Daniel Zea komponiert für Kartonschachteln und Avatare

Der kolumbianisch-schweizerische Komponist Daniel Zea versteht Klang als plastische Materie. Er verbindet in seinem Werk Klänge, Bewegung, Elektronik und Video mit digitalen Setups. Ein Portrait von Jaronas Scheurer.

Jaronas Scheurer
«Ich komponiere Musik eher als Designer denn als Komponist», meint Daniel Zea im Laufe unseres Interviews. «Mich beschäftigen Dinge wie Symmetrie bzw. Asymmetrie, Ergonomie und Balance und ich verstehe Klang als plastische Materie.» Und Industriedesign hat er auch studiert in Kolumbien, bevor er in Bogotá bei Harold Vasquez-Castañeda ein Kompositionsstudium aufnahm, bevor er nach Genf kam, um bei Eric Gaudibert an der haute école de musique (HEM) fertig zu studieren. Bevor er in Den Hague zwei Jahre am Institut für Sonologie studierte, bevor er das Ensemble Vortex mitgründete und bevor er in Genf an der HEM interaktives Design zu unterrichten begann: Daniel Zeas CV ist lange und vielseitig – Industriedesigner, Komponist, Audiodesigner, Medienkünstler, Programmierer.

 

Daniel Zea als Avatar in seinem Stück “Autorretrato”. © Daniel Zea

 

Daniel Zea schreibt meistens Musik für ein komplexes Netzwerk: Interpret:innen, selbst entwickelte und herkömmliche Instrumente, Elektronik, Videoprojektionen und Computerprogramme werden miteinander verbunden. «Wenn ich mit interaktiven Systemen arbeite, ist es eigentlich jeweils ein Design Projekt: Ich entwickle ein Setup, das Hardware, Software und menschliche Interaktion so verbindet, dass Klang, dass Musik entsteht.» Seine Werke verbinden Bewegung und Klang und resultieren in selbst entwickelten Instrumenten oder in sich in Echtzeit generierenden Partituren – wie z.B. im Stück Box Tsunami von 2021.

 

Daniel Zea hat Box Tsunami 2021 während der Corona-Pandemie für die vier Musiker:innen des Concept Store Quartets komponiert.

 

Box Tsunami

Die Unmenge an verschickten Paketen als Symbol für den Konsumwahn war Ausgangspunkt für Zea: «Ein Mensch vor einer leeren Schachtel – das ist schon sehr poetisch. Was bedeutet das? Wieso sitzt der Mensch da? Wieso ist die Schachtel leer?» Und so beginnt Box Tsunami denn auch: Die vier Musiker:innen sitzen mit ihren Instrumenten und einem Laptop vor grossen Kartonschachteln. Diese sind oben offen und weisses Licht scheint heraus. Es klopft, raschelt und knarzt in den Schachteln. Die Musiker:innen schauen konzentriert auf ihre Laptops und legen zarte, filigrane Klänge über das Rumpeln aus den Schachteln – alle für sich, ohne gross aufeinander zu achten.

Zea hat für Box Tsunami zuerst die klingenden Schachteln entwickelt. Er stattete die Schachteln mit kleinen elektrischen Hämmern und sogenannten Transducern aus, die als eine Art Lautsprecher Signale übertragen. So wird die Kartonschachtel zu einem Instrument, das er elektronisch ansteuert. Die Signale sind jedoch eher leise, weshalb auch die vier Musiker:innen nur leise und zart spielen können. Um die Musiker:innen und die Schachteln kompositorisch zu verknüpfen, werden die elektrischen Hämmer von der Perkussionist:in mittels einem Midi-Drumpad angesteuert. Ein interaktiver Loop verknüpft Musiker:innen und Kartonschachteln und die Partitur wird daraus in Echtzeit generiert. Ähnlich wie während den Corona-Lockdowns sitzen alle gebannt vor ihren Bildschirmen. Sie sind von den Handlungen der anderen und vor allem von den technologischen Kommunikationsmitteln abhängig, aber begegnen sich gar nie dabei. Und darum herum türmen sich die Kartonschachteln aus den Online-Käufen – Box Tsunami.

