Utopien wahr werden lassen: der Komponist Michael Wertmüller

Die Musik des Komponisten Michael Wertmüller klingt anarchisch, virtuos und hochenergetisch. Von der kürzesten Komposition bis zum immersiven raumumspannenden Musiktheater verschränkt er in seinen Werken Ansätze aus Jazz und zeitgenössischer Musik: immer dramatisch, intensiv und mit voller Wucht. Ein Porträt von Gabrielle Weber.

Porträt Michael Wertmüller zVg. Michael Wertmüller

Gabrielle Weber
Ich liebe einfach das Verrückte und verrückt zu spielen. Ich mag Virtuosität“, so Michael Wertmüller im Gespräch. Das Extrem ist für Michael Wertmüller die Norm. Seine radikalen, Genregrenzen sprengenden Werke sind hochkomplex. Meist verweben sie minutiös notierte zeitgenössische Musik mit Jazz, Pop, Rock und Improvisation. 

Der Schlagzeuger und der Komponist

Der Schlagzeuger Wertmüller spielte zunächst in verschiedenen Fusion-Bands. Von da an verlief der Weg zum Komponieren organisch: Die Musik die er spielen wollte, musste zuerst erfunden werden und so begann er sukzessive, Stücke für seine Bands selbst zu komponieren: „Es war ein Mix zwischen Jazz, Rock, Death Metal und Hardcore. Aus heutiger Sicht ein wildes Durcheinander, das gebändigt werden wollte und gebändigt werden musste“, meint Wertmüller.

Seine Auftritte als Schlagzeuger wie auch seine ersten Kompositionen sind geballte hochkonzentrierte Wucht. In „check_in_swiss“ improvisiert Wertmüller bei einem Soundcheck für die Band Full Blast ein dreiminütiges Solo in durchgängig hoher Intensität.


Michael Wertmüller, Schlagzeugsolo check-in-swiss, 2001.

Als Schlagzeuger, zuerst im Berner Sinfonieorchester, später im Concertgebouw Orchester in Amsterdam, faszinierten Wertmüller Intensität, Kraft und Dramatik des klassischen Orchesterapparats. „Es war ein Riesen-Genuss mitten in diesem Orchesterapparat mit zu verfolgen, wie die Instrumente miteinander kommunizieren, wie dieses Geflecht der Kompositionen zusammenhängt. Das hat mich ganz brennend interessiert.“ Konsequent verlagerte sich Wertmüller dann ab 1995 durch ein Kompositionsstudium bei Dieter Schnebel an der Hochschule der Künste in Berlin ganz aufs klassische Komponieren.

Michael Wertmüller der Perkussionist © Francesca Pfeffer

Gegensätze zusammenführen

Parallel tourte er laufend mit Bands weiter, zum Beispiel mit dem ausstrahlenden Jazz-Saxofonisten Peter Brötzmann und dem Bassisten Marino Pliakas im Trio Full Blast weltweit bis zu Brötzmanns Tod im Juni 2023. „Das Unterwegssein, das Spielen im Jazzkontext ist immer ein wahnsinnig wichtiger Einfluss gewesen. Und gleichzeitig ist die Komposition oder die im weiteren Sinne klassische Musik ein starker Einfluss, wenn ich spiele.“

Peter Brötzmann gilt durch sein energisches Spiel als radikaler Jazz-Innovator und war nebst Dieter Schnebel die prägende Persönlichkeit für Wertmüllers Komponieren. Ich kannte Brötzmann seit ich 22 alt war, noch vor meinem Studium bei Schnebel. Er hat mich quasi mitgezogen und mitgenommen.“

 


Michael Wertmüller, antagonisme contrôlé, Uraufführungs-Konzert  6.4.2014,  WDR-Funkhaus Köln. Peter Brötzmann (Saxophon), Marino Pliakas (E-Bass), Dirk Rothbrust (Schlagzeug), Ensemble Musikfabrik, Leitung Christian Eggen.

„Die freie Form des Jazz und die ganz strenge serielle Musik: Das ist ein Riesen-Spagat und das beeinflusst sich gegenseitig wahnsinnig stark.“ Wertmüllers „klassisches“ Komponieren führt beide Musikgenres zusammen. Für Peter Brötzmann als Solisten komponierte Wertmüller drei Werke, in denen er Brötzmanns Improvisationen in komponierte Partituren für Neue Musik-Ensembles einband. „Das machte Brötzmann sonst nie. Es war für mich eine Ehre und zeigte, dass er die Verbindung von beidem respektiert und ästimiert hat“.
In antagonisme contrôlé für drei Solisten, Brötzmann, Pliakas und Schlagzeugsolo, und das Ensemble Musikfabrik, setzt Wertmüller mit improvisierten Soli von Brötzmann und Pliakas einen Kontrapunkt zum streng ausnotierten Satz des 19köpfig-besetzten Kölner Ensemble Musikfabrik. Es geht ihm darum, zwei gegensätzliche Welten in eine Form zusammenzuführen, den freien Geist des Jazz und serielles klassisches Komponieren, so dass beide ihren Charakter behalten.

Verschiedene Klangkörper verbinden

Die Zusammenführung gegensätzlicher klanglicher Welten verbindet Wertmüller mit der Band Steamboat Switzerland: Seit seiner Gründung 1995 verschränkt das Trio, bestehend aus Marino Pliakas, E-Bass, Lucas Niggli, Perkussion, und Dominik Blum, Hammond-Orgel, seinerseits Jazz, Rock, Metal und Improvisation mit zeitgenössischer Musik. In den eigenen Konzerten kombiniert die Band jeweils komponierte kurze Stücke in modularer Art mit Improvisationen. Michael Wertmüller wurde seit den ersten Begegnungen in den neunziger Jahren zu so etwas wie einem Hauskomponisten der Band. „Steamboat ist die radikalste Band, die Noten spielen kann, die ich überhaupt kenne. So kann ich auch wie ein Verrückter komponieren und es wird dann auch so gespielt: in einer unglaublichen Radikalität, was natürlich grandios ist für mich“, meint Wertmüller über seine selbstbezeichnete Lieblingsband.

Später bezog Wertmüller das Trio in zahlreiche seiner grossen Musikprojekte ein, oft in Verbindung mit klassischen Klangkörpern. „Steamboat ist eigentlich ein wahnsinniger Motor, ein Generator. Diese Präzision, wie sie Material spielen. Das inspiriert definitiv auch ein klassisches Orchester“, so Wertmüller.


Michael Wertmüller, discorde für Hammond-Orgel, E-Bass, Drum Set und Ensemble, Uraufführung Donaueschinger Musiktage 15.10.2016, Steamboat Switzerland, Klangforum Wien, Dirigent Titus Engel.

In discorde, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 2016, spielt das Trio zusammen mit dem Klangforum Wien, dirigiert von Titus Engel. Wertmüller inszeniert hier eine eigentlichen «battle» der unterschiedlichen Musikgenres. Es geht ihm aber nicht um den Gegensatz, sondern um das Gemeinsame: „Sie waren der Motor in dem ganzen Gefüge. Das war ein Zug, der voll in die gleiche Richtung fuhr.“

 

Moderne Dramen – Utopien

„Ich habe nicht den Anspruch, Stile zu vereinen. Ich habe eher das Gefühl, dass die Stile sich im Laufe meines Lebens komplett vermischt haben. Eigentlich ist es auch eine dramatische Angelegenheit, wenn sich das so vermengt. Für mich ist es ein modernes Drama.“

Das dramatische Vermengen von Gegensätzen setzt Wertmüller ab 2013 in fünf internationalen Musiktheaterproduktionen um, bisher am konsequentesten in der experimentellen Oper D.I.E für die Ruhrtriennale 2021, wo auch das Szenische und der Raum integriert werden. In einer ausgedienten Industriehalle, der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg Nord, ist das Publikum im Zentrum platziert, umgeben von einem Rundum-Laufsteg, der Steamboat, einem Streichquartett, einer Punkband, einer Rapperin, einer Conferencière und klassischen Sänger:Innen als Bühne dient. Verlebendigte holografische Musikvisualisierungen und vergrösserte Skizzen des Bildenden Künstlers Albert Oehlen umhüllen das Ganze. Zu D.I.E. produzierte Michael Wertmüller eine exklusive, limitierte Vinylauskoppelung, zusammen mit Albert Oehlen, der das Cover gestaltete: Das Album Im Schwung mit der Sängerin Christina Daletska, Ruhrtriennale 2021.

