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Tapiwa Svosve fräst Saxofonklänge in die Kanalisation
Der junge Zürcher Jazzsaxofonist Tapiwa Svosve (*1995) gewann dieses Jahr einen der BAK-Musikpreise. Svosve legt sich auf keinen Stil fest: er wechselt agil zwischen Free Jazz, Ambient, Noise und Progressive Rock. Seine musikalische Praxis ist jedoch fest in der Jazztradition verankert. Ein Porträt von Jaronas Scheurer.
Jaronas Scheurer
Tapiwa Svosve hat schon viel erreicht für seine junge Karriere: Schon kurz nach seinem Studium an der Jazzschule Zürich gewann er mit der Band District Five den ZKB-Jazzpreis, es folgten unter anderem ein Auftritt mit den Jazzlegenden Hamid Drake und William Parker und ein Werkjahr der Stadt Zürich. Als Organisator und Kurator war er für das Zürcher Taktlos-Festival tätig und gründete das transdisziplinäre Kunstkollektiv Gamut mit. Er trat in Produktionen der gefeierten Künstlerin und Filmemacherin Wu Tsang auf, machte Musik für die Louis Vuitton-Fashionshow, veröffentlichte zahlreiche Alben – Solo, mit seinen verschiedenen Bands oder zum Beispiel 2023 das Album The Sport of Love mit der amerikanischen Elektronik-Produzentin Asma Maroof und dem englischen Cellisten Patrick Belaga, die er im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit Wu Tsang kennenlernte. 2024 wurde diese beachtliche Laufbahn mit einer Tour durch Südostasien und einem der begehrten BAK-Musikpreise gekrönt.
Tapiwa Svosve klingt im dem Song G Major Kinda Love aus dem Album The Sport of Love zusammen mit Patrick Belaga (Cello) und Asma Maroof (Produktion, Elektronik) von 2023 sehr sanft. Das ist jedoch nur eine Seite von Svosves vielfältigem Schaffen.
Finanzielle Knappheit und künstlerische Konsequenz
Trotzdem – finanziell kommt Svosve gerade so knapp durch: «Ich lebe zum Grossteil von meiner Musik. Das geht mal besser und mal weniger gut.» meint er im Interview. «Vielleicht hat man gerade viel gespielt, dann kommt aber wieder eine Dürreperiode und man begrenzt sich: geht nicht mehr aus, isst vielleicht nur noch Reis mit Soyasauce. Ich kann das akzeptieren, wenn es dann auch wieder nach oben geht.» Der BAK-Preis und das damit verbundene Preisgeld kam da genau zum richtigen Zeitpunkt: «Ich machte mir gerade grosse Gedanken, wie ich die nächsten Monate über die Runden kommen soll. Der Preis riss mich von einer Realität in eine ganz andere: Am einten Tag hatte ich minus zwanzig Franken auf dem Konto und am nächsten plötzlich dieses riesige Preisgeld.»
Die finanzielle Knappheit ist wohl auch Svosves künstlerischer Konsequenz geschuldet, der sich wenig bis gar nicht Verkaufsargumenten oder Marktlogiken beugt. «Grundlegend für mich ist ein improvisatorischer Ansatz – sei das jetzt in einem Jazztrio, in einer Noiseband oder wenn ich Ambient mache: Offen sein, für das Potential der Kollaborationen, und schauen, wohin es einen in dieser Konstellation von Menschen treibt.» Svosve versteht sich als Jazzmusiker: «Ich bin durch den Jazz musikalisch sozialisiert worden. Und in welcher anderen westlichen Musiktradition steht sonst diese extreme Offenheit ganz im Zentrum?»
Jazz und Gemeinschaft
Die Offenheit und der improvisatorische Ansatz des Jazz gehen bei Svosve über das tatsächliche Musizieren hinaus. Auch seine Arbeit als Organisator und Kurator sind davon geprägt: «Dass ich nicht nur Musik mache, sondern auch proaktiv Räume für Musik schaffe, für die der Mainstream vielleicht noch nicht bereit ist, ist für mich essentieller Bestandteil des Musikerdaseins. Und wenn ich in die Jazzgeschichte schaue, war das schon immer ein wichtiger Bestandteil des Jazz.»
Ein Jazzmusiker in ganz unterschiedlichen Echoräumen
Svosve ist im Wesen Jazzmusiker. Er hat sich intensiv mit der Jazzgeschichte auseinandergesetzt und unterrichtet auch Jazzgeschichte am Winterthurer Institut für aktuelle Musik (WIAM). Doch das hört man teilweise kaum in seinen Projekten. Es prägt eher seine Art des Daseins und der Zusammenarbeit, denn die tatsächlichen musikalischen Resultate. Ein gutes Beispiel ist das 2022 erschiene Album «A Lung in a Horn in a Horn». In einer nächtlichen Aktion ist er mit dem Künstler, Labelbetreiber und Sounddesigner Rafal Skoczek in ein grosses, offenes Rohr gestiegen, das unter der Sihl und der Limmat verlegt wurde. Dort ist dann das Album entstanden – nur er, das Saxofon und die psychedelisch hallende Zürcher Kanalisation, aufgenommen von Skoczek. Da wurde nicht gross abgeklärt, was möglich oder legal sei. Es gab keine Proben, keinen Soundcheck: «Das Ziel der Aktion war eher der Weg dorthin als das tatsächliche Resultat. Aber die Platte gefällt mir heute noch. Sie ist so puristisch. Es geht gar nicht so um mein Saxofonspiel, sondern mehr darum, wie dieser Tunnel eigentlich klingt, wenn ich da ein paar Klänge reinfräse.»
Jaronas Scheurer
Tapiwa Svosve und sein Saxofon sind hier im Stück A Lung in a Horn in a Horn aufgenommen in der Zürcher Kanalisation zu hören.
Tapiwa Svosve spielt mit District Five bis Ende 2024 jeden letzten Sonntag des Monats ein Konzert im Zürcher Helsinki Klub.
Sendung SRF Kultur:
Musikmagazin, SRF 2 Kultur, 28.9.2024: Preisgekrönt: Der Saxophonist Tapiwa Svosve: Tapiwa Svosve im Talk mit Jaronas Scheurer.
Neo-Profile:
Tapiwa Svosve, Swiss Music Prizes
LUFF: Musikpreis für Noise aus Lausanne
LUFF, Lausanne Underground Film & Music Festival, programmiert seit 2002 in Lausanne experimentelle Musik zu einem ausgesuchten Filmprogramm. Dieses Jahr erhielt das Festival einen der Spezial-Musikpreise des Bundesamts für Kultur (BAK). Ein paar Wochen vor Start der diesjährigen Ausgabe traf ich drei Mitglieder der Leitungsequippe im neuen Lausanner Kulturzentrum Pyxis, dem Arbeitsort des LUFF, direkt neben der Kathedrale in der Lausanner Altstadt. Ein Gespräch mit Thibault Walter und Dimitri Meier, künstlerische Leiter des Musikprogramms, und Marie Klay, Geschäftsführerin.
Gabrielle Weber
Marie Klay, Thibault Walter und Dimitri Meier kommen zu dritt zu unserem Treffen und sie spinnen ihre Gedanken im Gespräch gegenseitig laufend weiter. Das hat seinen Grund: «Das LUFF funktioniert als Kollektiv», sagt mir Marie Klay gleich zum Einstieg. «Die Equipe besteht aus zirka 50 Mitwirkenden und trifft sich übers ganze Jahr regelmässig ein Mal wöchentlich». Es werde gemeinsam entschieden und jeder und jede habe eine Stimme. Klay ist seit einer Umstrukturierung 2014 als Geschäftsführerin im Team dabei: «Alle Bereiche sind gleich wichtig. Die Programmation zum Beispiel ist kein Elfenbeinturm». Kern des Programms bildeten gemeinsame Hörsitzungen, ergänzt Thibault Walter. Dort hörten und diskutierten sie zusammen Stücke, bevor entschieden werde, wer eingeladen werde. Dabei könnten sich alle einbringen. Thibault Walter ist seit dem Start, 2002, dabei. Dimitri Meier stiess 2015 dazu und baute kontinuierlich die Equipe Musikprogrammation auf.
