Vogel, flieg!

Der Synthesizer und ich – das könnte der Titel sein über Nicolas Buzzis Leben. Seit seiner Kindheit spielt der Schweizer Künstler elektronische Musikinstrumente. Heute erfindet er Klänge, die es – vielleicht – zuvor noch nicht gegeben hat.

 

Nicolas Buzzi im Klang-Rohr, Portrait ©zVg Nicolas Buzzi

 

Benjamin Herzog
Es gibt nicht einmal ein Wort dafür. Synthesizerist, Synthesizeristin? Elektromusiker*in? Nein. Aber es gibt Menschen, die ihr Leben dem Synthesizer widmen. Und mit ihm der elektronischen Musik. Bei Nicolas Buzzi hat diese Passion früh angefangen. An ungewöhnlichem Ort. Auf dem Dachstock eines Bauernhauses nämlich. Dort fand der Zwölfjährige einen alten Yamaha-Synthesizer. «Ein Glücksfall», sagt Buzzi. Für sein Leben, denn er ist heute ein viel gesuchter Musiker.

 

Nicolas Buzzi: US VII/VIII/IX, unison in seven parts, 2.12.2020:

 

Autodidaktisch habe er sich das Spiel beigebracht. Eine ganze Jugend lang. War’s Liebe auf den ersten Blick? Schon, aber im engen Sinne ist Nicolas Buzzi nicht treu. Der Yamaha ist Vergangenheit, verflossen. «Die Geräte sind gekommen und gegangen», sagt er, «nur die Art des Umgangs mit ihnen, das Musikdenken, das ist stets geblieben.» Das mit dem Musikdenken allerdings, das ist etwas verwickelter, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Holen wir also etwas aus.

 

Donald “Don” Buchla – neue Klänge erfinden

 

San Francisco, die 1960er Jahre. Wenn man sich Donald Buchla, eine Hauptfigur in der Entwicklung des Synthesizers, dort mit Blumenhemd, langem Haar und blau getönter Nickelbrille vorstellt, dürfte das nicht ganz falsch sein. Diesen Look jedenfalls hat «Don» Buchla bis zu seinem Tod kultiviert. Etwas Guruhaftes. Und bis zu seinem Tod hat Buchla zahlreiche Modellreihen von elektronischen Musikinstrumenten vorgestellt: die Buchla-Synthesizer.

 

Nicolas Buzzi am Buchla, Portrait ©zVg Nicolas Buzzi

 

Auf einem solchen spielt auch Nicola Buzzi hauptsächlich. Dem «Buchla 200e». Synthesizer zu sagen, ist vielleicht nicht korrekt. Denn Klänge, die es schon gibt, zu «synthetisieren», nachzuahmen, das war nicht Buchlas Anliegen.

Ihm ging es darum, neue Klänge zu erfinden. Eine neue Musik, passend zur Aufbruchsstimmung jener Jahre. John Cage etwa experimentierte in San Francisco am selben Institut mit verschiedenen Zufallstechniken. Für Musik allerdings, die von Menschen auf herkömmlichen Instrumenten gespielt wird. (Mehr oder weniger: Cage schrieb auch Musik für klingenden Kaktus.)

 

Don Buchla nun erfand einen entsprechenden Generator, einen Zufallsgenerator, für seine Geräte. Und damit können sie, die Buchla-Synthesizer, vom Menschen nicht vorhergesehene, nicht programmierte Abläufe generieren.

Der Synthesizer also «macht» Musik, richtig? Nicolas Buzzi relativiert. Er sagt, zwar bekomme er Impulse von seinem Instrument, das so konstruiert ist, dass es selbstständig Prozesse durchläuft. Zufällige, aber meist doch gesteuerte. Also das, was er will, wozu er dem Instrument die Bahn vorgibt. Aber das heisst wiederum auch: «Die meisten Instrumente und wir Spieler orientieren sich / uns an bestehender Musik.» Fraglich also, ob so etwas wirklich Neues entstehen kann.

 


Nicolas Buzzi, Negotiating the space between rhythm and timber, 2020

 

«Wenn ich als Nicolas Buzzi spiele, habe ich ja doch immer mein kulturelles Gedächtnis, das ich nicht so einfach auslöschen kann», sagt Buzzi. «Mein Körper, der Puls, der Atem – auch das spielt beim Musikmachen eine Rolle.»

Es menschelt also im Reich der künstlichen Töne. Und dazu gehören auch wir, die Hörer*innen, die wir sofort einordnen, was wir hören. Vergleichen, Bekanntes herbeiziehen, Schubladen aufreissen, um das Unbekannte ordentlich zu verstauen.

 

Eigentlich müsste man das Ganze Maschinen überlassen…

Eigentlich müsste man das Ganze Maschinen überlassen.Tatsächlich gibt es Forschungsprojekte dazu mit selbstlernenden Computern, die eine nicht-menschliche, nicht an Erinnerungen geknüpfte Musik erschaffen sollen. «Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass das klingt», meint Buzzi skeptisch. Zu Recht. Jedenfalls ist so etwas schwer vorstellbar. Aber eben: unsere Vorstellungen … Wenn Musik nicht in Beziehung zu unserer Welt steht, woran soll sie sich denn orientieren? «Vielleicht an der Wahrnehmung», sagt Buzzi. «An der Wahrnehmung von Zeit, von Klang, von Figuren.» Einer anderen Wahrnehmung somit, ist zu vermuten. Nur, kann ich wahrnehmen, was ich gar nicht kenne? Hier wird’s dunstig.

 

Eine Musik, die sich an der an der Wahrnehmung von Zeit, von Klang, von Figuren orientiert

 

Das Musikdenken, das Buzzi fast sein ganzes Leben lang mit seinen Synthesizern beschäftigt, könnte in Abgründe führen. Vielleicht ist es ganz gut, dass man da handfeste Partnerschaften eingeht. Mit anderen Musiker*innen. Mit seiner Ehefrau, der Künstlerin und Musikerin Martina Buzzi, und mit der Architektin und Musikerin Li Tavor spielt Buzzi im Trio. Drei Synthesizer verbinden sich hierbei in einem Projekt. «Pain» heisst es. Nicht unpassend, denn das Schmerzenskind ist im Coronajahr 2020 entstanden. «Da alle Orte, an denen wir hätten auftreten können, geschlossen waren, haben wir den gemeinsamen Klangraum ins Digitale verlegt», erklärt Buzzi.

 

Kopfhörermusik ist so entstanden. In und mit einem, beziehungsweise bis zu drei verschiedenen, digitalen Klangräumen. Da reagiere man ganz anders auf seine Partner, sagt Buzzi. Man sei unabhängiger, freier, das Hören sei unverbrauchter. Ideale Voraussetzungen eigentlich für Neues aus dem magischen Buchla-Apparat.

 


Nicolas Buzzi / pain mit Martina Buzzi und Li Tavor: places 2
Hören wir hin. Streckenweise sind in den «Pain»-Klängen gegenseitig sich zuschnarrende, zugrunzende Wesen zu hören. Es bellt, es zittert, es faucht. Unabhängiges Klangbestiarium. Und daran halte ich mich fest. Was würde passieren, wenn ich mich in diesen doch recht unbekannten Kosmos hineinfallen liesse?

 

Nicolas Buzzi am Buchla von hinten ©zVg Nicolas Buzzi

 

Loslassen – da funkt mir mein Hirn dazwischen, das bei dieser Musik offenbar lieber einen imaginären Zoo durchwandert. Die neue Musik auf Buzzis Buchla 200e, das «Musikdenken» dazu, das betrifft eben auch mich, den Hörer, der sich offenbar gerne an seinem Ast festklammert, wie ein Vogel im Baume. Flieg!
Benjamin Herzog

 

Im Projekt I sing the body electric traf Nicolas Buzzi auf das Ensemble Thélème. Es entstand die Verbindung von Synthesizer und Renaissancemusik:


Nicolas Buzzi und thélème: I sing the body electric, Buchla Synthesizer trifft Chansons von Josquin, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Vom 21. bis zum 23 September ist das Projekt Rohrwerk – Fabrique sonore nach Basel, Lausanne (SMC) und Zürich, nochmals in Lausanne zu hören. Diesmal im Rolex Learning Center der EPFL. Darin gibt es Klanginstallationen von Nicolas Buzzi, Germán Toro Pérez, Marianthi Papalexandri Alexandri etc.

 

Don Buchla, Li Tavor

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 3.3.21, Nicolas Buzzi und sein Synthesizer, Redaktion Benjamin Herzog / verlinken:

Neue Musik im Konzert, 31.3.21, 21h, I sing the body electric, Redaktion Florian Hauser

Neoblogpost, 2.9.2019Reibung erzeugt Wärme: Marianthi Papalexandri Alexandri @ Rohrwerk – Fabrique sonore/Zeiträume Basel, Text Theresa Beyer

 

Neo-profiles:
Nicolas Buzzi, thélème, Germán Toro Pérez, Marianthi Papalexandri Alexandri,  Musikpodium der Stadt Zürich, Beat Gysin, Société de musique contemporaine – SMC Lausanne

 

Hyper Hyper!

Gabrielle Weber
Hyper Hyper!? Hyper Duo beherrscht die Kunst des Steigerns bis zum Exzess. Das Duo mit dem Pianisten Gilles Grimaitre und dem Schlagzeuger Julien Mégroz setzt konsequent auf Energie, Rhythmus und Satire. Grenzen scheint es für sie keine zu geben, weder zwischen Musikstilen noch Aufführungskontexten. Spielerisch und humorvoll unterwandert Hyper Duo gängige Vorstellungen und bewegt sich dabei zwischen klassischer Avantgarde und Pop-Rock. Im Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel- kommt nun das neue Programm Hyper Grid zur Uraufführung.

 

Hyper Duo © 2020 Pablo Fernandez. Bienne, le 07 octobre 2020. HyperDuo, séance vinyl 01

 

Die beiden Romands bezeichnen ihr Hyper Duo als ‚experimentelle Band‘. Julien Mégroz stammt aus Lausanne und spezialisierte sich nach dem dortigen Studium in Basel an der FHNW auf zeitgenössische Musik. Gilles Grimaitre kommt aus Genf, studierte an der HKB in Bern und war anschliessend Stipendiat der internationalen Ensemble Moderne Akademie in Frankfurt. Beide bezeichnen sich auch als Performer, Improvisatoren, Komponisten oder Projekterfinder.

Stil- und Genre-Grenzen zu überwinden und den Horizont zu erweitern ist das Zentrale ihres Duos, immer auch in enger Zusammenarbeit mit weiteren Kunst- und Musikschaffenden. Energiegeladen und humorvoll bewegt sich Hyper Duo zwischen traditioneller Komposition aus der klassischen Avantgarde, rockiger Elektro-Energie und absurder Poesie. Inspiration und einen Fundus an Werken beziehen sie dabei gleichermassen aus der E- und der U-Musik.