 


Michael Wertmüller / Albert Oehlen, Im Schwung, Christina Daletska, Ruhrtriennale 2021.

 

Ich habe manchmal Vorstellungen von einer Musik, die man so noch nicht kennt oder die so noch nicht gegeben hat. Für mich hängt Kunst auch in großen Teilen mit Utopien zusammen und ich versuche in diesen Bereich zu kommen, wo Utopie vielleicht auch Realität werden kann.“
Gabrielle Weber

 

Sonderband Musik-Konzepte Michael Wertmüller, edition text+kritik, Hg. Ulrich Tadday, Dezember 2024.

Am 25.1.25 erlebt Wertmüllers nächste Oper die Uraufführung:
Israel in München, Uraufführung 25.1.25 Staatsoper Hannover.

Peter Brötzmann, Dieter Schnebel, Albert Oehlen, Christina Daletska, Marino Pliakas

Sendungen SRF 2 Kultur
Musik unserer Zeit, 18.12.2024: Michael Wertmüller und das Trio Steamboat Switzerland, Redaktion/Moderation Gabrielle Weber.

Neue Musik im Konzert, 18.12.2024: Michael Wertmüller im Konzert, Redaktion/Moderation Gabrielle Weber.

Neoblog, 3.10.2020: Michael Wertmüller: “..der grösste Beethoven-Fan aller Zeiten..”, Autorin Gabrielle Weber.

neoprofiles
Michael Wertmüller, Steamboat Switzerland, Lucas Niggli, Dominik Blum, Titus Engel

Marc Kilchenmann: Der Vielseitige

Marc Kilchenmann mag es nicht, sich zu wiederholen. Aber der Komponist schätzt es, sich zu vertiefen, wenn er sich einer Thematik annimmt. Für sein Stück Murhabala hat er sich mit dem Iran und mit dem Freiheitskampf der Frauen dort auseinander gesetzt. In der musikalischen Form treffen Ober- und Untertonstrukturen teils harmonisch, teils in dissonanter Reibung aufeinander.
Ein Portrait von Friederike Kenneweg

 

Der Komponist Marc Kilchenmann. Portrait mit einem Hut. Foto von Paul Wyss
Der Komponist Marc Kilchenmann. © Paul Wyss

 

Friederike Kenneweg
“Ich weiß nicht genau, wo das herkommt, aber Persien, der Iran – das hat mich als Kind schon sehr fasziniert”, erzählt Marc Kilchenmann. “Es war dann auch später sehr präsent in meinem Leben. Ich habe ein bisschen persisch gelernt, viele iranische Filme geschaut und iranische Gedichte gelesen. Was mir ganz besonders gefällt, ist die Sprache. Es heißt, es sei die metaphernreichste Sprache der Welt.”

Wenn Kilchenmann etwas findet, womit er sich noch gar nicht auskennt, freut ihn das. So war es auch bei der Analyse der Streichquartette des US-amerikanischen Komponisten Ben Johnston, über die er seine Promotion geschrieben hat. “Bei Johnston habe ich mal fünfzehn verschiedene Terzen gezählt. Das war ein Gefühl, als ob es mir den Boden unter den Füßen wegzieht. Das ist toll. Ich habe mir gesagt: ich weiß nichts. Super!”

 

Mathematik und Musik, Iran und Ben Johnston

In seiner Komposition Murhabala für das mikrotonale Tasteninstrument Rhesutron und Streichquartett kommen diese beiden Interessensgebiete zusammen. Bei dem persischen Universalgelehrten Omar Chayyām aus dem 11. Jahrhundert entdeckte Marc Kilchenmann eine mathematische Abhandlung über Binomialkoeffizienten. Diese nutzt er ebenso wie das harmonische Konzept von Utonalität und Otonalität des Komponisten Harry Partch, der Ben Johnston maßgeblich beeinflusst hat, um seine musikalische Strukur zu finden. Als “otonal” werden Intervalle bezeichnet, die sich mit der Obertonreihe bilden lassen. Solche. Diejenigen die mit der Untertonreihe gebildet werden, heißen “utonal”.

 

Marc Kilchenmann, Dominik Blum und das Quatuor Bozzini nach der Uraufführung von Murhabala im Kunsthaus Walcheturm, Zürich. © Doris Kessler
Das Stück ‘Murhabala’ entstand im Auftrag von Dominik Blum zum Anlass seines 60sten Geburtstags. Dominik Blum und Marc Kilchenmann zusammen mit dem Quatuor Bozzini nach der Uraufführung von ‘Murhabala’ im Kunsthaus Walcheturm September 2024. © Doris Kessler

 

Das persische Wort Murhabala bedeutet ‚Gegenüberstellen‘. Marc Kilchenmann stellt in seinem Stück utonale und otonale Intervallstrukturen einander gegenüber. Das Streichquartett, das vor allem Liegetöne spielt, bewegt sich nur im otonalen harmonischen Raum. Das Rhesutron spielt ornamentale Linien und nutzt dabei sowohl otonale als auch utonale Intervalle. Im Verlauf des Stückes wird die harmonische Struktur immer komplexer. Wenn die Oberton- mit der Untertonreihe kombiniert wird, entstehen einerseits vollkommen rein klingende Intervalle. Meistens treffen aber Töne in einem Abstand aufeinander, der ausserhalb des tradierten Tonsystems liegt.

 


Murhabala für Rhesutron und Streichquartett, Aufnahme vom 23.9.2024 in der Kantonsschule Küsnacht. Dominik Blum und Quatuor Bozzini

 

Wellen wie Revolutionsbewegungen

“Du kannst mein Stück sehr linear hören, du kannst aber auch sehr auf die Harmonie achten, du kannst mal nur die Streichinstrumente verfolgen oder auch einfach die Gedanken schweifen lassen”, sagt Marc Kilchenmann. Ein Gedanke, der ihn selbst beim Komponieren beschäftigt hat, galt den Frauen im Iran, die dort in immer wieder neuen Anläufen gegen Unterdrückung und um ihre Freiheit kämpfen. Die harmonischen Zusammenhänge, die sich aus der Struktur von Murhabala ergeben, gleichen Wellenstrukturen, die an das Auf und Ab aus Niederschlagen und Wiedererstarken des Protests erinnern. Diesen Aspekt möchte Marc Kilchenmann in einer nächsten Fassung aber noch deutlicher betonen. “Die Wellen, die ich mir eigentlich vorgestellt habe, dieses Dranbleiben, dieses Immer-Wiederkommen, das ist etwas, was ich noch zu wenig höre in dem Stück. Die werde ich noch stärker herausarbeiten.”

 

Aufs Neue fremd sein

So intensiv sich Marc Kilchenmann jetzt mit Obertönen und Untertönen beschäftigt hat – in seiner nächsten Komposition wird es wahrscheinlich um etwas völlig anderes gehen. Denn das Unbekannte ist es, das ihn immer wieder aufs Neue reizt. “Ich würde gerne noch mal etwas ganz anderes studieren. Das tue ich jetzt wahrscheinlich nicht, weil die Zeit auch endlich ist. Aber ich mag es, mich mit ganz anderen Dingen zu beschäftigen, und auch wieder dieses Fremdsein zu erleben: Das ist ein schönerer Zustand, als alles schon zu wissen. Was willst du dann noch vom Leben?
Friederike Kenneweg

Omar Chayyām, Ben Johnston, Harry Partch, Quatuor Bozzini

neo-profile
Marc Kilchenmann, Dominik Blum, Kunstraum Walcheturm

 

Andreas Eduardo Frank: Kollaboratives Komponieren und Meta-Komponieren

Der Komponist Andreas Eduardo Frank ist seit der Saison 2024/2025 neuer künstlerischer Leiter & Co-Leiter des Basler Gare du Nord, einer der wichtigsten Spielstätten für zeitgenössische Musik der Schweiz. Franks eigene Werke sind multimedial, verspielt, humorvoll und oft politischer, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Ein Porträt von Jaronas Scheurer.

 

Der Komponist und neue künstlerische Leiter des Basler Gare du Nord Andreas Eduardo Frank

 

Jaronas Scheurer
Seit dieser Saison ist Andreas Eduardo Frank neuer künstlerischer Leiter des Gare du Nord. Gleichzeitig ist er in der Programmgruppe des Festivals Neue Musik Rümlingen. Zum Komponieren komme er daher momentan nicht mehr, meint Frank im Interview. «Ich muss ehrlich sagen, ich sass die letzten zehn Jahren viel hinter dem Schreibtisch und habe Noten aufs Papier gesetzt. Es ist ein einsamer Job und eigentlich bin ich ein geselliger Mensch. Und Kuratieren ist so eine Art Meta-Komponieren, gerade wenn man mit Leuten kollaboriert und zusammen Ideen austauscht und umsetzt.»

