorwiegend in Kunsthäusern, da passen Feldmans Musik und experimentelle Musikprojekte generell meinem Empfinden nach hin. Das Publikum kann sich frei bewegen. Das nehmen die Leute gerne an und tun das immer auch mit einem Feingespür für die Musik.“

 


Canto Ostinato (1976) von Simeon ten Holt spielt Judith Wegmann mit dem Pianisten Simon Bucher (Probenaufnahme, 2023, Ausschnitt).

 

Grosse Publikumsresonanz fanden Wegmanns Konzerte mit Musik von Philip Glass, klassische Programme – oder auch Konzerte mit Canto Ostinato für Duo-Klavier von Simeon ten Holt. Das 1976 fertiggestellte Stück ist in der niederländischen Heimat des Komponisten eine Art Hit. „Ich bin darauf über die Beschäftigung mit den Etüden von Glass gekommen. Ich finde Canto Ostinato ein sehr schönes Stück, es hat mich in seiner melodischen Einfachheit sehr berührt. Ohnehin gehe ich an so viele unterschiedliche Konzerte – Punk, Garage Rock, Psychedelic, Klassik, ich kann überall etwas herausziehen. Canto Ostinato besteht aus über 100 Zellen, die man in sich so oft wiederholen kann, wie man möchte. Eine Aufführung könnte sechs Stunden gehen, gemeinsam mit meinem Duo-Partner Simon Bucher erreichen wir ungefähr zwei Stunden. Es ist eine sehr intime Spiel-Situation. Der Blickkontakt mit dem Duo-Partner entscheidet, wann das nächste Pattern beginnt. Das Stück erfordert hohe Konzentration beim Spielen und ist dennoch sehr ruhig zum Zuhören.“ Angesprochen auf Simon Bucher, mit dem sie ten Holt spielt, gerät Wegmann ins Schwärmen: „Er hat so einen schönen Klang! Die Zusammenarbeit mit ihm ist musikalisch und menschlich sehr bereichernd.“

 

Judith Wegmann & Simon Bucher © Judith Wegmann (Screenshot aus Video)

 

Auf demselben Ton gelandet
Nicht weniger warme Worte findet sie für ihre Kölner Kollaborationspartnerin, die Pianistin Marlies Debacker. Ein Veranstalter hielt es für eine gute Idee, die beiden unbekannterweise für eine Duo-Improvisation an zwei Flügel zu setzen.

 


Judith Wegmann und Marlies Debacker auf dem gemeinsamen Album things in between, aufgenommen 2021 in Biel.

 

Und die Idee war hervorragend: „Am Ende landeten wir beide auf demselben Ton. Es brauchte keine Worte, das kam erst hinterher. Marlies ist wie ich musikalisch vielseitig. Sie macht Klassik, Jazz, neue Musik. Sie hat ein gutes Gespür für Bögen. Für mich war es von Beginn an wie eine Symbiose. Als wir eine gemeinsame Aufnahme anhörten, konnte ich gar nicht immer sagen, wer gerade was gespielt hat.“
Friedemann Dupelius

 

Judith Wegmann & Marlies Debacker

 

Canto Ostinato (1976) von Simeon ten Holt, interpretiert von Judith Wegmann, in voller Länge.
Judith WegmannSimon BucherMarlies DebackerDaniel AndresPhilip GlassEdu HaubensakMorton FeldmanSimeon ten HoltHat Hut Records, Bruno Duplant, New3Art.