Neue Stücke für Ihre Besetzung und Klassiker der Moderne, ergänzt mit experimenteller Elektronik, Video oder auch Objekten, bilden den musikalischen Kern.  Die Kompositionen stammen von sinnesverwandten Musikschaffenden oder auch von ihnen selbst.

Bereits mehrere Hyper-Programme belegen den unkonventionellen Zugang zum traditionellen Konzertformat. Sie tragen Titel wie Hyper Cut, Hyper Stuck, Hyper Fuzz oder Hyper Rift.

 


Hyper Rift, Trailer ©Musikfestival Bern 2020

 

Hyper Rift bspw. war eine durch seismographische Daten gesteuerte Licht- und Soundinstallation am Musikfestival Bern 2020. Im Innenraum der Monbijoubrücke machte das Duo in einer Liveperformance zusammen mit dem Videokünstler Pascal Meury tektonische Verschiebungen hör- und erfahrbar. Dabei reizte es mit Perkussion und Synthesizer auch das gerade noch erträgliche Lautstärkenlimit aus.

In Hyper Temper, einem Trioprogramm mit dem Perkussionisten Miguel Angel Garcia Martin, hinterfragten die beiden das Instrument Konzertflügel auf seine Rolle im Musikbetrieb, der Musikgeschichte, aber auch als Objekt im Alltag. Im ‘pièce d’ameublement‘ von Cathy van Eck wurde er zum Zierpflanzen-tragenden Möbel und damit zum Sinnbild für bürgerliches Wohnen im 19.Jahrhundert.


E- und U-Musik zusammenführen

In Hyper Grid nun treten die beiden wieder an ihren Kerninstrumenten – verstärktem Klavier, Drumset und Elektronik – auf und knüpfen dabei an die Vorgängerprojekte Hyper Fuzz und Hyper Cut an.

Hyper Cut ergänzte Drumset, Klavier und Elektronik humorvoll mit Video, Stimme und Objekten in neuen Werken von u.a. Simon Steen-Andersen, Sarah Nemtsov oder Wolfgang Heiniger.

 


Hyper Duo: Hyper Cut, Simon Steen-Andersen, difficulties putting it into practice, Video ©Hyper Duo

 

Das Projekt Hyper Fuzz hingegen verband neue, explizit groovige Stücke und Klassiker der Moderne mit Bezug zu Pop, Rock und Jazz, ergänzt mit elektronischen Interludes vom jungen Schweizer Klangerfinder Cyrill Lim. Da hörte man Werke von Frank Zappa, der selbst in ästhetischen Gesamtprojekten E- und U-Musik zusammenführte, neben Musik von Stockhausen oder dem jungen Lausanner Komponisten Nicolas von Ritter. Das Programm kam sowohl in klassischen Konzertsälen und -festivals als auch in Rock- und Jazzclubs zur Aufführung.

 


Hyper Duo / Hyper Fuzz @Taktlos Festival Zürich 2018, Video ©Hyper Duo

 

 

Im neuen Projekt vertieft Hyper Duo die Zusammenarbeit mit zwei Musikschaffenden.

Der serbische Komponist Marko Nikodijevic wirkt in seiner Uraufführung grid/index [ I ] für das Hyper Duo selbst an der Elektronik mit. Nikodijevic arbeitet in seinen Stücken gern mit der Fusion von traditionellen Instrumenten mit digitalen Klängen und setzt Verfahren aus Techno und Pop ein. Grid / index [ I ] geht auf ein gleichnamiges Werk des Künstler Carsten Nicolai zurück, eine riesige Sammlung an Zeichnungen zweidimensionaler Gitter und Muster. Nikodijevic übersetzt die Referenz in einfache rhythmische und melodische Muster, die an den sogenannten ‘Minimal-Techno’ der 90er Jahre erinnern.

 

Portrait Kevin Juillerat © zVg Kevin Juillerat

 

 

Kevin Juillerat, Komponist aus Lausanne, bezieht sich in seinem Werk L’Être-On auf Nikodijevic. Sein Stück basiert auf einem Text des surrealen Dichters Antonin Artaud aus einer von ihm in den 40er Jahren selbst produzierten Radiosendung. Juillerat untersucht darin die Analogie zwischen Poesie und Klang und schafft ein rhythmisches, Elektronik-versehenes, halbstündiges ‘Mini-Oratorium’.

 


Kevin Juillerat, le vent d’orages lointains, for piano and strings, UA 2018

 

Experimentell sind sie unterwegs, die zwei Romands, und subversiv witzig, aber auch musikalisch-poetisch sind ihre Programme allemal. Davon kann man sich in ihren zahlreichen Videos überzeugen. Ob Hyper Hyper noch gesteigert werden kann, davon überzeugt man sich am besten live im neuen Programm Hyper Grid, am 2.6. im Gare du Nord und ab November an weiteren Orten. Zumal nun nach so langer Zeit wieder live Konzerte möglich sind.
Gabrielle Weber

 

Hyper Duo © 2020 Pablo Fernandez. Bienne, le 21 novembre 2020. HyperDuo, séance vinyl 02

 

Der Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel lädt in Fokus Romandie über drei Saisons Ensembles aus der Romandie ein. Hyper Grid ist das dritte und letzte Romandie-Programm dieser ersten Saison.

Im Programm kommen die neuen Werke «L’Être-On» für verstärktes Klavier, Schlagzeug, Stimme und Effekt-Pedale von Kevin Juillerat sowie «grid/index [ I ]» für Drumset, Klavier und Electronica von Marko Nikodijevic zur Uraufführung.

Concerts
2.6. 21 Gare du Nord Basel
4.11.21 IGNM Zürich
17.12.21 Salle Farel, Bienne

Indigne de nous , das erste Studioalbum von Hyper Duo wird am 5. Juni 2021 bei Everest Records veröffentlicht.

Marko Nikodijevic, Frank Zappa, Karlheinz Stockhausen, Carsten Nicolai, Antonin Artaud, Sarah Nemtsov, Wolfgang HeinigerMiguel Angel Garcia Martin

 

neo-Profiles:
HYPER DUOKevin Juillerat, Gilles Grimaitre, Julien Mégroz, Cathy van Eck, Simon Steen-Andersen, Cyrill Lim, Nicolas von Ritter, Gare du Nord

Forum für junge Musikerfinderinnen

Christian Fluri
Sie sind wichtig, ja essentiell, Förderungseinrichtungen speziell für junge Komponistinnen und Komponisten, die nach oder noch vor ihrem Studienabschluss stehen. Das Musikforum Biel/Bienne 2021 widmet sich dieser  Aufgabe im Bereich der Orchestermusik.

Im 9. Sinfoniekonzert am 19. Mai stellt das Sinfonie Orchester Biel Solothurn in Biel unter Leitung seines Chefdirigenten Kaspar Zehnder drei Uraufführungen vor.

Die Werke stammen alle von jungen Komponistinnen: von der Spanierin Gemma Ragués Pujol, der Schweizerin Michal Muggli und der Armenierin Argenaz Martirosyan. Verbindendes Element ist, dass die drei derzeit in der Schweiz leben, hier studieren oder ihr Studium abgeschlossen haben. Verbindend ist ebenfalls, dass sie Musik von grosser Dichte, Spannung und eigenständiger Klangsprache kreieren, und dass sie mit ihren Werken bereits verschiedene Preise gewonnen haben.

 

Ordnung, Aufbruch, Dekonstruktion

 

Die 30-jährige, im Zürcher Oberland aufgewachsene Michal Muggli weist bereits einen grossen Werkkatalog auf. Sie schloss als Schülerin des Komponisten Beat Furrer ihr Studium mit dem Master in Graz ab – nach einem Bachelor an der Hochschule der Künste Bern bei Christian Henking. 2014 gewann sie protonwerk 4 mit ihrem Stück DICKdünn II für Flöte, Lupophon, Bassklarinette, Violine, Violoncello, Harfe, Klavier und DirigentIn.

 

Michal Muggli ©zVg Michal Muggli

 

Im ersten Teil des achtminütigen Stücks wird ein dichtes, erdiges und fortschreitendes Klanggewebe in einzelne, fragmentarische Figuren zerlegt, im Wechsel mit düstern, aufbegehrenden Klangballungen. Muggli führt ihre Musik in ein Stimmengewirr sich überlagernder gesprochener Worte, das in ein instrumentales Sprechen, Seufzen, Klagen übergeht. Ein Werk, das den Blick auch auf beide künstlerischen Leidenschaften Mugglis öffnet: die Musik und die Literatur. In einem zweiten Studium beschäftigt sie sich mit französischer Literatur- und Sprach- sowie mit Musikwissenschaft und Hermeneutik.

 

Michal Muggli, DICKdünn II, UA ensemble proton Bern, UA 2014 Bern / 2015 St. Petersburg International New Music Festival

 

Unruh nennt sie ihr neues Orchesterstück, das am Musikforum Biel/Bienne uraufgeführt wird. Wiederum geht es um Ordnung – hier der Uhrmechanik – und Aufbruch. “…scheinbar unkontrollierte Ausschweifbewegungen einer Sprialfeder” halten “die geregelte Ordnung der Zahnräder aufrecht”, schreibt Muggli zu ihrer Komposition. Unterschwellig bäumten sich die Unruhen gegen die mechanische Ordnung der ablaufenden Zeit auf und hielten diese damit in Gang. Muggli entwickelt in ihrem Stück einen dialektischen Prozess, der den Klang auch durch das Orchester wandern lässt, wie sie es ausdrückt. Und es geht ihr dabei auch um die immer neue Übertragung von Kräften zwischen den quasi ineinander verzahnten Orchestermusikerinnen und -musikern.

 

Ost und West im Heute verknüpft

 

Das Orchesterstück Zeitlos der Armenierin Argenaz Martirosyan kreist nicht allein um das Phänomen der Zeit, sondern will auch den Begriff in seinen unterschiedlichen semantischen Bedeutungen erkunden. Der Mechanismus eines Uhrwerks taucht auch hier auf, ebenso Momente des Ausbruchs. Martirosyan schreibt von “befreiter Zeit”. Ihre Musik entwickle sich in einer Dialektik von Stillstand und Bewegung, was wiederum auf die verschiedenen Dimensionen von Zeit zurückzuführen sei. Die Komponistin hofft, dass für die Hörenden die Zeit “wie im Flug” vergeht.

Die innere Spannung, die tiefgreifenden Klangerkundungen, die sich zur anregenden musikalischen Rede formen, ebenso ihre Nähe zur Improvisation, sind zu hören in Musik für Alto Saxophon und Percussions von 2020.

