Die Alchemie zwischen dem Analogen, dem Digitalen und dem Körper

Charlotte Hug im Gespräch zu vier neuen CDs 

Charlotte Hug: Portrait ©Alberto Venzago

Gabrielle Weber
Charlotte Hug,
Composer-Performerin, Bratschistin, Stimm und Medien-Künstlerin, bewegt sich zwischen Komposition und Improvisation, zwischen Musik und Visueller Kunst. Vier neue CDs spiegeln ihre facettenreiche Künstlerpersönlichkeit. Im Gespräch beschreibt Hug diese als “Ernte” ihres Schaffens der letzten Jahre.

Charlotte, in deinen Performances weitest Du die Möglichkeiten deiner Haupt-Instrumente Viola und Stimme bis an deren Grenzen aus. Dazu kommt die starke Verbindung mit visuellen Aspekten. Wie sind die drei Elemente miteinander verknüpft? 
Die Soloarbeit ist für mich ein wichtiger Ausgangspunkt, ich bin aber immer im Dialog. Die Stimme und die Viola kommunizieren miteinander. Sie sind sich auch oft nicht einig. Musik ist für mich immer ein mit Menschen in Kommunikation sein. 

“Die Viola und ich: wir suchen jeden Tag erneut das Zwiegespräch.”

Den Bezug zum Visuellen schaffe ich durch die sogenannten SonIcons, eine Verbindung, von Klang und Bild (oder Sons und Icons). Gehörte – reale oder imaginierte- Musik oder zufällige Umgebungsklänge zeichne ich mit beiden Händen auf. Wie ein Tanz mit mehreren Stiften auf halbtransparentem Papier. Daraus entstehen kleine Bildtafeln, meterlange Papierbahnen, Rauminstallationen, animierte Videopartituren. Mit Son-Icons habe ich eine Kompositionsmethode entwickelt. 

“Das Auge entscheidet oft anders als das Ohr.”

Die SonIcons sind Stimuli und Inspiration für Musik. Sie machen eine Entstehungsenergie sichtbar. 


Portrait Charlotte Hug, Son-Icons ©Art-TV 2016, Michelle Ettlin 

Die Improvisation bildet eine wichtige Basis deiner Arbeit. Was bedeutet für dich das Improvisieren?
Die Improvisation ist ein künstlerisches Lebenselixier, insbesondere die Magie der Begegnung im Musizieren mit Persönlichkeiten wie bspw. Lucas Niggli (CD Fulguratio). Improvisation bedeutet ein Kreieren im Moment. Beim Zusammenspiel mit dem Londoner Stellari String Quartet, das ich im Jahr 2000 gründete (vgl. CD Vulcan), entsteht bei jedem Auftritt eine Neukreation. Die Londoner Improvisationsszene hat mich seit fast zwanzig Jahren stark geprägt. Zunächst als festes Mitglied, jetzt als Gast und als Gastdirigentin, spielte ich regelmässig mit dem London Improvisers Orchestra (CD 20Jahr-Jubiläum) 

Anhand der von Dir entwickelten Interaction-Notation erarbeitest Du intermediale Kompositionen mit Orchester und Chor. Wie sehen solche Zusammenarbeiten konkret aus?
Für jede/n Musiker/In zeichne ich ein individuelles Son-Icon. Es kann gedreht und gewendet, gespiegelt, als Krebs oder Umkehrung gelesen werden, in Analogie zu Kompositionsweisen von J. S. Bach oder der zweiten Wiener Schule. Dann halte ich individuelle Coachings ab. Jeder Musiker entwickelt aus seinem SonIcon eigenes musikalisches Material.  

“Interaction Notation ermöglicht die musikalische Begegnung auf Augenhöhe, das Einbringen verschiedener künstlerischen Ressourcen, das präzise Zusammenspiel ohne kulturelle Barrieren.”

Die Interaction Notation bildet eine Strukturierungsmethode. Ein Interface verbindet konventionelle westliche Notation, Son-Icons, graphische Notationen, Symbole für Bewegungen, oder lässt Liveeinspielungen abspielen. Musiker mit unterschiedlichem kulturellem oder interdisziplinärem Hintergrund interagieren dadurch spielend. 

