Melancholische Eleganz – Wolfgang Rihm schreibt für Sol Gabetta

Concerto en Sol – so heisst das neue Cellokonzert des Grossmeisters Wolfgang Rihm. Ab dem 20. Januar ist es auf Uraufführungstournee mit dem Kammerorchester Basel zu erleben. ‘Sol‘ steht dabei nicht nur für die Tonart, sondern ist zugleich Inbegriff für die Widmungsträgerin, die Ausnahmecellistin Sol Gabetta.
Im Gespräch mit Gabrielle Weber gibt Wolfgang Rihm Auskunft zum Hintergrund, zum speziellen Lebensabschnitt, in dem das Stück entstand, aber auch zu Inspiration und Interpretation seiner Werke.

 

Wolfgang Rihm Portrait ©Wolfgang Rihm

 

Gabrielle Weber
Herr Rihm, anfangs 2019 erhielten Sie den Autorenpreis für Ihr ‘Lebenswerk’. Ihr Schaffensrausch hält an. Sie sind (heute) ein sehr gefragter Komponist, werden mit Preisen überhäuft und können sich vor Aufträgen und Anfragen kaum retten: Was braucht es, um Sie für einen Kompositionsauftrag zu gewinnen, wie kam es zum neuen Werk für das Kammerorchester Basel?
Vor über fünf Jahren liess Sol Gabetta bei mir anfragen, ob ich ein Konzertwerk für sie schreiben wolle. Ich freute mich sehr darüber und machte mich an die Arbeit. Meine schwere Erkrankung kam dazwischen und die Skizzen blieben liegen. Als ich 2017 wieder auftauchte, versuchte ich alsbald an dem Stück weiter zu arbeiten. Das gelang relativ gut und ich hatte grosse Freude an der Arbeit, die ich noch im Jahr 2017 abschliessen konnte.

Was ist die Grundidee des Stücks?
Das Stück ist ganz auf die Widmungsträgerin bezogen, deren melancholische Eleganz und kraftvolle Linienführung ich sehr schätze. Ich wollte von Anfang an kein schweres Geschütz auffahren, sondern im Bereich von Durchsichtigkeit und nicht nach aussen gekehrter Beweglichkeit mich aufhalten. Am liebsten war mir der Gedanke, dass sich alles aus einer Gesanglichkeit heraus entwickelt – aber das ist ja ein Gedanke, dem fast alle meine Konzertwerke verpflichtet sind.

 

Inspiration – eine Art des Begeistertseins

Von Ihnen stammt die Aussage: ‘Inspiration ist das Einzige, was ein Künstler besitzt – es geht darum, die Inspiration in die Tat umzusetzen’: Was bedeutet für Sie ‘Inspiration’?
Inspiration? Vielleicht ist das eine Art des Begeistertseins? Ich spüre das dann daran, dass von allen beteiligten Entscheidungen immer viele andere Wege ausgehen können, die dorthin führen, wo ich mit meinen Gedanken noch gar nicht hinwollte. Mein Rat: wenn ein Künstler “konsequent” sein will, sollte er nicht inspiriert sein wollen – das würde nur verwirren. Aber da ich begabt für Verwirrung bin…

 


Wolfgang Rihm, Sub-Kontur. Für Orchester (1975), Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leiter Sylvain Cambreling, Lucerne Festival, KKL, 3.September 2022.

 

 

Den Solopart schreiben Sie der Argentinisch-Schweizerischen Cellistin Sol Gabetta auf den Leib. Gabettas Spielweise zeichnet Temperament und Innigkeit aus. Sie meint selbst dazu, dass sie fast auf dem Cello tanze, und innerlich beim Spielen singe: (Wie) lassen Sie sich von einer charakteristischen Interpretin wie Sol Gabetta inspirieren?
Ich versuche mir vorzustellen, wie die Interpretin oder der Interpret wohl mit meinen Noten umgeht – ansonsten schreibe ich, was ich mir als Musik vorstelle.

 

 


Wolfgang Rihm Marsyas, Rhapsodie für Trompete mit Schlagzeug und Orchester (1998-99), Lucerne Festival Academy, Reinhold Friedrich, Trompete, Robyn Schulkowsky, Schlagzeug, Leitung: George Benjamin, Lucerne Festival, KKL, 1.September 2019.

 

Von ihren Interpreten verlangen Sie meist ‘das Äusserste’, wodurch Dinge gewagt werden, die vor der gemeinsamen Arbeit unvorstellbar waren- wie holen Sie ein solch ‘verstecktes’ Potential aus den Interpreten heraus?
Das müssen Sie die Interpreten fragen… Ich denke: das Wichtigste ist, dass es überhaupt etwas zu interpretieren gibt, dass also eine Fülle von Möglichkeiten sich auftut, mit denen selbst der Komponist nicht gerechnet hat. Interpretation ist das Gegenteil von ‘Execution’. Die beste Interpretation ist wohl die, die viel Unabsehbares offenlässt und die uns, die Hörer, nicht zustopft mit scheinbaren Gewissheiten.

 

 


Wolfgang Rihm, Dis-Kontur für grosses Orchester (1974/1984), UA Lucerne Festival, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leitung Riccardo Chailly, KKL, 8.September 2019.

 

Melancholie – ja. Aber eben nicht allzu viel Schwärze

Jedes neue Werk bringt also auch für Sie etwas Unerwartetes mit sich: wurden Sie beim Komponieren von ‘Concerto en Sol’ selbst überrascht?
Ich hoffe, dass das Stück wie ein natürlicher Fluss sich entwickelt. Als würde ein Ereignis wie von selbst aus dem Zusammenhang sich ergeben und ein nächstes Ereignis hervorrufen.
Was mich überraschte: dass ich nach der langen Krankheitserfahrung vor drei Jahren das Stück in einer relativen Leichtigkeit halten konnte. Melancholie – ja. Aber eben nicht allzu viel Schwärze.

 

Sol Gabetta © Julia Wesely

 

Was dürfen wir klanglich erwarten, worauf dürfen wir uns speziell freuen?
Dass eine Art des ungezwungenen – unspektakulären Gelingens möglich sein kann…
Interview Gabrielle Weber

Das Programm stellt Igor Strawinskys 1947 für Paul Sacher komponiertes Concerto in Re, ein Auftragswerk des KOB zum 20Jahr-Jubiläum des Orchesters, Wolfgang Rihms Concerto en Sol gegenüber. Dazu kommt Felix Mendelssohns ‘schottische’ Sinfonie.

Das Konzert in Genf wird von RTS aufgezeichnet, Concerto en Sol für Sol Gabetta steht auf neo.mx3 in ganzer Länge zeitlich unbeschränkt zum Nachhören zur Verfügung.