Aregnaz Martirosyan, Musik für Saxophone and Percussions, UA Lucerne Percussions New Music Days 2020

 

Martirosyan kam nach ihrer Ausbildung in Armenien fürs Masterstudium bei Dieter Ammann an die Hochschule nach Luzern. Sie verknüpft in ihrer Musik den Hintergrund östlichen Komponierens mit dessen weitläufigen, sich immer auch in harmonischen Bereichen bewegenden Klanggebilden und der westlichen musikalischen Gegenwart zur eigenen kraftvollen rhythmisierten Tonsprache.

Gekonnt entwickelt sie ihre Sprache im grossen Orchesterapparat: Das zeigt sich in Dreilinden für Solotrompete und Orchester von 2019. Aregnaz Martirosyan  hat mit diesem Orchesterstück bereits zwei renommierte Preise gewonnen

Aregnaz Martirosyan, Dreilinden, Konzert for Solo Trumpet and Orchestra, UA 2019

 

Klang und Bewegung

 

Auch die katalanische Komponistin Gemma Ragués Pujol setzt sich in ihrem für das Musikforum Biel/Bienne geschriebenen Orchesterstück Le temps bouge mais n’avance pas mit dem Phänomen der Zeit auseinander.  “Zeitlichkeit in der kreisförmigen und endlichen Bewegung eines Kreisels” bildet den Ausgangspunkt des Stücks, wie sie im Eingangstext schreibt. Dabei geht es ihr um die Beziehungen zwischen Bewegung, bzw. körperlichen Gesten und Klang, und um deren Schnittpunkte. Ein Beziehungsgeflecht, das die Komponistin, die in Barcelona, Stockholm und zuletzt an der Hochschule der Künste Bern ihr Masterstudium (bei Xavier Dayer und Simon Steen-Andersen) absolvierte, schon länger erkundet. So auch in ihrer streng choreographierten  Performance silence fantasy #1 in der drei zeitungslesende Performer*innen sich auf Stühlen bewegen und doch statisch wirken.

Gemma Ragués, silence fantasy #1, UA 2020

 

Zudem setzt sie sich mit den möglichen Verknüpfungen von elektronischen und akustischen Klängen auseinander. Sie kommt dabei zu quasi konträren Ergebnissen: In nit de sal für Stimme, Ensemble und Elektronik von 2019 setzt sie in teils exzessiven Klanggebilden Gedichte von Joana Raspall and Maria Mercè Marçal in Musik

Gemma Ragués, nit de sal, UA 2019

 

Abgerundet werden im Konzert des Sinfonieorchesters Biel Solothurn die drei Uraufführungen durch Ulrich Hofers Minutenpendel, einer jazzigen Improvisationsanlage, die er nun für ein Orchester bearbeitet, so – aufbauend auf den “Gestaltungsmitteln des Jazz” , wie er selbst schreibt, zur Komposition formt.
Christian Fluri

Die drei Orchesterstücke sind in voller Länge auf den Profilen der Komponistinnen auf neo.mx3 nachzuhören.

Das Konzert wird in der Sendung Neue Musik im Konzert auf SRF 2 Kultur am Mittwoch, 26.5. um 21h, ausgestrahlt.

Details zum Konzert:  Musikforum Biel/Bienne, 9. Sinfoniekonzert

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
MusikMagazin, Samstag/Sonntag 22./23.5.21: Michal Muggli im Gespräch mit Florian Hauser
Neue Musik im Konzert, Mittwoch 26.5.21, 21h

neo-profiles:
Sinfonie Orchester Biel Solothurn, Michal Rebekka Muggli, Gemma Ragués, Aregnaz MartirosyanDieter Ammann, Beat Furrer, Christian Henking, Xavier Dayer, Simon Steen-Andersen, Ensemble Proton Bern, Ulrich Hofer

 

 

 

Zeitbrücken über Epochengrenzen

20 Jahre lang gibt es sie schon: das Basler Klavierquartett Mondrian feiert Jubiläum. Wie gut, dass einige der zu diesem Anlass geplanten Konzerte nun tatsächlich stattfinden können.

Ensemble Mondrian ©zVg Ensemble Mondrian


Friederike Kenneweg
Durchwachsen, das war die diesjährige Konzertsaison nicht nur für das Mondrian Ensemble: allzuviele Veranstaltungen wurden abgesagt, verschoben oder mussten als Live-Stream online stattfinden. Doch für die vier Musikerinnen Tamriko Kordzaia (Klavier), Ivana Pristašová (Violine), Petra Ackermann (Viola) und Karolina Öhmann (Violoncello) war das noch mal extra bitter. Denn ausgerechnet 2020 und 2021 wollten sie das 20jährige Bestehen ihres Ensembles begehen. Das Jubiläumskonzert im Herbst 2020 konnte noch mit wenig anwesendem Publikum stattfinden. Die Veranstaltung aus dem Walcheturm in Zürich musste dann aber doch gestreamt werden. Der Vorteil: dadurch ist das Ereignis noch immer für alle online zugänglich.

 

Verbindungslinien zwischen den Epochen

Klassisch-Romantisches und Zeitgenössisches zusammenzubringen, das ist seit 20 Jahren charakteristisch für das Mondrian Ensemble. Dies zeigte sich auch im Jubiläumsprogramm. Ein Streichtrio von Schubert und vier Fantasiestücke von Schumann wurden mit Werken von Martin Jaggi (*1978), Jannik Giger (*1985) und Madli Marje Gildemann (*1994)  kombiniert. Auf diese Weise werden Verbindungslinien zwischen den Epochen wahrnehmbar,  aber auch Kontaste und Weiterentwicklungen treten umso klarer hervor. Dadurch, dass sich die vier Musikerinnen nicht auf eine Epoche festlegen, sondern die gesamte Musikgeschichte bis hin zur Jetztzeit als Material für ihre Konzertprogramme betrachten, fördern sie immer wieder Erstaunliches zutage – zum Beispiel Parallelen zwischen der melancholischen Schönheit englischer Renaissancemusik und dem langsamen Pulsieren eines Stücks des Österreichers Klaus Lang. Oder sie ermöglichen dem Publikum eine ganz eigene Art der Zeiterfahrung, wenn sie ein Klaviertrio von Schubert und ein Klavierquartett von Morton Feldman unmittelbar hintereinander zu Gehör bringen.

Wichtig ist dem Ensemble außerdem, zeitgenössische Kompositionen ins Repertoire aufzunehmen. Da das Ensemble sie über Jahre hinweg bei verschiedenen Gelegenheiten spielt, entwickeln und entfalten sich diese Stücke wie Interpretationen von klassischen Werken. Das ist im mehrheitlich auf Uraufführungen fokussierten Neue-Musikbetrieb sonst kaum möglich.

Die vier Musikerinnen legen außerdem Wert darauf, eng mit den Komponist*innen zusammen zu arbeiten – teilweise über lange Zeiträume hinweg. Mit Dieter Ammann zum Beispiel ist das Mondrian Ensemble schon seit der unmittelbaren Anfangszeit verbunden. Die Arbeit an der Uraufführung seines Streichtrios Gehörte Form aus dem Jahr 1998 führte überhaupt erst dazu, dass sich die Gründungsmitglieder Daniela Müller an der Violine, Christian Zgraggen an der Bratsche und Martin Jaggi am Cello schließlich im Jahr 2000 zu einem Ensemble zusammen fanden.

 


Dieter Ammann, Gehörte Form – Hommages für Streichtrio 1998, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Mit Walter Zoller am Klavier wurde es ihnen möglich, sowohl Streich- und Klaviertrios als auch Klavierquartette aus allen Epochen miteinander aufzuführen. Die Flexibilität, die diese Art der Besetzung mit sich bringt, nutzt das Ensemble bis heute weidlich bei der Programmgestaltung aus. So finden sich darin auch Soli oder Duette in den unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten.

 

Unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten

Ein weiterer Komponist, der das Ensemble schon lange begleitet, ist Jannik Giger aus Basel. Die erste gemeinsame Arbeit war das Stück „Intime Skizzen“. Jannik Giger begleitete die Musikerinnen beim Einstudieren von kompositorischen Skizzen von Leoš Janáček mit der Kamera. Das fertige Werk bietet über eine Videoleinwand Einblicke in die Probenräume der Musikerinnen, die vom Aneignungsprozess des Stückes erzählten. Dazu spielt das Ensemble live die Janáček-Fragmente und Ergänzungen, die Jannik Giger dazu komponiert hatte. Inzwischen gehört auch das Klaviertrio Caprice aus dem Jahr 2013 sowie das Streichtrio Vertige von Jannik Giger zum festen Repertoire des Ensembles.

Jannik Giger, Vertige für Streichtrio 2020

 

Mit dem östereichischen Komponisten Thomas Wally hat das Ensemble nicht nur eine Portrait-CD  aufgenommen, (Jusqu’à l’aurore, col legno 2020), sondern es wird auch im Mai gemeinsam mit ihm auf der Bühne stehen. Denn Wally komponiert nicht nur, sondern ist auch Violinist. Bei den anstehenden Konzerten ergänzt er Ivana Pristašová, Petra Ackermann und Karolina Öhmann zum Streichquartett. Im Programm BLACK ANGELS bringen sie das gleichnamige Stück von George Crumb aus dem Jahr 1970 zu Gehör, das Bezug auf den Vietnamkrieg nimmt. Die Streichinstrumente werden hier elektronisch verstärkt. Klänge vom Tonband kommen zum Streichquartett in Steve Reichs Komposition Different trains aus dem Jahr 1988 dazu. Different trains nimmt ebenfalls das Thema Krieg in den Blick – reflektiert anhand der Bedeutung, die Züge zur Zeit um den zweiten Weltkrieg hatten.

 

50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz – zum Einsatz kommt ein bespielbarer Backofen

 

Um 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz kreist ein Programm, das für den Herbst 2021 geplant ist. Einen ersten Einblick gibt es schon am 4. Juni, wenn das Stück Garzeit des Künstlerduos LAUTESkollektiv zur Uraufführung kommt.

LAUTESkollektiv 2x Haensler ©zVg Stefanie Haensler

LAUTESkollektiv, dahinter verbergen sich die Komponistin Stephanie Haensler (*1986) und die Designerin Laura Haensler. Garzeit ist ein mehrteiliges Klavierquartett, in dem nicht nur die gewohnten Instrumente des Mondrian Ensembles  zum Einsatz kommen, sondern auch ein bespielbarer Backofen. Dieser transportiert einen Teil der Ästhetik und Lebensrealität der Frauen um 1971. Schalter, Hebel und Knöpfe werden während der Komposition von den Musikerinnen bedient und nehmen auf das Klanggeschehen Einfluss.

