Poetisch-futuristische Expedition

Ein Projekt in der grossen Halle des Pariser Centre Pompidou zu realisieren ist etwas Einzigartiges. Der Schweiz-Französische Komponist Mathieu Corajod und die Bieler Compagnie Mixt Forma erleben dies mit ihrem ersten gemeinsamen Werk gleich am ausstrahlenden Pariser Manifeste-Festival. Das interdisziplinäre Projekt Laquelle se passe ailleurs, ein «szenisches Gedicht für vier hybride Performer», verwebt Musik, Text, Tanz und Schauspiel mit Elektronik. Es kommt auch in der Schweiz mehrfach zur Aufführung. Im Zoom-Interview nach Paris, wo sich Corajod gerade am IRCAM mitten in den Schlussproben befand, sprach er über seinen Ansatz von Musiktheater, Hybridität und Interdisziplinarität.

 

Gabrielle Weber
Die Compagnie Mixt Forma gründete Corajod mit Ziel, die Möglichkeiten experimentellen Musiktheaters mit Gleichgesinnten zu erforschen. Laquelle se passe ailleur wurde während zwei Jahren gemeinsam entwickelt und überzeugte in ersten Projektetappen bereits die Pariser Association Beaumarchais-SACD, die die Realisation durch einen Förderpreis möglich machte. Und das bezeichnenderweise im Bereich der Choreografie.

Den Hintergrund in Musiktheater bringt Corajod vom Studium an der Hochschule der Künste Bern mit, wo er auch Chloé Bieri, Sängerin, und Stanislas Pili, Perkussionist, kennenlernte, zwei Mitglieder der jungen Compagnie.

 

Portrait Mathieu Corajod © Liliane Holdener

 

Corajods eigene Vorstellung geht in der Verwebung verschiedener Disziplinen, Medien und Technologien weit über das traditionelle Verständnis von experimentellem Musiktheater als szenische Strömung der zeitgenössischen Musik hinaus. Im weiterführenden Studien am Pariser IRCAM befasste er sich intensiv mit Elektronik wie auch mit zeitgenössischem Tanz. Insbesondere die Verschmelzung von Komposition und Choreografie liess ihn nicht mehr los. In Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen Pierre Lison und Marie Albert erarbeitete er sein erstes Stück für Tanz. Weitere folgten, wobei auch der zusätzliche Einsatz von Stimme, sowie kollaborative und inklusive Aspekte für Corajod zentral sind. Gemeinsam mit Lison zeichnet Corajod nun auch für die Choreografie von Laquelle se passe ailleurs, wobei Lison erneut als Tänzer-Performer mitwirkt.

 

Mathieu Corajod, ça va bien avec comment tu vis (2019)  für zwei TänzerInnen und Elektronik, Marie Albert und Piere Lison

 

Forscher:innen auf einer gemeinsamen Suche

Ergänzt durch den Schauspieler Antonin Noël, unternehmen die vier Performer:innen des Stücks eine gemeinsame «poetisch-futuristische Expedition». Die je eigene Expertise bringen sie dabei so ins Ganze ein, dass etwas komplett Neues entsteht. Sie seien Forscher:innen auf einer gemeinsamen Suche, so Corajod. Er bezeichnet diese Art von Zusammenarbeit als „Hybridisierung“. Da ist einerseits die Hybridität zwischen Körper und Maschine, ermöglicht durch ein technisches Dispositiv auf der Bühne in Koproduktion mit dem IRCAM. Andererseits agieren die Performer:innen selbst hybrid. Alle führen alles aus. Sie bringen dabei ihren eigenen Zugang ein und lernen voneinander.

 

Interdisziplinarität ist immer dabei- ob sichtbar oder unsichtbar

Laquelle se passe ailleurs sei von Anfang an intermedial gedacht gewesen. „Die Impulse, die ich durch den Tänzer, den Schauspieler und den Schriftsteller erhielt, haben die Forderungen an die Bühne extrem erhöht“, sagt Corajod. Der französische Autor Dominique Quélen trug neue Texte bei, die wiederum auf Ideen der Companie zurückgehen. Sie wurden dann in Musikpartitur und Choreografie übersetzt. Für einen Auftritt der Sängerin Bieri bspw. hätten sie einen der Texte nicht nur strukturell, sondern Silbe für Silbe auf einzelne Gesten übertragen, und Bieri ergänzt dies durch spezielle Klangfarben der Stimme. Alles sei in jedem der auftretenden Körper vorhanden – Tanz, Text und Musikalisation, meint Corajod dazu. Interdisziplinarität sei immer dabei, auf die eine oder die andere Art, ob sichtbar oder unsichtbar.