Vollständiges Konzertprogramm:
Concerto für Sol, Kammerorchester Basel, Leitung Sylvain Cambreling
Igor Strawinsky, Concerto in Re für Paul Sacher, UA KOB 1947
Wolfgang Rihm, Concerto en Sol für Sol Gabetta, Auftragswerk KOB, UA
Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 3 a-moll Op. 56 (‘Schottische‘)

Konzerte
Montag, 20.Januar 2020, 20h: Genf, Victoria Hall
Dienstag, 21.Januar 2020, 19:30h: Zürich, Tonhalle Maag
Mittwoch, 22.Januar 2020, 19:30h: Bern, Kultur Casino
Donnerstag, 23.Januar 2020, 19:30h: Basel, Martinskirche
Freitag, 24.Januar 2020, 20:30h: Grenoble | F, MC2: Auditorium
Sonntag, 26.Januar 2020, 20h: Freiburg | D, Konzerthaus

Sendungen SRG:
21.1.2020: Kritik UA Genf in Kultur kompakt
22.1.2020, 22h: SRF Kulturplatz
25.1.2020, 10h / 26.1., 20h: Musikmagazin, Café mit Sol Gabetta
30.1.2020, 20h: RTS Espace deux: Le concert du jeudi
20.2.2020, 20h: SRF 2 Kultur: Im Konzertsaal

neo-profiles:
Kammerorchester Basel, Lucerne Festival Academy, Lucerne Festival Alumni, Sol Gabetta, Wolfgang Rihm

Die Aktionsgruppe GRiNM entwickelt sich

Eine diversere und femininere Neue Musik-Praxis: Vision, Option oder Must?
Mitte November trafen sich internationale Akteure in der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) drei Tage lang zum Austausch über Erfahrungen und Zukunftsvisionen.
Positionen-Redakteur Bastian Zimmermann war dabei und zieht sein Fazit.

GRiNM Network-Conference ZHdK © Gender Relations in New Music/ Gözde Filinta

Aus vielen Teilen Europas, teils sogar global wie aus Kanada, und natürlich Berlin kam man zusammen. Ziel war es, sich gegenseitig Projekte und Strategien zur Entfaltung einer diverseren und genderparitätischen Musikwelt zu präsentieren, voneinander zu lernen und bestenfalls neue Projekte zusammen zu er- und beschließen. Und obgleich über sogenannten „Netzwerktreffen“ zumeist der eher unangenehme Wunsch eines „Outcomes“ schwebt, kann man diesem Wochenende einen generellen „Flow“ attestieren. Das mag sicherlich daran liegen, dass die anwesenden Co-GRiNM-Gründer*innen Meredith Nicoll, Brandon Farnsworth, Lucien Danzeisen oder Rosanna Lovell sowie alle Hinzugestoßenen ein echtes Anliegen treibt: Die horrende Schieflage im Musikbetrieb mit teilweise 100prozentiger weißer Männerwirtschaft soll bewusst gemacht und ganz konkret in eine gegenteilige „noch härtere Schieflage“ gebracht werden. Durch Aktionen wie statistische Analysen, deren Publikation und die Aufforderung zur Veränderung machte GRiNM derart erfolgreich auf die Disbalance aufmerksam, dass derzeit vakante künstlerische Leitungspositionen kaum mehr ‘nur’ männlich besetzt werden.

Karlheinz Stockhausen: Mikrophonien, 1966, Filmstill © Gender Relations in New Music

Diese Aufmerksamkeit hat zur Folge, dass sich auch zahlreiche leitende männliche Akteure, zur in Zürich stattfindenden Reflektion des Musikbetriebs und des eigenen Schaffens darin einfanden. So berichtete z.B. Thorbjørn Tønder Hansen vom Ultima Festival in Oslo über die Herausforderungen in einem großen Komplex von Kooperationspartnern und Geldgebern Änderungen oder Experimente wie ein All-Female-Festival durchzusetzen. Dahlia Borsche diskutierte diese Schwierigkeiten innerhalb des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst).

Das auch im Norden angesiedelte Netzwerk für Frauen und nicht-binäre Personen Konstmusiksystrar (Kunstmusikschwestern), vertreten durch Anna Jackobsson und Rosanna Gunnarsson, präsentierte u.a. eine mögliche radikale Satzung der Durchbrechung gängiger Kurationskonventionen: Die durch Calls eingegangenen Werke werden allein im Losverfahren erwählt – eine in viele Richtung das aktuelle Antragsdenken herausfordernde Setzung, die im Anschluss noch weiter diskutiert wurde.

Konstmusiksystrar – sisters in contemporary music ©Hampus Andersson

Auch gab es Versuche, die Idee einer „Global Music Network Initiative“ zu diskutieren, was sich aber hinsichtlich der Fragen von Inklusion und Exklusion musikalischer Genres und Praxen als ein etwas utopisches Unterfangen herausstellte.

Die drei Tage starteten jeweils mit einer Keynote u.a. mit einem brillanten rhetorischen wie analytischen Vortrag von der am King’s College in London lehrenden Christina Scharff zum Denken von Geschlechterkategorien in zeitgenössischer Musik. Am Produktivsten stellten sich jedoch die mehrfach initiierten, moderierten, aber offenen Diskussionsrunden unter den rund 40 Teilnehmer*innen heraus: Anhand einzelner Statements, wie etwa mit den erstarkenden rechten Bewegung im kuratorisch/künstlerischen Kontext umzugehen sei, diskutierte die Gruppe angeregt und pointiert Lösungen. Und das innerhalb eines GRiNM-Rahmens, in dem sich in Zukunft immer mehr Menschen zusammenfinden können, die etwas in dem maßgeblich hierarchisch organisierten Musikbetrieb ändern wollen.
Bastian Zimmermann

Jüngste Engagements aus der Schweiz stellten Serge Vuille für Contrechamps Geneve, die ZHdK und die FHNW, das Global Music-Network Norient, Katharina Rosenberger aus San Diego oder SONART, Musikschaffende Schweiz, vor.

Überläufer – Eine performative Klang-Raum-Komposition zu Wandel und Migration (Trailer), UA 2019 ©ZeitRäume Basel 2019

In der Schweiz ist noch Einiges zu tun: Diskutieren Sie mit, teilen Sie Ihre Erfahrungen und Vorschläge auf dem Neo-Blog. Wir freuen uns, zu Gender und Diversity in der Neuen Musik im Austausch zu sein.
Einen tollen Start ins neue Jahr wünscht:
Gabrielle Weber, Redaktorin/Kuratorin neo.mx3.ch

GRiNM, positionen.BerlinEnsemble Contrechamps Genève, FHNW | Sonic Space Basel, Norient-Space, SONART – Musikschaffende Schweiz, Katharina Rosenberger

Read also: Neo-Blog:
GRiNM? = [GRiNäM]!: Interview with Brandon Farnsworth by Gabrielle Weber
Ensemble Contrechamps Genève – Expérimentation et héritage: Interview Serge Vuille / Contrechamps by Gabrielle Weber

Neo-profiles: Zürcher Hochschule der Künste, Contrechamps, Festival ZeitRäume BaselKatharina Rosenberger

Mann – Frau – Mann – Frau oder ‘ Kein Brausepulverdrink’

Endspurt für Orlando, Olga Neuwirths ‘Opus summum’, an der Wiener Staaatsoper. Mit Orlando wagt sich das Traditionshaus gleich zweifach auf neues Terrain. Erstmals in der 150jährigen Geschichte wurde ein Kompositionsauftrag für eine Oper an eine Frau vergeben. Und: die Staatsoper zeigt Haltung für eine diverse Gesellschaft. Denn Neuwirth erzählt Virginia Woolfs Geschichte einer Zeit- und Geschlechterreise durch die Jahrhunderte bis ins Heute weiter.