Für Frank fühlt sich der Wechsel vom Komponieren zum Kuratieren also nicht als Bruch an. Auch wenn man seine früheren Stücke anschaut, wird der kollaborative Zug seiner Kompositionsweisen deutlich, was er im Interview nochmals betont: «Ich lasse mich gerne von den Menschen, für die ich schreibe, inspirieren: Was für ein Klang, was für eine Aktion, was für ein Moment passt zu diesen Menschen?»

 

Ja, Nein, Vielleicht

Doch nicht nur seine Arbeitsweise trägt eine stark soziale Dimension, auch seine Stücke selbst. Im 2020 entstandenen Stück Yes Yes No No, Yes No No No für Geige, Saxofon, Akkordeon, Perkussion, Elektronik und Video, hier gespielt vom Concept Store Quartet, beschäftigte sich Frank mit den Bedeutungsdimensionen der Wörter Ja und Nein.

 

 

«Mich hat diese Grauzone zwischen Ja und Nein, zwischen Eins und Null interessiert. Ein ‹Ja› kann schön, brutal, aggressiv, angestrengt, ablehnend klingen.» Frank ist von diesen zwei Alltagswörtchen ausgegangen und hat sie in ihrer Bedeutung und ihrem Klang untersucht. Dazu kam dann noch die Videoebene. Im Video und auf der Bühne sind Performer:innen zu sehen, wie sie in unterschiedlichen Weisen «Yes» und «No» sagen. «Das fand ich eine interessante Konstellation», meint Frank. «Es gibt vier Performerinnen und Performer auf der Bühne, die alle nur ‹Yes› und ‹No› sagen. Dazu kommen ihre digitalen Avatare, die dasselbe tun. Daraus entstehen ganz unterschiedliche soziale Konstellationen zwischen realen und digitalen Doppelgängern, zwischen den Individuen und verschiedenen Gruppenkonstellationen, zwischen medialen Ebenen. Es ist eine Art gesellschaftlicher Mikrokosmos.»

 

Neue Musik und Politik

Damit klingt eine dezidiert gesellschaftspolitische Dimension bei Andreas Eduardo Frank an, die er auch sofort bejaht: «Ich glaube, dass es in der Musik und in der Kunst eine Haltung zur Gesellschaft braucht, die sich in der Musik widerspiegelt oder heraushören lässt. Natürlich lässt sich in die Musik als eine Art heile Welt flüchten. Aber die Realität ist nicht heil.» Die Gefahr besteht dann jedoch, dass Musik zu Propaganda wird. Franks Gegenmittel dazu heisst Virtuosität: «Ich will niemandem sagen, was sie oder er denken soll.» meint er im Gespräch. «Ich möchte Gedankenräume anreissen, in die man kurz hineindenken kann und im nächsten Moment öffnet sich ein neuer Raum. Dadurch versuche ich eine Art Virtuosität in Gedankenform zu etablieren.»

 

Kann man schneller als Licht singen?

Auch in einem weiteren Stück von Frank, Restore Factory Defaults von 2017, geht es um Virtuosität. Ausgangspunkt der Komposition, die Frank mit der Sängerin Anne-May Krüger entwickelte, war die Vorstellung, dass man schneller als Licht singen kann. Mit dieser eigentlich absurden Frage ist man jedoch mitten im äusserst realen Musiker:innenalltag. Es geht Frank im Stück um Virtuosität, Wettkampf, um die Kraft der Performance.

 

 

Im Stück singt Anne-May Krüger gegen digitale Doppelgängerinnen und die projizierte Lichtchoreographie an, die sie immer wieder im Dunkeln stehen lässt. Die verschiedenen medialen Ebenen wie Video, Licht oder Audioeinspielungen dienen dabei sowohl als virtuose Erweiterung der stimmlichen Fähigkeiten der Mezzosopranistin als auch als Medienmaschine, gegen die Krüger ankämpft.

Restore Factory Default ist gleichzeitig eine humorvolle Untersuchung der Limitierungen von menschlich-körperlichen Fähigkeiten, ein multimediales Virtuosenstück für eine Sängerin und eine kulturpolitische Reflexion über den absurden Wettkampf zwischen Mensch und Medienmaschine. «Mir ging es einerseits um ein ‘Enhancen’: Also – wie kann ich es mit den medialen Mitteln noch virtuoser machen?», so Frank. «Aber gleichzeitig ist es ein Kampf zwischen der Maschine, die mit Licht operiert, und dem Klang, der vor allem vom Menschen kommt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass hinter diesem multimedialen Trend in der zeitgenössischen Musik eine Flucht von der Arbeit mit dem Klang steckt. Das wollte ich umdrehen und habe mich daher gefragt, kann man doch schneller singen als das Licht?»

 

Andreas Eduardo Frank bei einer Live-Performance am Modular-Synthesizer.

 

Ein sicherer Hafen für Klangexperimente

Mit dieser sanften Kritik an der zeitgenössischen Musik schliesst sich auch der Kreis zu seiner momentanen Arbeit als künstlerischer Leiter des Gare du Nord: «Der Gare du Nord soll ein Ort für Klangexperimente sein und ein sicherer Hafen für andere Ansätze, die vielleicht nicht dem Mainstream angehören. Ich möchte die zeitgenössische Musik entstauben und verstärkt der jüngeren Generation eine Plattform bieten.»
Jaronas Scheurer

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
Kultur Kompakt vom 17. Oktober 2024 (ab 00:25:51): Jaronas Scheurer berichtet über die Eröffnungsproduktion der diesjährigen Saison des Gare du Nord.

Neo-Profile:
Andreas Eduardo Frank, Concept Store Quartet, Anne-May Krüger

LUFF: Musikpreis für Noise aus Lausanne

LUFF,  Lausanne Underground Film & Music Festival, programmiert seit 2002 in Lausanne experimentelle Musik zu einem ausgesuchten Filmprogramm. Dieses Jahr erhielt das Festival einen der Spezial-Musikpreise des Bundesamts für Kultur (BAK). Ein paar Wochen vor Start der diesjährigen Ausgabe traf ich drei Mitglieder der Leitungsequippe im neuen Lausanner Kulturzentrum Pyxis, dem Arbeitsort des LUFF, direkt neben der Kathedrale in der Lausanner Altstadt. Ein Gespräch mit Thibault Walter und Dimitri Meier, künstlerische Leiter des Musikprogramms, und Marie Klay, Geschäftsführerin.

Marie Klay, Dimitri Meier and Thibault Walter / LUFF Swiss Music Prices 2024 © Gabrielle Weber

 

Gabrielle Weber
Marie Klay, Thibault Walter und Dimitri Meier kommen zu dritt zu unserem Treffen und sie spinnen ihre Gedanken im Gespräch gegenseitig laufend weiter. Das hat seinen Grund: «Das LUFF funktioniert als Kollektiv», sagt mir Marie Klay gleich zum Einstieg. «Die Equipe besteht aus zirka 50 Mitwirkenden und trifft sich übers ganze Jahr regelmässig ein Mal wöchentlich». Es werde gemeinsam entschieden und jeder und jede habe eine Stimme.  Klay ist seit einer Umstrukturierung 2014 als Geschäftsführerin im Team dabei: «Alle Bereiche sind gleich wichtig. Die Programmation zum Beispiel ist kein Elfenbeinturm». Kern des Programms bildeten gemeinsame Hörsitzungen, ergänzt Thibault Walter. Dort hörten und diskutierten sie zusammen Stücke, bevor entschieden werde, wer eingeladen werde. Dabei könnten sich alle einbringen. Thibault Walter ist seit dem Start, 2002, dabei. Dimitri Meier stiess 2015 dazu und baute kontinuierlich die Equipe Musikprogrammation auf.

Der Preis

Das LUFF entwickelte sich sukzessive von einem kleinen Insider-event in Vevey zum grossen Festival in Lausanne. Dennoch verortet es sich weiterhin im Underground. «Als wir den Anruf vom BAK erhielten, dachten wir zuerst, es sei ein Scherz, oder ein Phishing-Telefon: wir erwarteten nie einen Musikpreis zu erhalten», so Dimitri Meier. «Dass wir diesen Preis für die Musik erhalten, stellt uns profund in Frage. Aber es bedeutet gleichzeitig eine Anerkennung unserer existenziellen Arbeit und unserer Programmwahl, in all den Jahren“, meint Thibault Walter dazu.    