Der Preis
Das LUFF entwickelte sich sukzessive von einem kleinen Insider-event in Vevey zum grossen Festival in Lausanne. Dennoch verortet es sich weiterhin im Underground. «Als wir den Anruf vom BAK erhielten, dachten wir zuerst, es sei ein Scherz, oder ein Phishing-Telefon: wir erwarteten nie einen Musikpreis zu erhalten», so Dimitri Meier. «Dass wir diesen Preis für die Musik erhalten, stellt uns profund in Frage. Aber es bedeutet gleichzeitig eine Anerkennung unserer existenziellen Arbeit und unserer Programmwahl, in all den Jahren“, meint Thibault Walter dazu.
Noise!
Sein Musikprogramm labelt das LUFF gerne mit «Noise». Unter dem Musikgenre, das seinen Ursprung im London der Siebziger Jahre hat, wird gängig verstanden: Geräusch, Rauschen, volle Lautstärke, ohne Melodie und Rhythmus. Was für die einen nur ‘Lärm’ ist, ist für die andere Musik – White noise, weisses Rauschen, findet sich mittlerweile auch im Mainstream. Das LUFF sieht Noise aber anders. «Noise ist für uns alles, was sich gegen gängige Musik-Praktiken richtet. Wir sprachen gewisse Jahre auch schon von ‘Nicht-Musik’ oder ‘Antimusik’», meint Dimitri Meier.
Für Thibault Walter ist Noise ein relativer Begriff: «Noise hat meist eine negative Bedeutung, das LUFF verwendet ihn aber immer positiv. Wir fragen uns weshalb gewisse Klänge unerwünscht und ausgeschlossen sind. Und genau für diese interessieren wir uns.»
Beim LUFF kann Noise auch humorvoll und melodiös oder leise und subtil sein. Regelmässig präsent sind Künstler:innen aus Japan, wo Noise seit den achtziger Jahren Fuss fasste und nebst England eine der grössten Noise-Communities existiert.
Jon the dog live @LUFF 2023
Die japanische Performerin Jon the Dog zum Beispiel trat bereits 2023 am LUFF auf und ist auch dieses Jahr wieder zu Gast in Lausanne: sie singt Lieder mit einer Art von Kinderstimme, die sie selbst auf dem Harmonium begleitet: melodiös, harmonisch, rhythmisch, und voller Humor: sie erinnern an japanische Animationsfilme. Ihr Name kommt daher, dass sie im Hundekostüm auftritt, in Japan manchmal auch überraschend in ‘harten’ Noise-Konzerten. Für Thibaut Walter ist sie eine fast mythische Figur. Er vermutet, dass sie mit dieser «positiven Unreifheit» der Szene einen Spiegel vorhalten wolle und meint, es sei eine Umkehrung, die viel über die Szene aussage.
«Noise heisst für uns nicht: immer mit voller Lautstärke, aggressiv und auch ausschliessend.. ein Klang kann auch ganz fein und nuancenreich geformt werden», so Thibault Walter weiter.
Lise Barkas live @ LUFF 2023
Ein weiteres Beispiel für das Noise-Verständnis des LUFF verkörpert Lise Barkas aus Strasbourg: sie tritt solo an der Drehleier auf. Barkas wurde früh vom LUFF nach Lausanne geholt und ist mittlerweile international gefragte Noise-Künstlerin. Ihre Musik changiert zwischen Klängen, die wie Alte Musik anmuten und kratziger, aber höchst differenzierter, Geräuschhaftigkeit. Für Dimitri Meier sind ihre Konzerte auch als Kritik an der Überverstärkung in der klassischen Noise-Szene zu lesen: diese sei komplett idiotisch.
Ein besetztes Haus in Vevey
Ursprung des LUFF bildete ein besetztes Haus in Vevey, wo ein kleiner Kleis Cinéphiler Filme vom New York Underground Film Festival zeigte, sagt Thibault Walter. Der Initiant habe die Schweiz verlassen und sie mit der Cinémathèque Suisse in Lausanne zusammengebracht. Im Casino de Montbenon, dem Gebäude der Cinémathèque suisse in Lausanne, seien sie im Keller auf einen riesigen ungenutzten Raum gestossen, der sich ideal für Konzerte geeignet habe. Gemeinsam wurde eine Art amerikanischen New Wave-Kinos entwickelt: ausgesuchte Filme, eingerahmt von Konzerten Und so sei aus einem Filmfestival ein Film- UND Musikfestival entstanden. „Das ist ein weiteres Paradox. Einen Musikpreis zu erhalten für ein Musikfestival in einem Filmfestival“.
Lausanner Szene reich an experimentellen Formaten
Die Lausanner Szene sei schon davor reich an experimentellen Formaten gewesen. „Das Festival ermöglicht, Dinge sichtbar zu machen, die bereits vorhanden waren: in Wohnungen, Kellern oder Restaurants. Dass sich dann viele zusammentaten, war ein starker, fast magischer Moment. Wir realisierten, dass wir nicht allein sind, wenn wir etwas in unserer Ecke tun, und das ermutigte uns weiterzumachen“, meint Thibault Walter zum Festivalstart.
Bis heute finden alle Veranstaltungen im Casino de Montbenon, dem Sitz der Cinémathèque Suisse, statt. Durch die Konzentration an einem Ort will das Team auch die verschiedenen Publika in Kontakt bringen. Auch die Mitwirkenden im Kollektiv kommen aus unterschiedlichen Ecken, Marie Klay zum Beispiel aus der Filmszene. Die Equipe sei offen und achtsam, es herrsche ein freundschaftlicher, fast familiärer Umgang: sie alle glaubten an das Gute in der Welt und kämpften dafür, meint Klay. «Wenn man sich zusammentut, kann man etwas Positives bewirken», und Thibault Walter ergänzt: «das LUFF ist ein Ort, der Hoffnung gibt», und Dimitri Meier: «immer wenn eine Ausgabe vorbei ist freuen wir uns auf die nächste!».
Gabrielle Weber
Links tags
Das LUFF findet vom 16. Bis zum 20. Oktober zum 23igsten Mal statt.
New York Underground Film Festival, Pyxis – maison de la culture et de l’exploration numérique, Cinémathèque suisse Lausanne.
Sendungen SRF Kultur
Musik unserer Zeit, SRF Kultur, 25.09.2024: LUFF – Lausanne Underground Film and Music Festival taucht auf, Redaktion Gabrielle Weber.
Musikmagazin, SRF Kultur, 5.10.24: Noise aus Lausanne: Das LUFF erhält Schweizer Musikspezialpreis, talk (min 10:30): Marie Klay, Dimitri Meier und Thibault Walter im Gespräch mit Gabrielle Weber.
Neo-profile
Lausanne Underground Film&Music Festival (LUFF), Swiss Music Prizes
Marianthi Papalexandri-Alexandri und die Unabhängigkeit der Objekte
Die Arbeiten von Marianthi Papalexandri-Alexandri faszinieren das Ohr wie das Auge gleichermassen. Ihr Werk besteht aus einer Vielzahl von Objekten, Klanginstallationen und Performances und überrascht durch Einfachheit und Eleganz seiner Funktionsweise. Alexandre Babel unterhielt sich bei einem Treffen mit der Künstlerin über die intime Beziehung der Objekte zum Klang in ihren Arbeiten.
Alexandre Babel
Sobald man den Ausstellungsraum betritt, füllt eine Klangkomposition, bestehend aus einer Vielzahl kurzer Impulse, den Saal. Die Klänge liegen so dicht beieinander, dass sie wie eine einzige, sich ständig bewegende Struktur erscheinen. Beim Annähern ans Objekt Modular n.3 das gleichzeitig die Klangquelle ist, lassen sich allmählich einzelne Impulse voneinander unterscheiden und je näher man ihm kommt, desto mehr enthüllt dieses Installations-Objekt seine Identität und seinen Klang. Durch eine ständige Drehbewegung und Reibung von Rohren mit einem Nylonfaden werden Klangimpulse erzeugt, die von zahlreichen kleinen aufgehängten Lautsprechern verstärkt werden.
Marianthi Papalexandri-Alexandri, modular n.3, en collaboration avec Pe Lang, 2019.
Modular n.3, das dritte Werk einer gleichnamigen Serie, entstand in enger Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Pe Lang und ist praktisch von seiner physischen Erscheinung untrennbar. Während die Vielzahl von Lautsprechern ein eigenständiges Klanguniversum erzeugen, eröffnet das Verstehen des Produktionsmechanismus eine konkrete wie auch eine poetische Dimension. „Ich mag es, die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Art und Weise wie ein Instrument gebaut ist zu lenken. Meine Werke beinhalten oft auch eine etwas didaktische Demonstration: es geht darum zu verstehen, wie sie funktionieren“, erklärt Papalexandri-Alexandri.