Olga Neuwirth , Portrait ©Wiener Staatsoper / Harald Hoffmann

Gabrielle Weber
Lucas Niggli ist als Schlagzeug-Solist mit von der Partie und berichtet direkt aus Wien über die Umsetzung der Geschichte in Musik und das Zusammenspiel mit den Wiener Philharmonikern.

“Orlando ist ein alle Genregrenzen sprengendes Riesenwerk, ein grosses Kino”, kommentiert Niggli, “und es ist bemerkenswert, dass gerade in der heutigen Zeit ein solches Werk an einem Traditionshaus wie der Wiener Staatsoper realisiert werden kann.” Es brauche Nerven und ein hohes Commitment, denn vom Orchester werde viel verlangt. “Eine solch visionäre Oper kann nicht ohne Reibung wie ein Brausepulverdrink konsumiert werden. Das verlangt harte Arbeit.” Mikrotonal um 60Cent tiefer gestimmte zweite Geigen. Das seien sich die Wiener Philharmoniker nicht gewohnt. Im Orchester entstehe ein grossartiger Farbenreichtum. “Das ist ein echtes Hörvergnügen”, so Niggli begeistert.

Niggli spielt für drei längere Sequenzen in Kostüm auf der Bühne, auf die er mitsamt seinem Schlagzeug auf einem Wagen geschoben wird. Den Schlagzeugpart habe ihm Neuwirth mit drumspezifischem Können auf den Leib geschrieben. Er changiere “zwischen Momenten der Freiheit, Bigbandartigen Kicks und messerscharf komponierten Passagen”. Herausfordernd sei das Zusammenspiel mit den Wiener Philharmonikern gerade in den Sequenzen, in denen er nicht im Graben spiele. Denn “die Philharmoniker sind ja berühmt dafür, dass sie laid back spielen und ich bin sehr auf den Downbeat fokussiert”.


Lucas Niggli Solo, Alchemia Garden, 2017

Die hochaktuelle Erzählung portraitiert in der Figur des Orlando eine Persönlichkeit, die sich über die Jahrhunderte komplett verwandelt, auch in Bezug auf ihr Geschlecht.

Wie wird das musikalisch umgesetzt? Orlando wird in Neuwirths Erzählung auch zur Mutter – ihr Kind wird von der queeren Sänger-Performerin Justin Vivian Bond gegeben.

Justin Vivian Bond: Orlandos child ©Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Orlandos Reise durch die Jahrhunderte hingegen finde musikalischen Ausdruck in unverblümten und frechen Zitaten aus der Musikgeschichte. “Da gibt es Zitate von Monteverdi, Rossini, Strawinsky bis zu Lady Gaga. Und ich darf an einer schönen Stelle mit einem elektronischen Sample zusammen improvisieren” so Niggli. Neuwirth habe genaue und mutige Vorstellungen darüber wie musikalische Genres zu verbinden seien. “Sie nimmt fast ein Genre-bending in Analogie zum Gender-bending der Erzählung vor: Neuwirths Musik ist ein bisschen wie ein Kaugummi: sehr dehnbar, aber immer zusammenhaltend.”


Olga Neuwirth, Eleanor (extrait) 2014, Ensemble intercontemporain, Matthias Pintscher (conductor), Della Miles (voice)

Schlagzeug, E-Gitarre, Bläser, manchmal Jazzbläser spielen auch in anderen Werken Neuwirths eine wichtige Rolle. “Deshalb hat sie In diesem ihrem selbst bezeichneten ‘Opus summum’ auch einen Solopart für Jazz-Schlagzeug mit komponiert. So bin ich zu diesem wunderbaren Engagement gekommen.”
Interview Annelis Berger 2.12.19

Nebst dem Dirigenten Matthias Pintscher setzt sich fast das gesamte künstlerische Leitungsteam aus Frauen zusammen. Insbesondere auf die Kostüme seitens Rei Kawakubo, Chefdesignerin des Modelabels Comme les garçons darf man gespannt sein.
Gabrielle Weber

Lucas Niggli @Olga Neuwirth: Orlando ©Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Denn die Essenz dieser fiktiven Biografie ist die Liebe zum Seltsamen, Paradoxen, zur Groteske, zur Kunstfertigkeit, Überhöhung und Übertreibung, um eine neue Morphologie einer sich ständig in Bewegung befindlichen Erzählung zu schaffen. Auch geht es immer wieder um eine kultivierte, höchst raffinierte Form von sexueller Anziehung und gegen das Einzwängen in die Laufrichtung eines einzigen Geschlechts. Und darum, sich nicht bevormunden und herablassend behandeln zu lassen, was Frauen immer wieder geschieht und geschehen wird“ (Olga Neuwirth).

Wiener Staatsoper, Lucas Niggli, Olga Neuwirth, Justin Vivian Bond
Orlando an der Wiener Staatsoper: UA: 8.12.2019
weitere Aufführungen: 11., 14., 18., 20.12.2019

Die Vorstellung vom 18. Dezember 2019 wird via WIENER STAATSOPER live at home weltweit live in HD übertragen.

Sendung SRF 2 Kultur: Musikmagazin, 7./8.12.2019

Neo-profile: Lucas Niggli

«Hiob leidet grundlos»

Am Gare Du Nord in Basel bringt Michèle Rusconi ihre Komposition «Les Souffrances de Job» zur Uraufführung. Im Interview erzählt die Komponistin, wie sie die Tragödie von Hanoch Levin adaptiert hat.

Die Komponistin: Michèle Rusconi

Björn Schaeffner
Michèle Rusconi, was begeistert Sie an Hanoch Levins Text «Les Souffrances de Job»?
Ich halte Hanoch Levin für einen der weltweit wichtigsten Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mich begeistert seine grandiose Sprache, sein Witz, die Satire und der bittere schwarze Humor, die ihm erlauben, das Unsagbare zu sagen.

Wie meinen Sie das?
Ich bewundere Levins scharfen kompromisslosen Blick und fürchte gleichzeitig den Spiegel, den er mir so schonungslos vorhält. Levin versetzt die Bibelgeschichte von Hiob in die Zeit der Römer, etwa tausend Jahre später. Das ergibt eine Art Verfremdungseffekt wie bei Brecht.