     

LUFF / Dimitri Meier and Thibault Walter @ Award Ceremony Swiss Music Prices 2024 © Sébastien Agnetti

        

Noise!

Sein Musikprogramm labelt das LUFF gerne mit «Noise». Unter dem Musikgenre, das seinen Ursprung im London der Siebziger Jahre hat, wird gängig verstanden: Geräusch, Rauschen, volle Lautstärke, ohne Melodie und Rhythmus. Was für die einen nur ‘Lärm’ ist, ist für die andere Musik – White noise, weisses Rauschen, findet sich mittlerweile auch im Mainstream. Das LUFF sieht Noise aber anders. «Noise ist für uns alles, was sich gegen gängige Musik-Praktiken richtet. Wir sprachen gewisse Jahre auch schon von ‘Nicht-Musik’ oder ‘Antimusik’», meint Dimitri Meier.

Für Thibault Walter ist Noise ein relativer Begriff: «Noise hat meist eine negative Bedeutung, das LUFF verwendet ihn aber immer positiv. Wir fragen uns weshalb gewisse Klänge unerwünscht und ausgeschlossen sind. Und genau für diese interessieren wir uns.»

Beim LUFF kann Noise auch humorvoll und melodiös oder leise und subtil sein. Regelmässig präsent sind Künstler:innen aus Japan, wo Noise seit den achtziger Jahren Fuss fasste und nebst England eine der grössten Noise-Communities existiert.


Jon the dog live @LUFF 2023

 

Die japanische Performerin Jon the Dog zum Beispiel trat bereits 2023 am LUFF auf und ist auch dieses Jahr wieder zu Gast in Lausanne: sie singt Lieder mit einer Art von Kinderstimme, die sie selbst auf dem Harmonium begleitet: melodiös, harmonisch, rhythmisch, und voller Humor: sie erinnern an japanische Animationsfilme. Ihr Name kommt daher, dass sie im Hundekostüm auftritt, in Japan manchmal auch überraschend in ‘harten’ Noise-Konzerten. Für Thibaut Walter ist sie eine fast mythische Figur. Er vermutet, dass sie mit dieser «positiven Unreifheit» der Szene einen Spiegel vorhalten wolle und meint, es sei eine Umkehrung, die viel über die Szene aussage.

«Noise heisst für uns nicht: immer mit voller Lautstärke, aggressiv und auch ausschliessend.. ein Klang kann auch ganz fein und nuancenreich geformt werden», so Thibault Walter weiter.


Lise Barkas live @ LUFF 2023

Ein weiteres Beispiel für das Noise-Verständnis des LUFF verkörpert Lise Barkas aus Strasbourg: sie tritt solo an der Drehleier auf. Barkas wurde früh vom LUFF nach Lausanne geholt und ist mittlerweile international gefragte Noise-Künstlerin. Ihre Musik changiert zwischen Klängen, die wie Alte Musik anmuten und kratziger, aber höchst differenzierter, Geräuschhaftigkeit. Für Dimitri Meier sind ihre Konzerte auch als Kritik an der Überverstärkung in der klassischen Noise-Szene zu lesen: diese sei komplett idiotisch.

Ein besetztes Haus in Vevey

Ursprung des LUFF bildete ein besetztes Haus in Vevey, wo ein kleiner Kleis Cinéphiler Filme vom New York Underground Film Festival zeigte, sagt Thibault Walter. Der Initiant habe die Schweiz verlassen und sie mit der Cinémathèque Suisse in Lausanne zusammengebracht. Im  Casino de Montbenon, dem Gebäude der Cinémathèque suisse in Lausanne, seien sie im Keller auf einen riesigen ungenutzten Raum gestossen, der sich ideal für Konzerte geeignet habe. Gemeinsam wurde eine Art amerikanischen New Wave-Kinos entwickelt: ausgesuchte Filme, eingerahmt von Konzerten Und so sei aus einem Filmfestival ein Film- UND Musikfestival entstanden. „Das ist ein weiteres Paradox. Einen Musikpreis zu erhalten für ein Musikfestival in einem Filmfestival“.

 

Lausanner Szene reich an experimentellen Formaten

Die Lausanner Szene sei schon davor reich an experimentellen Formaten gewesen. „Das Festival ermöglicht, Dinge sichtbar zu machen, die bereits vorhanden waren: in Wohnungen, Kellern oder Restaurants. Dass sich dann viele zusammentaten, war ein starker, fast magischer Moment. Wir realisierten, dass wir nicht allein sind, wenn wir etwas in unserer Ecke tun, und das ermutigte uns weiterzumachen“, meint Thibault Walter zum Festivalstart.

Bis heute finden alle Veranstaltungen im Casino de Montbenon, dem Sitz der Cinémathèque Suisse, statt. Durch die Konzentration an einem Ort will das Team auch die verschiedenen Publika in Kontakt bringen. Auch die Mitwirkenden im Kollektiv kommen aus unterschiedlichen Ecken, Marie Klay zum Beispiel aus der Filmszene. Die Equipe sei offen und achtsam, es herrsche ein freundschaftlicher, fast familiärer Umgang: sie alle glaubten an das Gute in der Welt und  kämpften dafür, meint Klay. «Wenn man sich zusammentut, kann man etwas Positives bewirken», und Thibault Walter ergänzt: «das LUFF ist ein Ort, der Hoffnung gibt», und  Dimitri Meier: «immer wenn eine Ausgabe vorbei ist freuen wir uns auf die nächste!».
Gabrielle Weber

 
Das LUFF findet vom 16. Bis zum 20. Oktober zum 23igsten Mal statt.

New York Underground Film Festival, Pyxis – maison de la culture et de l’exploration numériqueCinémathèque suisse Lausanne.

Sendungen SRF Kultur
Musik unserer Zeit, SRF Kultur, 25.09.2024: LUFF – Lausanne Underground Film and Music Festival taucht auf, Redaktion Gabrielle Weber.
Musikmagazin, SRF Kultur, 5.10.24: Noise aus Lausanne: Das LUFF erhält Schweizer Musikspezialpreis, talk (min 10:30): Marie Klay, Dimitri Meier und Thibault Walter im Gespräch mit Gabrielle Weber.

 

Neo-profile
Lausanne Underground Film&Music Festival (LUFF), Swiss Music Prizes

 

Sol Gabetta erhält den Grand Prix Suisse de musique 2024

Sol Gabetta, Cellistin, Weltbürgerin und Wahlschweizerin, bekam den Grand Prix suisse de musique 2024 verliehen.

Florian Hauser
Was braucht es für eine Weltkarriere in der klassischen Musik? Talent, Glück, eine starke Persönlichkeit und nicht zuletzt die Bereitschaft, sich auf Teamwork einzulassen, also auf die Zusammenarbeit mit Künstleragentur, Presseagentur und Plattenlabel. Sol Gabetta hat all das.

 

Sol Gabetta © Julia Wesely

 

Damals, vor dreissig Jahren, als ihre Karriere begann, hätte sie sich das nicht im Traum vorstellen können. “Ich war eine romantische Musikerin, eine junge Frau mit viel Hoffnung, alles an Kunst und Musik kennenzulernen – es war alles offen für mich.” Nach dem Glück einer behüteten Kindheit in Argentinien, in der Sol Gabetta nach Kräften gefördert wird, sich nach Herzenslust entfalten und in geschütztem Raum zu einer starken, selbstbewussten Person werden kann, startet sie durch. 1998 gewinnt sie beim renommierten ARD Musikwettbewerb den 3. Preis, da ist sie 17 Jahre alt. 2004 zündet so etwas wie der Turbo: der Credit Suisse Young Artist Award beschert ihr ein Maximum an Aufmerksamkeit. Sie gründet ihr eigenes Festival, räumt einen Preis nach dem anderen ab und bald stehen die grossen Orchester an: die Wiener Philharmoniker, das London Philharmonic Orchestra und viele andere. Festspiele laden sie ein, ab 2010 kommt noch das Magazin KlickKlack im Bayerischen Fernsehen dazu und spätestens seit diesem Zeitpunkt ist Sol Gabetta medial omnipräsent.