Das Prinzip von Modular n.3 findet sich auch in anderen Werken der Künstlerin wie Untitled n.V oder Speaking of Membranes. Sie thematisieren die mit der Funktion von Objekten verbunden Erwartungen in poetischer Weise. Ein Lautsprecher wird normalerweise zur Verbreitung von Schall durch Verstärkung von elektrischem Strom eingesetzt. Hier sind die Lautsprecher jedoch nicht angeschlossen: der Klang ist also ganz akustisch.
„Man erkennt zwar, dass es sich um einen Lautsprecher handelt, aber ich möchte ihm einen privilegierten Raum geben, ich möchte seine eigene Stimme hören.“ Papalexandri-Alexandri macht das Publikum auf das Wesen des Objekts aufmerksam, indem es durch das Bewegungsgerät in Schwingung versetzt wird. Wie sieht das Objekt dann aus, wenn die Installation nicht eingeschaltet? Die Künstlerin fährt fort: „Manchmal frage ich mich was passiert, wenn ein Klang- oder Musikobjekt keinen Ton erzeugt. Ist es ein totes Objekt? Ich denke, dass jedes musikalische Objekt funktional ist. Indem ich es in Bewegung setze, erforsche ich eine bestimmte Art von Funktionalität, und meist existieren verschiedene Funktionalitäten, die ich am selben Objekt erforschen kann.“
Solo for generators, motors and wind resonators komponierte Papalexandri Alexandri für die Blockflötistin Susanne Fröhlich, mit der sie schon lange zusammenarbeitet. Auch hier umgeht die Beziehung zum Instrument die konventionelle Erwartung. Eine in ihren Einzelteilen zerlegte Blockflöte wird flach auf einem Tisch liegend präsentiert. Auf demselben Tisch befindet sich ein motorisiertes Gerät, welches Drähte in Rotation versetzt. Diese sind mit über die offenen Teile der Flöte gespannten Membranen verbunden. Das akustische Resultat erinnert an lange Klangwellen. „Da wir das Instrument zerlegt haben, sind nur Fragmente davon zu sehen“, erklärt die Komponistin. Ein musikalisches Objekts, das man normalerweise mit einer bestimmten Nutzung verbindet, in diesem Fall der Tonerzeugung durch Blasen in das Mundstück, wird ganz anders verwendet. Die Klangmanifestation wird vom Instrument selbst erzeugt. „Wenn man dieses Instrument auf einer Bühne oder in einer installativen Situation platziert, wird es zu einem Resonanzobjekt. Man sieht es als Körper und nicht mehr als ein Musikinstrument, das man wiedererkennt. Durch diese Art von Verfahren habe ich das Gefühl, dem Publikum einen neuen Zugang zum Instrument zu bieten, ihm eine Art Hommage zu verschaffen“, so Papalexandri-Alexandri.
Marianthi Papalexandri-Alexandri, salon de musique du 31, Susanne Fröhlich, Festival Archipel Genève, march 2019.
Marianthi Papalexandri-Alexandris Welt lenkt die Aufmerksamkeit auf die Präzision der Herstellung. Man könnte meinen, dass die Komponistin durch die makellose Inszenierung der Objekte eine gewisse Kontrolle über den Ablauf der Ereignisse sucht. Die Werke erscheinen aber während den Performances nicht starr. Im Gegenteil, sie lassen eine Dimension der Zerbrechlichkeit erkennen, die von möglichen Unvollkommenheiten, die sich im Lauf von Performances einstellen, ausgeht. Zu Solo for generators, motors and wind resonators meint Papalexandri-Alexandri, dass die Kontrolle nie absolut sei. „Wenn ich selbst mit diesem Gerät spiele, kann ich es spüren und wunderschöne Klänge erzeugen, und das Gleiche gilt für Susanne (Fröhlich). Ich habe aber auch schon Situationen erlebt, in denen das Gerät während der Performance nicht funktioniert hat. Das liegt an einer Spannung zwischen dem Performer und der Maschine, die notwendig ist, damit das Stück Gestalt annimmt.“
Die Dualität zwischen Kontrolle und Zerbrechlichkeit trägt zur Poesie der Werke von Papalexandri-Alexandri bei: „Letztendlich geht es nicht wirklich um Kontrolle. Meine Haltung ist eher, die Ereignisse so zu akzeptieren, wie sie sich entwickeln.“ Auf die Frage, wie sie diese Ereignisse gerne weiterentwickeln würde, antwortet sie: „Was kann ich selbst dazu beitragen? Ich möchte mich einfach mit den vorhandenen Objekten auseinandersetzen, sie haben bereits unheimlich viel zu erzählen“.
Alexandre Babel
neo-profiles :
Marianthi Papalexandri-Alexandri, Pe Lang, Festival Archipel
Ein lebendes Archiv – das Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente
Erst sieben Jahre ist es alt, und schon hat es einen der drei Spezialpreise der Schweizer Musikpreise eingeheimst: Das Schweizer Museum und Zentrum elektronischer Musikinstrumente – kurz: SMEM – in Fribourg macht es die Technik, Geschichte und Praxis elektronischen Musikmachens erfahrbar.
Friedemann Dupelius
„Der Preis kam total überraschend für uns“, sagt Victorien Genna, Projektkoordinator am SMEM, „so etwas hätten wir uns frühestens in ein paar Jahren vorgestellt. Es ist wunderbar, dass wir jetzt eine anerkannte Schweizer Institution sind.“ Die längst nicht nur in der Schweiz bekannt ist. Neben Gästen aus Frankreich und Deutschland reisen auch zahlreiche Fans aus England, den USA, Japan, Australien oder Neuseeland nach Fribourg, um die beachtliche Sammlung zu bestaunen. Rund 5000 elektronische Musikinstrumente stellt das SMEM aus, darunter fast alle erdenkliche Arten von Geräten: Sampler, Drummachines, Synthesizer, Mischpulte, Effektgeräte, Verstärker, Aufnahmedevices, Mikrofone – sogar Software wie die erste Version des heute weit verbreiteten Musikprogramms Ableton Live aus dem Jahr 2001 und die entsprechend alten Computer, auf denen diese läuft.
Meterhoch ragen die Regale an die Decke einer ehemaligen Brauerei – heute zu einem Areal für Startups und kulturelle Initiativen umfunktioniert. Doch wer nun dicke Staubschichten auf den Keyboards befürchtet, darf beruhigt aufatmen: Das SMEM versteht sich als „lebendiges Archiv“. All diese Geräte werden nicht nur professionell gewartet, sondern können auch gespielt werden. Im “Playroom“ des Museums steht immer eine breite Auswahl unterschiedlicher Instrumente angeschlossen bereit, darunter Klassiker wie die Drumcomputer TR-808 und TR-909 der Firma Roland. Für wenig Geld kann man sich hier eine Session buchen, die eigenen Jams auch aufnehmen und auf dem Stick mit nach Hause nehmen.
Ein Museum für Kids wie für Nerds
Auf die Frage, ob das SMEM eigentlich eine Unterscheidung zwischen akademisch geprägter, „ernster“ elektronischer Musik und ihren popkulturellen Spielarten macht, fragt Victorien Genna zurück, was ich damit eigentlich meine – und gibt damit schon eine indirekte Antwort. Er ist kein Musikwissenschaftler oder Komponist, sondern stieß als Philosophie-Student, der gerne privat mit Synthies spielt, zum SMEM. „Die FM-Synthese ist ein gutes Beispiel: Sie gelangte von den Laboren der Universitäten auf den Konsummarkt und wurde mit dem Yamaha DX7 in den 80ern weltberühmt. Bei uns kommen die Nerds auf ihre Kosten, man kann hier richtig ins Detail gehen. Aber auch fünfjährige Kinder oder jemand von 100 Jahren soll hier Spaß haben können.“
Der erste Schaltkreis schließt sich auf einer Zugfahrt
Dass das SMEM überhaupt existiert, war glückliche Fügung: Der Großteil der Sammlung stammt von Klemens Niklaus Trenkle – einem Schauspieler aus Basel, der seit den 70er-Jahren elektronische Instrumente sammelt. So viel, dass es seinem Vermieter irgendwann zu bunt wurde, er solle das Zeug wegschaffen. Auf einer Zugfahrt kam er mit dem Architektur-Professoren Christoph Allenspach aus Fribourg ins Gespräch. Allenspach hatte seit Jahren die Idee, ein Museum mit Musikbezug zu eröffnen und so war die erste Verkabelung unverhofft gelungen. Bald zogen die Instrumente von Basel in die Westschweiz um, ein Verein wurde gegründet und ein Team von Freiwilligen zusammen gestellt. 2017 eröffnete das Museum. Bis heute hat sich nicht viel geändert: Die Menge an Instrumenten ist groß, das Budget gering.