Mit der Figur Hiob können Sie sich identifizieren?
Hiob ist eine Parabel, eine universelle Figur. Levin beschreibt in seiner Tragödie den grundlos leidenden und ungerecht bestraften Menschen, dessen Unglück weder eine Ursache hat noch einen Zweck erfüllt. Es ist dies eine atheistische Haltung. Denn Hiobs Frage an seine Freunde ‘hat das Leiden einen anderen Sinn als das Leiden?’ beantwortet Levin mit Nein. Levins Hiob, ein Bruder «in spirit» von Kleists Michael Kohlhaas, betrifft mich. Er wird, im Gegensatz zum biblischen Hiob durch seine Gottestreue nicht belohnt. Sein Verlust ist endgültig, er stirbt.


Michèle Rusconi, Ratafià, Streichquartett, 2009

Wie sind Sie den Stoff angegangen?
Eine Freundin und Übersetzerin zahlreicher israelischer Theaterstücke, schickte mir einen Ausschnitt aus «Les Souffrances de Job». Ich wählte einzelne Sätze und Dialoge der verschiedenen Protagonisten aus. Es sind dies Hiob, seine drei Freunde, der Gerichtsvollzieher, die Bettler, der Offizier, der Zirkusdirektor und die Toten. Ich ging nicht narrativ vor, sondern tauschte die Kapitel untereinander aus und begann zunächst, anhand der französischen Textvorlage zu komponieren. Die israelische Sopranistin Tehila Nini Goldstein, die in Berlin lebt, begeisterte sich für das Projekt. Kurz danach konnte ich das Ensemble Meitar aus Tel Aviv gewinnen, dann Desirée Meiser vom Gare du Nord, ein paar Monate später den Schauspieler Zohar Wexler aus Paris.

Meitar Ensemble, Tel Aviv

Das heisst, das Projekt wurde immer komplexer?
Ich entschied irgendwann, dass ich nebst der französischen Übersetzung auch mit dem hebräischen Originaltext arbeiten wollte. Die Stimme ist bei dieser Komposition zentral. Der Stoff Hiob ist ja unglaublich aufregend: er weint, flucht, brüllt, kämpft, lacht, flüstert, wird wahnsinnig, verzweifelt, gibt auf. Die Komposition wird jetzt abwechslungsweise in beiden Sprachen gesungen und gesprochen.

Die Emotionalität der beiden Sprachen ist ja eine völlig andere.
Genau! Mit einer Sängerin, einem Schauspieler und zwei Sprachen hatte ich neue Parameter, mehrere Oktavlagen, andere akustische Farben, die die Sprachen ausstrahlen. Es gab plötzlich viel mehr Möglichkeiten, mit dem Text umzugehen. Erst dann fiel mir überhaupt auf, dass ich den Text des Hiob anfänglich in den Mund einer Frau gelegt hatte. Dazu kommen die Übertitel: in Tel Aviv Hebräisch, in Basel und Zürich Deutsch, und in Genf Französisch.

Die Sängerin: Tehila Nini Goldstein

Und worauf darf man als Zuschauer*in jetzt gespannt sein?
Auf den tollen Text von Hanoch Levin! Und auf das wunderbare Meitar Ensemble, den wendigen Schauspieler Zohar Wexler, die grossartige Sopranistin Tehila Nini Goldstein und meine Wenigkeit. Dass das Zusammenkommen überhaupt möglich ist, ist schon ein kleines Wunder.

Warum?
Weil es logistisch kaum machbar ist! (lacht). Wir arbeiten ja in vier Städten und inszenieren in drei Sprachen, das macht es nicht gerade einfach.
Interview: Björn Schaeffner


Meitar Ensemble, Ondřej Adámek, ‘Ça tourne ça bloque’, Pierre-André Valade

‘Les Soufffrances de Job’ bildet Teil der zwei Schwerpunkte der diesjährigen Saison des Gare du Nord, ‘Musiktheaterformen‘ und ‘Later Born‘: ‘Musiktheaterformen‘ zeigt Facetten des aktuellen Musiktheaters in Präsentation und Gespräch. ‘Later born‘ hingegen befasst sich mit den grossen Traumata des 20, Jahrhunderts -Nationalsozialismus, den beiden Weltkriege und deren Folgen-, gespiegelt durch einen fragenden Blick der Nachgeborenen.

Im Anschluss an die Vorstellung in Basel findet ein Podiumsgespräch mit Michèle Rusconi und Matthias Naumann (Autor einer Monographie über Hanoch Levin, Übersetzer, Verleger) statt.

Der Schauspieler: Zohar Wexler

Daten:
5. 12.19, 20:30h Tel Aviv, Inbal Multi Cultural Ethnic Center
7.12.19, 20h Basel, Gare du Nord
9.12.19, 19:30h Genève, Salle Ansermet
10.12.19, 19:30h Zürich, Kunstraum Walcheturm

Gare du Nord, IGNM Basel, Kunstraum Walcheturm, Meitar Ensemble

neo-profiles: Gare du Nord, Michèle Rusconi

“..spielen bis wir umfallen..”

 

Portrait Urs Peter Schneider ©Aart-Version lagr

Im Rahmen von Focus Contemporary feiert das Musikpodium der Stadt Zürich  den 80. Geburtstag von Urs Peter Schneider.
Hommage an ein ‘querköpfiges Unikat’ von Thomas Meyer:

Die 60er Jahre waren eine höchst bewegte Zeit für die Musik. Die Formen lösten sich auf. Konzepte, Happenings, Performances, Aleatorik und Improvisation traten an die Stelle fix auskomponierter Werke. Während bald jedoch viele wieder zum althergebrachten Handwerk zurückkehrten, verschrieb sich eine Gruppe hierzulande hartnäckig dieser Offenheit: das Ensemble Neue Horizonte Bern, gegründet 1968 und bis heute unverdrossen bestehend. «Wir werden», so sagte ein Ensemblemitglied einmal im Gespräch, «spielen, bis wir umfallen.» Ohne sie gäbe es wohl keine Cage-Tradition in der Schweiz und auch wenig Konzeptmusik auf enger Flur.

Ensemble Neue Horizonte Bern

Schweizer Cage-Tradition

In diesem Kollektiv aus KomponistInnen und InterpretInnen nimmt einer seit Beginn die besondere Position des Spiritus rector ein: Urs Peter Schneider, der heuer seinen Achtzigsten feiert, geboren in Bern, heute in Biel lebend und fröhlich weiter schaffend mit Kompositionen, Texten, Gebilden und Konzepten. Ihm zu Ehren veranstaltet das Musikpodium Zürich im Rahmen von Focus Contemporary ein Konzert: Dominik Blum spielt Klavierstücke von ihm, vom Neue-Horizonte-Kollegen Peter Streiff sowie von Hermann Meier, für dessen fast vergessenes Werk sich Schneider nachhaltig eingesetzt hat. Ausserdem singt der Chor vokativ zürich neben dem „Chorbuch“ von 1977 die neuen „Engelszungenreden“. Der Titel verweist darauf, dass Schneiders Musik auch gern ins Spirituelle hinaufgreift.