Charlotte Hug, Son-Icon ©Alberto Venzago

Wie arbeitest Du als Dirigentin in den intermedialen Settings mit grösseren Formationen?
Ich sehe mich als riesiges Ohr. Ich schaffe einen Raum, in dem Vertrauen und Akzeptanz herrschen, so dass etwas Mutiges stattfinden kann. Falls sich Routine einschleicht, stimuliere ich Wachheit durch Unerwartetes.
 

Auf der neuen SonIcons-CD sind intermediale Kompositionen zu hören. Wie lässt sich die Verbindung zwischen Visuellem und Klang auf eine CD übertragen, ein Medium des reinen Klangs? 
Eine szenische intermediale Performance ist ein Fest, ein immersives sinnliches Erlebnis zum Eintauchen. ein Aggregatszustand. Son-Icons funktionieren hingegen auch in Ausstellungen als Visual Music ohne Musik. Sie wecken innere Musik.  

Charlotte Hug, Moscow Contemporary Music Ensemble, Lucas Niggli ©MAMM 2018 

Umgekehrt ist auf Tonaufnahmen die Musik auch ohne visuellen Impuls gültig. Die Musik weckt innere Bilder. Der Vorteil des Mediums CD ist, das man sie mitnehmen, alleine hören, wieder hören, mehrmals eintauchen kann.

“Musik und SonIcons funktionieren autonom – es sind verschiedene Aggregatszustände.”

Was sind kommende Projekte, hast du ein Wunschprojekt?
Einerseits forsche ich in der Soloarbeit am Zusammenhang mit Live-Elektronik, insbesondere an der Alchemie zwischen dem Analogen, dem Digitalen und dem Körper. Andererseits schwebt mir das Zusammenkommen von SonIcons mit szenischen-intermedialen Elementen und bewegter musikalischer Dramaturgie vor vielleicht eine Art von commedia dell ascolto intermediale interculturale
Interview Gabrielle Weber

CDs:
Fulguratio Duo Niggli-Hug, Label: Sluchaj
Son-Icon Musik von Hug für Chor und Orchester (Lucerne Festival Academy Orchestra, via nova Chor München), Label: Sluchaj
-CD Vulcan, Stellari String Quartet, Wachsmann, Hug, Mattos, Edwards Label: Emanem
-Doppel-CD Twenty years on London Improvisers Orchestra 

London Improvisers Orchestra, Via Nova Chor München

Sendungen SRF:
Swisscorner, Musikmagazin, Annelis Berger zu CD Fulguratio, 27.4.19
Die grosse Nachtmusik, Passage, 9.12.11 

neo-profilesCharlotte Hug, Lucas Niggli, Lucerne Festival Academy, Lucerne Festival

Out of the box

Oscar Bianchi, künstlerischer Leiter der International Young Composers Academy am Festival Ticino Musica im Gespräch

Out of the box: Oscar Bianchi@Musica viva, München, 2.7.17 © Astrid Ackermann

Gabrielle Weber
Klassische Kompositionen und transdisziplinäre Formate in Verbindung mit Tanz bilden die Eckpfeiler der dritten International Young Composers Academy des Festival Ticino Musica. Für internationale Ausstrahlung sorgen Dmitri Kourliandski und das Ensemble Modern Frankfurt.
Im Interview berichtet Oscar Bianchi über die Ausrichtung der kommenden Edition.

Oscar, vor drei Jahren übernahmst Du vom Gründer Mathias Steinauer die künstlerische Leitung der international Young Composers Academywas sind die Neuerungen die Du einbrachtest?
Seit 2018 laden wir ein arriviertes Spitzenensemble der zeitgenössischen Musik ein. Zudem steht jedes Jahr ein anderes Format im Zentrum. Dieses Jahr ist das Ensemble Modern Frankfurt zu Gast.

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern?
Ich kenne die Energie und das Comittment des Ensembles durch frühere Zusammenarbeiten, wie bspw. dem Projekt Connect in Frankfurt 2016, das die Beziehung zwischen Komponist, Ensemble und Publikum thematisierte.