 

In In Daniel Zeas Selbstporträt und der Soloshow Autorretrato von 2023 sieht man ihn vor einer Kamera sitzen und auf der Leinwand einen überlebensgrossen Avatar von ihm.

 

Autorretrato

Das Setting für Zeas Komposition Autorretrato (Selbstporträt) ist simpler: Zea selbst sitzt vor einer Kamera und auf der Leinwand hinter ihm sieht man einen Avatar, der dieselben Gesichtsbewegungen ausführt. Ein digitaler Doppelgänger. Mit seinen Gesichtsbewegungen kann Zea Klänge ansteuern und manipulieren. Mit der Zeit wird die Leinwand von unterschiedlichen Objekten wie einer Cola-Dose, High Heels, einer Handgranate oder einem Kruzifix bevölkert. Gemacht ist das mittels einer App für Facetracking, die Zea mit dem Audioprogramm verknüpft. Für Autorretrato ist Zea Komponist, Audiodesigner, Softwareentwickler und Interpret in eins. «Das Schwierigste daran war sicherlich das Performen», meinte Zea. «Ich bin es nicht gewohnt, alleine in der Mitte der Bühne zu stehen, und vor der Premiere war ich dementsprechend nervös. Es ist auch ein sehr persönliches Stück. Das ist einerseits riskant, aber es erlaubt mir auch Dinge zu sagen und zu tun, die ich sonst nicht machen würde.»

Autorretrato ist neu und Zea bezeichnet es als «Work in progress»: «Ich würde das Stück gerne noch ausarbeiten und einige Teile ausbauen. Wir arbeiten jeden Tag irgendwie an unserem Selbstporträt weiter», so Daniel Zea. Und so baut Zea weiter: Verbindet Klang und Bewegung, untersucht kompositorisch die subtilsten Regungen des Gesichts, entwickelt Instrumente und bettet dies alles in seinen gesellschaftspolitischen Überlegungen ein.
Jaronas Scheurer

 

Portrait Daniel Zea © Vincent Capes

 

Vom 30. April bis am 5. Mai 2024 widmet sich das Festival les Amplitudes in La Chaux-de-Fonds dem Werk von Daniel Zea. Unter anderem spielt das von Zea mitgegründete Ensemble Vortex Werke von ihm, es wird sein neues Werk für Orchester uraufgeführt und während der ganzen Zeit findet eine Klanginstallation von Daniel Zea und Alexandre Joly statt.

Nejc Grm, Alicja Pilarczyk, Pablo González Balaguer

Sendungen SRF Kultur:
neoblog, 14.10.2020: la ville – une composition géante, auteur Anya Leveillé
neoblog, 23.01.2022 : Portrait unserer Zeit, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile: Daniel Zea, Concept Store Quartet, Ensemble Vortex, Eric Gaudibert, Jeanne Larrouturou

 

Communiquer au-delà de la musique 

Eric Gaudibert, Genfer Pianist, Komponist und Dozent war eine Schlüsselfigur der zeitgenössischen-experimentellen Musikszene der Romandie. Verstorben vor zehn Jahren, prägte er als Pädagoge eine ganze Generation Musikschaffender und förderte wichtige Ensembles für zeitgenössische Musik. Vom 09. bis zum 17. Dezember veranstalten diese für ihn gemeinsam ein Festival mit Marathonkonzert in der Genfer Victoria Hall. Dabei kommen auch 22 Miniaturen seiner ehemaligen Studierenden zur Uraufführung.

Gabrielle Weber
Sie heissen Contrechamps, Ensemble Vortex, Eklekto Geneva Percussion Center oder Nouvel Ensemble Contemporain (NEC) und gemeinsam ist ihnen nicht nur, dass sie in der zeitgenössischen Musikszene der Romandie sehr aktiv sind, sondern auch, dass alle einen starken Bezug zu Eric Gaudibert haben.

Daniel Zea, Serge Vuille und Antoine François, die künstlerischen Leiter von Vortex, Contrechamps und NEC, initiierten das Festival als kollaboratives Projekt: «die Idee entstand spontan als wir uns über Eric unterhielten und es ergab sich ganz von selbst, dass wir es gemeinsam angehen wollten», meint Daniel Zea, denn Gaudibert sei für die Entwicklung der ganzen Szene wichtig gewesen. In der Haute école de musique Genève (HEMG) finden nun eine Tagung, ein Filmscreening mit table ronde, sowie ein Konzert von Vortex statt. In der Victoria Hall gibt es zum Schluss ein Marathonkonzert der Ensembles zusammen mit dem Orchester der HEMG.