Hermann Meier, Klavierstück für Urs Peter Schneider, HMV 99, 1987

Komponist/Pianist/Interpret/Performer/Pädagoge in einem, ist Schneider eines dieser querköpfigen Unikate, wie es sie gerade auch in der Schweiz nicht selten gibt. Seine Musik zu beschreiben ist nicht leicht, weil sie so vielfältig sein kann, denn häufig ändert er die Verfahrensweise. Schneider arbeitet gern mit Strategien. Im Kern folgt er dabei jenen seriellen Techniken, in denen seine Musik ihre Wurzeln hat. So tüftelt er oft lange und gründlichst an den Permutationen von Tönen, Instrumenten, Lautstärken etc., bis sie endlich aufgehen. Und er entwickelt dafür eine sehr eigene, radikale Beharrlichkeitsgestik.


Urs Peter Schneider, ‘Getrost, ein leiser Abschied’ für zwei Traversflöten und Bassblockflöte, 2015

Radikale Beharrlichkeitsgestik

Es bleibt allerdings nicht bei den Tönen. Vielmehr wendet er solche Strategien auch auf Worte an, auf Graphiken und theatralische Handlungen, ja irgendwie auf alles, was sein Schaffen umgibt, bis hin zu den Datierungen, Widmungen. Auch die Konzertprogramme sind – eine wichtige Qualität überhaupt der Neuen Horizonte – komponiert. „Die Bestandteile einer Darbietung relativieren, ergänzen, kommentieren sich gegenseitig in ausgeklügelter Weise.“ Ebenso fügt er, wenn er Bücher oder CDs herausgibt, seine Stücke nicht einfach lose aneinander, sondern stellt aus dem gesamten Schaffen eine neue Konstellation her. Denn dieser Stratege ist besessen davon, Ordnungen herzustellen.

Urs Peter Schneider: meridian-1-atemwende ©aart-verlag

Alles wird dabei gedreht und gewendet. Ständig entdeckt/erfindet er neue Verfahren. Er ist eigentlich ein Verfahrenskomponist und damit der konzeptuellen Musik sehr nahe. Dieser Gattung widmete er 2016 das Buch «Konzeptuelle Musik – Eine kommentierte Anthologie», ein exemplarisches und unverzichtbares Kompendium.

Die Spontaneität dieser offenen Formen wirkt wohl auch als Korrektiv zur Strenge. Zuweilen könnte ja in diesen Verfahrensweisen die Lebendigkeit und Biegsamkeit verloren gehen und die Ordnung in sich selber versanden. Doch gerade dann geschieht oft Überraschendes. Denn die Werke Schneiders kennen Witz, ja Heiterkeit. Zuweilen an ungewohnter Stelle, gelegentlich mit wohltuender Selbstironie.
Thomas Meyer

Hermann Meier, Stück für grosses Orchester und drei Klaviere, 1964, HMV 60 ©Privatbesitz

Das Festival Focus Contemporary Zürich findet vom 27. November bis zum 1. Dezember statt: In fünf Konzerten präsentieren die Zürcher Veranstalter Tonhalle Zürich, Collegium Novum Zürich, Zürcher Hochschule der Künste und Musikpodium Zürich gemeinsam eine Auswahl zwischen jungem experimentellem Musikschaffen und Altmeistern, an Orten wie der Tonhalle Maag, dem ZKO-Haus oder dem Musikclub Mehrspur der ZHdK.

Focus Contemporary Zürich, 27. 11.- 1. 12, Konzerte:
27.11., 20h ZHdK, Musikklub Mehrspur: Y-Band: Werke von Matthieu Shlomowitz, Alexander Schubert
28.11., 19:30h Musikpodium Zürich, ZKO-Haus: Urs Peter Schneider zum Achtzigsten: Werke von Urs Peter Schneider, Hermann Meier, Peter Streiff
29.11., 19:30h Tonhalle Orchester, Tonhalle Maag: Heinz Holliger zum Achtzigsten: Werke von Heinz Holliger und Bernd Alois Zimmermann
30.11., 20h Collegium Novum Zürich, Tonhalle Maag: Werke von Sergej Newski (UA), Heinz Holliger, Isabel Mundry und Mark Andre
1. 12., 11h ZHdK, Studierende der ZHdK: Werke von Heinz Holliger, Mauro Hertig, Karin Wetzel, Micha Seidenberg, Stephanie Haensler

Musikpodium ZürichAart-Verlag

Neo-profilesZürcher Hochschule der Künste, Collegium Novum Zürich, Urs Peter Schneider, Hermann Meier, Heinz HolligerPeter Streiff, Stephanie Haensler, Karin Wetzel, Gilles GrimaitreDominik Blum

Von der Geige zum Schlagzeug

Der legendäre Concours de Genève feiert seinen 80ten Geburtstag mit den Disziplinen Komposition und Perkussion. 1939 gegründet, setzt der Wettbewerb damit ein Fanal für das zeitgenössische Musikschaffen.

Live-Stream Finalkonzert Perkussion 21. November 2019, 20h:

Gabrielle Weber
34 junge internationale Perkussionistinnen und Perkussionisten wurden aufgrund eingereichter Videos eingeladen um ihr Können unter Beweis zu stellen. Nur drei davon werden es ins Schlusskonzert am 21. November schaffen. Der solistische Auftritt mit dem Orchestre de la Suisse Romande in der Genfer Victoria Hall, könnte für sie die Pforte zur internationalen Musikwelt weit öffnen.

Wie fühlt es sich an, bevor man sich einer hoch dotierten Jury präsentiert? Was sind Kriterien für die Wahl der Stücke und wie steht es mit der zeitgenössischen Musik und dem Schlagzeug? Der 25-jährige Till Lingenberg, gebürtiger Wallisers, gehört zu den Glücklichen und gibt Auskunft.

Der Concours de Genève habe ein hohes internationales Renommee und bereits die Einladung sei eine Auszeichnung. Zudem sei die Erarbeitung des Repertoire sehr bereichernd. ‘Die Vorbereitung auf einen Concours zwingt einem dazu, viele neue Stücke konzertreif einzustudieren – man bringt immerhin zweieinhalb Stunden Musik zur Aufführung’ so Lingenberg. Die Teilnahme am Schlusskonzert wäre die Krönung und eröffnete berufliche Perspektiven. ‘Es würde mir erlauben, mich in die richtige professionelle Welt zu stürzen. Für eine solistische Karriere bedeutet dieser Wettbewerb sehr viel’.

Portrait Till Lingenberg

Durch die Geige fand Lingenberg zur Perkussion – als er mit fünf Jahren den ersten Geigenunterricht erhielt, hämmerte er lieber auf die Geige als schöne Klänge zu produzieren. So kam eines zum anderen. Den Wechsel hat er nie bereut. Denn das Schlagzeug ist so vielfältig. ‘Man spielt nicht nur ein, sondern zahlreiche Instrumente’.

Gab es Vorbilder? ‘Es waren nie primär die Leute die Schlagzeug spielten die mich faszinierten, sondern das Instrumentarium selbst. Ich bewunderte die Instrumente: es faszinierte mich, sie zu berühren, ja manchmal etwas auszuprobieren, sofern ich durfte’.