 

Teamwork ist alles

Eins kommt zum anderen. Es bietet sich ein CD-Label an, eine Assistentin, eine Agentur, Sol Gabetta beginnt, ein Team um sich herum aufzubauen und hat dabei ein gutes Händchen: “Man entwickelt feine und sensible Antennen, um zu spüren, was man wirklich ist, was man wirklich will.” Sie lässt sich in Basel von dem Cellisten Ivan Monighetti ausbilden, der heute noch ein Coach für sie ist, wenn sie ihn braucht. Sie trifft Christoph Müller, der vom Cellisten mehr und mehr zum Musikmanager mutierte, zeitweise ihr Lebensgefährte war und  heute ihr Schweizer Management inklusive ihr Solsberg Festival betreut. Sie trifft ihren heutigen Partner, den Geigenbauer und Restaurator Balthazar Soulier, der sich um all die kleineren und grösseren Wehwehchen ihres fast 300 Jahre alten Goffriller-Cellos oder des Stradivari-Cellos von 1717 kümmern kann.

Sie lernt Dirigenten wie Giovanni Antonini, Simon Rattle, Christian Thielemann kennen und kann sie von sich überzeugen. Und ist heute nach Jacqueline du Pré erst der zweite Superstar, der eine Cello-Männerdomäne erobert hat. Denn es ist ja schon frappant: Da behaupten sich in der oberen Liga zwar Frauen wie Alisa Weilerstein in den USA oder dann die ganz junge Julia Hagen hierzulande – das aber war’s dann auch schon. Denn jetzt kommen viele Männer: Gautier Capucon, Jean-Guihen Qeyras, Nicolas Altstaedt, Truls Mörk, Daniel Müller-Schott, Bruno Philippe, Johannes Moser, YoYo Ma…. Warum ist das so? Sol Gabetta hat eine Erklärung: “Das ist eine ganz einfache Frage: die Familiensituation. Ein Reise-Leben mit Kindern ist machbar, aber schwierig. Man braucht einen unglaublichen Partner, man braucht eine unglaubliche Organisation und eine unterstützende Familie.”

Nicht zuletzt dank ihres grossen Netzwerks im Hintergrund ist Sol Gabetta auch in der Zusammenstellung der Tourneen so frei und kompromisslos wie in der Wahl des Repertoires: das erstreckt sich über aller Epochen bis hin zu allerneuesten Werken wie etwa dem Concerto en Sol, das Grossmeister Wolfgang Rihm vor vier Jahren für sie geschrieben hat.

 


Wolfgang Rihm, Concerto en Sol, Cellokonzert für Sol Gabetta (2018-19), Kammerorchester Basel, Leitung Sylvain Cambreling, Konzertaufnahme und UA: Victoria Hall Genève 2020.

 

Der Vulkan

“Ich bin fast wie ein Vulkan, aber ein ruhiger. Es gibt tatsächlich diese Klarheit bei mir, was ich suche und welchen Weg ich gehen will. Dabei gibt es natürlich auch Unsicherheiten, logisch. Und deswegen versuche ich einfach, wichtige Menschen zu um mich herum zu haben.” Wichtig dabei auch: Disziplin und Routine. “Nach dem Aufwachen mache ich tatsächlich gleich das Wichtigste: Üben. Der Lernprozess im Gehirns braucht eine Frische, die wenigen Stunden, die mir am Morgen bleiben, sind Gold wert.”

Sol Gabetta ist ein glückliches Beispiel, wie eine Solistin durch den Markt schwebt. Die es versteht, mit dem richtigen Riecher, positiver Ausstrahlung und einem einnehmenden Wesen auf und jenseits der Bühne zu agieren und dabei den nötigen Schwung und Enthusiasmus zu haben, um das Publikum zu begeistern.
Florian Hauser

 

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Sendungen SRF Kultur
Passage, SRF Kultur, 13.9.2024: Teamwork ist alles. Cellistin Sol Gabetta und das Musikbusiness, Redaktion Florian Hauser.
Musikmagazin, Grand Prix suisse de musique für Sol Gabetta, SRF Kultur, 25.5.24 (ab Min 06:00): Talk: Sol Gabetta im Gespräch mit Florian Hauser.
neoblog, 10.1.2020: Melancholische Eleganz – Wolfgang Rihm schreibt für Sol Gabetta, Autorin Gabrielle Weber.

 

neo-profile
Sol Gabetta, Wolfgang Rihm

Marianthi Papalexandri-Alexandri und die Unabhängigkeit der Objekte

Die Arbeiten von Marianthi Papalexandri-Alexandri faszinieren das Ohr wie das Auge gleichermassen. Ihr Werk besteht aus einer Vielzahl von Objekten, Klanginstallationen und Performances und überrascht durch Einfachheit und Eleganz seiner Funktionsweise. Alexandre Babel unterhielt sich bei einem Treffen mit der Künstlerin über die intime Beziehung der Objekte zum Klang in ihren Arbeiten.

 

Portrait Marianthi Papalexandri-Alexandri made available by Marianthi Papalexandri-Alexandri

 

Alexandre Babel
Sobald man den Ausstellungsraum betritt, füllt eine Klangkomposition, bestehend aus einer Vielzahl kurzer Impulse, den Saal. Die Klänge liegen so dicht beieinander, dass sie wie eine einzige, sich ständig bewegende Struktur erscheinen. Beim Annähern ans Objekt Modular n.3 das gleichzeitig die Klangquelle ist, lassen sich allmählich einzelne Impulse voneinander unterscheiden und je näher man ihm kommt, desto mehr enthüllt dieses Installations-Objekt seine Identität und seinen Klang. Durch eine ständige Drehbewegung und Reibung von Rohren mit einem Nylonfaden werden Klangimpulse erzeugt, die von zahlreichen kleinen aufgehängten Lautsprechern verstärkt werden.

 

 

Marianthi Papalexandri-Alexandri, modular n.3, en collaboration avec Pe Lang, 2019.

 

Modular n.3, das dritte Werk einer gleichnamigen Serie, entstand in enger Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Pe Lang und ist praktisch von seiner physischen Erscheinung untrennbar. Während die Vielzahl von Lautsprechern ein eigenständiges Klanguniversum erzeugen, eröffnet das Verstehen des Produktionsmechanismus eine konkrete wie auch eine poetische Dimension. „Ich mag es, die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Art und Weise wie ein Instrument gebaut ist zu lenken. Meine Werke beinhalten oft auch eine etwas didaktische Demonstration: es geht darum zu verstehen, wie sie funktionieren“, erklärt Papalexandri-Alexandri.

Das Prinzip von Modular n.3 findet sich auch in anderen Werken der Künstlerin wie Untitled n.V oder Speaking of Membranes. Sie thematisieren die mit der Funktion von Objekten verbunden Erwartungen in poetischer Weise. Ein Lautsprecher wird normalerweise zur Verbreitung von Schall durch Verstärkung von elektrischem Strom eingesetzt. Hier sind die Lautsprecher jedoch nicht angeschlossen: der Klang ist also ganz akustisch.

„Man erkennt zwar, dass es sich um einen Lautsprecher handelt, aber ich möchte ihm einen privilegierten Raum geben, ich möchte seine eigene Stimme hören.“ Papalexandri-Alexandri macht das Publikum auf das Wesen des Objekts aufmerksam, indem es durch das Bewegungsgerät in Schwingung versetzt wird. Wie sieht das Objekt dann aus, wenn die Installation nicht eingeschaltet? Die Künstlerin fährt fort: „Manchmal frage ich mich was passiert, wenn ein Klang- oder Musikobjekt keinen Ton erzeugt. Ist es ein totes Objekt? Ich denke, dass jedes musikalische Objekt funktional ist. Indem ich es in Bewegung setze, erforsche ich eine bestimmte Art von Funktionalität, und meist existieren verschiedene Funktionalitäten, die ich am selben Objekt erforschen kann.“

Solo for generators, motors and wind resonators komponierte Papalexandri Alexandri für die Blockflötistin Susanne Fröhlich, mit der sie schon lange zusammenarbeitet. Auch hier umgeht die Beziehung zum Instrument die konventionelle Erwartung. Eine in ihren Einzelteilen zerlegte Blockflöte wird flach auf einem Tisch liegend präsentiert. Auf demselben Tisch befindet sich ein motorisiertes Gerät, welches Drähte in Rotation versetzt. Diese sind mit über die offenen Teile der Flöte gespannten Membranen verbunden. Das akustische Resultat erinnert an lange Klangwellen. „Da wir das Instrument zerlegt haben, sind nur Fragmente davon zu sehen“, erklärt die Komponistin. Ein musikalisches Objekts, das man normalerweise mit einer bestimmten Nutzung verbindet, in diesem Fall der Tonerzeugung durch Blasen in das Mundstück, wird ganz anders verwendet. Die Klangmanifestation wird vom Instrument selbst erzeugt. „Wenn man dieses Instrument auf einer Bühne oder in einer installativen Situation platziert, wird es zu einem Resonanzobjekt. Man sieht es als Körper und nicht mehr als ein Musikinstrument, das man wiedererkennt. Durch diese Art von Verfahren habe ich das Gefühl, dem Publikum einen neuen Zugang zum Instrument zu bieten, ihm eine Art Hommage zu verschaffen“, so Papalexandri-Alexandri.