 

Portrait Eric Gaudibert ©DR zVg. Contrechamps

 

Als «communiquer au-delà de la musique», ein Kommunizieren über die Musik hinaus, bezeichnete Gaudibert, was ihn zum Unterrichten antreibe. Dieses Kommunizieren erprobte er zunächst in Frankreich, wo er nach dem Klavierstudium in Lausanne und dem Kompositionsstudium in Paris ab 1962 im Bereich der «Animation», der Musikvermittlung, in ländlichen Regionen tätig war. Anschliessend, zurück in der Schweiz, unterrichtete er viele Jahre Komposition am Conservatoire Populaire de Genève, bevor er an die HEMG wechselte. Bereits Michael Jarrell oder Xavier Dayer, beides heute namhafte Komponisten und Dozenten mit Wurzeln in Genf, waren seine Schüler. Viele weitere nationale und internationale Laufbahnen begleitete er als künstlerische Leitfigur, Förderer und Netzwerker.

Serge Vuille, Leiter von Contrechamps, selbst kein direkter Schüler von Gaudibert, beindrucke am «Phänomen Gaudibert» dessen nachhaltige Präsenz in der Szene, die sich auch daran gezeigt habe, wie rasch weitere Partner fürs Festival zugesagt hätten. Contrechamps arbeite laufend mit ehemaligen Schüler:innen zusammen, seien es Interpret:innen oder Komponist:innen. «Am Festival wollte ich deshalb diesen Lehrer-Schüleraspekt in zweierlei Richtungen abbilden», sagt Vuille.

Da ist einerseits Nadia Boulanger, Gaudiberts Theorielehrerin in Paris: von ihr bringt Contrechamps ein Orchesterwerk zur Aufführung. Boulanger unterrichtete ihrerseits zahlreiche, heute weltweit gespielte Komponierende. Ihr eigenes Werk wird hingegen selten aufgeführt. Sie sei als Komponistin verkannt, da sie selbst hauptsächlich als Pädagogin wahrgenommen werde, so Vuille.

Andererseits gab Contrechamps im Kreis von Gaudiberts ehemaligen Studierenden Kurzkompositionen in Auftrag. Angesichts der hohen Zahl von 45 Absolvent:innen fragte man «nur» einen regional überschaubaren Kreis von weiterhin in der Romandie tätigen oder mit der Romandie verbundenen an. Von diesen sagten mit zwei Ausnahmen alle zu. «Dieses klare Bekenntnis seiner Schüler:innen war beeindruckend», sagt Serge Vuille.

Mit Vorgabe einer Dauer von nur einer Minute und offener Besetzung, vom grossen Ensemble bis zum Solo und ggf. Tonband, werden nun 22 Miniaturen aufgeführt, darunter Stücke von Arturo Corrales, Fernando Garnero, Dragos Tara oder Daniel Zea.

Daniel Zea hebt noch einen anderen Aspekt der Lehrer-Schüler-Kommunikation hervor: «Wir alle sind sehr dankbar dafür, was er uns mitgegeben und ermöglicht hat. Zugleich war es ein Hin und Her: Eric war offen und neugierig – ihn interessierte was uns interessierte. Wir beeinflussten ihn zum Beispiel mit unserem Interesse an unserer traditionellen Musik». Zea stammt wie einige Absolvent:innen von Gaudiberts Kompositionsklasse aus Südamerika. Sein Ensemble Vortex fand in Gaudiberts Unterricht zusammen und wurde von ihm bis zuletzt begleitet und gefördert.

 


Hekayât, pour rubâb, hautbois, hautbois baryton, alto et percussion, 2013 Eigenproduktion SRG/SSR, interpretiert von Khaled Arman an der Rubâb, einer arabischen Laute, ist eines der späten Werke Gaudiberts, in denen er Instrumente, deren Interpret:innen und Spielweisen aus anderen Kulturräumen zu integrieren sucht.