 


Chloé Bieri in Five young lights für Stimme und Elektronik von Pietro Caramelli, 2019

 

Szenen einer Exploration – verbunden durch einen spielerisch-poetischen Ansatz 

Eine eigentliche Geschichte gibt es im Stück keine. Hingegen arbeiteten sie mit versteckten Erzählungen, die sich die Mitwirkenden gegenseitig ausmalten, um auf der Bühne agieren zu können. „Bei der Entwicklung eines Stücks tauchen immer Fragen auf wie: Wer bin ich in diesem Stück? Was mache ich? Wie verhalte ich mich? Und es hilft bei der Interpretation, sich etwas imaginieren zu können“, meint so Corajod. So entstanden verschiedene Szenen einer Exploration mit einer Art lückenhaften Handlung, verbunden durch einen spielerisch-poetischen Ansatz: „Wir wollen das Publikum auf diese Reise mitnehmen“, sagt Corajod und vergleicht die Atmosphäre des Projekts mit Filmen von Andrei Tarkowski, David Lynch oder Stanley Kubrick.

Auch die Choreografie verfolgt keine Handlung. Sie hätten unterschiedliche Strategien für einzelne Szenen angewandt. Nur manche, wie Bieris‘ Solo, seien ganz auschoreografiert. Andere basierten auf Improvisation und seien dann Schritt für Schritt einstudiert und fixiert worden. In einzelnen Objekten des Bühnenbilds befinden sich zudem Bewegungssensoren, die bei Manipulation durch die Performer:innen Klang erzeugen. Und diese Manipulationen wiederum sind bis ins Detail choreografiert.

 

Compagnie Mixt Forma © Anna Ladeira

 

Was ihn dabei interessiere, sei, Bewegungen so zu gestalten, dass sie im größeren Zusammenhang der Bühne etwas auslösten, sagt Corajod. Als Bestätigung für diesen neuartigen Ansatz, Choreografie und Komposition eng miteinander zu verweben, sieht er die Förderung der SACD für die Choreographie. Sie sei einerseits eine Auszeichnung und freue ihn andererseits besonders, da er von der Musik herkomme. Die Produktion werde dadurch nicht „nur“ in der zeitgenössischen Musik, sondern auch im Theater- und im Tanzbereich wahrgenommen.

 

Mathieu Corajod et Pierre Lison (mouvement), Axes (2021), Instrumentaler Tanz, Duo Alto, UA Paris 2021

 

Denn Corajod möchte zeitgenössische Musik auch an ein breiteres Publikum bringen und er lotet dabei stets die Grenzen des Genres aus. Mit seinem Vorgängerprojekt, der experimentellen Oper Rendez-vous près du feu, aufgeführt im Rahmen der „Nancy Opera Experience“ am Festival Musica 2022, gelang ihm das: Corajod war nicht nur Komponist, sondern zeichnete auch für die Regie. Das neue Werk fand teils im Freien – auf dem weitläufigen Platz Stanislas vor der Oper – teils im Innern der Opéra national de Lorraine statt. Mitglieder des Opernorchesters und Darsteller:innen spielten im Innern, nah an den Fenstern zum Platz. Der Chor sang als Flash-Mob- im Publikum auf dem Vorplatz, und das Geschehen wurde per Videomapping auf die Fassade projiziert.

 

Mathieu Corajod, Rendez-vous près du feu (2022): Théâtre musical und experimentelle Oper vereinigt in einem aussergewöhnlichen Format (In situ, Videomapping, Flash-Mob), Kompositionsauftrag Opéra national de Lorraine und Festival Musica

 

Die Oper öffnete sich zum Platz und zur Stadt und wurde durch Licht, Szenographie und Aktionen anders als üblich belebt – und sie zog zahlreiche zufällige Passant:innen während des ganzen Stücks in den Bann szenischer hybridisierter zeitgenössischer Musik.

Nach den beiden Grossprojekten ist nun erstmal eine kreative Pause angesagt, in der sich Corajod seinem Forschungsprojekt zum Schweizer Musiktheaterpionier Hans Wüthrich widmet.
Gabrielle Weber

Laquelle se passe ailleurs :
2. / 3.6.23, 19:30h,Theater am Rennweg 26 Biel
8.6.23, 20h, Gare du Nord Basel
12.6.23, 20h, Festival ManiFeste, Centre Pompidou Paris
9.9.23, 21h, Musikfestival Bern, Dampfzentrale Turbinensaal

Festival ManiFeste IRCAM/Centre Pompidou Paris, 7. Juni – 1. Juli 2023

IRCAM, Nancy Opera Experience, Opéra national de Lorraine, Musica Festival Strasbourg

Neo-Profile:
Mathieu CorajodCompagnie Mixt FormaChloé BieriHans WüthrichGare du Nord, Musikfestival Bern

Portrait unserer Zeit

Vortex – der Wirbel im Innern des Hurrikans, der übermächtige Strudel, dem man nicht entkommt. Der Name ist Programm: Aufwirbeln und Neumischen – darum geht es dem Genfer Ensemble für Neue Musik Vortex.