Victorien Genna vom SMEM hat eine Dokumentarfilm-Reihe über Instrumente aus der SMEM-Sammlung produziert.
Das SMEM lebt – neben öffentlicher Förderung und privaten Spenden – durch den Einsatz von Ehrenamtlichen, so wie es auch Victorien Genna einer war, bis er vor kurzem eine der drei festen Stellen am Museum bekam. Die Freiwilligen reparieren die Instrumente, mischen Konzerte ab oder übernehmen Barschichten dort. Der frisch erhaltene Preis ist für das Museum daher natürlich Gold wert, denn die Sammlung wächst stetig. Doch wie soll man aus einer Flut technischer Neuerscheinungen herausfiltern, welches Delay-Modul, welcher Wavetable-Synthie wirklich historisch relevant sein werden? „Manchmal kann man technische Revolutionen schnell erkennen“, sagt Victorien Genna und verweist auf den Elektron Digitakt, 2017 erschienen, „da war es schon mit dem Erscheinen klar, dass das ein wichtiger Sampler für das 21. Jahrhundert sein wird. Oft kann man aber nur spekulieren und weiß es erst nach ein paar Jahren.“ Klemens Niklaus Trenkle kauft immer noch selbst neue Instrumente für das Museum ein. „Er hat einen ziemlich guten Riecher dafür, was relevant ist oder sein wird.“
Das SMEM veranstaltet u.a. Konzerte, Workshops und Vorträge – mindestens einmal im Monat. Mehrmals im Jahr sind auch Residenz-Künstler:innen für eine bis vier Wochen zu Gast in Fribourg, um mit Instrumenten ihrer Wahl zu experimentieren. Ein künstlerisches Ergebnis ist dafür nicht verpflichtend. Doch immer wieder kommt etwas dabei heraus, das dann in der Regel auf dem Fribourger Label oos erscheint. Im Oktober steht ein Release des Wiener Musikers Oliver Thomas Johnson alias Dorian Concept an, der sich am SMEM mit dem Yamaha CS01-Synthesizer beschäftigt hat. Die polyrhythmischen Geflechte aus perkussiven Synthesizern beginnen mit jeder neuen Schichtung mehr zu grooven, die 200 Beats per Minute Geschwindigkeit merkt man dieser leichtfüßigen Musik nicht an. Es ist eben ein lebendiges Archiv, in dem Geschichte nicht nur dokumentiert, sondern auch aktiv mitgestaltet wird.
Friedemann Dupelius
Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente (SMEM)
SMEM auf Instagram
Das Online-Magazin des SMEM
Dorian Concept auf Bandcamp
Klemens Niklaus Trenkle
Das Album Unconditional Contours von Legowelt, das auch am SMEM entstand
Termine
04.09.2024 – Modular-Synthesizer-Workshop mit dem Duo OK EG (Lauren Squire & Matthew Wilson) aus Melbourne
09.09.2024 – 25 Jahre Anyma (Audiovisuelles Kunst-Kollektiv aus Fribourg): SMEM Open Doors und Konzert von Synkie
Oktober 2024 – Veröffentlichung von Dorian Concept auf ous
Metaebenen und zerstörte Faszination im Musiktheater Léo Collins
Er mischt Klang, Performance, Video und Theater mit Kochen, Sport, Krimi oder Umwelt-Aktivismus. Der junge, in Frankreich geborene und in Zürich lebende Komponist Léo Collin produziert aufrüttelnde Musiktheater-happenings. Ich besuchte ihn in seinem Atelier in der roten Fabrik in Zürich.
Gabrielle Weber
Den grössten Teil seines kleinen Ateliers nimmt ein einfacher Holztisch ein. Er ist mit einem Schaltpult, Mikrofonen, Kopfhörern und Kabeln bedeckt. Eine E-Gitarre lehnt am Tisch, an den Wänden hängen grosse bunte Skizzen. Hier entwickelt Léo Collin seine immer ortsbezogenen Musiktheater: sie spielen in der freien Natur, in Industrieräumen oder Tankstellen.
Léo Collin, Video: Fastnacht, Neue Musik Rümlingen 2020.
In Tarnanzüge gekleidet stürmen Perfomer:innen aus einem Waldstück einen grasbewachsenen Hügel herab. Sie verfolgen sich gegenseitig und führen dabei fast choreografierte Handlungen aus. Fastnacht, ein Musiktheater mit Elektroakustik, uraufgeführt auf der grünen Wiese am Festival Rümlingen 2020, thematisiert eine Community, die Kriegsspiele zelebriert. Das Stück sei charakteristisch für seinen Begriff von Musiktheater und für seine Arbeitsweise. Collins interdisziplinäre ortsspezifische Musiktheater verbinden Klang mit Video, Elektronik und theatralen Aktionen und meist ist das Publikum mittendrin.
«Für Fastnacht gab es wenig Zeit für Proben vor Ort und zudem wurde das Stück mehrere Male gespielt. Das erfordert eine präzise konzeptionelle Vorbereitung und genaue Anweisungen für die Performer:innen». Die Partitur für Fastnacht ist eine Audiospur, die allen Mitwirkenden mittels ‘in ear-headphones’ eigene Aktionen zuweist. In die Performance sind Rollen eingebaut, die die Handlung brechen: Die Darsteller:innen werden von einer Soundcrew mit Mikrofon (Collin selbst) und Schaltpult verfolgt. «Indem ich zeige wie eine Szene aufgezeichnet wird, zerstöre ich die Faszination. Ich mag solche Metaebenen.», meint Collin. Zur Live-Performance erhält jede Zuschauerin und jeder Zuschauer einen Kopfhörer mit Live-Sound und einem fiktiven Audiobeitrag: die Tonspur schafft eine weitere Metaebene. «Viele Menschen spielen am Wochenende zu Hause solche Kriegsspiele. Den Krieg möchten sie selbst nicht erleben müssen. Solche Dualitäten will ich zeigen».
Gebrochene Re-enactments
Collin kreiert gebrochene Re-enactment die immer auch einen persönlichen Hintergrund haben: «die Idee entstammt einer Fotografie aus der Photobastei in Zürich – eine unscheinbare Landschaft mit Apfelbäumen mit Titel ‘Verdun 2017’. Meine Familie stammt aus der Gegend. In der idyllischen Landschaft fand 1916 eine der blutigsten Schlachten des ersten Weltkriegs statt. Die Foto zeigt aber ein harmloses Motiv». Ein Ort beinhalte immer auch Geschichte, meint Collin. «Durch Klang kann ich einer malerischen Landschaft eine völlig unerwartete Ebene hinzufügen.»
Léo Collin wuchs in einem kleinen Dorf im französischen Jura auf, studierte in Lyon, Genf und zuletzt an der ZHdK in Zürich, zunächst Musikwissenschaft, dann Klavier, Elektroakustik und Komposition. Er komponiert elektronische Musik für Theater und Tanz, auch schon fürs Schauspielhaus Zürich oder das Deutsche Theater Berlin, konzipiert Musiktheater oder auch Vermittlungsprojekte bspw. fürs Sonic Matter Festival Zürich.
Collins Stücke sind immer auf spezifische Räume ausgerichtet und meist mit einer festen Gruppe von Musiker:innen entwickelt, dem Kollektiv International TOTEM (KIT). Er performt in der Regel auch selbst und bindet weitere Musik- und Kunstschaffende ein. Das Publikum ist Teil seiner Stücke, es partizipiert musikalisch oder ist mittendrin, umgeben von Lautsprechern oder mit Kopfhörern ausgestattet.