 

Elektroakustik und Diversität

 

Gaudibert, geboren 1936 in Vevey, studierte in Paris bei Nadia Boulanger und bei Henry Dutilleux, und ist vor allem für seine poetischen klangmalerischen Instrumentalwerke bekannt. Es gibt aber auch andere, weniger bekannte Seiten:Zurück in der Schweiz, forschte er in den frühen siebziger Jahren in seiner selbstbezeichneten «experimentellen» Phase im Experimentalstudio des Radios in Lausanne an elektronischen Klängen.

 

Portrait Eric Gaudibert zVg. Contrechamps

 

Vortex widmet ein Konzert am 10. Dezember ganz seinen elektroakustischen Werken, was der multimedialen Ausrichtung des Ensembles entspricht: «es ist eine wichtige, viel zu selten gezeigte Phase seines Schaffens», sagt Daniel Zea. Zusammen mit John Menoud, Komponist und Multiinstrumentalist, besuchte er Gaudiberts Witwe Jacqueline, wobei sie Videos, Tonkassetten und Partituren durchforstet hätten. Zur Aufführung kommen nun Stücke für Instrumente und Tonband oder Live-Elektronik, die oft nur ein-zwei Mal aufgeführt wurden, interpretiert von Musiker:innen, die eng mit Gaudibert zusammen gearbeitet haben. Benoît Moreau spielt bspw. En filigrane für Epinette (Spinett) und Tonband, das nur einmal, durch Gaudibert selbst an der Uraufführung 20018 gespielt wurde – Moreau war damals dabei.

 

Die Stückauswahl fürs Schlusskonzert zeigt die Vielseitigkeit Gaudiberts. «wir entschieden uns für eine Kombination von Schlüsselwerken wie Gong – sein letztes grosses Ensemblewerk – mit selten gespielte Stücken, um die Diversität seines Schaffens zu zeigen», so Vuille. Gong ist dem Pianisten Antoine Françoise gewidmet, der es auch am Festival interpretiert, zusammen mit Contrechamps. François, heute international gefragter Solo-Pianist und Leiter des NEC, hatte gleichfalls eine enge Beziehung zu Gaudibert. Selbst Pianist, begleitete und unterstützte Gaudibert die Entwicklung von François seit der ersten Begegnung als er 16 Jahre alt war und setzte auf sein Können für die anspruchsvolle Partie in Gong mit erst 24  Jahren.

 


Gong &Lémanic moderne ensemble, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Nebst Instrumentalwerken ist auch in der Victoria Hall Gaudiberts elektroakustische Phase vertreten: Vortex bringt Ecritures von 1975 für eine Stimme und Tonband, entstanden im Experimentalstudio in Lausanne, in einer neuen Version für vier im Raum verteilte Stimmen zur Aufführung. «Das Stück lebt weiter mit neuen technischen Möglichkeiten. Das wäre in Gaudiberts Sinn gewesen», sagt Zea. Dass seine ehemaligen Studierenden weiterhin kollaborativ zusammenarbeiten, das hätte Eric Gaudibert sicherlich gleichfalls begrüsst – als Kommunizieren über die Musik hinaus.
Gabrielle Weber

Nadia Boulanger, Henri Dutilleux

 

 Im Filmportrait: Eric Gaudibert, pianiste, compositeur, enseignant (Plans fixes, 48min, Suisse, 2005) äussert sich Gaudibert zu seinen grossen Themen, bspw. seine Vorliebe für Literatur und Malerei, die Zeit in Paris, das Unterrichten und die Einflüsse anderer Kulturen in sein Musikschaffen: der Film steht im Zentrum einer Roundtable am Genfer Festival Gaudibert am 10. Dezember.