 


Stephanie Haensler: Ein Schnitt für Streichquintett 2019, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Im vollständigen Programm werden darüber hinaus Stücke von Komponistinnen verschiedener Epochen und Generationen zu hören sein – von Clara Schumann (1819-1896) über Elfrida Andrée (1841-1929) und die fast vergessene St. Galler Komponistin und Dichterin Olga Diener (1890-1963) bis hin zu Rebecca Saunders (*1967) und Katharina Rosenberger (*1971).

Auf 2022 verlegt wurde das Programm des Mondrian Ensembles, in dem das Stück the ocarina chapter von Christoph Gallio uraufgeführt werden sollte – ein Auftrag des Mondrian Ensembles an den Schweizer Komponisten. Geplant war das Konzert als Begegnung des Ensembles mit dem Stimmkünstler Theo Bleckmann aus New York – ein künstlerisches Zusammentreffen, wie es die Situation momentan leider nicht erlaubt.
Friederike Kenneweg

 

Ensemble Mondrian ©zVg Ensemble Mondrian

 

BLACK ANGELS, das Jubiläumsprogramm mit Thomas Wally kommt nochmals am 7. Und 8. Mai zur Aufführung (Gare du Nord Basel, Kunstraum Walcheturm Zürich).

Die Uraufführung von Garzeit findet am 4. Juni im Historische Museum in Baden statt. Die Uraufführungstournee (Zürich, St. Gallen, Chur, Basel) dauert bis zum 1. November 2021.

Die Tournee mit einer Uraufführung von Christoph Gallio wurde auf 2022 verschoben.

 

Thomas WallyIvana PristašováGeorge Crumb, Steve Reich, Madli Marje Gildemann, Klaus Lang, Morton Feldman, Daniela MüllerWalter Zoller, Leoš Janáček, col legno, Laura HaenslerOlga Diener, Clara Schumann, Rebecca Saunders, Elfrida Andrée, Theo Bleckmann

 

Sendung SRF 2 Kultur:
Blick in die Feuilletons, 8.12.20, 20 Jahre mutige Kammermusik – das Mondrian Ensemble hat etwas zu feiern (ab Min 24): Ein Portrait von Gabrielle Weber

 

Neo-Profiles:
Mondrian Ensemble, Tamriko Kordzaia, Karolina Öhman, Petra Ackermann, George Crumb, Klaus LangMartin Jaggi, Jannik Giger, Dieter Ammann, Stephanie Haensler, Katharina Rosenberger, Christoph Gallio, Gare du Nord, Kunstraum Walcheturm

 

“partage de l’écoute”

Archipel, das Genfer Festival für zeitgenössische Musik, findet statt: live on stream vom 16. bis zum 25.April. Archipel sous surveillance, das Festival-Web-TV, bringt das Festival live ins Zuhause des Publikums.

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

Gabrielle Weber
2020 war in mancher Hinsicht ein besonderes Jahr für das legendäre Genfer Festival. Nach langjähriger Intendanz des Musikwissenschaftler Marc Texier trat ein neues Intendantenduo an. Marie Jeanson -sie stammt aus der experimentellen und improvisierten Musik- und Denis Schuler -er ist Komponist und künstlerischer Leiter des Genfer Ensemble Vide- wollen das Festival umkrempeln.

Das neue Intendantenduo erklärte mir im letzten Frühjahr, kurz vor dem geplanten Start, seine Vision des idealen Festivals. In einer eintägigen Carte Blanche sollte diese Vision exemplarisch umgesetzt werden.

Das Festival fiel als eines der ersten dem ersten Lockdown zum Opfer.
Dieses Jahr findet es online statt.

 

 So präsentierten Marie Jeanson und Denis Schuler sich und ihre eintägige Carte blanche, geplant für ihre erste Festivalausgabe 2020. Video Genf März 2020 ©neo.mx3

 

Die Vision von Jeanson und Schuler hörte sich an wie ein Fünf-Punkte-Plan: wie steht es nun damit? Was wurde -trotz Pandemie und Streaming- umgesetzt? Ich nahm unser Gespräch nochmals hervor… Ein Abgleich zeigt die Schnittmenge:

 

Der fünf-Punkte-Plan von 2020 – das Festival 2021: ein Vergleich

La musique c’est fait pour être vécue ensemble

2020: Alles ist eine Einheit – Musik und Leben gehören zusammen. Die Carte Blanche sollte einen ganzen Tag dauern, alles an einem Ort stattfinden -in der maison communale de Plainpalais-, und Gastfreundschaft mit gemeinsamen Mahlzeiten und Gelegenheiten zum Austausch im Zentrum stehen. Denn: “Musik ist da, um zusammen gelebt zu werden”, sagt Schuler.

2021: Umgesetzt ist die Einheit von Leben und Musik in Archipel sous surveillance’. Das experimentelle Festival-Web-TV begleitet on- &backstage hautnah vor Ort und bringt das Festival ins Wohnzimmer des Publikums, täglich von 12h-00h. Das Publikum lebt -wenn es möchte- mit dem Festival.. 

  

Archipel sous surveillance ©zVg Festival Archipel

 

‘cohérence poétique’

2020: Das Festival will sich in Zukunft weniger auf die Musikschaffenden als auf das Publikum ausrichten. “Wir möchten einen Rahmen schaffen, wo man berührt wird durch eine poetische Kohärenz. Wir erzählen Geschichten und möchten in den Menschen ein Begehren wecken, wiederzukommen”, sagt Jeanson.

2021: Vier Klanginstallationen bespielen vier Räume der Maison communale de Plainpalais. Sie sind während des ganzen Festivals online begehbar. Das charakteristische, historische Festivalstammhaus ersteht online neu und bildet einen durchgängigen poetischen Raum zwischen Fiktion und Realität.. 

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

‘faire exister la création’

2020: Am Festival-Wettbewerb um die meisten und besten Uraufführungen will Archipel nicht (mehr) mitmischen. “Vielen geht es ja nur darum, die ersten zu sein, die irgendetwas tun oder zeigen”, sagt Schuler. Dem Intendantenduo geht es aber darum, “die Kreation lebendig zu erhalten”. “Uns interessiert die Mischung von Komposition mit dem was direkt im Moment entsteht.

2021: Komposition und Improvisation begegnen sich an vielen Konzerten. Bspw. die Improvisatorin Shuyue Zhao und das Basler Ensemble neuverBand. Zhao hinterfragt in ihren Performances die Rolle der Interpretin und arbeitet mit Live-Elektronik, noise und Improvisation. Werke u.a. von Sofia Gubaidulina oder Junghae Lee, interpretiert vom Ensemble neuverBand, bilden zusammen mit Zhaos Improvisationen ein neues Ganzes.

 


Shuyue Zhao: noise fragments, 2019

 

‘partage de l’écoute’

2020: Auch Transdisziplinarität steht nicht im Zentrum des künftigen Festivals. Vielmehr geht es um das ‘reine Hören’. “Wir möchten einen besonderen Rahmen schaffen, in dem das konzentrierte Hören im Zentrum steht”, so Jeanson. Konzentration schaffe eine besondere Präsenz, die paradoxerweise der Stille nahekomme. “An der Carte Blanche gibt es bspw. ‘Salons d’écoute‘, Räume für das reine Hören also, mit Klangdiffusionssystem (Acousmonium) und Soundingenieur. Wer will bringt eine eigene CDs zum gemeinsamen Hören und Besprechen mit”.

2021: die salons d’écoute finden etwas anders statt: CDs können zwar nicht mitgebracht werden. Aber jeden Mittag um 12h gibt es sogenannte ‘partages d’écoute’ an denen ein*e Komponist*in seine/ihre Hörschätze (mit)teilt. Bspw. lassen sich da gemeinsam mit dem Komponisten Jürg Frey oder der Komponistin-Sängerin Cassandra Miller ihre Trouvaillen entdecken.

 

Rencontres à l’improviste – Unverhoffte Begegnungen

2020: Musikschaffende, die sich vorher nicht kannten, werden von den Kuratoren zusammengeführt. “Wir provozieren Begegnungen und schaffen den Rahmen: die Musiker*innen können in einem gegebenen Zeitrahmen spielen, was und wo sie wollen. Sie entscheiden kurzfristig, so dass das Publikum überrascht wird”, meint Schuler.

2021:  Insub.distances#1-8  verlinkt remote Musikschaffende. Cyril Bondy, der Leiter des Genfer Insub Meta Orchestra und d’Incise, Träger eines Schweizer Musikpreises 2019, initiierte das Projekt für Archipel’21. Dabei komponierten vier Genfer und vier internationale Komponierende je ein Stück für ein Duo: im harten Genfer Lockdown, von September bis Dezember 2020. Alle haben Nähe und Distanz zum Thema. Die Stücke wurden remote geprobt, eingespielt und online gestellt. Nun sind sie alle verteilt übers ganze Festival zu hören.


Insub Meta-Orchestra / Cyril Bondi & d’incise: 27times, 2016

 

Erstaunlich, wie passgenau sich Marie Jeansons und Denis Schulers im Kleinen angelegte Festivalvision nun im Grossen wiederfindet. Und das trotz Pandemie und Streaming.
Gabrielle Weber

 

Festival Archipel Teaser 2021

 

Das Genfer Festival Archipel findet vom Freitag, 16. bis zum Sonntag, 25. April statt. An zehn Tagen treten internationale Interpret*Innen und Ensembles wie Ensemble Ictus, Collegium Novum Zürich, ensemble Contrechamps, Eva Reiter mit Werken von u.a. Clara Iannotta, Alvin Lucier, Jürg Frey, Helmuth Lachenmann, Eliane Radigue, Cassandra Miller, Morton Feldman, John Cage oder Kanako Abe auf. Alle Konzerte sind per Stream kostenlos zugänglich.

Archipel sous surveillance sendet täglich von 12h-24h durchgehend von allen Austragungsorten, back- und onstage. Beteiligt sind die Genfer Filmcrew Dav tv und das alternative Fernsehen neokinok.tv.

 

Sendungen:
RTS:
Le festival Archipel met à l’honneur les musiques experimentales
SRF 2 Kultur:

neoblog, 12.3.2020Ma rencontre avec le future – ANNULÉ, Gabrielle Weber im Gespräch mit dem Intendantenduo Jeanson/Schuler.

Neo-Profiles: Festival Archipel, Shuyue Zhao, Jürg Frey, Insub Metha Orchestra, Ensemble Batida, Ensemble Contrechamps, Patricia Bosshard, d’Incise

“Bei Zuhörern etwas in Bewegung setzen”

2020 erhielt er den Schweizer Musikpreis. Nun gibt es Rudolf Kelterborn, den musicus universalis, nicht mehr. Er ist am 24. März 2021 im Alter von 89 Jahren verstorben. Dem bedeutenden Basler Komponisten widmete Florian Hauser anlässlich der Preisverleihung ein Portrait.
Aus aktuellem Anlass erscheint es hier nochmals.