Kommende Veranstaltungen:
15.12.2023 – Simeon ten Holt: Canto Ostinato im Duo mit Simon Bucher, in der Sala Perriera – im Kulturzentrum Cantieri Culturali alla Zisa, Palermo (IT)
17.2.2024 Duo mit Marlies Debacker, Raum für Musik Zoglau (D)
28.2.2024 Zu Gast bei Ensemble 5 (4+1), WIM Zürich

Kommende Veröffentlichungen:
2024 erscheinen drei neue CDs von Judith Wegmann:
Kont.Takte mit dem Ensemble New3Art enthält Karlheinz Stockhausens Kontakte, ein Auftragswerk von Antoine Chessex (Geschichten der Gewalt) und einer Improvisation, Koproduktion SRF2Kultur.
Hinzu kommt eine Einspielung der Etudes von Philip Glass und die CD univers paralleles II mit dem Sound Designer und Komponisten Bruno Duplant. Alle erscheinen beim Label Hat Hut (ezz-thetics).

Neo-Profile:
Judith Wegmann, Daniel Andres, Edu HaubensakAntoine Chessex

Improvisation ohne Fallschirm

Der Luzerner Christoph Erb ist Saxophonist und Gründer und Kopf des Labels veto-records. Seit gut zehn Jahren ist er ausschliesslich frei improvisierend unterwegs. Ausschlaggebend dafür war ein halbjähriger Aufenthalt in Chicago. Dabei verbindet er die grösstmögliche musikalische Freiheit mit einem intensivierten Fokus auf das Wesentliche: Klang und Ausdruck.

 

Der Luzerner Saxophonist und Gründer von veto-records Christoph Erb. ©Peter Gannushkin

 

Jaronas Scheurer
Ich treffe Christoph Erb im Luzerner Neubad zum Mittagessen. Voller Energie, beinahe quirlig, dabei höchst fokussiert, scheint bei ihm dennoch das Gegenüber immer im Zentrum zu stehen. So auch in seiner Musik: Christoph Erb vereint in seiner Musik Intensität und Ausdruckswillen des Free Jazz mit reduziertem Fokus der Freien Improvisation und präzisen Klangforschungen an den Rändern des Instrumentalklangs zeitgenössischer Musik. Sein Saxophon röchelt, zirpt und quietscht. Es scheppert, klappert und zischt. Diese Klangvielfalt scheint jedoch höchst kontrolliert: Keine wilden Klangeskapaden oder chaotische Blow-Outs. Dem Klang wird Raum gelassen, damit er sich ausbreiten, entwickeln und verändern kann. Und im Zusammenspiel mit anderen Musiker:innen wird noch eine weitere Qualität Erbs hörbar: seine offenen Ohren für Interaktion und für das Gegenüber.

 


Christoph Erb (Saxophon) und Frantz Loriot (Bratsche): Iki, Album: Wabi Sabi, veto-records 2023.

 

Amsterdam, Luzern, Chicago

Christoph Erb ist in Zürich aufgewachsen. Nach der Musikschule, gründete er mit Kollegen eine Rockband. Danach ging es an die Jazzschule Luzern und er studierte dort bei Nat Su und John Voirol. Nach zwei Jahren Luzern wechselte er für ein Zwischenjahr an die Jazzschule Amsterdam: «Aber nach drei Wochen war es mir dort zu viel.» meint Erb. «Alle waren beim gleichen Dozent und alle klangen wie er.» Er schmiss die Jazzschule hin und ging an jede Jamsession, von der er Wind bekam. «Die Amsterdamer Jazz-Szene war also eigentlich meine Jazzschule.» So genoss er dort eine eigentlich wahnsinnig traditionelle Ausbildung: Zuhören, jammen, mitspielen.

Zurück in Luzern gründete er in den 00er-Jahren seine ersten Bands: erb_gut unter anderem mit Peter Schärli als Gast an der Trompete, Lila mit Hans-Peter Pfammatter an den Tasten, Flo Stoffner an der Gitarre und Julian Sartorius am Schlagzeug, Veto und BigVeto. «Ich wollte komponierte Musik mit Impro vermischen.» erinnert sich Erb. «Irgendwann waren wir mit Lila so eingespielt, dass wir gar nichts mehr abmachen mussten. Wir gingen auf die Bühne, spielten frei und liessen einfach die Themen einfliessen. Das war super.» Und dann kam Chicago…