 

Festival Gaudibert:
9./10. Dezember 2022, HEMG: Tagung / Konzerte: An der Tagung an der HEMG diskutieren u.a. die Komponisten und Dozenten Xavier Dayer, Nicolas Bolens oder der Musikethnologe und Interpret Khaled Arman.
17.Dezember 2022, Victoria Hall Genève, 18:30h: Marathonkonzert Contrechamps, Eklekto, le NEC, Vortex, orchestre de la HEMG, Dirigent: Vimbayi Kaziboni, Gaudibert, Boulanger, UA 22 Miniaturen:

Sendung RTS:
musique d’avenir, 6.2.23: Festival Gaudibert 2022, Redaktorin/Autorin Anne Gillot

Neo-Profile
Eric Gaudibert, Daniel Zea, Antoine Françoise, Arturo Corrales, Fernando Garnero, Dragos Tara, Ensemble Vortex, Contrechamps, Nouvel Ensemble Contemporain, Eklekto Geneva Percussion Center, John Menoud, Benoit MoreauEnsemble Batida, Xavier Dayer, Michael Jarrell

Portrait unserer Zeit

Vortex – der Wirbel im Innern des Hurrikans, der übermächtige Strudel, dem man nicht entkommt. Der Name ist Programm: Aufwirbeln und Neumischen – darum geht es dem Genfer Ensemble für Neue Musik Vortex.

In Genf, in der Romandie und im Ausland ist das Ensemble Vortex eine feste Grösse – in der deutschen Schweiz trat es noch kaum auf. Zu seinem Saisonauftakt ist es nun zu Gast in der Gare du Nord in Basel, im Rahmen des Focus Romandie, dem Schwerpunkt zur französischsprachigen Schweiz.

Mit Daniel Zea, Komponist, Co-Gründer und -Leiter unterhielt ich mich zu Selbstverständnis und Ausrichtung des Ensembles und zur kommenden Saison.

 

Portrait Daniel Zea © zVg Daniel Zea

 

Am Anfang stand das gemeinsame Interesse, Schnittstellen auszuloten: zu Improvisation, Jazz, Tanz, Theater, Installation, Radiophonie und visuellen Künsten. “Uns verband die Neugier auf Experiment und die Faszination an Neuem”, sagt Daniel Zea. Und so schloss sich eine Handvoll Absolvent:innen der Genfer Musikhochschule zum Ensemble zusammen, um genau das auszuprobieren. Das war im Jahr 2005. Und immer sollte Elektroakustik dabei sein. “Das war damals noch gar nicht selbstverständlich”, meint Zea.

Sie stammen aus der Schweiz, Europa und Südamerika und die meisten sind bis heute dabei. Nebst Zea – er wuchs in Kolumbien auf, bevor es ihn fürs Studium nach Genf verschlug – sind da bspw. die Komponisten Fernando Garnero, Arturo Corrales und John Menoud oder die Interpret:innen Anne Gillot und Mauricio Carrasco. “Wir waren alle noch im Konservatorium und ganz jung: wir wollten unsere und die Stücke von anderen jungen Komponist:innen hören und spielen. Wir wollten sie möglichst frei erarbeiten, gemeinsam mit den Interpret:innen”, sagt Zea. Die Mitglieder – zirka zehn bilden den festen Kern – nehmen dabei oft beide Rollen ein.

Vortex führt ausschliesslich neue Stücke auf, die es fürs Ensemble in Auftrag gibt, uraufführt und anschliessend ins Repertoire aufnimmt. Insgesamt sind so bereits an die 150 neue Werke zusammengekommen. Und damit auch ein grosser Kreis an Komponierenden.

Ein wichtiger Wegbereiter war der Genfer Komponist und Dozent Eric Gaudibert: Er unterstützte die Ensemblegründung und stand dem jungen Ensemble bis zu seinem Tod 2012 zur Seite. “Eric Gaudibert war eine wichtige Persönlichkeit für die Neue Musik-Szene der französischen Schweiz und für Vortex. Er war unglaublich vernetzt: er inspirierte und beriet uns und ermöglichte Vieles” sagt Zea. Zum Abschluss der Saison veranstaltet Vortex deshalb ein Minifestival in Genf in Gedenken an seinen 10jährigen Todestag. Es findet im Dezember statt. Ungleich anderer Akteure orientieren sich die Vortex-Saisons am Kalenderjahr.