Florian Hauser
Als er im vergangenen Herbst einen der Schweizer Musikpreise bekam, konnte ich Rudolf Kelterborn in seiner schönen Basler Altbauwohnung besuchen, um noch einmal ein kleines Interview mit ihm zu machen. Am beeindruckendsten fand ich damals, dass er lebens-satt war. Alles war gut so wie es war, er hatte nicht das Gefühl, etwas versäumt zu haben, er hatte alles getan, was er tun konnte. Und dadurch ist seine verschmitzte Heiterkeit nur noch klarer zum Vorschein gekommen.

Auszüge aus unserem letzten Gespräch und aus Interviews, die Jahre und Jahrzehnte vorher entstanden, sind dann eingeflossen in dieses Portrait……
1985 wars. Da habe ich zum ersten Mal Musik von Rudolf Kelterborn gehört: die unheimlich intensive Cellosonate, die gerade frisch komponiert war. Wie kann jemand, habe ich mich als junger Mensch gefragt, eine solche Musik schreiben? Die zornig ist und klar strukturiert. Sich ihrer eigenen Kraft sehr wohl bewusst. Die diese musikalische Geste in der Tiefe umkreist, beschwört, entwickelt. Bis sie sich hinaufschwingt in die Höhen. Singt, klagt, sich windet, sich verliert. Jubelt. Die erzählt und zu mir spricht.

Rudolf Kelterborn Portrait in jungen Jahren

«Bei meiner Arbeit», hat Rudolf Kelterborn einmal gesagt, «ist für mich nicht in erster Linie wichtig, ob ich etwas grundlegend Neuartiges schaffe. Wichtig ist mir, dass mein Werk bei Zuschauern und Zuhörern etwas in Bewegung setzt. Mit Bewegung meine ich nicht eine nebulose Gefühlsduselei, sondern das Gegenteil von Erstarrung. Auch etwas, das nichts mit der Tagesaktualität zu tun hat, kann aktuell sein, indem es zum Nachdenken anregt, anrührt, beeindruckt, fasziniert, erregt.»

“Wichtig ist mir, dass mein Werk bei Zuschauern und Zuhörern etwas in Bewegung setzt..”

Das ist es. Seine Musik soll aus sich selber wirken. Das war und ist immer sein Credo. Und sie braucht auch keine Zusätze. Da ist Rudolf Kelterborn ganz alte Schule, und wenn heute die Musik, die neue Musik immer interdisziplinärer wird, oder transdisziplinärer, wenn sie an den Rändern ausfranst und Allianzen, um nicht zu sagen Amalgame eingeht mit anderen Disziplinen, wenn Theater und Tanz und Installation und Elektronik und Performance und alles mögliche auch noch mitmischen will – dann ist das seine Sache nicht.


Rudolf Kelterborn, Musica luminosa für Orchester 1984/85, Basel Sinfonietta, Eigenproduktion SRG/SSR

Er ist ein Urgestein der Schweizer Musiklandschaft, Zeitzeuge fast eines ganzen Jahrhunderts, beherzt, engagiert, voller feinem Humor und unerbittlich. Er ist einer, der es sich und seinem Umfeld nie leicht gemacht hat.

..ein Urgestein der Schweizer Musiklandschaft..

Nicht zufällig hatten die Kolleg*innen seinen Namengern auch mal verballhornt, als er in den siebziger Jahren die Musikabteilung von Schweizer Radio DRS leitete: Poltergern. Ja, er konnte und kann poltern – und zwar dann, wenn er auf Gedankenlosigkeit trifft. Dann ist er streitbar und unbequem und polemisch und vielleicht auch ungerecht.


Rudolf Kelterborn, Klavierstück 7 “Quinterno”, 2005, Klavierduo Soós-Haag, Eigenproduktion SRG/SSR

Aber das ist nur die Kehrseite einer Haltung, die das Laue verabscheut und stattdessen das bedingungslose Engagement will. Einer Haltung, die dem Publikum eine dichte, erzählerische, hochemotionale Musik bietet – der es sich dann aber auch bitteschön aussetzen soll. Bequemlichkeit? Bitte nicht. Das Publikum hat ein Recht darauf, gefordert zu werden, daraus dann aber einen enormen Gewinn zu ziehen, einen Erfahrungsgewinn, Erkenntnisgewinn, Lustgewinn.
Florian Hauser

Rudolf Kelterborn Portrait © Universität Oldenburg

Rudolf Kelterborn: Musinfo; Ricordi

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 14.4.2021, Wiederholung vom 16.9.2020: Portrait Rudolf Kelterborn, Redaktion Florian Hauser
srf-online, 8.4.2021: Nur aufhören konnte er nicht, Text von Cécile Olshausen
Musik Magazin, 10/11.4.2021, Nachruf von Cécile Olshausen

Neo-Profiles: Rudolf Kelterborn, Klavierduo Soós-Haag, Basel Sinfonietta, Swiss Music Prize

tuns contemporans 2021 – Graubünden trifft Welt

Bereits 2019 initiierten die beiden professionellen Klangkörper des Kantons Graubünden, das Ensemble ö! und die Kammerphilharmonie Graubünden, gemeinsam die Biennale für Neue Musik Graubünden – tuns Contemporans.

Die zweite Ausgabe von tuns contemporans legt den Fokus einerseits auf Komponistinnen, andererseits auf das lokale Musikschaffen. Aus einem Call for scores for ladies only werden drei Stücke uraufgeführt, ausserdem vergab die Biennale Auftragskompositionen an drei Generationen Bündner Komponisten.

Das Motto: Graubünden trifft Welt, Bekanntes trifft Unbekanntes, Neues trifft noch Neueres.

Kammerphilharmonie Graubünden ©zVg Kammerphilharmonie Graubünden

Gabrielle Weber
Die Churer Biennale für zeitgenössische Musik tuns contemporans hat einen etwas schweren Start in ihre erst zweite Ausgabe. Im September 2020 lancierte sie einen Call for Scores for ladies only. Zu dem Zeitpunkt sah die nahe Zukunft für die Musikwelt gerade etwas besser aus. Man konnte hoffen, dass im Frühling danach Live-Konzerte stattfinden können.

Nun, mitten in der dritten Pandemiewelle ohne baldige Aussicht auf Livekonzerte mit Publikum, entschied man sich, die Biennale dennoch durchzuführen. Wie so viele Festivals, live gespielt, ohne Publikum vor Ort, ausgestrahlt per Live-stream.

Glück im Unglück. Denn an vier Konzerten von Freitagabend bis Sonntag, 9.-11. April, wird nun eine Vielfalt an neuen Werken zu hören sein, in und aus Chur, in der ganzen Welt.

Die Biennale entstand auf Initiative von David Sontòn Caflisch, dem künstlerischen Leiter des Ensemble ö!, zusammen mit der Kammerphilharmonie Graubünden.

David Sonton Caflisch ©zVg David Sonton Caflisch

 

Sontòn Caflisch ist nebst seinem Engagement für das ensemble ö! als Geiger in diversen Formationen zeitgenössischer Musik und als Komponist aktiv. Das Churer Ensemble ö! bringt regelmässig neue Stücke von Nachwuchskomponist*innen, aber auch gezielt von Bündner Musikschaffenden zur Uraufführung. Es spielt nebst Chur immer auch in Zürich und Basel und gastiert international.

 

Stefanie Haensler, Im Begriffe für Quintett, UA ensemble ö! 2016, Video Eigenproduktion SRG/SSR, Launch neo.mx3 & Ensemble ö!, Postremise Chur, 11.Oktober 2020.

Call for scores – for ladies only!

Die auf den Call for Scores eingesandten Partituren wurden von einer Jury bestehend aus ausgewiesenen Kennerinnen und Kennern der Neue Musik-Szene beurteilt:
Da sind einerseits zwei Frauen, Asia Ahmetjanova, Pianistin und Komponistin Ensemble ö!, und Karolina Öhman, Solo-Cellistin und u.a. Mitglied des Ensemble Mondrian. Dazu kamen Philippe Bach, künstlerischer Leiter Kammerphilharmonie Graubünden und tuns contemporans, Baldur Brönnimann, Gastdirigent tuns contemporans und künstlerischer Leiter Basel Sinfonietta, wie auch Sontòn Caflisch.

Aus den 124 eingereichten Werken wurden folgende drei Stücke für eine Uraufführung ausgewählt: Fragmente einer Erinnerung für kleines Ensemble von Elnaz Seyedi (Teheran), Still Images von Vera Ivanova (Moskau) für grosses Ensemble und Accord von Katrin Klose (Deutschland) für Kammerorchester. Sie werden an je einem der Konzerte der Biennale uraufgeführt.

Katrin Klose: Preisträgerin Call for Scores / Kat. Kammerorchester, UA Accord mit Kammerphilharmonie Graubünden, Eröffnungskonzert Theater Chur, Freitag, 9.4.21, 19h.

Zu hören gibt es an tuns contemporans vier Generationen des Bündner Musikschaffens. Es wurden Kompositionsaufträge für drei neue Werke vergeben – an Sontòn Caflischs, Martin Derungs und Duri Collenberg. Und in einer Matinée am Sonntag werden Lieder und ein Cello solo von Benedikt Dolf (1918 -1985) wieder aufgeführt.


Benedikt Dolf, Concertino für Streichorchester 2008, Eigenproduktion SRG/SSR

Für das einheimische Musikschaffen setzt sich die Kammerphilharmonie Graubünden seit jeher ein, sowohl in Chur, wie auch an kleineren Konzertorten in den Tälern Graubündens. Mit ihrem Engagement für tuns contemporans  und den Call for Scores setzt sie nun zusätzlich ein Zeichen für die Erneuerung des Orchesterrepertoires und für mehr Genderdiversität bei der nachrückenden Generation Orchesterkomponierender.

Als composer in residence konnte der international arrivierte finnische Komponist Magnus Lindbergh gewonnen werden. Er ist während der gesamten Biennale anwesend. In jedem der vier Konzerte werden Werke von ihm aufgeführt.
Am Eröffnungsabend mit der Kammerphilharmonie Graubünden im Theater Chur ist sein Violinkonzert von 2006 zu hören. Zusammen mit einer Uraufführung von Sontòn Caflisch und dem neuen Stück von Katrin Kloss, Gewinnerin des Call for Scores in der Kategorie Kammerorchester.