Lingenberg liebt das zeitgenössische Repertoire – und schätzt sich glücklich. Denn: ‘wir haben fast keine andere Wahl, als diese Musik zu spielen, angesichts des Repertoires das maximal ein Jahrhundert alt ist’. Für den Concours entschied sich Lingenberg für ‘Moi, jeu..‘ für Marimba (1990) von Bruno Mantovani, ein komplexes Stück, in dem Mantovani -so Lingenberg- ‘mit den Codes des Instruments bricht’. In ‘Assonance VII‘ von Michael Jarrell (1992), dem zweiten gewählten Stück, befindet sich der Interpret inmitten eines regelrechten Parks an Perkussionsinstrumenten. Vibraphon, Tamtam, Gong, Becken, Bongos, Wood-blocks und Triangel etc. ‘Es ist ein fabelhaftes Stück, das alle Möglichkeiten der Multiperkussion darstellt und radikal verschiedene Spielweisen zeigt, es spielt mit Resonanzen, geht manchmal fast bis zum Nicht-Hörbaren’.
Interview: Benjamin Herzog / Gabrielle Weber


Michael Jarrell, Assonance VII (1992), Interpret: Till Lingenberg

Die drei FinalistInnen des Kompositionswettbewerbs wurden per Vorausscheidung bestimmt. Das Lemanic Modern Ensemble unter der Leitung von Pierre Bleuse präsentiert ihre Stücke zusammen mit dem Oboisten Matthias Arter am 8. 11 im Studio Ansermet Genf.

Zwei Special Events flankieren den Concours: am 14. November führen Philippe Spiesser und das Ensemble Flashback im Cern Musik, Video, Elektronik und Wissenschaft zusammen. Am 20. November zeigt Eklekto Geneva Percussion Center in der Alhambra Genf Werke von Alexandre Babel, Wojtek Blecharz und Ryoji Ikeda.

Eklekto Geneva Percussion Center ©Nicolas Masson

Die Ausscheidungen finden vom 8. Bis zum 11. November statt und sind öffentlich zugänglich.
Die Finalkonzerte beider Wettbewerbe werden am 8. 11 (Komposition) und am 21.11. (Perkussion) per Live-Stream (Video) auf neo.mx3 und auf RTS espace deux (Audio) übertragen.

Live-Stream Finalkonzert Komposition 8. November 2019, 20h:

Émissions RTS Espace 2:
En direct:
8 novembre, finale concours Composition au studio Anserme:
Présentation par Anne Gillot + Julian Sykes / Prise d’antenne 18h30 – 22h30

21 novembre: finale concours Percussions au Victoria hall:
Présentation par Julian Sykes / Prise d’antenne 18h – 22h30

Magnétique:
-13 novembre, 17h, , Interview avec Philippe Spiesser, président du jury de percussion: Présentation par Anya Leveillé
-11 – 17 novembre: reportage sur les candidates, présenté par Sylvie Lambelet
RTS Culture: article avec video avant la finale percussion

Sendung SRF 2 Kultur:
16. / 17. November: Musikmagazin aktuell, Redaktion: Benjamin Herzog

Concours de Genève, RTS Culture, SRF 2 Kultur

neo-profiles: Concours de Genève, Lemanic Modern Ensemble, Eklekto Geneva Percussion Center, Till Lingenberg, Michael Jarrell, Alexandre Babel

GRiNM? = [GRiNäM]!

GRiNM Network-Conference: Experiences with Gender and Diversity in New Music – ZHdK, 14.-16. November 2019

GRiNM ©Berliner Festspiele

Gabrielle Weber
GRiNM – ‘Gender Relations in New Music’ – steht für ein internationales Kuratorenkollektiv mit Basis in Berlin. Im Anschluss an ein offenes Diskussionsforum an den Darmstädter Ferienkurse 2016 entstanden, war es seither in gezielten Aktionen an zahlreichen Neue Musik-Festivals in ganz Europa präsent. In Zürich veranstaltet GRiNM nun erstmals eine dreitätige internationale Network-Konferenz zum Thema Gender und Diversity, zusammen mit dem Departement Kulturvermittlung (DKV) der ZHdK.

Brandon Farnsworth, GRiNM-Member und Kurator der Tagung, gibt im Gespräch Auskunft zu GRiNM und zur Network-Conference.

Wie erklären Sie das kryptische Kürzel GRiNM?

Wir sind ein heterogenes Kollektiv mit verschiedene Hintergründen und Haltungen. Wir setzen uns alle für ähnliche Sachen ein: wir repräsentieren und streben nach Diversität in der Neuen Musik und machen durch Aktionen auf unser Anliegen aufmerksam. Was uns verbindet ist unsere Unabhängigkeit: wir haben keine festen Anstellungen in diesem Bereich, sind keine rechtliche Organisation, beanspruchen keine Fördergelder für unsere GRiNM-Tätigkeit.

‘Musik und Kontext oder Form und Inhalt lassen sich nicht voneinander trennen.’

Woher stammt ihr Engagement für die Genderthematik?
Mein eigener Zugang ist eher intuitiv. Er kommt aus dem kuratorischen Blickwinkel: Wie verhalten sich die institutionellen Rahmenbedingungen und die musikalische Produktion zueinander? Was haben die Rahmenbedingungen für eine Auswirkung auf die musikalische Produktion?

Wofür steht in diesem Kontext der Begriff ‘Gender’?
Gender als Label ist ein Ansatzpunkt, der rein Zahlenmässig vieles reflektiert: 90% Männer – 10% Frauen, wenn’s hoch kommt 80%-20% als Faustregel für Lehraufträge, Repertoire in Konzertsälen, Kompositionsaufträgen an Festivals, usw.. Wenn wir Statistiken mit solchen Zahlen zur Diskussion stellten, führte das immer auch zu Themen wie Eurozentrismus, soziale Schicht, Einkommens- und Bildungsniveau. Gender beinhaltet Vieles, er bezieht sich nicht nur auf die Geschlechterfrage. Es gleichbedeutend mit Diversität, mit dem Infragestellen von postkolonialen Ausschlüssen oder einem Kanon, der geprägt ist durch gut gebildete weiße männliche Europäer aus reichen Ländern.

Donaueschingen Statistics mit freundlicher Genehmigung von GRiNM

‘Gender ist ein Sammelbegriff für verschiedene Arten von Ausschluss

Seit der Gründung von GRiNM 2016 sind drei Jahre vergangen. Die Genderbalance (bspw. in Donaueschingen) hat sich stark verschoben: hatte GRiNM einen Anteil an der Veränderung?