Eric Gaudibert, Gong pour pianofort concertante et ensemble, Lemanic Modern Ensemble, Dir. William Blank,  2011/12, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Immer haben sie einen thematischen Schwerpunkt. In der nun bereits 17. Spielzeit mit dem Motto ‘Resonance comes between notes and noise’ geht es um die Gesellschaft nach der Pandemie. Diese habe die Parameter unseres Umgangs miteinander neu gemischt und vieles ins Digitale verlagert. Unsere Zeit stehe unter einem hohen Druck, und den wollten sie zum Ausdruck bringen, sagt Zea.

Exemplarisch stehen dafür zum Saisonauftakt die zwei in Basel gezeigten Stücke: The Love letters? von Zea (UA 2019), und Fabulae von Fernando Garnero (UA 2016). “Beide Stücke spiegeln die heutige Gesellschaft auf unterschiedliche Weise – zusammen bilden sie ein Portrait unserer Zeit”, meint Zea.

 

“Inszenierung der Schwächung des Menschen durch Technologie”

 

In The Love letters? sitzen sich zwei Performer – ein Mann und eine Frau – gegenüber, beide am Computer. Bewegungen, Mimik und Blicke werden aufgezeichnet und auf Videogrossleinwand gezeigt – live, verzögert, überlagert, verfremdet – und übersetzt in elektronische Musik und Text.

 

Daniel Zea: The Love Letters?, Ensemble Vortex: Anne Gillot, Mauricio Carrasco, UA 2019

 

Zea befragt im Stück das Kommunizieren im digitalen Raum mittels Gesichtserkennung. In Suchmaschinen, Smartphones, Social Media oder staatlicher Überwachung kommt sie durch Algorithmen zum Einsatz, meist ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Der Titel trägt ein Fragezeichen: Ist das Aufgezeichnete/Gezeigte nun das Echte oder sind es die echten Akteure auf der Bühne? Können Gefühle, die wir über digitale Geräte austauschen, ‘echt’ sein?

Love Letters? ist ein Liebesdialog der zeigt, wie absurd heutiges Kommunizieren über den Umweg digitaler Tools ist. Soziale Medien ermächtigen sich unser: es ist eine Inszenierung der Schwächung des Menschen durch Technologie”, so Zea.

Für Zea hat das Stück, das bereits 2018 entstand, fast etwas Prophetisches: In der Pandemie habe die Thematik eine grössere Relevanz erhalten, da digitales Kommunizieren omnipräsent wurde.

 

Vermeintlich Vertrautes verfremden

 

Auch Fabulae von Fernando Garnera verfremdet vermeintlich Vertrautes durch zusätzliche Blickwinkel. Video, Elektronik und Zusatztexte ergänzen das bekannte Grimmsche Märchen Cinderella um weitere Erzählebenen und entlarven überkommene Moralvorstellungen. So wird es in eine bizarre digital transformierte Gegenwarts-Zukunft versetzt.

“Dahinter lauert eine versteckte Kritik an der heutigen kapitalistischen Gesellschaft, die sich durch die Pandemie noch verschärfte”, sagt Zea.

 

Fernando Garnero, Fabulae, Ensemble Vortex, UA 2016

 

Einen radikal anderen Zugang auf unsere Gesellschaft vermittelt das nächste Projekt der Saison: Suma, eine Kollaboration mit dem Ensemble Garage aus Köln. Als Ausgangslage habe die Frage gestanden, wie Musik heute anders gemacht werden könne, gemeinsam und gegenwärtig, nachdem das Zusammenarbeiten über Distanzen zur Gewohnheit geworden sei. Das Resultat sei eine Art von Antwort auf die Pandemie, sagt Zea. “Wir kreieren im Kollektiv ein gemeinsames zeitgenössisches Ritual, durch das die Musik wieder ihre Verbindung zum ‘Heiligen’, zur Natur findet, basierend auf Erinnerung, Ritual und Schamanismus. Damit hinterfragen wir die Rolle von Technologie und Kommunikation heute”.