 

Marianthi Papalexandri-Alexandri, salon de musique du 31, Susanne Fröhlich, Festival Archipel Genève, march 2019.

Marianthi Papalexandri-Alexandris Welt lenkt die Aufmerksamkeit  auf die Präzision der Herstellung. Man könnte meinen, dass die Komponistin durch die makellose Inszenierung der Objekte eine gewisse Kontrolle über den Ablauf der Ereignisse sucht. Die Werke erscheinen aber während den Performances nicht starr. Im Gegenteil, sie lassen eine Dimension der Zerbrechlichkeit erkennen, die von möglichen Unvollkommenheiten, die sich im Lauf von Performances einstellen, ausgeht. Zu Solo for generators, motors and wind resonators meint Papalexandri-Alexandri, dass die Kontrolle nie absolut sei. „Wenn ich selbst mit diesem Gerät spiele, kann ich es spüren und wunderschöne Klänge erzeugen, und das Gleiche gilt für Susanne (Fröhlich). Ich habe aber auch schon Situationen erlebt, in denen das Gerät während der Performance nicht funktioniert hat. Das liegt an einer Spannung zwischen dem Performer und der Maschine, die notwendig ist, damit das Stück Gestalt annimmt.“

Die Dualität zwischen Kontrolle und Zerbrechlichkeit trägt zur Poesie der Werke von Papalexandri-Alexandri bei: „Letztendlich geht es nicht wirklich um Kontrolle. Meine Haltung ist eher, die Ereignisse so zu akzeptieren, wie sie sich entwickeln.“ Auf die Frage, wie sie diese Ereignisse gerne weiterentwickeln würde, antwortet sie: „Was kann ich selbst dazu beitragen? Ich möchte mich einfach mit den vorhandenen Objekten auseinandersetzen, sie haben bereits unheimlich viel zu erzählen“.
Alexandre Babel

Susanne Fröhlich

neo-profiles :
Marianthi Papalexandri-AlexandriPe LangFestival Archipel

Ein lebendes Archiv – das Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente

Erst sieben Jahre ist es alt, und schon hat es einen der drei Spezialpreise der Schweizer Musikpreise eingeheimst: Das Schweizer Museum und Zentrum elektronischer Musikinstrumente – kurz: SMEM – in Fribourg macht es die Technik, Geschichte und Praxis elektronischen Musikmachens erfahrbar.

Hochregale im Schweizer Museum für Elektronische Musik

Friedemann Dupelius
„Der Preis kam total überraschend für uns“, sagt Victorien Genna, Projektkoordinator am SMEM, „so etwas hätten wir uns frühestens in ein paar Jahren vorgestellt. Es ist wunderbar, dass wir jetzt eine anerkannte Schweizer Institution sind.“ Die längst nicht nur in der Schweiz bekannt ist. Neben Gästen aus Frankreich und Deutschland reisen auch zahlreiche Fans aus England, den USA, Japan, Australien oder Neuseeland nach Fribourg, um die beachtliche Sammlung zu bestaunen. Rund 5000 elektronische Musikinstrumente stellt das SMEM aus, darunter fast alle erdenkliche Arten von Geräten: Sampler, Drummachines, Synthesizer, Mischpulte, Effektgeräte, Verstärker, Aufnahmedevices, Mikrofone – sogar Software wie die erste Version des heute weit verbreiteten Musikprogramms Ableton Live aus dem Jahr 2001 und die entsprechend alten Computer, auf denen diese läuft.

(c) Johnma.ch
Die Hammond Novachord wurde zwischen 1938 und 1942 produziert

Meterhoch ragen die Regale an die Decke einer ehemaligen Brauerei – heute zu einem Areal für Startups und kulturelle Initiativen umfunktioniert. Doch wer nun dicke Staubschichten auf den Keyboards befürchtet, darf beruhigt aufatmen: Das SMEM versteht sich als „lebendiges Archiv“. All diese Geräte werden nicht nur professionell gewartet, sondern können auch gespielt werden. Im “Playroom des Museums steht immer eine breite Auswahl unterschiedlicher Instrumente angeschlossen bereit, darunter Klassiker wie die Drumcomputer TR-808 und TR-909 der Firma Roland. Für wenig Geld kann man sich hier eine Session buchen, die eigenen Jams auch aufnehmen und auf dem Stick mit nach Hause nehmen.

Ein Museum für Kids wie für Nerds

Auf die Frage, ob das SMEM eigentlich eine Unterscheidung zwischen akademisch geprägter, „ernster“ elektronischer Musik und ihren popkulturellen Spielarten macht, fragt Victorien Genna zurück, was ich damit eigentlich meine – und gibt damit schon eine indirekte Antwort. Er ist kein Musikwissenschaftler oder Komponist, sondern stieß als Philosophie-Student, der gerne privat mit Synthies spielt, zum SMEM. „Die FM-Synthese ist ein gutes Beispiel: Sie gelangte von den Laboren der Universitäten auf den Konsummarkt und wurde mit dem Yamaha DX7 in den 80ern weltberühmt. Bei uns kommen die Nerds auf ihre Kosten, man kann hier richtig ins Detail gehen. Aber auch fünfjährige Kinder oder jemand von 100 Jahren soll hier Spaß haben können.“

Auch Kinder haben im SMEM ihren Spass.

Der erste Schaltkreis schließt sich auf einer Zugfahrt

Dass das SMEM überhaupt existiert, war glückliche Fügung: Der Großteil der Sammlung stammt von Klemens Niklaus Trenkle – einem Schauspieler aus Basel, der seit den 70er-Jahren elektronische Instrumente sammelt. So viel, dass es seinem Vermieter irgendwann zu bunt wurde, er solle das Zeug wegschaffen. Auf einer Zugfahrt kam er mit dem Architektur-Professoren Christoph Allenspach aus Fribourg ins Gespräch. Allenspach hatte seit Jahren die Idee, ein Museum mit Musikbezug zu eröffnen und so war die erste Verkabelung unverhofft gelungen. Bald zogen die Instrumente von Basel in die Westschweiz um, ein Verein wurde gegründet und ein Team von Freiwilligen zusammen gestellt. 2017 eröffnete das Museum. Bis heute hat sich nicht viel geändert: Die Menge an Instrumenten ist groß, das Budget gering.


Victorien Genna vom SMEM hat eine Dokumentarfilm-Reihe über Instrumente aus der SMEM-Sammlung produziert.

Das SMEM lebt – neben öffentlicher Förderung und privaten Spenden – durch den Einsatz von Ehrenamtlichen, so wie es auch Victorien Genna einer war, bis er vor kurzem eine der drei festen Stellen am Museum bekam. Die Freiwilligen reparieren die Instrumente, mischen Konzerte ab oder übernehmen Barschichten dort. Der frisch erhaltene Preis ist für das Museum daher natürlich Gold wert, denn die Sammlung wächst stetig. Doch wie soll man aus einer Flut technischer Neuerscheinungen herausfiltern, welches Delay-Modul, welcher Wavetable-Synthie wirklich historisch relevant sein werden? „Manchmal kann man technische Revolutionen schnell erkennen“, sagt Victorien Genna und verweist auf den Elektron Digitakt, 2017 erschienen, „da war es schon mit dem Erscheinen klar, dass das ein wichtiger Sampler für das 21. Jahrhundert sein wird. Oft kann man aber nur spekulieren und weiß es erst nach ein paar Jahren.“ Klemens Niklaus Trenkle kauft immer noch selbst neue Instrumente für das Museum ein. „Er hat einen ziemlich guten Riecher dafür, was relevant ist oder sein wird.“