Das lässt sich nicht beweisen. Unsere Aktionen waren sicherlich wichtig. Wir veranstalteten einerseits auf Einladung Workshops, zweimal am Festival Maerzmusik Berlin 2017 und 2018, machten eine Stickeraktion mit der provokativen Forderung 50%-50% oder veröffentlichten Statistiken. Andererseits waren wir ohne Einladung am Rand von Festivals präsent, bspw. Darmstadt 2018. Wir boten eine Plattform, um über Erfahrungen mit Gender und Diversity zu sprechen, was innerhalb keinen Platz hatte. Wir stellten fest, dass es dafür ein grosses Bedürfnis gab, aber kaum Möglichkeiten für Austausch. Mit der Konferenz schaffen wir nun einen solchen Rahmen.

GRiNM ©Berliner Festspiele

Was ist das Ziel der Konferenz?
Aktuell finden zahlreiche ähnliche Projekte an verschiedenen Orten statt, von denen man oft gegenseitig kaum weiss: da besteht ein Bedürfnis nach Networking. Wir schaffen eine Plattform für den Austausch von Erfahrungen und best practices oder das Angehen von Synergien – die Grösse der Konferenz ist einzigartig. Wir haben vierzig internationale Teilnehmende.

Was sind Themen der Tagung – was gibt es für Formate?
Es gibt Projektpräsentationen und Diskussionsforen. Am ersten Tag geht es um allgemeine Definitionen und Problemstellungen. Am zweiten Tag steht die Ausbildung im Zentrum. Die ‘Association of European Conservatories’ stellt z.B. vor, was unternommen wird, um Diversität an europäischen Hochschulen zu steigern. Am dritten Tag liegt der Fokus auf Ensembles und Festivals.

Am Vorabend gibt’s einen Netzwerkapéro mit SONART – Musikschaffende Schweiz und ein Konzert im Jazzclub Mehrspur der ZHdK. Zu hören sind zwei Musikschaffende aus Berlin, Neo Hülcker und Stellan Veloce, sowie Fågelle aus Schweden.
Interview Gabrielle Weber


Ear action for earprotection and objects, Stellan Veloce and Neo Hülcker, dark music days 2017

Ist die Tagung allen Interessierten zugänglich, werden die Resultate publiziert?
Die Tagung ist öffentlich. Danach ist eine Publikation der Beiträge und einer Auswahl an Best practices und Statistiken geplant.

GRiNM Network Conference: Full Schedule, SONART – Musikschaffende Schweiz 

neo-profile: Zürcher Hochschule der Künste

Klirrende Kälte und heisses Feuer tanzen

Helmut Lachenmann zu Gast an der Zürcher Hochschule der Künste und im Opernhaus Zürich

Helmut Lachenmann ©Klaus Rudolph, CC BY-SA 4.0

Corinne Holtz
Helmut Lachenmann, einer der bedeutendsten Gegenwartskomponisten, schreibt mit 62 Jahren seine erste Oper und landet mit der Uraufführung 1997 den grössten Erfolg seines Lebens. Der Avantgardist und Schüler von Luigi Nono, der von den Orchestern gefürchtete Geräuschkomponist, das „Opfer“ aus Darmstadt, wie er schmunzelnd sagt, greift sich das Andersen-Märchen Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Den Blick lenkt er auf die sozialkritische Botschaft des Stoffes.

Lachenmann liest das Märchen als Parabel auf die Eiseskälte postkapitalistischer Gesellschaften und bricht die Erzählung mit Texten von Leonardo da Vinci und Gudrun Ensslin. Die Geschichte: Ein Mädchen versucht am Silvesterabend vergeblich ein Bündel Streichhölzer zu verkaufen. Schliesslich entzündet es selbst die Hölzchen und erfährt im „Ritsch“ des Aufflammens für einen Augenblick die Wonne bürgerlicher Wärme. Das Mädchen erfriert, die tote Grossmutter nimmt es mit in den Himmel.


Interview mit Helmut Lachenmann über Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Ruhrtriennale, Jahrhunderthalle Bochum 2013

Keine Geschichte sondern “meteorologische Zustände”

Lachenmann versteht Schönheit als „Verweigerung des Gewohnten“ und Musik als „befreite Wahrnehmungskunst“. Sie beginnt bei der Erzeugung von Klang und den dazu nötigen Anstrengungen. Acht Hörner setzt Lachenmann in seiner Oper ein. „Diese acht Hörner sind ein einziges Instrument. Es geht um ein neues Hören. Dafür muss ich den Blick auf das Melodiöse erst einmal suspendieren.“ Von den Musikern verlangt er zum Beispiel Flatterzungen, Luftgeräusche, Ventilklappern sowie Schwebungen. Dieser akustisch reizvolle Effekt entsteht durch Überlagerungen zweier Schwingungen, die sich in ihrer Frequenz nur leicht unterscheiden. Und er geht noch einen Schritt weiter. Den Griff zur Oper bezeichnet Lachenmann gar als „Vorwand, um für Singstimmen zu schreiben“. Dabei erzählt die Musik keine Geschichte, sondern stellt „meteorologische Zustände“ dar. Das Mädchen ist von klirrender Kälte umgeben und spürt für einen Moment heisses Feuer.

Lachenmanns gestische Musik ist im Kern theatralisch. Wer sie live erlebt, kann vielbeschäftigte Interpreten und Interpretinnen beobachten und sich dabei seine eigene Szenerie erfinden. Die Transformation dieser Aktionen in die Kunstform Ballett ist eine Herausforderung. Wie lässt sich eine Choreografie jenseits der Bebilderung erfinden, die der Musik und ihren Akteuren Raum lässt?


Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Opernhaus Zürich 2019, Trailer

Die Neuproduktion des Mädchen mit den Schwefelhölzern steht im Zentrum des dreitägigen Symposiums, das die Zürcher Hochschule der Künste in Kooperation mit dem Opernhaus Zürich ausrichtet, und ist Ausgangspunkt für eine interdisziplinär angelegte Befragung von Lachenmanns Werk. Der Musikforscher Hans-Ulrich Mosch beleuchtet Nonos Schatten, die Musikjournalistin Julia Spinola die Zugänge bisheriger Inszenierungen, die Tanzwissenschafterin Stephanie Schroedter die Umsetzung der Partitur in Bewegung. Schliesslich setzen sich der Komponist und sein Choreograf Christian Spuck mit der Komponistin Isabel Mundry an den runden Tisch und diskutieren Chancen und Grenzen der Zürcher Neuproduktion.

“Kann ein Adorno-Schüler happy sein beim Komponieren?”

Lachenmanns utopisches Musikdenken ist aus der Zeit gefallen und vielleicht gerade darum von hoher Dringlichkeit. Ausserdem weiss der Komponist seine Überzeugungen mit Humor über die Rampe zu bringen. Kann ein Adorno-Schüler happy sein beim Komponieren, fragte ihn einst der Kollege Hans Werner Henze. „Nein. Happy war ich nie, aber glücklich.“ Wie es mit dem Glücksgefühl nach der Premiere der Neuproduktion stehen wird? „Jede Aufführung ist ein Abenteuer mit unbekanntem Ausgang.“
Corinne Holtz


Helmut Lachenmann, Allegro sostenuto 1986/88, interpretiert vom Trio Caelum

Das ‘Wochenend-Festival’ zu Helmut Lachenmann mit Symposium sowie Porträt- und Gesprächskonzerten findet vom 8. Bis zum 10. November 2019 statt.