In Genf, in der Romandie und im Ausland ist das Ensemble Vortex eine feste Grösse – in der deutschen Schweiz trat es noch kaum auf. Zu seinem Saisonauftakt ist es nun zu Gast in der Gare du Nord in Basel, im Rahmen des Focus Romandie, dem Schwerpunkt zur französischsprachigen Schweiz.

Mit Daniel Zea, Komponist, Co-Gründer und -Leiter unterhielt ich mich zu Selbstverständnis und Ausrichtung des Ensembles und zur kommenden Saison.

 

Portrait Daniel Zea © zVg Daniel Zea

 

Am Anfang stand das gemeinsame Interesse, Schnittstellen auszuloten: zu Improvisation, Jazz, Tanz, Theater, Installation, Radiophonie und visuellen Künsten. “Uns verband die Neugier auf Experiment und die Faszination an Neuem”, sagt Daniel Zea. Und so schloss sich eine Handvoll Absolvent:innen der Genfer Musikhochschule zum Ensemble zusammen, um genau das auszuprobieren. Das war im Jahr 2005. Und immer sollte Elektroakustik dabei sein. “Das war damals noch gar nicht selbstverständlich”, meint Zea.

Sie stammen aus der Schweiz, Europa und Südamerika und die meisten sind bis heute dabei. Nebst Zea – er wuchs in Kolumbien auf, bevor es ihn fürs Studium nach Genf verschlug – sind da bspw. die Komponisten Fernando Garnero, Arturo Corrales und John Menoud oder die Interpret:innen Anne Gillot und Mauricio Carrasco. “Wir waren alle noch im Konservatorium und ganz jung: wir wollten unsere und die Stücke von anderen jungen Komponist:innen hören und spielen. Wir wollten sie möglichst frei erarbeiten, gemeinsam mit den Interpret:innen”, sagt Zea. Die Mitglieder – zirka zehn bilden den festen Kern – nehmen dabei oft beide Rollen ein.

Vortex führt ausschliesslich neue Stücke auf, die es fürs Ensemble in Auftrag gibt, uraufführt und anschliessend ins Repertoire aufnimmt. Insgesamt sind so bereits an die 150 neue Werke zusammengekommen. Und damit auch ein grosser Kreis an Komponierenden.

Ein wichtiger Wegbereiter war der Genfer Komponist und Dozent Eric Gaudibert: Er unterstützte die Ensemblegründung und stand dem jungen Ensemble bis zu seinem Tod 2012 zur Seite. “Eric Gaudibert war eine wichtige Persönlichkeit für die Neue Musik-Szene der französischen Schweiz und für Vortex. Er war unglaublich vernetzt: er inspirierte und beriet uns und ermöglichte Vieles” sagt Zea. Zum Abschluss der Saison veranstaltet Vortex deshalb ein Minifestival in Genf in Gedenken an seinen 10jährigen Todestag. Es findet im Dezember statt. Ungleich anderer Akteure orientieren sich die Vortex-Saisons am Kalenderjahr.

Eric Gaudibert, Gong pour pianofort concertante et ensemble, Lemanic Modern Ensemble, Dir. William Blank,  2011/12, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Immer haben sie einen thematischen Schwerpunkt. In der nun bereits 17. Spielzeit mit dem Motto ‘Resonance comes between notes and noise’ geht es um die Gesellschaft nach der Pandemie. Diese habe die Parameter unseres Umgangs miteinander neu gemischt und vieles ins Digitale verlagert. Unsere Zeit stehe unter einem hohen Druck, und den wollten sie zum Ausdruck bringen, sagt Zea.

Exemplarisch stehen dafür zum Saisonauftakt die zwei in Basel gezeigten Stücke: The Love letters? von Zea (UA 2019), und Fabulae von Fernando Garnero (UA 2016). “Beide Stücke spiegeln die heutige Gesellschaft auf unterschiedliche Weise – zusammen bilden sie ein Portrait unserer Zeit”, meint Zea.

 

“Inszenierung der Schwächung des Menschen durch Technologie”

 

In The Love letters? sitzen sich zwei Performer – ein Mann und eine Frau – gegenüber, beide am Computer. Bewegungen, Mimik und Blicke werden aufgezeichnet und auf Videogrossleinwand gezeigt – live, verzögert, überlagert, verfremdet – und übersetzt in elektronische Musik und Text.