 

Composer’s next generation

 

Vortex widmet sich auch regelmässig der kommenden Generation – nicht zuletzt, um selbst ‘jung’ zu bleiben. Im biennalen interdisziplinären Laboratorium Composer’s next generation betreibt Vortex regelrechte Nachwuchsförderung. 2021 fand es bereits zum vierten Mal statt: auf einen Call for projects werden jeweils fünf junge Komponierende oder Klangkünstler:innen ausgewählt. Mit ihnen arbeitet Vortex dann eine Saison lang eng zusammen, gefolgt von einer Carte blanche am Neue Musik-Festival Archipel Genève und Folgeaufträgen u.a. im l’Abri, dem Ort für visuelle- und Klang-Kunst mitten in Genf. Damit bindet Vortex die Teilnehmenden weiter ans Ensemble und an die Genfer Szene. “Teilnehmer:innen waren bspw. Chloé Bieri, Barblina Meierhans oder Helga Arias – alle waren damals noch recht am Anfang, alle sind nun international unterwegs und weiterhin eng mit Vortex verbunden”, so Zea.

 

Ensemble Vortex / Composer’s next generation

 

Vortex wirbelt auf und mischt neu – auch die Genfer Neue Musik-Szene: die meisten Akteure der Romandie sind mittlerweile durch gemeinsame Projekte mit dem Ensemble assoziiert. Und natürlich haben sich die Vortexianer:innen inzwischen auch einzeln im In- und Ausland einen Namen gemacht.
Gabrielle Weber
Ensemble VortexDaniel Zea, Chloé Bieri, Anne Gillot, Mauricio Carrasco, Ensemble Garage, Festival Archipel, L’Abri, Festival acht Brücken Köln

 

Konzerte Ensemble Vortex:
23.2.22, 20h, Gare du Nord Basel: The Love letters? / Fabulae, im Anschluss Gespräch mit den Mitwirkenden

Suma: Ensemble Vortex & Ensemble Garage:
6.4.22 Archipel; 2.5.22 Köln: Festival acht Brücken

remember Eric Gaudibert – Mini-Festival: 10./17.Dezember 22, Genf

neo-Profile:
Daniel Zea, Ensemble Vortex, Eric Gaudibert, Arturo Corrales, Fernando Garnero, John Menoud, Barblina Meierhans, Helga Arias, William Blank, Lemanic Modern Ensemble

Unendliche Spielwelten

Zeiträume Basel, die Basler Biennale für Neue Musik und Architektur, findet dieses Jahr bereits zum vierten Mal statt. Das Festival verschreibt sich der Verwebung von Musik und Raum und bespielt dabei immer wieder neue und ungewöhnliche Orte in der Stadt. Im Flipperclub Basel bringt nun der Luzerner Komponist Michel Roth sein neues Werk Spiel Hölle zur Uraufführung. Jaronas Scheurer unterhielt sich mit Michel Roth über das Stück und die Leidenschaft der Clubmitglieder für ihre klingenden Kästen.

 

Spiel Hölle-Portrait Michel Roth © Prismago zVG ZeitRäume Basel 2021

 

Jaronas Scheurer
Das Basler Festival Zeiträume bringt Neue Musik an ungewohnte Orte und ermöglicht dem Publikum sowohl musikalische als auch architektonische Neuentdeckungen. Dieses Jahr finden unter dem Motto «Verwandlung» circa 20 Produktionen unter anderem auf einem ausgedienten Feuerschiff im Basler Hafenareal und in einer ehemaligen Wasserfilteranlage auf dem Bruderholz statt; aber auch in der Kaserne Basel oder im Flipperclub Regio Basel. Letzterer befindet sich in einem schmucklosen Gewerbegebäude in Münchenstein. Betritt man die Räumlichkeiten des Flipperclubs, wird man von über 50 blinkenden und tönenden Flipperkästen aus den letzten 60 Jahren empfangen. Für diesen Flipperclub komponierte der Luzerner Komponist Michel Roth das Werk «Spiel Hölle», das vom Ensemble Soyuz21 am Zeiträume-Festival uraufgeführt wird.

Michel Roth interessiert sich primär dafür, wie dieser Raum von der Leidenschaft der Clubmitglieder und ihren klingenden Kästen belebt wird und nicht für die Architektur des Raumes. Was ihn fasziniert, ist der soziale Raum. Tritt man nun an einen der vielen Flipperkästen heran, eröffnet sich laut Michel Roth nochmals ein weiterer Raum: «Ein Raum hinter Glas, der mit wahnsinnig aufwendigen Konstruktionen auch dreidimensional angelegt ist. Ein narrativer Raum, in dem einem auch erzählt wird, was da nun bei Star Wars oder Star Trek gerade passiert. Und man tritt in einen Dialog, nicht nur mechanisch, sondern auch ganz konkret, da die neueren Flipperkästen auch tatsächlich zur Spieler*in sprechen und das Spielgeschehen kommentieren.»