Luzern und Chicago sind «Sister Cities». Das heisst konkret, dass die Stadt Luzern einen Atelierplatz in Chicago betreibt. Christoph Erb bewarb sich darauf und war 2011 ein halbes Jahr dort: «Eine Initialzündung.» so Erb. «Doch am Anfang war es zäh. Die Mentalität ist komplett eine andere. Auch die Art und Weise des Musikmachens. Ich bin an wahnsinnig viel Konzerte gegangen. Ich war fasziniert, wie stark der Ausdruck der dortigen Musiker war und dies mit viel weniger Technik. Für mein eigenes Spiel war diese Erkenntnis enorm wichtig. In Chicago bin ich dem ,Jazz’ sehr nahe gekommen. Eigentlich habe ich mich da zum ersten Mal gefragt: What is this thing called Jazz.»

Christoph Erb (Saxophon) und Jim Baker (Klavier): Motyl, Album: Bottervagl, veto-records/exchange 2012.

 

DIY auf allen Ebenen

Trotz Startschwierigkeiten fasste Erb Fuss und knüpfte Verbindungen, die auch über seinen halbjährigen Aufenthalt hinausreichten. Mehrere Kollaborationen mit Musiker:innen aus Chicago sind auf seinem Label veto-records erschienen und kurz vor dem Corona-Lockdown hat er ein grosses Chicago-Luzern-Festival organisiert, wofür er einige seiner Chicagoer Freund:innen nach Luzern einladen konnte. «Amsterdam und Chicago waren für mich zentral. Da fand ich zu meiner Stimme.» Und in Chicago lernte Erb dann vor allem eine Do-it-yourself-Mentalität kennen, die ihn bis heute begleitet.

Auch die Touren waren anders organisiert: «Kein Geld, auf dem Boden geschlafen, aber am Ende der Tour waren alle CDs verkauft: Entweder, du macht es mit Leib und Seele oder sonst kannst du es bleiben lassen. Wenig bis keine Fördergelder, keine Finanzierungsmöglichkeiten.» So bleibt einem nicht viel anderes übrig, als alles selber zu machen.

 

veto-records

Diese Do-it-yourself-Mentalität setzt sich auch in seinem Label veto-records fort: «Ich habe für meine erste Platte mit erb_gut lange ein Label gesucht, habe alles abgeklappert. Danach hatte ich keine Lust mehr und entschied: Ich mache es lieber selber, dann habe ich alles in der Hand.» Christoph Erb vertreibt auf veto-records nicht nur seine eigene Musik, sondern eine ganze Reihe weiterer Künstler:innen: Vor kurzem erschien das Album Close Up von Julius Amber, bestehend aus Elio Amberg am Saxophon und Julian Sartorius am Schlagzeug, und Christoph Erb ist begeistert: «Ich nehme Leute, die ich super finde und die Kick haben. Elio Amberg ist einer davon. Ich kenne ihn seit Kind, da ich sein Saxophonlehrer war. Und jetzt macht er sehr interessante Musik und wir spielen zusammen.»

 


Christoph Erb (Saxophon), Magda Mayas (Klavier), Gerry Hemingway (Schlagzeug): Under Water Falling, Album: Bathing Music, veto-records 2023.

 

Aktuelle Projekte

Mit Elio Amberg spielt er zusammen im Bassklarinettentrio Erbt Mäder am Berg? mit Niklaus Mäder. Das sei die einzige Formation, mit der er tatsächlich probt. «Die Besetzung ist sehr herausfordernd, weil wir alle dasselbe Instrument spielen.» Daneben spielt er mit dem Schlagzeuger Gerry Hemingway und der Pianistin Magda Mayas im Trio, mit dem Bratschisten Frantz Loriot im Duo und im Trio mit Emanuel Künzi am Schlagzeug und Christian Weber am Bass. 