Inhaltlich aufgeladene Orte
Inhaltlich aufgeladene Ort sind auch in der Trilogie, einer dreiteiligen szenischen Arbeit mit den Titeln Baleen, Medusen und Corals, wesentlich. Corals, der dritte Teil, spielt zum Beispiel in einer Tankstelle. Sie ist das Pendant in der Menschenwelt für Korallenriffe, Mikrokosmen wie Städte, die aus dem Nichts auftauchen und kontinuierlich wachsen. «In den grossen Weiten der USA oder Australiens gibt es oft lange nichts und plötzlich eine Tankstelle voller Menschen, Essen und Benzin. Und gleichzeitig ist Benzin Inbegriff von Umweltzerstörung.»
Léo Collin, Corals, music for Gas stations, Ensemble Inverspace, Eigenproduktion SRG SSR.
Das übergreifende Thema von Trilogie ist die Sorge um das Verschwinden der Artenvielfalt. Die drei Titel Baleen, Medusen, Corals – Wale, Medusen, Korallen – stehen für unterschiedliche Meeresbewohner und deren Biosphären. «Es geht um die Nahrungskette im ‘Web food’: die Grossen essen die Kleinen», so Collin. «In meiner Jugend schwebte ‘No future’, also Kapitalismus- und Konsumkritik, über allem. Heute begleitet mich das Thema weiter».
Medusen, der zweite Teil von Léo Collins Trilogie, fand in einer trashigen Industriehalle am Rande Zürichs statt. Vier Zuschauergruppen begehen mit Kopfhörern, angeleitet von Devices auf ihren Handys oder von einem Schauspieler verschiedene Räume auf den Spuren eines vergangenen Verbrechens.
Ein Puzzle von Ereignissen
Die Handlung besteht aus einem Puzzle von Ereignissen: im ersten Teil, Balleen, zwischen Selbsterfahrungsgruppe, Sportevent oder TV-Koch-Show, im zweiten Teil, Medusen. zwischen Krimi, Konzert und Reality-TV: «Ich beschäftigte mich mit sehr Unterschiedlichem bevor ich Musik machte. In Trilogie gehe ich meinen Kindheits- und Jugenderinnerungen nach und setze sie in Klang um», so Collin. «Als Kind wurde ich zum Beispiel oft vor den Fernsehapparat gesetzt und schaute dann meist Sport. Später wurde mir klar, dass die Sportkommentare ihm erst diese Art Magie verleihen. Meine Arbeit konfrontiert diese Erinnerungen mit zeitgenössischer Musik, in der Hoffnung auf eine Art Emanzipation.»
Léo Collin, Trilogie: Balleen, Corals, Medusen
Trilogie begleitet Collins musikalischen Weg schon über viele Jahre. Das Stück wächst, wuchert und verändert sich laufend – wie die Biosphären innerhalb des worldwide web food.
Gabrielle Weber
Eine Erweiterung von Fastnacht, das Musiktheater Blind Test, kommt am kommenden Festival Neue Musik Rümlingen, zusammen mit Kollektiv International Totem und dem Hyper Duo am 24 und 25. August 2024 zur Aufführung.
Am 19. Juni 2025 widmet sich Léo Collin mit dem Collegium Novum Zürich, erneut der Biodiversität in: Plankton, Musiktheater für Performer·innen, Ensemble und bewegliches Publikum (2025, UA), Zentralwäscherei Zürich.
Neo-Profiles
Léo Collin, Kollektiv International Totem (KIT), Neue Musik Rümlingen, Hyper Duo, Sonic Matter Festival, Collegium Novum Zürich
Lauren Newtons Stimmkunst
Sie ist eine Pionierin der Stimmkunst – die US-amerikanische Vokalistin Lauren Newton. Das volle Potential der Stimme zu entdecken, treibt ihr Schaffen in der Freien Improvisation, im Jazz und der Zeitgenössischen Musik voran. Mit der Schweizer experimentellen Musikszene eng verbunden, unterrichtete sie von 1993 bis 2019 an der Musikhochschule Luzern (HSLU) Jazzgesang und Freie Improvisation.
Luca Koch
Die verschiedensten Formationen von langjährigen Duos, über Vokalensembles zum grossen Jazzorchester prägen ihre Karriere. Ihre Konzerte zeichnen sich durch einnehmende Tiefe und Dringlichkeit auf. Dieses Jahr feiert Lauren Newton ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum. Für die SRF Kultur-Sendung Living Past besuchte ich Lauren Newton in Tübingen in Deutschland, wo sie zuhause ist, und hörte mich mit ihr durch wegweisende Live-Aufnahmen.
Wink des Schicksal
Eigentlich wollte Lauren Newton in Oregon in den USA Kunst studieren, doch bekam sie dort keinen Studienplatz. Als Wink des Schicksals versuchte sie dann ihr Glück in der Musikabteilung. Schon zuhause waren sowohl Klassik wie auch Jazz präsent. Ihr Vater spielte Kontrabass und sang in Nachtclubs. Auch Lauren hatte eine solide Stimme und begann ein klassisches Gesangsstudium. In ihrem dritten Bachelorjahr durfte sie an einem Austauschjahr in Stuttgart teilnehmen. Das war unüblich für Bachelor-Studierende, doch ihr damaliger Lehrer bürgte für sie. Ein grosser Schritt, denn Deutschland wurde ihr neues Zuhause.
Lauren Newton, Sound Songs, Improviation solo 2006.
Klassik-Studentin by Day, Jazz-Rock Sängerin by Night
In Stuttgart trat Lauren Newton ihren Master in der Gesangsklasse der Opernsängerin Sylvia Geszty an und gleichzeitig tauchte sie in die junge Jazzszene der Stadt ein. An einer Jam-Session lernte sie den Trompeter Frederic Rabold kennen, der von Newtons Stimme begeistert war. Kurze Zeit später sang Lauren Newton in seiner Jazz-Rock Band der Frederic Rabold Crew. Der Mix aus einfach komponierten Themen und freier Improvisation, war ideal für sie. Konnte sie so die gelernte Technik des Studiums in der Freiheit der Improvisation ausarbeiten. Beide Tätigkeiten gingen nahtlos ineinander über, es fühlte sich nie wie ein Doppelleben an, erzählte sie mir im Interview.
Vienna Art Orchestra
Die Frederic Rabold Crew wurde 1979 in die Fernseh-Sendung Bourbon Street nach Wien eingeladen, was vom Schweizer Jazzmusiker Mathias Rüegg nicht unbemerkt blieb. Er selbst gründete zwei Jahre zuvor mit Wolfgang Puschnig das Vienna Art Orchestra. Nach dem TV-Auftritt fragte er Lauren Newton sofort an, ob sie ein Teil davon werden wolle. Zehn Jahre lang war Lauren Newton ein unersetzlicher Bestandteil das Vienna Art Orchestra, welches durch dutzende Album-Produktionen und grossen Tours zu einer Instanz des experimentellen Jazz wurde. Ihre Stimme sticht mit messerscharfer Präzision und verspielter Virtuosität aus dem Jazz-Orchester heraus. Eine Zeit, die Lauren Newton um nichts in der Welt missen wollte, auch wenn die ständigen Reisen im Tourbus als einzige Frau herausfordernd waren.
Vocal Summit
Persönlich lernte ich Lauren Newton in ihrer Unterrichtstätigkeit an der Hochschule Luzern kennen. Für mich war sie nicht nur als Vokalistin mit grosser stimmlicher Bandbreite eine wichtige Figur, sondern auch als Musikerin, die grosses Interesse für andere Stimmen mitbringt. Nicht nur als Dozentin half sie ihren Studierenden ihre eigene Stimme zu entdecken, auch auf der Bühne kollaborierte sie immer wieder mit anderen Sänger:innen. Gemeinsam mit Bobby McFerrin, Urszula Dudziak, Jeanne Lee und Jay Clayton bildete sie die Gesangs-Allstar-Band: das Vocal Summit. Fünf komplett unterschiedliche Stimmen kreieren zusammen Soundscapes, die atmen. Die Arbeit mit Stimmen in grösseren Formationen führte Lauren Newton mit der Vokalensemble Timbre fort.
Vom Vom Zum Zum
Lauren Newton machte sich als experimentelle Vokalistin einen Namen, die sich besonders durch Klänge ausdrückt. Aber auch die Arbeit mit Text nimmt eine wichtige Rolle in ihrer Musik ein. Die Zusammenarbeit mit dem österreichischen Dichter Ernst Jandl war besonders prägend. Seine Gedichte wurden dekonstruiert und neu zusammengesetzt, Worte wurden gedreht, gedehnt und rückwärts gesprochen. Das Album Vom Vom Zum Zum auf dem Ernst Jandl selber spricht und Lauren Newton seine Worte umspielt war eine besondere Entdeckung für mich.
