Portrait unserer Zeit

Vortex – der Wirbel im Innern des Hurrikans, der übermächtige Strudel, dem man nicht entkommt. Der Name ist Programm: Aufwirbeln und Neumischen – darum geht es dem Genfer Ensemble für Neue Musik Vortex.

In Genf, in der Romandie und im Ausland ist das Ensemble Vortex eine feste Grösse – in der deutschen Schweiz trat es noch kaum auf. Zu seinem Saisonauftakt ist es nun zu Gast in der Gare du Nord in Basel, im Rahmen des Focus Romandie, dem Schwerpunkt zur französischsprachigen Schweiz.

Mit Daniel Zea, Komponist, Co-Gründer und -Leiter unterhielt ich mich zu Selbstverständnis und Ausrichtung des Ensembles und zur kommenden Saison.

 

Portrait Daniel Zea © zVg Daniel Zea

 

Am Anfang stand das gemeinsame Interesse, Schnittstellen auszuloten: zu Improvisation, Jazz, Tanz, Theater, Installation, Radiophonie und visuellen Künsten. “Uns verband die Neugier auf Experiment und die Faszination an Neuem”, sagt Daniel Zea. Und so schloss sich eine Handvoll Absolvent:innen der Genfer Musikhochschule zum Ensemble zusammen, um genau das auszuprobieren. Das war im Jahr 2005. Und immer sollte Elektroakustik dabei sein. “Das war damals noch gar nicht selbstverständlich”, meint Zea.

Sie stammen aus der Schweiz, Europa und Südamerika und die meisten sind bis heute dabei. Nebst Zea – er wuchs in Kolumbien auf, bevor es ihn fürs Studium nach Genf verschlug – sind da bspw. die Komponisten Fernando Garnero, Arturo Corrales und John Menoud oder die Interpret:innen Anne Gillot und Mauricio Carrasco. “Wir waren alle noch im Konservatorium und ganz jung: wir wollten unsere und die Stücke von anderen jungen Komponist:innen hören und spielen. Wir wollten sie möglichst frei erarbeiten, gemeinsam mit den Interpret:innen”, sagt Zea. Die Mitglieder – zirka zehn bilden den festen Kern – nehmen dabei oft beide Rollen ein.

Vortex führt ausschliesslich neue Stücke auf, die es fürs Ensemble in Auftrag gibt, uraufführt und anschliessend ins Repertoire aufnimmt. Insgesamt sind so bereits an die 150 neue Werke zusammengekommen. Und damit auch ein grosser Kreis an Komponierenden.

Ein wichtiger Wegbereiter war der Genfer Komponist und Dozent Eric Gaudibert: Er unterstützte die Ensemblegründung und stand dem jungen Ensemble bis zu seinem Tod 2012 zur Seite. “Eric Gaudibert war eine wichtige Persönlichkeit für die Neue Musik-Szene der französischen Schweiz und für Vortex. Er war unglaublich vernetzt: er inspirierte und beriet uns und ermöglichte Vieles” sagt Zea. Zum Abschluss der Saison veranstaltet Vortex deshalb ein Minifestival in Genf in Gedenken an seinen 10jährigen Todestag. Es findet im Dezember statt. Ungleich anderer Akteure orientieren sich die Vortex-Saisons am Kalenderjahr.

Eric Gaudibert, Gong pour pianofort concertante et ensemble, Lemanic Modern Ensemble, Dir. William Blank,  2011/12, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Immer haben sie einen thematischen Schwerpunkt. In der nun bereits 17. Spielzeit mit dem Motto ‘Resonance comes between notes and noise’ geht es um die Gesellschaft nach der Pandemie. Diese habe die Parameter unseres Umgangs miteinander neu gemischt und vieles ins Digitale verlagert. Unsere Zeit stehe unter einem hohen Druck, und den wollten sie zum Ausdruck bringen, sagt Zea.

Exemplarisch stehen dafür zum Saisonauftakt die zwei in Basel gezeigten Stücke: The Love letters? von Zea (UA 2019), und Fabulae von Fernando Garnero (UA 2016). “Beide Stücke spiegeln die heutige Gesellschaft auf unterschiedliche Weise – zusammen bilden sie ein Portrait unserer Zeit”, meint Zea.

 

“Inszenierung der Schwächung des Menschen durch Technologie”

 

In The Love letters? sitzen sich zwei Performer – ein Mann und eine Frau – gegenüber, beide am Computer. Bewegungen, Mimik und Blicke werden aufgezeichnet und auf Videogrossleinwand gezeigt – live, verzögert, überlagert, verfremdet – und übersetzt in elektronische Musik und Text.