Das SMEM veranstaltet u.a. Konzerte, Workshops und Vorträge – mindestens einmal im Monat. Mehrmals im Jahr sind auch Residenz-Künstler:innen für eine bis vier Wochen zu Gast in Fribourg, um mit Instrumenten ihrer Wahl zu experimentieren. Ein künstlerisches Ergebnis ist dafür nicht verpflichtend. Doch immer wieder kommt etwas dabei heraus, das dann in der Regel auf dem Fribourger Label oos erscheint. Im Oktober steht ein Release des Wiener Musikers Oliver Thomas Johnson alias Dorian Concept an, der sich am SMEM mit dem Yamaha CS01-Synthesizer beschäftigt hat. Die polyrhythmischen Geflechte aus perkussiven Synthesizern beginnen mit jeder neuen Schichtung mehr zu grooven, die 200 Beats per Minute Geschwindigkeit merkt man dieser leichtfüßigen Musik nicht an. Es ist eben ein lebendiges Archiv, in dem Geschichte nicht nur dokumentiert, sondern auch aktiv mitgestaltet wird.
Friedemann Dupelius


Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente (SMEM)
SMEM auf Instagram
Das Online-Magazin des SMEM
Dorian Concept auf Bandcamp
Klemens Niklaus Trenkle
Das Album Unconditional Contours von Legowelt, das auch am SMEM entstand

Termine
04.09.2024 – Modular-Synthesizer-Workshop mit dem Duo OK EG (Lauren Squire & Matthew Wilson) aus Melbourne
09.09.2024 – 25 Jahre Anyma (Audiovisuelles Kunst-Kollektiv aus Fribourg): SMEM Open Doors und Konzert von Synkie
Oktober 2024 – Veröffentlichung von Dorian Concept auf ous

Metaebenen und zerstörte Faszination im Musiktheater Léo Collins

Er mischt Klang, Performance, Video und Theater mit Kochen, Sport, Krimi oder Umwelt-Aktivismus. Der junge, in Frankreich geborene und in Zürich lebende Komponist Léo Collin produziert aufrüttelnde Musiktheater-happenings. Ich besuchte ihn in seinem Atelier in der roten Fabrik in Zürich.

Léo Collin working on Corals © Lea Huser

Gabrielle Weber
Den grössten Teil seines kleinen Ateliers nimmt ein einfacher Holztisch ein. Er ist mit einem Schaltpult, Mikrofonen, Kopfhörern und Kabeln bedeckt. Eine E-Gitarre lehnt am Tisch, an den Wänden hängen grosse bunte Skizzen. Hier entwickelt Léo Collin seine immer ortsbezogenen Musiktheater: sie spielen in der freien Natur, in Industrieräumen oder Tankstellen.

Léo Collin, Video: Fastnacht, Neue Musik Rümlingen 2020.

In Tarnanzüge gekleidet stürmen Perfomer:innen aus einem Waldstück einen grasbewachsenen Hügel herab. Sie verfolgen sich gegenseitig und führen dabei fast choreografierte Handlungen aus. Fastnacht, ein Musiktheater mit Elektroakustik, uraufgeführt auf der grünen Wiese am Festival Rümlingen 2020, thematisiert eine Community, die Kriegsspiele zelebriert. Das Stück sei charakteristisch für seinen Begriff von Musiktheater und für seine Arbeitsweise. Collins interdisziplinäre ortsspezifische Musiktheater verbinden Klang mit Video, Elektronik und theatralen Aktionen und meist ist das Publikum mittendrin.

«Für Fastnacht gab es wenig Zeit für Proben vor Ort und zudem wurde das Stück mehrere Male gespielt. Das erfordert eine präzise konzeptionelle Vorbereitung und genaue Anweisungen für die Performer:innen». Die Partitur für Fastnacht ist eine Audiospur, die allen Mitwirkenden mittels ‘in ear-headphones’ eigene Aktionen zuweist. In die Performance sind Rollen eingebaut, die die Handlung brechen: Die Darsteller:innen werden von einer Soundcrew mit Mikrofon (Collin selbst) und Schaltpult verfolgt. «Indem ich zeige wie eine Szene aufgezeichnet wird, zerstöre ich die Faszination. Ich mag solche Metaebenen.», meint Collin. Zur Live-Performance erhält jede Zuschauerin und jeder Zuschauer einen Kopfhörer mit Live-Sound und einem fiktiven Audiobeitrag: die Tonspur schafft eine weitere Metaebene. «Viele Menschen spielen am Wochenende zu Hause solche Kriegsspiele. Den Krieg möchten sie selbst nicht erleben müssen. Solche Dualitäten will ich zeigen».

Gebrochene Re-enactments

Collin kreiert gebrochene Re-enactment die immer auch einen persönlichen Hintergrund haben: «die Idee entstammt einer Fotografie aus der Photobastei in Zürich – eine unscheinbare Landschaft mit Apfelbäumen mit Titel ‘Verdun 2017’. Meine Familie stammt aus der Gegend. In der idyllischen Landschaft fand 1916 eine der blutigsten Schlachten des ersten Weltkriegs statt. Die Foto zeigt aber ein harmloses Motiv». Ein Ort beinhalte immer auch Geschichte, meint Collin. «Durch Klang kann ich einer malerischen Landschaft eine völlig unerwartete Ebene hinzufügen.»

Léo Collin wuchs in einem kleinen Dorf im französischen Jura auf, studierte in Lyon, Genf und zuletzt an der ZHdK in Zürich, zunächst Musikwissenschaft, dann Klavier, Elektroakustik und Komposition. Er komponiert elektronische Musik für Theater und Tanz, auch schon fürs Schauspielhaus Zürich oder das Deutsche Theater Berlin, konzipiert Musiktheater oder auch Vermittlungsprojekte bspw. fürs Sonic Matter Festival Zürich.

Collins Stücke sind immer auf spezifische Räume ausgerichtet und meist mit einer festen Gruppe von Musiker:innen entwickelt, dem Kollektiv International TOTEM (KIT). Er performt in der Regel auch selbst und bindet weitere Musik- und Kunstschaffende ein. Das Publikum ist Teil seiner Stücke, es partizipiert musikalisch oder ist mittendrin, umgeben von Lautsprechern oder mit Kopfhörern ausgestattet.

 

Léo Collin: Corals © Lea Huser

Inhaltlich aufgeladene Orte

Inhaltlich aufgeladene Ort sind auch in der Trilogie, einer dreiteiligen szenischen Arbeit mit den Titeln Baleen, Medusen und Corals, wesentlich. Corals, der dritte Teil, spielt zum Beispiel in einer Tankstelle. Sie ist das Pendant in der Menschenwelt für Korallenriffe, Mikrokosmen wie Städte, die aus dem Nichts auftauchen und kontinuierlich wachsen. «In den grossen Weiten der USA oder Australiens gibt es oft lange nichts und plötzlich eine Tankstelle voller Menschen, Essen und Benzin. Und gleichzeitig ist Benzin Inbegriff von Umweltzerstörung.»


Léo Collin, Corals, music for Gas stations, Ensemble Inverspace, Eigenproduktion SRG SSR.

Das übergreifende Thema von Trilogie ist die Sorge um das Verschwinden der Artenvielfalt. Die drei Titel Baleen, Medusen, Corals – Wale, Medusen, Korallen – stehen für unterschiedliche Meeresbewohner und deren Biosphären. «Es geht um die Nahrungskette im ‘Web food’: die Grossen essen die Kleinen», so Collin. «In meiner Jugend schwebte ‘No future’, also Kapitalismus- und Konsumkritik, über allem. Heute begleitet mich das Thema weiter».

Medusen, der zweite Teil von Léo Collins Trilogie, fand in einer trashigen Industriehalle am Rande Zürichs statt. Vier Zuschauergruppen begehen mit Kopfhörern, angeleitet von Devices auf ihren Handys oder von einem Schauspieler verschiedene Räume auf den Spuren eines vergangenen Verbrechens.

 

Ein Puzzle von Ereignissen

Die Handlung besteht aus einem Puzzle von Ereignissen: im ersten Teil, Balleen, zwischen Selbsterfahrungsgruppe, Sportevent oder TV-Koch-Show, im zweiten Teil, Medusen. zwischen Krimi, Konzert und Reality-TV: «Ich beschäftigte mich mit sehr Unterschiedlichem bevor ich Musik machte. In Trilogie gehe ich meinen Kindheits- und Jugenderinnerungen nach und setze sie in Klang um», so Collin. «Als Kind wurde ich zum Beispiel oft vor den Fernsehapparat gesetzt und schaute dann meist Sport. Später wurde mir klar, dass die Sportkommentare ihm erst diese Art Magie verleihen. Meine Arbeit konfrontiert diese Erinnerungen mit zeitgenössischer Musik, in der Hoffnung auf eine Art Emanzipation.»