Pi aus Vom Vom Zum Zum, Lauren Newton mit Wolfgang Puschnig, Mathias Rüegg und Uli Scherer, 1988.
Duos im Gespräch
Freie Improvisation ist wie ein musikalisches Gespräch. Die Mitspieler:innen gehen aufeinander ein, kommentieren, sind sich einig oder streiten miteinander. Am besten gelänge dies im Duo, erzählt mir Lauren Newton im SWR-Studio in Tübingen.
O How We, Lauren Newton und Phil Minton performten zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne am Festival A Voix Haute in Bagnères de Bigorre, France, am 13. August 2010.
Duo-Aufnahmen bilden denn auch einen grossen Teil ihres Gesamtwerks. Sie kollaboriert beispielsweise mit Anthony Braxton, Phil Minton, Aki Takase und Joëlle Léandre. Besonders die Kontrabassistin Joëlle Léandre begleitet sie bis heute. Ihre Tiefe musikalische Freundschaft spiegelt sich in ihrem Interplay wider. Der reiche kernige Klang von Léandres Kontrabass-Spiel ergänzt Newtons glasklare Stimme perfekt. Erst kürzlich erschien das neue Album des Duos: Great Star Theatre, San Francisco.
Luca Koch
Frederic Rabold, Frederic Rabold Crew, Mathias Rüegg, Bobby McFerrin, Urszula Dudziak, Jeanne Lee, Jay Clayton, Wolfgang Puschnig, Vienna Art Orchestra, Ernst Jandl, Anthony Braxton, Phil Minton, Aki Takase, Joëlle Léandre.
Neoprofil:
Lauren Newton
Sendung SRF Kultur:
Living Past – Lauren Newton, Pionierin der Stimmkunst, 13.02.2024, made by Luca Koch.
Cathy van Eck: Die transzendierte Rolle eines Konzertstücks
Cathy van Eck, Komponistin und Medienkünstlerin, prägt die Schweizer und internationale zeitgenössische Musikszene mit ihren subtilen und hochästhetischen Klangperformances. Ihr Stück In the Woods of Golden Resonances für Schlagzeugsolo nahm innerhalb eines Konzertabends für Schlagzeugsolo eine spezielle Rolle ein. Ein Portrait von Alexandre Babel.
Alexandre Babel
Das Motto klingt wie eine Einladung: mit dem Titel Aufbau/Abbbau kuratierte der spanische Perkussionist Miguel Angel Garcia Martin in der Reihe Friendly Takeover der Gare du Nord in Basel einen Konzertabend der ganz dem Schlagzeugsolo gewidmet war. Sechs Uraufführungen sollten die logistische Realität des professionellen Schlagzeugers durchleuchten. Denn Auf- und Abbaus des Instrumentariums für ein Konzert nehmen in der Regel oft fast ebenso viel Raum und Bedeutung ein, wie der musikalische Moment selbst. Auch wenn das Thema des Abends auf den ersten Blick anekdotisch wirkt, war es in diesem Fall die Grundlage für eine verzweigte Fragestellung, die sich alle eingeladenen Mitwirkenden mit der Schaffung eines neuen Werkes zu eigen machten. Cathy van Ecks In the Woods of Golden Resonances ist dafür ein verbindendes Beispiel.
In the Woods of Golden Resonances zeigt den Schlagzeuger Miguel Angel Garcia Martin im Zentrum der Bühne, in relativer Dunkelheit mit einer roten Stirnlampe, so dass das Publikum nur seine verdunkelte Silhouette erkennt. Mit langsamen und kontrollierten Bewegungen geht er zu einem Becken, das in einer Ecke der Bühne auf dem Boden liegt, hebt es an und hält es dann auf Mundhöhe in horizontaler Position. Ein deutlicher, verstärkter Atemton zeigt, dass der Performer ein Mikrofon trägt und auf das Instrument bläst, als würde er versuchen, den Staub von ihm zu entfernen. Dieser Ton wird offensichtlich elektronisch verarbeitet, und die Wiedergabe über die Lautsprecher macht den Großteil der Klangumgebung aus. “Durch das Pusten wird das ‚Volume‘ der beiden Lautsprecher im Raum höher, und es entsteht ein akustischer Feedback -Klang. Das ganze Stück besteht aus solchen Feedback-Klängen, als würde Miguel den Raum ‚beatmen‘ meint dazu Cathy van Eck.
Anschließend geht er zu einem Metallständer, auf den er sein Instrument legt. Diese einfache, aber sorgfältig choreografierte Handlung wird mit weiteren im Raum versteckten Becken mehrmals wiederholt. Es ermöglicht dem Publikum den schrittweisen und ritualisierten Aufbau einer Perkussionsinstallation auf der Bühne zu beobachten.
In Cathy van Ecks Werken steht der Musikerkörper oft im Zentrum. Die Holländerin Van Eck doktorierte an der Universität Leiden. Sie publiziert und forscht unter anderen über mögliche Verbindungen zwischen Gesten, Sensoren und Klängen und unterrichtet am Sound Arts Department der Hochschule der Künste in Bern. „Auch in In the Woods of Golden Resonances gibt es eine ziemlich starke Beziehung zwischen den Bewegungen des Performers und seinem Material. Seine Bewegungen sind nicht als eine Geste des ‚Nach aussen Zeigens‘ gemeint, mit der Bedeutung ‚ich kontrolliere den Klang‘, sondern eher als ein vorsichtiges Suchen und Wahrnehmen. Deswegen hat Miguel in dem Stück auch eine andere Haltung auf der Bühne als in den andern Stücken des Abends”, so van Eck.
Cathy van Eck, In the Woods of Golden Resonances, Miguel Angel Garcia Martin, UA gare du Nord Basel, 9.4.2024.
Die Stärke von In the Woods of Golden Resonances liegt in der repetitiven, schlichten formalen Anlage. Das Stück dient dazu, von einem Zustand A zu einem Zustand B zu gelangen und endet, sobald die Installation fertiggestellt ist. Die Partitur von Cathy van Eck sieht nicht vor, dass auf den Becken gespielt wird, wenn sie einmal aufgebaut sind. Stattdessen dienen sie als Aufbau für ein weiteres Stück des Programms, Cymbals von Barblina Meierhans. Van Ecks Stück übersetzt damit nicht nur das Thema des Konzerts genau, sondern knüpft in sich auch eine konkrete Verbindung zum nächsten Element des Abends.
Der Moment der Installation, der Bühnenumbau, bildet das eigentliche Stück. Und während man normalerweise versucht, Dauer und Bedeutung des Umbaus zu reduzieren, um den musikalischen Fluss zu gewährleisten, macht In the Woods of Golden Resonances genau das Gegenteil: es nutzt diesen Zwischenraum zwischen zwei Zuständen für einen Moment der Introspektion in die Intimsphäre des Musikers. Van Ecks ästhetische Entscheidungen, wie die verträumte Atmosphäre, die durch das Halbdunkel erzeugt wird, oder der sinnliche Eindruck, den die Verstärkung der Atemgeräusche des Musikers hinterlässt, unterstreichen diese Introspektion.
Die Wirkung des Werks liegt darin, die technische Realität des Schlagzeugers mit seinem Instrumentarium auf poetische Weise heraufzubeschwören und sie gleichzeitig mit seiner Umweltrealität zu verbinden. Dabei wird auch die räumliche Dimension des Konzertraums betont. Dazu Cathy van Eck: “Die Klängen entstehen aus einem Zusammenspiel zwischen der genauen Position im Raum von Miguel, von den Becken und von den Lautsprechern, und dann natürlich auch mit der Raumakustik.”
Van Eck geht jedoch noch einen Schritt weiter: sie lädt das Publikum ein, sich als Teil des Prozesses zu fühlen: Klangeffekte wie die elektronische Bearbeitung mit hoher Lautstärke schaffen einen immersiven Eindruck, und das eigentliche ‚Ballett‘ des Schlagzeugers vermittelt dem Publikum die Illusion, es sei Teil des Prozesses. Und schließlich ‚neutralisiert‘ sie die Figur des Schlagzeugers durch den Lichteffekt auf eine einfache Silhouette, mit der sich jede:r im Publikum identifizieren kann. Van Eck erklärt dazu: “In diesem Fall war das Licht eine Entscheidung des Schlagzeugers Miguel, der mit mir und der Regie zusammengearbeitet hat. Ich kann mir dieses Stück auch gut in einer helleren Umgebung vorstellen. Für mich hängt es sehr vom Raum ab, wie das Licht gestaltet wird.”