David Sontòn Caflisch, Enceladus-Variationen 2019, Eigenproduktion SRG/SSR

Apartment House nach John Cage, das vielversprechende Vermittlungsprojekt von tuns contemporans, musste coronabedingt kurzfristig abgesagt werden. Cages wegweisendes Werk von 1976 hätte in Chur zum Plädoyer für gesellschaftliche Vielfalt und kollektive Kunst werden sollen. Das Festival wollte in Kollaboration mit einer Vielzahl an lokalen Akteuren alle Räume des Theater Chur und den Aussenbereich bespielen. Nun wird es zum Symbol für das aktuelle physical distancing.

An der Biennale beteiligt sind auch das Theater Chur und das Bündner Kunstmuseum, von wo aus alle Konzerte live gestreamt werden. Die zeitgenössische Musik soll in Chur wieder näher ans alltägliche kulturelle Leben rücken. Ein Vorsatz, den man sich in manch grösserer Stadt wünschen würde.

Die Tuns contemporans versprechen ein dichtes und vielseitiges Programm: Graubünden trifft Welt!
Gabrielle Weber

Am Call for Scores nahmen 60 Komponistinnen aus 30 verschiedenen Ländern teil. 124 Werke wurden eingereicht, davon 84 Werke in der Kategorie Kleines Ensemble, 22 Werke in der Kategorie Grosses Ensembleund 18 Werke in der Kategorie Kammerorchester. Ausgewählt wurden drei Werke zur Uraufführung in jeweils einer Kategorie.

Alle Konzerte und Angaben zum Livestream im Überblick sind zu finden auf: tuns contemporans.

In der Postremise in Chur fand unter Mitwirkung des ensemble ö! im Oktober 2020 der RTR-Launch von neo.mx3 statt: im kurzen Zeitfenster in dem Live-Konzerte möglich waren. Das ganze Konzert wurde von RTR auf Video aufgezeichnet. Die Aufnahmen finden sich auf dem Profil des ensemble ö! auf neo.mx3.

tuns contemporans, Magnus Lindberg, Katrin KloseElnaz SeyediVera Ivanova

Sendungen SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert: Ein Fest der neuen Musik, Abschlusskonzert tuns contemporans 2019, Redaktion Cécile Olshausen, 15.4.2020

neoblog, Ein Prost auf die Neue Musik!, Text von Thomas Meyer, 27.9.2020

Musik unserer Zeit: ö! ensemble für neue Musik, Redaktion Florian Hauser, 11.11.2020

Neo-Profiles:
Ensemble ö!, Kammerphilharmonie Graubünden, David Sontòn Caflisch, Karolina Öhman, Asia Ahmetjanova, Basel Sinfonietta, Ensemble Phoenix Basel, Philippe BachStefanie Haensler

Sprache mischt sich in Musik ein

Musik und Sprache sind vielfältig verflochten. Dem weiten Spektrum geht die diesjährige Darmstädter Frühjahrstagung anhand von Lectures, Roundtables und Konzerten auf die Spur. Zu erleben sind die Slam-Poetin Nora Gomringer oder die Sopranistin Sarah Maria Sun wie auch das ensemble proton bern.
Erstmals online – live gestreamt vom 7. bis zum 10.April 2021.

INMM 2021 Verflechtungen II © zVg INMM

Thomas Meyer
Darmstadt, die ehrwürdige und traditionsreiche Stadt in Hessen, die als „Zentrum des Jugendstils“ gilt, ist auch für die Musik des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung. Sie beherbergt nicht nur das Jazz-Institut mit dem europaweit bestbestückten Archiv. Alle zwei Jahre finden dort im Sommer auch die berühmten Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik statt, bei denen sich die besten DozentInnen mit dem Nachwuchs treffen, dozieren und diskutieren. Seit der Gründung 1946 ist Darmstadt ein Ort der Diskussion, an dem die ästhetischen Richtungen vorgegeben werden – der wichtigste Ort neben Donaueschingen. Die Stadt hat der von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen angeführten Avantgarde denn auch den Namen gegeben: die Darmstädter Schule.

Etwas weniger bekannt ist, dass damals auch eine Frühjahrstagung ins Leben gerufen wurde, in der es zwar auch um Neue Musik, in der künstlerischen Produktion und in der Musikwissenschaft, geht, vor allem aber um ihre Vermittlung gerade in der Musikpädagogik. Veranstalter ist das ‘Institut für Neue Musik und Musikerziehung’ (INMM). Der Verein bietet im Rahmen der Frühjahrstagungen auch Kompositionskurse für Kinder und Jugendliche an und initiierte das Forschungsprojekt ‘Campus Neue Musik’, das kooperative Kompositionsprojekte mit Schulklassen begleitet.


INMM Trailer Konzert mit Sarah Maria Sun, 9.4.21 ©INMM 2021

Die Tagung wird seit jeher von einem Kollektiv-Vorstand aus Künstler*innen, Pädagog*innen und Wissenschaftler*innen vorbereitet und durchgeführt, was in der Zusammensetzung den Gedanken der Kooperation verkörpert. Es versteht sich, schreibt das INMM auf seiner Homepage, als „Forum des interdisziplinären Diskurses zwischen Produktion, Reproduktion und Reflexion innovativer künstlerischer Konzepte der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit und ihrer musikpädagogischen Vermittlung“. 

Brandaktuelle Themen und Grenzbereiche

Zur Diskussion standen dort seit je brandaktuelle Themen und Grenzbereiche, in den letzten Jahren etwa zur Körperlichkeit, zu Film/Video oder zum Aufeinanderprallen von Kulturen. „Wir möchten schauen, wie unterschiedliche Dinge zueinander kommen“, sagt der Musikwissenschaftler Till Knipper, der im Vorstand mitwirkt. Heuer stehen die vielfältigen Verflechtungen von Wort und Sprache mit der Musik zur Debatte – ein uraltes, eigentlich fast fundamentales Thema, das aber noch etliches Potenzial birgt. Ja, in der Neuen Musik öffnen sich dafür ganz neue Bereiche, die in der Tagung diesmal thematisiert werden sollen.

Annette Schmucki musikalisiert Sprache: Skizze © zVg Annette Schmucki

Die Pandemie lässt ein Live-Durchführung nicht zu. Erstmals läuft nun alles übers Internet, nach einem klugen Zeitplan, bei dem man nicht mit Material überfüttert wird. Zum einen sind da vorproduzierte Beiträge, die man sich online anschauen kann. Sie bieten quasi ein künstlerisches Statement zu dem, was ab 16 Uhr erst in Lectures und ab 18 Uhr in Roundtable-Gesprächen thematisiert wird. Der Abend ist Performances bzw. Konzerten vorbehalten. Die Verbindung von Musik und Sprache bietet da ein weites Spektrum. Gewiss kommt dabei auch die herkömmliche Art des Vertonens vor. Sie steht am zweiten Tag auch im Zentrum, aber so herkömmlich gerät sie dann doch auch wieder nicht, etwa wenn die Slam-Poetin Nora Gomringer mit Günter Baby Sommer interagiert, einem Schlagzeuger, der einst schon mit Günter Grass auftrat.

Nora Gomringer und Günter Baby Sommer © zVg INMM 2021

Am ersten Tag werden die Verflechtungen bis hinein ins Theatrale aufgenommen, am dritten meldet sich die Stimme selber zu Wort (und Ton), eben jenes so individuelle wie belastbare Transportmedium. The Voice gehört diesmal der herausragenden Sopranistin Sarah Maria Sun.
Sie performt bzw. singt zum Beispiel neue Lieder des Deutschen Rolf Riehm und des Kanadiers Thierry Tidrow. Er fügt seinen Morgenstern-Vertonungen eine Subebene aus emoticons hinzu.


Rolf Riehm, Ausschnitte aus Liederzyklus nach Heine / Hölderin, Der Asra, Orpheus Euphrat Panzer, Hyperions Schicksalslied, Sarah Maria Sun, Jan Philip Schulze, UA INMM 2021

Zum samstäglichen Abschluss gibt’s mit den «Transformationen» einen helvetischen Schwerpunkt. Beim Konzert des ensemble proton bern ist kein Text, zumindest kein herkömmlicher, zu vernehmen, vielmehr wird Sprache in Musik verwandet, und das kommt nicht von ungefähr, denn die Schweiz verfügt über einige besondere Worttonkünstler*innen: Komponist*innen, die Sprache eben auch in blosse Töne transferieren und transformieren und dabei zu erstaunlichen Resultaten gelangen.

Vorbilder in der ältesten Generation gibt es etliche wie Heinz Holliger, Urs Peter Schneider oder Roland Moser. Da kann es – wie bei Moser – auch mal vorkommen, dass nur die Interpunktion eines Texts musikalisiert wird.

Und die Jüngeren sind ihnen gefolgt, haben weiterentwickelt, Neues eingebracht. Die Komponistin Annette Schmucki etwa gehört hierher, die gerne von Wortlisten ausgeht, sie analysiert und durchdringt und daraus ihre Musik entstehen lässt: Auf vielerlei Ebenen: Mal wird der Text einfach gesprochen, mal erscheint die Sprache als Notenbild, mal prägt sie die Struktur der Musik Ihr brotkunst… /54 Stück/farbstifte papier tabak basiert zum Beispiel auf Texten von Adolf Wölfli. Was es wohl mit ihrer neuen Komposition drei möbelstücke auf sich hat?


Annette Schmucki, brotkunst / 54 stück / farbstifte papier tabak, UA ensemble proton bern 2016

Daniel Ott, der Gründer des Festivals Rümlingens, der heute mit seinem Kollegen Manos Tsangaris die Münchner Biennale für Neues Musiktheater leitet, war immer auch politisch motiviert. Eine seiner ersten Kompositionen, molto semplicemente für Akkordeon solo entstand vor dem Hintergrund des Basler Chemiebrandes 1986 und brachte das auch zur Sprache. In 6/7 Gare du Sud geht er von der unzumutbaren Situation aus, der sich MigrantInnen im Bahnhof Chiasso konfrontiert sehen: Alltägliches fliesst in die Musik ein. Das sind ungewöhnliche Umsetzungen, die neuartige Aspekte des Sprachmaterials zutage fördern.

Von Isabel Klaus erklingt ein älteres Werk aus dem Jahr 2013: and then? für Kontraforte (eine neuentwickelte Art Kontrafagott) und Ensemble. Und es zeigt die Liebe dieser Komponistin zum Schrägen, etwas Absonderlichen, zum Beharrlichen und leise-verspielt Kabarettistischen.
Eine Sprachvertonung ist das nicht mehr, viel mehr mischt sich der Dirigent nicht nur gestisch, sondern auch sprechend in die Musik ein. Ja, manche hätten die Musik gerne textlos rein, aber so puristisch ist sie nun einmal nicht immer zu haben…
Thomas Meyer

Annette Schmucki Skizze © zVg Annette Schmucki

Die 74. Frühjahrstagung des INMM – Verflechtungen II Musik und Sprache in der Gegenwart- findet vom Mittwoch 7. bis zum Samstag 10. April 2021 online statt: alle Veranstaltungen sind öffentlich und kostenlos zugänglich.
Die Vorträge von Christa Brüstle und Christian Grüny sind bereits jetzt online.