“Ich benutze meine eigene Erfahrung als Filter um die richtigen Partner zu engagieren.”

Die Mitglieder des Ensembles haben eine klare musikalische Vision verbunden mit stilistischer Offenheit. Und vor allem: sie sind neugierig darauf, wonach junge Komponierende suchen.

Oscar Bianchi Orango, Projekt Connect ©Ensemble Modern Frankfurt 2016

Was ist das diesjährige Format?
Wir schrieben zwei Kategorien aus: klassische Instrumentalstücke und multidisziplinär Projekte. Es gibt zwei entsprechende Konzerte. Eingegangen sind über 100 Bewerbungen. Zusammen mit Olga Neuwirth, der Juryvorsitzenden, wurden 14 Komponierende aus der ganzen Welt, aus Taiwan, Iran, Süd- und Nordamerika, Europa oder Südafrika ausgewählt. Durch eine Kollaboration mit dem Festival TicinoInDanza erhalten sie die Gelegenheit mit Tänzern und Choreografen zusammen zu arbeiten. Solche Erfahrungen eröffnen neue Perspektiven.

“Es ist wichtig, dass Komponierende “out of the box” denken.”

14 Komponistinnen und Komponisten sind eine grosse Anzahl. Wie muss man sich das gemeinsame Arbeiten vorstellen?
lacht: Dazu kommen noch zehn passive Beobachter. Uns geht es explizit um das Arbeiten als Gruppe. Das kommt der Musik und dem Austausch zu Gute. Elitäres Wettbewerbsdenken mit einem winner ist nicht gefragt.

“Es geht um ein Collective project. Gruppe anstelle Elite”

Es gibt diverse Conferences und Lectures, u.a. mit Dmitri Kourliandski und Gästen wie Katharina Rosenberger oder Michael Wertmüller. Davon profitieren alle. Dennoch: ein besonders gutes Werk bleibt in Erinnerung.

Ensemble Modern &Oscar Bianchi ©Walter Vorjohann

Was für Säle wurden für die zwei Konzertformate gewählt?
Das Klassische Konzert findet im Foyer des LAC (Lugano Arte e Cultura) statt, ein Ort der verschiedene Kunstsparten beherbergt und Begegnungen von Einheimischen und Touristen ermöglicht, das multidisziplinäre Konzert in Mendrisio im Chiostro dei Serviti, in einem Innenhof im Freien.

Bedeutet die Wahl eines Offspaces in Mendrisio nicht auch ein Risiko in Bezug auf das Publikum? Die zeitgenössische Musik-Community im Tessin ist ja eher klein..
Das Konzert ist in das Festival Musica nel Mendrisiotto eingebunden, eine Reihe mit interessiertem Stammpublikum. Die Musik hat eine visuelle Komponente, profitiert vom Zusammenwirken mit anderen Kunstsparten und spricht ein breites Publikum an.

“Neue Musik sollte ein Level playing field werden – das wäre mein Traum.”

Konzert Int. Composers Academy 2018, Mendrisio Museo Vela ©Ticino Musica

Hast Du eine weitere Vision für die Composers Academy – wo siehst Du ein Entwicklungspotenzial?
Dank der Unterstützung der Art Mentor Foundation Lucerne konnten wir ein Spitzenensemble einladen und Scholarships vergeben. Meine Vision wäre, die Akademie inklusive Reise und Unterkunft kostenfrei anzubieten, damit die Teilnahme gleichberechtigt allen offen stünde. Die Neue Musik ist Teil eines Systems das Ausschluss schafft. Ich möchte solche Diskriminierung unterbrechen.
Interview Gabrielle Weber

Festival Ticino musica, erwähnte Konzerte:
27 Luglio 2019, 18:00, Ticino Musica, Mendriso, Chiostro dei Serviti
28 Luglio 2019,  21:00, Ticino Musica, Lugano, LAC

Kooperation mit:
Musica nel Mendrisiotto, TicinoInDanza

neo-profilesOscar BianchiEnsemble Modern, Ticino Musica, Mathias Steinauer, Katharina Rosenberger