In the Woods of Golden Resonances ist Teil einer Reihe von aufeinanderfolgenden und differenzierten Werken Es unterwandert innerhalb der Reihe die üblichen Erwartungen an ein Konzertstück, während es gleichzeitig seinen primären Code respektiert. Die Klangbehandlung ist so interessant, dass es sich auch gut einfach nur ‚hören‘ lässt.
In Frage gestellt wird aber die Rolle des einzelnen Werks resp. seiner Schöpferin oder seines Schöpfers zugunsten einer Einheit, die eine Verbindung zwischen den Elementen schafft. Mir stellt sich die Frage, ob die Notwendigkeit der Kreation nicht darin liegt, dass sie von einem Zustand in einen anderen überführt?
Alexandre Babel
Alexandre Babel stammt aus Genf und lebt in Berlin. Komponist, Perkussionist, Kurator und Publizist, schliesst er sich mit diesem Text dem Team der neoblogger:innen an.
Neo-profiles :
Cathy van Eck, Gare du Nord, Alexandre Babel, Barblina Meierhans
Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 29.01.2014: Grünes Rauschen – Klangkunst mit Cathy van Eck, Redaktion Cécile Olshausen.
Onlinetext, 28.01.2014: Bei Cathy van Eck klingt Gewöhnliches ungewöhnlich, Autorin Cécile Olshausen.
Musik unserer Zeit, 16.6.2021: Alexandre Babel: Perkussionist, Komponist, Kurator, Redaktion Gabrielle Weber.
neoblog, 10.09.2021: un projet est avant tout une rencontre.., Autorin Gabrielle Weber.
Uraufführung in 100 Jahren?
„Zukunftsmusik – dem Zeitgeist entkommen“ heißt ein Projekt zum 100. Geburtstag SUISA. 40 Schweizer Musikerinnen und Musiker sollten ihre Ideen zu einer Musik notieren, die erst in hundert Jahren uraufgeführt werden soll: Ein Gruß aus der Gegenwart für das Jahr 2123 zum hoffentlich 200. Geburtstag der SUISA. Am 16. April 2024 wurde das Projekt im Yehudi Menuhin Forum in Bern vorgestellt. Bettina Mittelstraß hat sich unter beteiligten Musikerinnen und Musikern umgehört.
Bettina Mittelstrass
Helena Winkelman, das HYPER DUO, Joke Lanz, Martina Berther, Patrick Frank, Annette Schmucki, Fritz Hauser, Leo Hofmann oder Nik Bärtsch – das sind nur sieben von insgesamt 40 Schweizer Musikerinnen und Musikern, deren „Zukunftsmusik“ im April 2024 in einer Archivbox landete, ohne zuvor zu Gehör zu kommen. Hermetisch verschlossen wird dieses Archiv für 100 Jahre von der eidgenössischen Nationalphonothek in Lugano beaufsichtigt und im Eingangsbereich der «Città della Musica» ausgestellt. Erst 2123 wird das Archiv hoffentlich wieder geöffnet, die Musik aus dem Dornröschenschlaf geweckt und für ein Publikum gespielt, das heute noch nicht einmal geboren ist.
Wie klingt die Schweiz in 100 Jahren?
Wie klingt die Schweiz in 100 Jahren? Eine erste Antwort könnte in der Archivbox schlummern. Leicht fielen die Antworten den 40 Befragten nicht. Skepsis herrschte vor. Welche Instrumente stehen in 100 Jahren überhaupt zur Verfügung? Gibt es noch westliche Notenschrift? Holzinstrumente? Oder hat der Klimawandel die Bäume dahingerafft? Man könne nicht wissen, ob man vor dem Hintergrund schwindender Ressourcen auf diesem Planeten „schlussendlich die Geige verbrennen muss, um nicht zu erfrieren, oder ob man dann die Darmseiten aufkochen muss, um nicht zu verhungern“, sagt der Schlagzeuger Fritz Hauser. Daher hat er seine Komposition in Morsezeichen hinterlegt – in der Hoffnung, dass diese archaischen Zeichen die Menschen der Zukunft zum rhythmischen Musizieren inspirieren, mit welcher Instrumentierung dann auch immer.
Fritz Hauser notiert seine Zukunftsmusik in reinem Morsecode. Hier sein Schraffur für Gong und Orchester, Basel Sinfonietta 2010, Eigenproduktion SRG/SSR.
Musik als Botschafterin des Zusammenspiels?
Bei aller Skepsis gegenüber dem, was in 100 Jahren Musik noch ausmacht oder überhaupt möglich macht – zwei gesellschaftliche Funktionen werden ihr wohl bleiben, meint die schweizerisch-niederländische Komponistin und Violinistin Helena Winkelmann: Musik als Botschafterin des Zusammenspiels und als Vermittlerin einer integrierenden guten Energie. Noch eine andere Sache bleibe menschlichen Gesellschaften wahrscheinlich erhalten, nämlich „dass die Menschen auch zukünftig Probleme mit Ihrem Zusammenleben haben werden.“
Helena Winkelmann hat daher die Anleitung zu einem „Musikrat“ der Zukunft in die Archivbox gelegt. Es ist die musikalische Variante eines tausende Jahre alten Konzepts, dem „Council of Chiefs“ indigener amerikanischer Gesellschaften. In einem Kreis übernehmen Musizierende unterschiedliche Funktionen – musikalisch wie gesellschaftlich. Es gibt zum Beispiel eine hinterfragende, eine erfinderische, eine bewahrende, eine warnende, eine erzählerische und eine entwickelnde Stimme. „Das ist dann auch die Magie von diesem ganzen Kreis, dass das, was uns wirklich weiterbringt, der Austausch von Perspektiven ist.“
Helena Winkelmann trägt zur Archivbox die Anleitung zu einem Musikrat der Zukunft bei. Auch in Geisterlieder, einem Zyklus über Gedichte in 18 europäischen Originalsprachen mit Begleitung verschiedener Instrumentalgruppen, befasst sich Helena Winkelmann mit der Überwindung von zeitlichen und regionalen Grenzen, UA 5.8.2023, Kirche Ernen, Eigenproduktion SRG/SSR.
Ein Raumschiff voller Perspektiven und Gegenwartskritik
„In diesem kleinen Raumschiff befindet sich im Grunde ein Querschnitt durch das momentane Schweizer Musikschaffen“, so beschreibt es der Musikethnologe und Kurator Johannes Rühl, Erfinder der Projekts. Neue Musik, elektronische Musik, Jazz, Pop und Volksmusik sind unter den 40 Kompositionsvorschlägen vertreten, aber auch Klanginstallationen und so verrückte Ideen wie eine Musik mit Pilzen, deren Aminosäuren man heute schon in Klänge umwandeln kann. Ein anderer Vorschlag nimmt das Geräusch von schmelzenden Gletschern auf und transportiert es in Form von DNA in eine Zukunft, in der es in den Schweizer Alpen vermutlich kein ewiges Eis mehr geben wird.
Die meisten der eingereichten Vorschläge für die Archivbox wurden von einem skeptischen und gesellschaftskritischen Zeitgeist geprägt, bestätigt Johannes Rühl. Der Versuch, dem Zeitgeist zu entkommen, müsse verständlicherweise scheitern. „Wir kommen aus dem Jetzt offensichtlich nicht raus. Man hat zudem das Gefühl, dass heutzutage eine Dynamik in der Entwicklung ist, die es in der Vergangenheit so nicht gegeben hat.“ Ob das so stimmt? Wir werden 2123 nicht mehr da sein, um das zu überprüfen. Mögen die nach uns „unsere“ Zukunftsmusik spielen oder nicht.
Bettina Mittelstrass
Zukunftsmusik – dem Zeitgeist entkommen: 100 Jahre SUISA.
Die Idee stammt von Johannes Rühl, dem Ethnologen und Kurator von Musikprogrammen.
Città della Musica
Sendung SRF Kultur:
Zukunftsmusik, Passage, 12.4.2014: Redaktorin Bettina Mittelstrass
Neoprofile:
Helena Winkelman, HYPER DUO, Joke Lanz, Martina Berther, Patrick Frank, Annette Schmucki, Fritz Hauser, Leo Hofmann, Nik Bärtsch, u.a.