ZHdK: Zu Gast: Helmut Lachenmann: Tagung / Konferenz / Symposium, 8.-10.11.19

Opernhaus Zürich: ‘Das Mädchen mit den Schwefelhölzern‘, 12.10.-14.11.19

neo-Profiles: ZHdK, Philharmonia Zürich, Basler Madrigalisten

Musik für die Trommelfelle – ‘Elemental realities’: UA am Schlusskonzert der Donaueschinger Musiktage, 20.10.2019

Jürg Frey ©Graham Hardy

Gabrielle Weber
Der Aargauer Komponist Jürg Frey hat sich vier Monate in die Arbeit an seinem neuen Stück ‘Elemental Realities‘ fürs Schlusskonzert der Donaueschinger Musiktage vergraben. Im Interview spricht er über diesen Extremzustand, über das ‘Hören’ an sich oder das Privileg, nicht nur für Aufträge komponieren zu können.

Die anglophone Musikszene um Cornelius Cardew und das Londoner Scratch Orchestra oder Christian Wolff waren in seinen frühen Jahren für Jürg Frey wegbestimmend. Heute wird er in Londoner insider-Kreisen selbst regelmäßig gespielt. Das war nicht immer so. Lange Jahre galt er als Geheimtipp, komponierte zunächst kaum für Publikum, und ab den 90er Jahren im engen Austausch mit dem Komponistenkollektiv und Label Wandelweiser, einer Sinnesgemeinschaft , die wie er selbst ‘radikal stille Sachen machte’. 2015 Composer in Residence am Festival Huddersfield, startete eine von ihm eher unerwartete späte internationale Karriere.


Jürg Frey, Floating Categories 2015, live recording 2017

Jürg Frey, Sie sind in der Selbstdefinition ‘Komponist der Stille ‘. Wie fühlen Sie sich vor ihrer Uraufführung am Schlusskonzert der Donaueschinger Musiktage?

Gerade jetzt bin ich ruhig. Vor der ersten Probe -dem ersten Zusammentreffen meiner Musik mit dem Dirigenten und dem Orchester- ist bei mir die Spannung am Größten. Wenn es dort gut läuft, dann gehe ich gelassen in diese Uraufführung.

Wie kam es zu diesem Auftrag?

Das ist mir selber nicht klar -lacht-: ich erhielt eine E-Mail von Björn Gottstein, dem Intendanten, mit Betreff: ‘Achtung kurzfristige Anfrage’. Ich dachte, es ginge wohl um 2020. Ich brauchte zunächst zwei Tage Bedenkzeit. Dann sagte ich zu und vergrub mich während vier Monaten ausschliesslich in die Arbeit. Es ging an die Grenzen meiner körperlichen und mentalen Möglichkeiten.

Was stand am Anfang Ihres neuen Stücks ‘Elemental Realities’?

Der Anfang, die ersten drei bis vier Wochen, waren für mich die schwierigste Zeit. Da waren zunächst hunderte Ideen, ein regelrechtes Gewitter oder Geflimmer. Dann kristallisierten sich Energie und Richtung des Stücks heraus. Die überbordende Kreativität musste ich zunächst auf ein vernünftiges Level bringen um überhaupt arbeiten zu können. 

Gab es Vorgaben – konnten Sie ‘drauflos’ komponieren?

Ich konnte machen was ich wollte. Das Stück sollte nur nicht übertrieben lang sein: das ist das Schöne an einer so kurzfristigen Anfrage, da konnten keine Forderungen gestellt werden.

 In einem Text zum Stück sprechen Sie vom ‘Notenblatt als Membran’ zwischen Stille und Klang – und vom einzelnen Interpreten als fragiles Bindegliede zwischen ‘privater Stille’ und ‘klingender Musik im öffentlichen Raum’ …

Jede einzelne Note entsteht bei mir im Bewusstsein, dass sie in den Raum hinaus klingt und auf der Rückseite des Notenblattes mit Stille in Berührung kommt. Jede Note hat zwei Richtungen. Jede Note zählt. Der Interpret, die Interpretin steht genauso an dieser Schwelle zwischen Sound und Stille. Diese Schwelle interessiert mich.


Jürg Frey, Extended Circular Music No.8 (excerpt), Live at Dog Star Orchestra, LA 2015

“Das Stück gibt den Musikern Gelegenheit echt gut zu sein”.

Was dürfen wir klanglich konkret von Ihrem neuem Stück erwarten?

Es gibt zwei Elemente im Stück, die sich gegenseitig abwechseln. Das eine ist ein Flächiges: Streicher oder Schlagzeuger beispielweise spielen kontinuierliche stehende Klänge.

Daneben gibt es kleine musikalische Objekte, wie kurze Melodien und Akkorde, Folgen von einzelnen Tönen, alles sehr delikat instrumentiert. Da sind die Musiker sehr gefordert.

Sie sprachen von der Trias Komposition, Dirigent und Klangkörper. Welche Rolle spielt dabei das Publikum?

Das ‘Hören’- durch die Musiker oder das Publikum – ist für mich bestimmend. Die Verbindung zum Publikum ist das Hören. Wenn Musikerinnen und Musiker im Orchester präzise spielen aber auch (zu)hören, überträgt sich das auf das Publikum, auch in einem grossen Saal.

“Meine Musik ist eine Musik für die Ohren, für die Trommelfelle der Zuhörenden – ob im Saal oder im Orchester.”


Jürg Frey, Louange de l’eau, louange de la lumière, Basel Sinfonietta 2011

Donaueschingen, insbesondere eine Aufführung am Schlusskonzert, gilt als Schlüsselmoment einer Komponistenkarrieren – Hat sich ihr Komponieren seither verändert?

Aufs Komponieren hatte es keinen Einfluss. Aber die Arbeitssituation hat sich, seitdem meine Musik mehr Resonanz hat, geändert. Früher entstanden 90% meiner Stücke ohne Auftrag. Antrieb war immer eine künstlerische Notwendigkeit. Nun sage ich bereits Aufträge ab, denn ich möchte auch weiterhin frei komponieren, sofern ich eine innere Notwendigkeit spüre. Diesen Freiraum empfinde ich als grosses Privileg.
Interview Gabrielle Weber

Jürg Frey ©Graham Hardy

Die Donaueschinger Musiktage finden vom 17.-20. Oktober statt. In Uraufführungen und Gesprächen sind nebst Jürg Frey auch Michael Pelzel, Beat Furrer und das Collegium Novum Zürich zu hören.

UA Jürg Frey: Elemental Realities, Donaueschinger Musiktage, Sonntag, 20. Oktober, 17h, Saalsporthalle

Sendungen SRF 2 Kultur: t.b.a.

neo-profiles: Jürg Frey, Donaueschinger Musiktage, Michael Pelzel, Beat Furrer, Collegium Novum Zürich, Basel Sinfonietta