 

Magda Mayas (Klavier), Christoph Erb (Saxophon) und Gerry Hemingway (Schlagzeug) im Trio. Zvg. von Christoph Erb.

 

So unterschiedlich diese Formationen sind, Erbs Stil ist immer gleich erkennbar: Der Ausdruckswille, die Intensität, der Fokus auf die Ränder des konventionellen Saxophonklangs. «Ich finde immer noch neue Klänge und Ausdrucksmöglichkeiten auf dem Saxophon, es ist wohl nie ausgeforscht. Für mich ist Konzerte zu spielen das Grösste. Und wenn im Konzert etwas Neues passiert – bei  mir, mit der Band und im Gesamtklang – dann bin ich danach richtig happy.. Improvisation sollte immer wieder neu sein. Hauptsache keinen Fallschirm.»
Jaronas Scheurer

Christoph Erb, veto-records, veto-records/exchange, Magda Mayas, Gerry Hemingway, Julian Sartorius, Frantz Loriot, Christian Weber, Flo Stoffner, Elio Amberg

Kommende Veranstaltungen:
Erb-Loriot Duo:
22.12.2023         Mullbau Luzern
9.1.2024             Das Institut Zürich

Erbt Mäder am Berg? Plus Thomas Lehn (Synthesizer) tourt Ende Februar 2024 in der Schweiz.

Kommende Veröffentlichungen auf veto-records:
In Kürze erscheinen zwei neue LPs mit Christoph Erb auf veto-records: Die neue Platte Wabi Sabi des Erb-Loriot Duos und die neue Platte Spazio Elle des Trios Erb Weber Künzi.

Eben erschienen als digitales Release ist das Soloalbum ACCIAIo DOLCE FUSO. Study on Extended Sax des italienischen Saxophonisten Mario Gabola auf veto-records.

Neo-Profile:
Christoph Erb, Julian Sartorius

 

Contrechamps Genève feiert das Hören

Ensemble Contrechamps Genève startete eine dichte Saison mit zahlreichen Highlights. Das Programm ist exemplarisch für die neue Ausrichtung des wichtigsten Genfer Ensemble für zeitgenössische Musik unter der künstlerischen Leitung des Perkussionisten Serge Vuille. Er übernahm Contrechamps vor fünf Jahren und hat die Ensemble-DNA seither radikal neu geprägt. Serge Vuille im Gespräch:

 

Portrait Serge Vuille © Serge Vuille

 

Gabrielle Weber
Contrechamps bespielt den grossen Konzertsaal der Victoria Hall in Genf, es eröffnet die Festivals Biennale Musica Venezia oder Sonic Matter Zürich oder es lädt ganz einfach – ohne Konzert – zu einem Vinyl- und neo.mx3.ch-Release-Hörwochenende in Genf ein. Die unterschiedlichen Veranstaltungen sind charakteristisch für die neue Ausrichtung des traditionsreichen Ensembles unter Serge Vuille.

„Contrechamps sucht ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Musik-Praktiken“, sagt Vuille. Da sind einerseits Konzerte mit Instrumentalmusik für grosses Ensemble, oft verbunden mit Komponistenpersönlichkeiten und der jungen Szene der Romandie, andererseits Projekte in Verbindung mit anderen Sparten und Musikgenres, in Kombination mit Visuellem und Performativem, Elektronik, Pop oder Jazz. Und immer geht es Vuille auch um ganz spezielle Hörerlebnisse.

Für Ersteres stand anfangs Saison beispielsweise ein Konzert zum 65. Geburtstag des Genfer Komponisten Michael Jarrell, ein „traditionelles“, dirigiertes Konzert für große Ensembles in der Victoria Hall. Contrechamps gab dazu sieben neue kurze Stücke an seine Studierenden in Auftrag. „Damit unterstützen und fördern wir die regionale Kreationsszene, das ist uns ein wichtiges Anliegen“, sagt Vuille.