Komponieren für Streichquartett mit dem Arditti Quartett
Es gilt als Synonym für zeitgenössische Musik für Streichquartett: das Londoner Arditti Quartett. Seit 1974 widmet sich das Quartett rund um den Violinisten Irvine Arditti ganz dem neuen und neusten Repertoire, sowohl in Konzerten und Einspielungen als auch im Arbeiten mit jungen Komponistinnen und Komponisten. Ende Februar begleitete ich die vier Musiker an einem öffentlichen Workshop an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Da machte das Quartett Halt auf seiner Konzerttournee zum 50-Jahr-Jubiläum.
Gabrielle Weber
«Gut ist ein Stück, wenn es Zeit und Raum gut füllt», erklärt mir Irvine Arditti im Gespräch am Vorabend des Workshops, nach einer Lecture Performance. Der quirlige Stargeiger mit dem charakteristischen grauen Lockenschopf äussert sich stets etwas doppeldeutig und humorvoll. Die Musik müsse «funktionieren», unabhängig vom Stil oder der Art. Auf Qualitätskriterien lässt er sich nicht ein: «Wir spielten viele gute und auch viele schlechte Stücke. Neue Stücke müssen zuerst einmal die Chance erhalten, gespielt zu werden. Erst dann zeigt sich ob sie gut oder schlecht sind».
«Gut ist ein Stück, wenn es Zeit und Raum gut füllt»
Und solche Chancen bietet das Arditti Quartett. Irvine Arditti, erster Geiger und Gründer des Quartetts, Lucas Fels, Cello, Ashot Sarkissjan, zweite Geige, und Ralf Ehlers, Bratsche, sind neugierig auf das junge Musikschaffen und fördern es gezielt. Sie unterrichten begeistert, sei es an internationalen Festivals wie den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik oder an Musikhochschulen wie der ZHdK.
An der Lecture Performance erläuterten sie zunächst generelle Herausforderungen der Notation und Einstudierung neuer Stücke für Streichquartett: dies anhand von Stücken von Komponisten, die für ihre komplexe Kompositionsweise berüchtigt sind, Iannis Xenakis und Helmut Lachenmann, und die sie gemeinsam uraufgeführt hatten.
An Tetras (1983) von Iannis Xenakis exemplifizierte das Arditti Quartett in der Lecture Performance Herausforderungen des Komponierens für Streichquartett, Eigenproduktion SRG/SSR 2023.
Mit neun Kompositionsstudierenden probten sie am Folgetag deren neue Stücke fürs Schlusskonzert. Fast alles sind Uraufführungen. Geprobt wird im grossen Konzertsaal mit Publikum.
Schmerzquartett heisst die Komposition von Franziska Eva Wilhelm. Wilhelm stammt aus München und studiert seit Herbst 2021 in Zürich Komposition bei Isabel Mundry. Mit Jahrgang 2003 ist sie eine der jüngsten Teilnehmerinnen am Workshop.
«Schmerz hat für mich viel mit Reibung zu tun und auch der Ton der Streichinstrumente entsteht durch eine Art Reibung», meint Wilhelm. «Schmerz ist ein schwieriges Thema und ich wollte es nicht romantisieren. Es geht mir um die Wahrnehmung von Schmerz und wie er sich in Musik verkörpern lässt: um die Textur, nicht um eine Geschichte».
Humor muss sein..
Es wird konzentriert gearbeitet und auch viel gelacht: An einer Stelle verlieren die Musiker die Orientierung in der Partitur und Lucas Fels lockert mit einer Episode auf: «New York, Carnegie Hall!», das sei die laute Antwort Sergej Rachmaninoffs mitten in einem von ihm dirigierten Konzert gewesen, auf die Frage eines Musikers, wo sie im Stück seien. Der Humor baut Spannung ab und integriert die Komponierenden.
In Schmerzquartett von Franziska Wilhelm geht es um die Textur des Schmerzes, UA Konzert Arditti Quartett ZHdK, 1.3.2024.
“That’s all? How’s that?” fragt Irvine Arditti zum Ende der Probe von Schmerzquartett, wieder lachend. Wilhelm ist zwar zufrieden, möchte aber noch Weiteres ausprobieren. Das wird fraglos ausgeführt.
Ihr Fazit nach den Proben: «Ich habe viel über spezifische Notationen gelernt. Sie überlassen nichts dem Zufall und wenn es etwas zu entscheiden gibt, entscheidet die Person, die komponiert hat. Ich muss als Komponistin genau wissen, was ich will. Und das muss ich auch kommunizieren können.».
Die notierte Idee so exakt wie möglich in Klang umsetzen
Bei Uraufführungen geht es dem Quartett stets darum, die notierte Idee so exakt wie möglich in Klang umzusetzen. Das gelte genauso für grosse Namen wie auch für junge, noch unbekannte Musikschaffende, sagt Irvine Arditti. Mehrere hundert Streichquartette sind dem Quartett über die 50 Jahre gewidmet worden. Die meisten erarbeiteten sie zusammen mit den Komponistinnen und Komponisten.
«I really want to play the piece the way you want it to be played», lässt er in den Proben immer wieder verlauten, zum Beispiel bei Andrzej Ojczenasz.
Ojczenasz klärt letzte Notations-Fehler gleich vorab. Das wird geschätzt. Zum Beispiel soll das Cello, gleich im ersten Takt, eine Oktave tiefer spielen. «Das beginnt ja mal schon gut», kommentieren die Musiker lachend.
Sein Quartett Maris Stella ist inspiriert von Gregorianischem Choral. «Die Struktur basiert auf dem Kontrapunkt des Chorals. Ich verbinde dadurch Tradition und Gegenwart», erläutert er.
Andrzej Ojczenasz stammt aus Polen. Er studierte zunächst an der Krysztof Penderecki Musikhochschule in Krakau, bildete sich dann an der University of Louisville in den USA weiter und absolviert nun den Master in Komposition bei Isabel Mundry.
Gröbere Notationsfehler kommen vor..
Ashot Sarkissjan deckt etwas später einen gröberen Notationsfehler auf: Was man hören wolle, müsse man auch genauso schreiben, sagt er. Gleichzeitig spürt man, dass das Stück die Musiker überzeugt. Das Probenklima ist vertrauensvoll und Ojczenasz nimmt die Korrektur gerne an.
Maris Stella von Andrzej Ojczenasz basiert auf Gregorianischem Choral, Aufnahme UA Konzert Arditti Quartett ZHdK, 1.3.2024.
Gegen Schluss der Probe fragt Irvine Arditti auch ihn, ob es ihm gefallen habe: «Ja, aber..» — auch er möchte noch ein paar Stellen korrigieren.
Ojczenaszs fasst seine Learnings folgendermassen: «Präzise notieren, dann wird es auch so gespielt! Und: unbedingt sich selbst und seiner Message gegenüber ehrlich bleiben und niemand anderen darstellen wollen.»
Gabrielle Weber
Am Schlusskonzert vom 1.3.2024 im grossen Konzertsaal der ZHdK waren zu hören:
Wojciech Chalpuka: Wohin jetzt? (UA)
Luis Escobar Cifuentes: Ewige Leben (UA)
Wenjie Hu: The Rift (UA)
Amir Liberson: Emptiness (UA)
Franziska Eva Wilhelm: Schmerzquartett (UA)
Nuño Fernández Ezquerra: Lienzo de Luz (2021)
Fabienne Jeannine Müller: Incertain (UA)
Pengyi Li: … Echo … (UA)
Andrzej Ojczenasz: Maris Stella (UA)
Isabel Mundry: Linien, Zeichnungen (2004)
Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 3.4.&14.8.2024: Streichquartett heute, Das Arditti Quartett und der Nachwuchs, Redaktion Gabrielle Weber
Neue Musik im Konzert, 3.4.&14.8.2024: Das Arditti Quartett im Konzert mit jungen Komponierenden, Redaktion Gabrielle Weber
neo-profiles:
Arditti Quartet, Isabel Mundry, Franziska Eva Wilhelm, Andrzej Ojczenasz, Wojciech Chalpuka, Luis Escobar Cifuentes, Wenjie Hu, Amir Liberson, Nuño Fernández Ezquerra, Fabienne Jeannine Müller, Pengyi Li