 

Daniel Zea: The Love Letters?, Ensemble Vortex: Anne Gillot, Mauricio Carrasco, UA 2019

 

Zea befragt im Stück das Kommunizieren im digitalen Raum mittels Gesichtserkennung. In Suchmaschinen, Smartphones, Social Media oder staatlicher Überwachung kommt sie durch Algorithmen zum Einsatz, meist ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Der Titel trägt ein Fragezeichen: Ist das Aufgezeichnete/Gezeigte nun das Echte oder sind es die echten Akteure auf der Bühne? Können Gefühle, die wir über digitale Geräte austauschen, ‘echt’ sein?

Love Letters? ist ein Liebesdialog der zeigt, wie absurd heutiges Kommunizieren über den Umweg digitaler Tools ist. Soziale Medien ermächtigen sich unser: es ist eine Inszenierung der Schwächung des Menschen durch Technologie”, so Zea.

Für Zea hat das Stück, das bereits 2018 entstand, fast etwas Prophetisches: In der Pandemie habe die Thematik eine grössere Relevanz erhalten, da digitales Kommunizieren omnipräsent wurde.

 

Vermeintlich Vertrautes verfremden

 

Auch Fabulae von Fernando Garnera verfremdet vermeintlich Vertrautes durch zusätzliche Blickwinkel. Video, Elektronik und Zusatztexte ergänzen das bekannte Grimmsche Märchen Cinderella um weitere Erzählebenen und entlarven überkommene Moralvorstellungen. So wird es in eine bizarre digital transformierte Gegenwarts-Zukunft versetzt.

“Dahinter lauert eine versteckte Kritik an der heutigen kapitalistischen Gesellschaft, die sich durch die Pandemie noch verschärfte”, sagt Zea.

 

Fernando Garnero, Fabulae, Ensemble Vortex, UA 2016

 

Einen radikal anderen Zugang auf unsere Gesellschaft vermittelt das nächste Projekt der Saison: Suma, eine Kollaboration mit dem Ensemble Garage aus Köln. Als Ausgangslage habe die Frage gestanden, wie Musik heute anders gemacht werden könne, gemeinsam und gegenwärtig, nachdem das Zusammenarbeiten über Distanzen zur Gewohnheit geworden sei. Das Resultat sei eine Art von Antwort auf die Pandemie, sagt Zea. “Wir kreieren im Kollektiv ein gemeinsames zeitgenössisches Ritual, durch das die Musik wieder ihre Verbindung zum ‘Heiligen’, zur Natur findet, basierend auf Erinnerung, Ritual und Schamanismus. Damit hinterfragen wir die Rolle von Technologie und Kommunikation heute”.

 

Composer’s next generation

 

Vortex widmet sich auch regelmässig der kommenden Generation – nicht zuletzt, um selbst ‘jung’ zu bleiben. Im biennalen interdisziplinären Laboratorium Composer’s next generation betreibt Vortex regelrechte Nachwuchsförderung. 2021 fand es bereits zum vierten Mal statt: auf einen Call for projects werden jeweils fünf junge Komponierende oder Klangkünstler:innen ausgewählt. Mit ihnen arbeitet Vortex dann eine Saison lang eng zusammen, gefolgt von einer Carte blanche am Neue Musik-Festival Archipel Genève und Folgeaufträgen u.a. im l’Abri, dem Ort für visuelle- und Klang-Kunst mitten in Genf. Damit bindet Vortex die Teilnehmenden weiter ans Ensemble und an die Genfer Szene. “Teilnehmer:innen waren bspw. Chloé Bieri, Barblina Meierhans oder Helga Arias – alle waren damals noch recht am Anfang, alle sind nun international unterwegs und weiterhin eng mit Vortex verbunden”, so Zea.

 

Ensemble Vortex / Composer’s next generation

 

Vortex wirbelt auf und mischt neu – auch die Genfer Neue Musik-Szene: die meisten Akteure der Romandie sind mittlerweile durch gemeinsame Projekte mit dem Ensemble assoziiert. Und natürlich haben sich die Vortexianer:innen inzwischen auch einzeln im In- und Ausland einen Namen gemacht.
Gabrielle Weber
Ensemble VortexDaniel Zea, Chloé Bieri, Anne Gillot, Mauricio Carrasco, Ensemble Garage, Festival Archipel, L’Abri, Festival acht Brücken Köln

 

Konzerte Ensemble Vortex:
23.2.22, 20h, Gare du Nord Basel: The Love letters? / Fabulae, im Anschluss Gespräch mit den Mitwirkenden

Suma: Ensemble Vortex & Ensemble Garage:
6.4.22 Archipel; 2.5.22 Köln: Festival acht Brücken

remember Eric Gaudibert – Mini-Festival: 10./17.Dezember 22, Genf

neo-Profile:
Daniel Zea, Ensemble Vortex, Eric Gaudibert, Arturo Corrales, Fernando Garnero, John Menoud, Barblina Meierhans, Helga Arias, William Blank, Lemanic Modern Ensemble

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