Ende 2022 veranstaltete es bereits eine Hommage an Éric Gaudibert, vor zehn Jahren verstorbener Lausanner Komponist, der die Szene wesentlich prägte. Dabei führte es nebst Gaudibert 22 neue Stücke ehemaliger Studierender auf, Miniaturen von je nur zirka einer Minute Dauer, in ganz unterschiedlicher, frei gewählter Besetzung.

 


Éric Gaudibert, Skript, pour vibraphone et ensemble, Contrechamps, Bâtiment des Forces Motrices de Genève, Concours de Genève, 2009, Eigenproduktion SRG/SSR

 

In einem ganz anderen Kontext und Setting, zur Eröffnung der Biennale Musica Venezia, zeigte Contrechamps GLIA für Instrumente und Elektronik, ein Werk der 2009 verstorbenen US- Elektropionieren und Klangkünstlerin Maryanne Amacher aus dem Jahr 2005. An Amachers Schaffen interessiert Vuille auch der Aspekt spezieller gemeinsamer Hörerfahrung: Zur Festivaleröffnung in einer grossen leergeräumten und abgedunkelten Halle der umgenutzten Schiffswerft Arsenale, ging das zahlreiche Publikum (darunter auch die Autorin), umgeben von Lautsprechern, extremen Klangveränderungen umherwandernd nach: die Instrumentalist:innen spielten auf einem Podest, als vibrierende Klangskulptur, oder sie bewegten sich mit den Zuhörenden. „GLIA ist  fast eine Klanginstallation, ein Teil des Stücks spielt sich in den Innenschwingungen im Ohr ab, nicht im Raum und es basiert nicht auf einer Partitur, sondern auf mündlichen Schilderungen damals Beteiligter: das fordert einen hohen kreativen Anteil von jedem Einzelnen der Interpreten“, sagt Vuille.

 

Maryanne Amacher, ‘GLIA’ am Eröffnungskonzert der Biennale Musica Venezia, Contrechamps, Arsenale 16.10.2023 © Gabrielle Weber

 

Zurück zu den Gaudibert-Miniaturen: sie finden sich nun auf einer der eingangs erwähnten neuen Vinyl-Schallplatten und markieren den Beginn der neuen Vinyl-Reihe Contrechamps/Speckled-Toshe, zusammen mit dem Lausanner Label Speckled-Toshe. „Die 22 Kompositionsaufträge von je einer Minute, das war eine immense Arbeit und es entstanden so vielfältige Werke, dass wir die Hommage mit einem bleibenden Objekt dieser neuen Generation beschliessen wollten. Die Schallplatte ist dafür das passendste Format: es gibt kaum etwas Besseres sowohl in Bezug auf die Aufnahme- und Übertragungsqualität, als aufs Objekt“.

 


Daniel Zeas, «Eric – Cara de Tigre» für Ensemble und Tonband, eine der 22 Miniaturen auf der neuen Vinyl-Schallplatte, Contrechamps / Speckled-Toshe 2023: Der Hintergrund: Gaudibert sei Zea im Traum kurz nach dessen Tod als lachender Tiger erschienen: er habe danach lange geweint zwischen Trauer und Freude.

 

Zum Vinyl-launch lud Contrechamps wieder zu einem speziellen Hörerlebnis ein: im les 6 toits , einem angesagten Genfer Kulturzentrum auf einer ehemaligen Industriebrache, konnte man sich ein Wochenende lang in Hörlounges die neuen Vinyl-Releases und eigene Lieblings-Schallplatten zu Ohr führen. Und mit einer Vernissage wurde auch das frisch veröffentlichte Contrechamps-Audioarchiv auf neo.mx3.ch gefeiert. Dazu gab’s live-aufgenommene oder -ausgestrahlte Radiosendungen auf RTS und SRF2Kultur rund ums Hören und qualitatives Aufnehmen zeitgenössischer Musik.