 

Daniel Zea: The Love Letters?, Ensemble Vortex: Anne Gillot, Mauricio Carrasco, UA 2019

 

Zea befragt im Stück das Kommunizieren im digitalen Raum mittels Gesichtserkennung. In Suchmaschinen, Smartphones, Social Media oder staatlicher Überwachung kommt sie durch Algorithmen zum Einsatz, meist ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Der Titel trägt ein Fragezeichen: Ist das Aufgezeichnete/Gezeigte nun das Echte oder sind es die echten Akteure auf der Bühne? Können Gefühle, die wir über digitale Geräte austauschen, ‘echt’ sein?

Love Letters? ist ein Liebesdialog der zeigt, wie absurd heutiges Kommunizieren über den Umweg digitaler Tools ist. Soziale Medien ermächtigen sich unser: es ist eine Inszenierung der Schwächung des Menschen durch Technologie”, so Zea.

Für Zea hat das Stück, das bereits 2018 entstand, fast etwas Prophetisches: In der Pandemie habe die Thematik eine grössere Relevanz erhalten, da digitales Kommunizieren omnipräsent wurde.

 

Vermeintlich Vertrautes verfremden

 

Auch Fabulae von Fernando Garnera verfremdet vermeintlich Vertrautes durch zusätzliche Blickwinkel. Video, Elektronik und Zusatztexte ergänzen das bekannte Grimmsche Märchen Cinderella um weitere Erzählebenen und entlarven überkommene Moralvorstellungen. So wird es in eine bizarre digital transformierte Gegenwarts-Zukunft versetzt.

“Dahinter lauert eine versteckte Kritik an der heutigen kapitalistischen Gesellschaft, die sich durch die Pandemie noch verschärfte”, sagt Zea.

 

Fernando Garnero, Fabulae, Ensemble Vortex, UA 2016

 

Einen radikal anderen Zugang auf unsere Gesellschaft vermittelt das nächste Projekt der Saison: Suma, eine Kollaboration mit dem Ensemble Garage aus Köln. Als Ausgangslage habe die Frage gestanden, wie Musik heute anders gemacht werden könne, gemeinsam und gegenwärtig, nachdem das Zusammenarbeiten über Distanzen zur Gewohnheit geworden sei. Das Resultat sei eine Art von Antwort auf die Pandemie, sagt Zea. “Wir kreieren im Kollektiv ein gemeinsames zeitgenössisches Ritual, durch das die Musik wieder ihre Verbindung zum ‘Heiligen’, zur Natur findet, basierend auf Erinnerung, Ritual und Schamanismus. Damit hinterfragen wir die Rolle von Technologie und Kommunikation heute”.

 

Composer’s next generation

 

Vortex widmet sich auch regelmässig der kommenden Generation – nicht zuletzt, um selbst ‘jung’ zu bleiben. Im biennalen interdisziplinären Laboratorium Composer’s next generation betreibt Vortex regelrechte Nachwuchsförderung. 2021 fand es bereits zum vierten Mal statt: auf einen Call for projects werden jeweils fünf junge Komponierende oder Klangkünstler:innen ausgewählt. Mit ihnen arbeitet Vortex dann eine Saison lang eng zusammen, gefolgt von einer Carte blanche am Neue Musik-Festival Archipel Genève und Folgeaufträgen u.a. im l’Abri, dem Ort für visuelle- und Klang-Kunst mitten in Genf. Damit bindet Vortex die Teilnehmenden weiter ans Ensemble und an die Genfer Szene. “Teilnehmer:innen waren bspw. Chloé Bieri, Barblina Meierhans oder Helga Arias – alle waren damals noch recht am Anfang, alle sind nun international unterwegs und weiterhin eng mit Vortex verbunden”, so Zea.

 

Ensemble Vortex / Composer’s next generation

 

Vortex wirbelt auf und mischt neu – auch die Genfer Neue Musik-Szene: die meisten Akteure der Romandie sind mittlerweile durch gemeinsame Projekte mit dem Ensemble assoziiert. Und natürlich haben sich die Vortexianer:innen inzwischen auch einzeln im In- und Ausland einen Namen gemacht.
Gabrielle Weber
Ensemble VortexDaniel Zea, Chloé Bieri, Anne Gillot, Mauricio Carrasco, Ensemble Garage, Festival Archipel, L’Abri, Festival acht Brücken Köln

 

Konzerte Ensemble Vortex:
23.2.22, 20h, Gare du Nord Basel: The Love letters? / Fabulae, im Anschluss Gespräch mit den Mitwirkenden

Suma: Ensemble Vortex & Ensemble Garage:
6.4.22 Archipel; 2.5.22 Köln: Festival acht Brücken

remember Eric Gaudibert – Mini-Festival: 10./17.Dezember 22, Genf

neo-Profile:
Daniel Zea, Ensemble Vortex, Eric Gaudibert, Arturo Corrales, Fernando Garnero, John Menoud, Barblina Meierhans, Helga Arias, William Blank, Lemanic Modern Ensemble