Konzerte:
Donnerstag, 8.4., 20h: Betrommeltes Sprachvergnügen, Nora Gomringer und Günter Baby Sommer
Freitag, 9.4., 20h: Sarah Maria Sun, Kilian Herold, Jan-Philipp Schulze
Samstag, 10.4., 20h: ensemble proton bern: Werke von Annette Schmucki, Isabel Klaus, Daniel Ott, Lauren Redhead

Nora Gomringer, Günter Baby Sommer, Rolf Riehm, Thierry Tidrow, Adolf Wölfli, Manos Tsangaris, Münchener Biennale für Neues Musiktheater, Christa Brüstle, Christian Grüny

neo-Profiles
Heinz Holliger, Urs Peter Schneider, Roland Moser, Annette Schmucki, Daniel Ott, Neue Musik Rümlingen, Isabel Klaus, Sarah Maria Sun, ensemble proton bern

Ein Wettbewerb lässt aufhorchen

Die drei Preisträger stehen fest!
1. Preis: Yiquing Zhu
(Shanghai) für sein Werk Deep Grey mit der Basel Sinfonietta unter Peter Rundel
2. Preis: Arthur Akshelyan
(Yerevan) für sein Werk Three pieces for Orchestra mit dem Sinfonieorchester Basel unter Francesc Prat
3. Preis: Miguel Morate
(Valladolid) für sein Werk Comme s’en va cette onde mit dem Kammerorchester Basel unter Frank Ollu

Gabrielle Weber
Bereits zum dritten Mal findet die Basel Composition Competition (BCC) statt. Eine Woche lang wird Basel zum Zentrum der Neuen Orchestermusik. Zwölf internationale Kandidaten treten zum Wettstreit mit Ihren neuen Stücken an, uraufgeführt durch die drei grossen Basler Klangkörper, dem Sinfonieorchester Basel, der Basel Sinfonietta und dem Kammerorchester Basel. Pandemiebedingt finden die Konzerte ohne Live-Publikum statt, werden aber live gespielt und online gestreamt. Am Finalkonzert am Sonntag kommen drei bis fünf aus den Vorrunden bestimmte Werke nochmals zur Aufführung. Und die Jury vergibt die finalen Preise live, vor Ort.

Portrait Michael Jarrell, Juryvorsitz ©zVg Basel Composition Competition

 

Der internationale biennale Wettbewerb soll neue Werke für Orchester aus der Taufe heben. Und er knüpft damit an die Tradition der Förderung gewichtiger Orchesterwerke durch Paul Sacher an. Die Paul Sacher -Stiftung ist denn auch am Wettbewerb mit in der Jury vertreten und bringt ihr Knowhow ein.

Dass ein solches Grossprojekt in Basel Realität werden konnte, ist dem Initianten und Leiter Christoph Müller zu verdanken, der auch das Kammerorchester Basel managt. Er ist überzeugt, dass Neue Musik so spannend ist, dass sie nicht nur einen Platz als Zugabe neben Klassikern der Orchesterliteratur verdient. Ihm schwebt vor, dass der Wettbewerb möglich macht, dass die Stücke ins Standartrepertoire der drei oder auch weiterer grosser Klangkörper Eingang finden.

Zum Wettbewerb wurden 12 Kandidaten eingeladen. An drei Konzerten werden ihre neuen Stücke durch die drei Orchester uraufgeführt. Sieben für Sinfonieorchester, fünf für Kammerorchester. Das ist erstaunlich zu Pandemiezeiten.

Müller ist deshalb speziell glücklich über den Austragungsort Don Bosco, das neue Basler Kulturzentrum. Hier finden sich ideale Bedingungen. Es können bspw. pandemiebedingte Abstände zwischen den Musiker*innen eingehalten werden und es gibt genügend räumliche Distanz zwischen Jury und Orchester.

Sakiko Kosaka, Micro roots, Kandidatin BCC 2019

Der Basler Wettbewerb auferlegt -ungleich anderen- kaum Ausschlusskriterien oder Einschränkungen, weder eine Alterslimite, noch Diplome. Einzige Bedingungen: die eingereichten Stücke dürfen noch nicht aufgeführt oder prämiert worden sein.

Kandidat*innen aus der ganzen Welt

Dass die Basel Composition Competition damit ein Desiderat erfüllt, zeige auch die hohe Zahl an Anmeldungen, meint Müller. Denn nicht alle Komponierenden absolvieren einen ‘geraden Weg’ und sind im genau richtigen Alter ‘reif’ für einen Wettbewerb.

355 Bewerbungen waren es insgesamt, aus allen Alterssgruppen – es gab Kandidat*innen zwischen 14 und 87 Jahren-, mit unterschiedlichstem musikalischem Hintergrund. Und sie stammten aus der ganzen Welt. Allerdings war der Anteil an Frauen mit nur 8% sehr bescheiden.

Natürlich sind auch die Dirigenten Peter Rundel, Franck Ollu und Francesc Prat, die höchstes musikalisches Niveau versprechen, die online-Verbreitung der Stücke und die hohe Gesamtpreissumme von 100’000.- CHF, die ansehnliche Preise verspricht, attraktiv.

Anonymes Verfahren

Das Verfahren der Vorausscheidung verlief anonym. Bewertet wurden einzig die eingereichten Partituren, ohne die zugehörigen CVs.

Für die Auswahl war eine hochkarätige internationale Jury zuständig, die unter dem Vorsitz des Komponisten Michael Jarrell aus Genf tagte. Die Vorauswahl fand an einem intensiven Wochenende im November 2020 statt.

Der Jury gehören die in Berlin lebende koreanische Komponistin Unsuk Chin, die Schweizer Komponisten Beat Furrer und Andrea Lorenzo Scartazzini und Dr. Felix Meyer, der Direktor der Paul Sacher Stiftung an. Mit dabei sind auch drei Vertreter*innen der mitwirkenden Orchester.

 

Unsuk Chin, Komponistin / Jurymitglied 2021 ©zVg Basel Composition Competition

Zum Wettbewerb sind -ausser zwei Kandidaten, die pandemiebedingt per Zoom dabei sind- alle Eingeladenen angereist. Und das von weit her, aus Japan, Korea, China, Spanien, Deutschland oder den Vereinigten Staaten. Üblicherweise wohnen die Komponierenden den Proben der Konkurrent*innen bei. Diesmal begleiten sie -pandemiebedingt- nur die Entstehung ihres eigenen Stücks.

Das Schweizer Musikschaffen ist diesmal untervertreten. Mit Artur Ashkelyan aus Armenien ist ein Tonschöpfer aus der Schweizer Szene vertreten, er studierte Komposition an der Haute école de musique de Genève. Für ihn hat der Wettbewerb eine besondere Bedeutung, denn ungleich den meisten anderen Kandidaten komponierte er bislang vor allem kammermusikalische Werke. Sein neues Stück ‘Three pieces for orchestra‘ wird nun vom Sinfonieorchester Basel uraufgeführt.

Artur Akshelyan, Kandidat 2021: Sinouos for Piano Trio 2015

Die letzte, die zweite Ausgabe von 2019 des hochdotierten Basler Preises wurde in der Szene konträr diskutiert. Denn trotz allmählich grösserer Gender-Balance in den einschlägigen Neue Musik-Institutionen gelang es dem jungen Wettbewerb offenbar nicht, Komponistinnen in die Jurorenrunde zu integrieren.

Man habe sich bemüht, geeignete Frauen für die Jury zu gewinnen, sagt Müller. Verschiedene seien angefragt worden, aber aus diversen Gründen kam es zu Absagen.

Das sieht nun etwas anders aus. Mit Unsuk Chin ist eine international renommierte Komponistin dabei.

Hingegen schaffte es diesmal, entgegen den Ausgaben 2017 und 2019, keine einzige Frau in den Final-Wettbewerb. Das ist alarmierend, aber nicht erstaunlich angesichts der geringen Zahl eingereichter Werke von Frauen. Müller möchte deshalb Frauen speziell ermutigen sich zu bewerben.

Die Basel Composition Competition setzt ein Zeichen dafür, dass grosse Klangkörper zusammenstehen und sich fürs heutige Musikschaffen einsetzen können. Das ist wichtig, gerade in einer Zeit, in der es kaum Auftrittsmöglichkeiten gibt und Orchester hohe Auflagen zu bewältigen haben.

Rückmeldungen der Komponisten, die es in den Wettbewerb schafften, bestätigen das. Dass sein neues Stück durch ein tolles Orchester live gespielt und einem weltweiten Publikum zugänglich gemacht werde, gerade jetzt, sei eine unschätzbare Chance, meint der Kandidat aus Deutschland, Oliver Mattern. Und der Japaner Hiroshi Nakamura, angereist aus Tokyo, kann es kaum fassen, dass sein Stück von Peter Rundel dirigiert wird. Denn er bewundere den Dirigenten schon seit jungen Jahren, seitdem er in Japan einer von ihm geleiteten Aufführung von Luigi Nonos Prometeo beiwohnte.

Zu hören gibt es diesmal auf jeden Fall Spannendes: 12 Stücke aus der ganzen Welt, 12 völlig verschiedene Zugänge auf die Gattung Orchesterwerk. Viele Stücke nehmen Bezug auf andere Sparten und Medien, auf Visuelle Kunst, auf Philosophie, Nô-Theater, oder Physik und Astronomie. Zudem geht es um die Gegenwart, die aktuelle Pandemie-situation oder um Spiritualität oder Religion.

Und spannend bleibt es bis zum Schluss, wenn die drei Preise vergeben werden.

Zu wünschen fürs nächste Mal wären weitere Jurorinnen, und vor allem auch mehr Frauen, die sich bewerben und wieder weibliche Preisträgerinnen.
Gabrielle Weber

Die drei Wettbewerbskonzerte werden live gestreamt und sind später online nachzuhören, auf youtube und auf neo.mx3.ch.
Die Wettbewerbsbeiträge der letzten Ausgabe 2019 sind gleichfalls dort zu finden.