Wie Vinyl stehe die SRG-online-Plattform neo.mx3.ch für eine Art des Hörens und eine Sorgfalt der Produktion: „Beide sind darin verbunden, dass sie der zeitgenössischen Musik Visibilität und Dauer verleihen – durch sorgfältige Neueditionen und die Pflege von historischen Archiven“.

Auf der Plattform für das Schweizer zeitgenössische Musikschaffen finden sich auch zahlreiche selten gespielte Werke in ungewöhnlicher Besetzung, wie Michael Jarrells «Droben schmettert ein greller Stein» von 2001 für Kontrabass, Ensemble und Elektronik.

 


Contrechamps nahm Jarrells Stück 2005 im Radiostudio Ansermet unter der Leitung von George Benjamin auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Contrechamps lädt sukzessive sein gesamtes umfangreiches Radioarchiv hoch, zurückgehend bis 1986, den frühsten Aufnahmen. Es sei wichtig, dass solche Plattformen existierten und  geschätzt  würden. „Viele der Stücke sind sonst nirgends hörbar: das ist einzigartig“, sagt Serge Vuille.

Entdecken lässt sich auch zum Beispiel Feux von Caroline Charrière. Die 1960 in Fribourg geborene Komponistin Charrière verstarb früh, bereits 2018, und Contrechamps setzt sich für ihr Werk ein. Vuille ist es auch ein Anliegen, dem Schaffen von Komponistinnen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und zu einer ausgewogeneren Genderbalance in der zeitgenössischen Musik beizutragen.

 


Feux für Flöte, Klarinette, Marimba, und Streicher von Caroline Charrière, dirigiert von Kaziboni Vimbayi, führte Contrechamps 2019 in der Genfer Victoria Hall auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Am Eröffnungskonzert des diesjährigen Zürcher Festivals Sonic matter präsentiert Contrechamps neue Stücke von drei Komponistinnen aus dem Nahen Osten für kleines elektronisches Ensemble. Da kommen weitere Leidenschaften Vuilles zusammen: „Ich interessiere mich schon lange sehr für die Szene des Nahen Ostens. Sie ist in Bezug auf Kreation, insbesondere in allem, was mit Elektronik zu tun hat, sehr lebendig“, sagt Vuille. Dass Sonic Matter dieses Jahr mit dem Gastfestival Irtijal aus Bejrut kollaboriert, sei eine hervorragende Gelegenheit zur ersten Zusammenarbeit. Und sicherlich auch für einzigartige Hörerfahrungen.
Gabrielle Weber

 

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Sonic Matter: Becoming / Contrechamps 30.11.2023, 19h (Einführung 18h)
Biennale Musica Venezia, Maryanna Amacher, GLIA / Contrechamps, 16.10.2023
Genève, Les 6 toits: Contrechamps: Partage ton Vinyle!, 20-22.10.2023

Speckled-Toshe; Contrechamps/Speckled-Toshe:
1.Vinyl: 22 Miniatures en hommage à Éric Gaudibert
2.Vinyl: Benoit Moreau, Les mortes

Sonic matter, Nilufar Habibian, Irtijal, les 6 toits

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 18.10/21.10.23: Partage ton Vinyle! Ensemble Contrechamps Genève feiert das Hören, Redaktion Gabrielle Weber
neoblog, 7.12.22: Communiquer au-delà de la musique, Autorin Gabrielle Weber
neoblog, 19.6.2019: Ensemble Contrechamps Genève – Expérimentation et héritage, auteur Gabrielle Weber

Sendungen RTS:
L’écho des pavanes, 21.10.23: Aux 6 toits, enregistrer la musique contemporaine,  auteur: Benoît Perrier
Musique d‘avenir, 30.10.23, Partage ton Vinyle, ta cassette ou ta bande Revox!  auteur: Anne Gillot

Neo-Profile:
Contrechamps, Daniel Zea, Festival Sonic Matter, Benoit Moreau