Léo Collin, Trilogie: Balleen, Corals, Medusen

Trilogie begleitet Collins musikalischen Weg schon über viele Jahre. Das Stück wächst, wuchert und verändert sich laufend – wie die Biosphären innerhalb des worldwide web food.
Gabrielle Weber

Eine Erweiterung von Fastnacht, das Musiktheater Blind Test, kommt am kommenden Festival Neue Musik Rümlingen, zusammen mit Kollektiv International Totem und dem Hyper Duo am 24 und 25. August 2024 zur Aufführung.

Am 19. Juni 2025 widmet sich Léo Collin mit dem Collegium Novum Zürich, erneut der Biodiversität in: Plankton,  Musiktheater für Performer·innen, Ensemble und bewegliches Publikum (2025, UA), Zentralwäscherei Zürich.

Neo-Profiles
Léo Collin, Kollektiv International Totem (KIT), Neue Musik Rümlingen, Hyper Duo, Sonic Matter Festival, Collegium Novum Zürich

Lauren Newtons Stimmkunst

Sie ist eine Pionierin der Stimmkunst – die US-amerikanische Vokalistin Lauren Newton. Das volle Potential der Stimme zu entdecken, treibt ihr Schaffen in der Freien Improvisation, im Jazz und der Zeitgenössischen Musik voran. Mit der Schweizer experimentellen Musikszene eng verbunden, unterrichtete sie von 1993 bis 2019 an der Musikhochschule Luzern (HSLU)  Jazzgesang und Freie Improvisation.

Portrait Lauren Newton © Peter Purgar

 

Luca Koch
Die verschiedensten Formationen von langjährigen Duos, über Vokalensembles zum grossen Jazzorchester prägen ihre Karriere. Ihre Konzerte zeichnen sich durch einnehmende Tiefe und Dringlichkeit auf. Dieses Jahr feiert Lauren Newton ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum. Für die SRF Kultur-Sendung Living Past besuchte ich Lauren Newton in Tübingen in Deutschland, wo sie zuhause ist, und hörte mich mit ihr durch wegweisende Live-Aufnahmen.

 

Wink des Schicksal

Eigentlich wollte Lauren Newton in Oregon in den USA Kunst studieren, doch bekam sie dort keinen Studienplatz. Als Wink des Schicksals versuchte sie dann ihr Glück in der Musikabteilung. Schon zuhause waren sowohl Klassik wie auch Jazz präsent. Ihr Vater spielte Kontrabass und sang in Nachtclubs. Auch Lauren hatte eine solide Stimme und begann ein klassisches Gesangsstudium. In ihrem dritten Bachelorjahr durfte sie an einem Austauschjahr in Stuttgart teilnehmen. Das war unüblich für Bachelor-Studierende, doch ihr damaliger Lehrer bürgte für sie. Ein grosser Schritt, denn Deutschland wurde ihr neues Zuhause.

 


Lauren Newton, Sound Songs, Improviation solo 2006.

 

Klassik-Studentin by Day, Jazz-Rock Sängerin by Night

In Stuttgart trat Lauren Newton ihren Master in der Gesangsklasse der Opernsängerin Sylvia Geszty an und gleichzeitig tauchte sie in die junge Jazzszene der Stadt ein. An einer Jam-Session lernte sie den Trompeter Frederic Rabold kennen, der von Newtons Stimme begeistert war. Kurze Zeit später sang Lauren Newton in seiner Jazz-Rock Band der Frederic Rabold Crew. Der Mix aus einfach komponierten Themen und freier Improvisation, war ideal für sie. Konnte sie so die gelernte Technik des Studiums in der Freiheit der Improvisation ausarbeiten. Beide Tätigkeiten gingen nahtlos ineinander über, es fühlte sich nie wie ein Doppelleben an, erzählte sie mir im Interview.

 

Vienna Art Orchestra

Die Frederic Rabold Crew wurde 1979 in die Fernseh-Sendung Bourbon Street nach Wien eingeladen, was vom Schweizer Jazzmusiker Mathias Rüegg nicht unbemerkt blieb. Er selbst gründete zwei Jahre zuvor mit Wolfgang Puschnig das Vienna Art Orchestra. Nach dem TV-Auftritt fragte er Lauren Newton sofort an, ob sie ein Teil davon werden wolle. Zehn Jahre lang war Lauren Newton ein unersetzlicher Bestandteil das Vienna Art Orchestra, welches durch dutzende Album-Produktionen und grossen Tours zu einer Instanz des experimentellen Jazz wurde. Ihre Stimme sticht mit messerscharfer Präzision und verspielter Virtuosität aus dem Jazz-Orchester heraus. Eine Zeit, die Lauren Newton um nichts in der Welt missen wollte, auch wenn die ständigen Reisen im Tourbus als einzige Frau herausfordernd waren.

Vocal Summit

Persönlich lernte ich Lauren Newton in ihrer Unterrichtstätigkeit an der Hochschule Luzern kennen. Für mich war sie nicht nur als Vokalistin mit grosser stimmlicher Bandbreite eine wichtige Figur, sondern auch als Musikerin, die grosses Interesse für andere Stimmen mitbringt. Nicht nur als Dozentin half sie ihren Studierenden ihre eigene Stimme zu entdecken, auch auf der Bühne kollaborierte sie immer wieder mit anderen Sänger:innen. Gemeinsam mit Bobby McFerrin, Urszula Dudziak, Jeanne Lee und Jay Clayton bildete sie die Gesangs-Allstar-Band: das Vocal Summit. Fünf komplett unterschiedliche Stimmen kreieren zusammen Soundscapes, die atmen. Die Arbeit mit Stimmen in grösseren Formationen führte Lauren Newton mit der Vokalensemble Timbre fort.

 

Vom Vom Zum Zum

Lauren Newton machte sich als experimentelle Vokalistin einen Namen, die sich besonders durch Klänge ausdrückt. Aber auch die Arbeit mit Text nimmt eine wichtige Rolle in ihrer Musik ein. Die Zusammenarbeit mit dem österreichischen Dichter Ernst Jandl war besonders prägend. Seine Gedichte wurden dekonstruiert und neu zusammengesetzt, Worte wurden gedreht, gedehnt und rückwärts gesprochen. Das Album Vom Vom Zum Zum auf dem Ernst Jandl selber spricht und Lauren Newton seine Worte umspielt war eine besondere Entdeckung für mich.


Pi aus Vom Vom Zum Zum, Lauren Newton mit Wolfgang Puschnig, Mathias Rüegg und Uli Scherer, 1988.

 

Duos im Gespräch

Freie Improvisation ist wie ein musikalisches Gespräch. Die Mitspieler:innen gehen aufeinander ein, kommentieren, sind sich einig oder streiten miteinander. Am besten gelänge dies im Duo, erzählt mir Lauren Newton im SWR-Studio in Tübingen.


O How We, Lauren Newton und Phil Minton performten zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne am Festival A Voix Haute in Bagnères de Bigorre, France, am 13. August 2010.

 

Duo-Aufnahmen bilden denn auch einen grossen Teil ihres Gesamtwerks. Sie kollaboriert beispielsweise mit Anthony Braxton, Phil Minton, Aki Takase und Joëlle Léandre. Besonders die Kontrabassistin Joëlle Léandre begleitet sie bis heute. Ihre Tiefe musikalische Freundschaft spiegelt sich in ihrem Interplay wider. Der reiche kernige Klang von Léandres Kontrabass-Spiel ergänzt Newtons glasklare Stimme perfekt. Erst kürzlich erschien das neue Album des Duos: Great Star Theatre, San Francisco.
Luca Koch

Lauren Newton und Joëlle Léandre © Friedrich Förster

 

Frederic Rabold, Frederic Rabold Crew, Mathias Rüegg, Bobby McFerrin, Urszula Dudziak, Jeanne LeeJay Clayton, Wolfgang Puschnig, Vienna Art Orchestra, Ernst Jandl, Anthony Braxton, Phil Minton, Aki Takase, Joëlle Léandre.

Neoprofil:
Lauren Newton

Sendung SRF Kultur:
Living Past – Lauren Newton, Pionierin der Stimmkunst, 13.02.2024, made by Luca Koch.