Basel Composition Competition, 3. Durchführung: 4.-7.März 2021
Live-Stream 1. Wettbewerbskonzert, Donnerstag, 4.3.21., 19h: Basler Sinfonieorchester, Leitung Francesc Prat
2. Wettbewerbskonzert, Freitag, 5.3.21., 19h: Basel Sinfonietta, Leitung Peter Rundel
3. Wettbewerbskonzert, Samstag, 6.3.21., 19h: Kammerorchester Basel, Leitung Franck Ollu
Abschlusskonzert udn Preisbekanntgabe, Sonntag, 7.3.21., 20h: auf Idagio

Sendungen SRF 2 Kultur:
in Musikmagazin, 6./7.3.21 (anfangs): Annelis Berger im Gespräch mit Gabrielle Weber zur BCC, Redaktion Annelis Berger
Kultur Aktuell / Kultur kompakt, 8.3.21: Besprechung Finalkonzert, Redaktion Benjamin Herzog
Musik unserer Zeit, 21.4.21: Basel composition competition 2021 – drei grosse Klangkörper blicken in die Zukunft, Redaktion Gabrielle Weber

Profile neo.mx3:
Basel Composition CompetitionMichael Jarrell, Beat Furrer, Andrea Lorenzo ScartazziniArtur Akshelyan

“Interpretation zeitgenössischer Werke – Investition in die Zukunft”

Laufend macht neo.mx3 rare SRG-Aufnahmen der Schweizer musikalischen Avantgarde zugänglich. Christian Fluri entdeckte für den neoblog im bereits beträchtlichen Fundus das Winterthurer Streichquartett.
Im Ausnahmejahr 2020 erlebte es ein ausserordentliches Jubiläum.

Winterthurer Streichquartett ©zVg Musikkollegium Winterthur

Christian Fluri
Es ist ein Unikum, im besten Sinne des Wortes, das Winterthurer Streichquartett. Welches andere hat je schon sein 100-Jahr-jubiläum feiern können. Normalerweise entwickeln und entfalten Streichquartette ihre Kunst in gleicher Besetzung, leben so zusammen, so dass sie sich untereinander blind verständigen. Gehen die vier Musikerinnen oder Musiker – aus welchem Grund auch immer – auseinander, löst sich das Quartett auf. Das war grundsätzlich so beim – gerade für die Musik des 20. Jahrhunderts so prägenden – LaSalle String Quartet. Ein wenig anders verhält es sich bei dem für die Gegenwart ebenso stilbildenden Arditti Quartett, es ist an seinen Primgeiger, Gründer und Namensgeber Irvine Arditti gebunden, von ihm geprägt – auch bei Wechseln auf den anderen Positionen.

Stete Erneuerung hält lebendig

Ganz anders das Winterthurer Streichquartett, das aus den jeweiligen Stimmführern des Musikkollegium Winterthur besteht. Kommt bei den Streichern ein neuer Stimmführer, eine neue Stimmführerin, wechselt auch die Quartett-Besetzung. So erneuert sich das vierköpfige Ensemble immer wieder einmal, und das verlangt von den Mitgliedern des Quartetts grosse Flexibilität. Genau diese Flexibilität gibt dem Quartett jedoch Lebendigkeit.

Winterthurer Streichquartett 1930er Jahre ©zVg Musikkollegium Winterthur, Handzeichnung Gustav Weiss

Auch im Jubiläumsjahr 2020 ist eine Stelle vakant geworden, die des zweiten Violinisten Pär Näsbom, der seit 1987 Stimmführer der zweiten Violine war und altershalber das  Musikkollegium verlassen hat. Zudem wird der Primgeiger und Konzertmeister Roberto González Monjas ab der Saison 2021/22 Chefdirigent des Orchesters. Das heisst, auch die Konzertmeisterstelle wird bald neu besetzt. So stehen im Quartett nach sieben Jahren gleicher Besetzung nächste Wechsel an. Damit kommt es wieder einmal zu einer Erneuerung.

Winterthurer Streichquartett 2016: Besetzung Chmel, González-Monjas, Näsbom, Dähler ©zVg Musikkollegium Winterthur

Weiterhin mit dabei sind der Bratschist Jürg Dähler (seit 1993), der sich auch im Leitungsteam der Swiss Chamber Soloists engagiert und dort in unterschiedlichen Kammerformationen auftritt, und die Cellistin Cecilia Chmel (seit 1989). Auch sie ist wie ihre Kollegen eine herausragende Kammermusikerin.

Dass das Winterthurer Streichquartett sein stolzes Jubiläum im November mit einem grossen Festkonzert gebührend feiern konnte, das haben leider die Corona-Massnahmen verhindert. Das sei schon etwas betrüblich gewesen, merkt Cecilia Chmel in unserem ­elektronisch geführten Gespräch an: <Immerhin konnten wir unser Jubiläumskonzert für wenigstens 50 Zuhörer*innen spielen und live streamen.>

Stets präsent in der Gegenwart

Seit den Anfängen des Quartetts hat die Musik der Gegenwart neben klassisch-romantischen Werken ihren festen Platz im Repertoire. Bereits 1921 spielte es in seiner ersten Besetzung mit dem Konzertmeister Ernst Wolters Arnold Schönbergs Streichquartett fis-Moll op.10, wie die Musikhistorikerin Verena Naegele in ihrer Laudatio zum 100. Geburtstag erwähnt.

Winterthurer Streichquartett 1952: Besetzung Dahinden, Rybar, Wigand, Tusa, mit Unterschriften ©zVg Musikkollegium Winterthur

Die gegenwärtige Cellistin Cecilia Chmel unterstreicht die Bedeutung, die die Neue Musik für das Winterthurer Quartett hat: <Wenn man vor allem das klassisch-romantische Repertoire spielt, ist es besonders wichtig, auch die Gegenwart wahrzunehmen und in die Zukunft zu schauen. Die Interpretation zeitgenössischer Werke ist ein Investition in die Zukunft.>

Das Winterthurer Streichquartett arbeitet seit Beginn immer wieder mit Komponistinnen und Komponisten zusammen und vergibt auch Kompositionsaufträge. So erwähnt Celilia Chmel die Zusammenarbeit mit dem grossartigen Basler Altmeister Rudolf Kelterborn sowie den Zürchern Alfred Felder und Ursina Braun, die zugleich beide exzellente Cellist*innen sind.

Auch eine Geschichte Neuer Musik

Wie fruchtbar die langjährige Auseinandersetzung des Quartetts mit Musik des 20. Jahrhunderts von Schweizer Komponisten ist, spiegelt sich in den nun neu zugänglichen Aufnahmen aus dem Archiv der SRG. Auf neo.mx3 finden sich zahlreiche Aufnahmen des Quartetts mit zeitgenössischen Werken aus den Jahren 1948 bis 1975.

Rudolf Kelterborn, Streichquartett Nr.2, 1958, Eigenproduktion SRG/SSR

Ein besonderes Juwel ist das frühe, dreisätzige 2. Streichquartett Kelterborns. Die Aufnahme von 1958 in der Besetzung mit Peter Rybarm (1. Violine), Clemens Dahinden (2. Violine), Heinz Wigand (Viola), und Antonio Tusa (Violoncello), ist von erstaunlicher Präsenz und Klarheit. Diese zeichnen auch die Interpretation selbst aus, die analytischen Geist und Passion für das Werk in sich vereinigt. Der junge Kelterborn befindet sich hier auf dem Weg zu seiner eigenen kompositorischen Sprache und zeigt bereits seine hohen Qualitäten in der Verbindung von Emotionalität, musikalischer Tiefe, Dichte und Genauigkeit. Dies in einer Komposition, die sich auf der Höhe ihrer Zeit jenseits reihentechnischer Dogmatik bewegt.

Packende interpretatorische Kunst zeigt auch die 1963 eingespielte Aufnahme von Ernest Blochs fantastischem Quintett für Klavier und Streicher Nr.1 (1923). Zur gleichen Besetzung kommt hier der Pianist Rudolf am Bach. Er lehrte am Winterthurer Konservatorium und setzte sich gleichfalls stark für Schweizer Musik seiner Zeit ein. Der ersten Agitato-Satz wie das abschliessende Allegro energico ist von mitreissender rhythmischer Prägnanz. Die Interpretation dringt mit grosser klanglicher Transparenz auch im langsameren Mittelsatz tief in Gehalt und Struktur des Werks ein und schärft die Dissonanzen.

Ernest Bloch, Quintett für Klavier und Streicher 1963, Eigenproduktion SRG/SSR

Am eidgenössischen Tonkünstlerfest 1975 in Basel spielte das Quartett Hermann Hallers 2. Streichquartett von 1971, In der Besetzung mit Abraham Comfort (1.Violine), Clemens Dahinden (2. Violine), Marcel Gross (Viola), und Markus Stocker (Violoncello), zeigt sich ein faszinierendes Werk von dunklem, melancholischen Grundton in ganz eigener kompositorischer Sprache. Sie verbindet Spätromantik mit dem Vokabular der Moderne.

Herman Haller, Streichquartett Nr.2, 1971, Eigenproduktion SRG/SSR

Das Winterthurer Streichquartett zeichnet sich durch Genauigkeit der interpretatorischen Auseinandersetzung, durch klangliche Klarheit, und enge Dialogführung zwischen den vier Musikern aus. Und diese neuste Aufnahme in einer anderen Quartett-Besetzung unterscheiden sich in nichts vom durchgängig hohen Niveau der früheren Einspielungen. Das ist erstaunlich.

Die Winterthurer sind wohl eines der wenigen Quartette, die bei immer wieder wechselnder Besetzung den hohen künstlerischen Anspruch, die musikalische Vitalität und Passion – hier für zeitgenössische Musik bekannterer und unbekannterer Komponisten – mit erneuern kann.
Christian Fluri

Winterthurer Streichquartett 2006: Besetzung Chmel, Näsbom, Zimmermann, Dähler ©zVg Musikkollegium Winterthur

2021 stehen drei weitere zeitgenössische Quartette auf dem Spielplan. Farewell (1995) des US-Amerikaners John Corigliano, Tenebrae (2002) des Argentiniers Osvaldo Golijov und Arcadiana, das opus 12 (1994) des Engländers Thomas Adès.

Samstag, 6.3.2021, 19h: Hauskonzert Winterthurer Streichquartett: Der Tod und das Mädchen, John Corigliano, Streichquartett Nr.1 Farewell , Franz Schubert Streichquartett d-Moll D 810 Der Tod und das Mädchen

Die Konzerte des Winterthurer Streichquartetts finden wie die meisten Konzerte des Musikkollegium während der Pandemie live im Saal statt und sind per Live-Stream zu erleben. Im Konzertkalender finden Sie alle Angaben.

John Corigliano, Oswaldo Golijov, Thomas Adès, Verena Naegele, LaSalle String Quartet, Arditti Quartett, Arnold Schönberg, Ernest Bloch

Neo-Profiles: Winterthurer Streichquartett, Musikkollegium WinterthurSwiss Chamber SoloistsSwiss Chamber ConcertsRudolf Kelterborn, Hermann Haller