 


Michel Roth: pod for two ensembles and live-electronics (2017), Ensemble Vortex und ensemble proton bern. In pod geht es um eine musikalische Anwendung von Spieltheorie.

 

Overkill Flipperkasten

Michel Roth erzählt im Interview hörbar begeistert von den Flipperkästen: Wie sie scheppern und blinken und tönen und einem lautstark aufs Neue zum Spiel auffordern. Die akustische Dimension dieser Spielmaschinen ist für seine Faszination massgeblich. Doch ist ein Raum, vollgestopft mit über 50 solcher Kästen, nicht schon so eine akustische Reizüberflutung? Klar, daher komme auch der Titel «Spiel Hölle», so Michel Roth. Denn der «Overkill», die Reizüberflutung sei sowohl ein Aspekt in den «echten» Spielhöllen, als auch Thema der Komposition. Und genau diese komplexe akustische Umgebung der Flipperkästen ist Ausgangspunkt des Stückes.

Es beginnt wie ein ganz normaler Flipperclub-Abend. Nach einer Begrüssung durch die Clubmitglieder darf das Publikum die Flipperkästen ausprobieren. Unmerklich beginnt sich die Musik von Michel Roth in diesen Spielabend «hineinzuschmuggeln» und fügt sich in die Klangatmosphäre ein. Die ganze Komposition ist von diesen Flipperkästen abgeleitet. Die Instrumente sind beispielsweise mit Bauteilen aus den Flipperkästen manipuliert: Das Rohr des Saxofons ist mit Flipperkugeln gefüllt, die Schlagzeugerin spielt auf Federn, die benutzt werden, um die Kugeln in den Flipperkasten hinein zu katapultieren. Auch spielen die Musiker*innen nicht streng nach einer fixen Partitur, sondern müssen auf das restliche Geschehen reagieren. Wie die Kugel im Flipperkasten kann die Komposition die eine oder andere Richtung einschlagen.

 

Kommentar und Konfrontation

Michel Roths «Spiel Hölle» ist also ganz von der «echten» Spielhölle im Flipperclub abgeleitet. Doch mit der Zeit emanzipiert sich das musikalische Geschehen immer mehr vom Klingen und Bimmeln der Flipperkästen, beginnt ironisch zu kommentieren und geht auf Konfrontationskurs.

 


Michel Roth, Die Zunge des Gletschers für Stimme mit Kontrabass (UA 2017), Aleksander Gabrys : auch in diesem Stück befasst sich Michel Roth bereits mit dem Einfluss von Spiel und Zufall auf musikalisches Geschehen.

 

 

Michel Roths Hoffnung ist, durch seine kompositorische Manipulation, «die oft sehr düstere Narration der einzelnen Kästen und das kollektive Vibrieren dieser Spielhölle aufzukochen.» Auch wenn bei der Komposition von «Spiel Hölle» das diesjährige Festivalthema «Verwandlung» für Michel Roth nicht so sehr im Fokus stand, so hofft er auf eine Transformation beim Publikum, so dass der Effekt entstehen könne, dass «wir uns alle eigentlich im Inneren eines grossen Flipperkasten befinden.»

In «Spiel Hölle» macht sich Michel Roth mit seinen Musiker*innen Sascha Armbruster (Saxofon), Mats Scheidegger (E-Gitarre), Philipp Meier (Keyboard und Synthesizer), Jeanne Larrouturou (Schlagzeug) und Isaï Angst (Elektronik) auf eine humorvolle und faszinierende Erkundung dessen, was sich im schmucklosen Gewerberaum am Rande von Basel versteckt: jeder der über 50 blinkenden, tönenden und scheppernden Kästen beinhaltet nämlich eine eigene Spielwelt voller unendlicher Möglichkeiten. Michel Roths «Spiel Hölle» passt also sehr gut zum Festival Zeiträume: Sie eröffnet ein komplexes Netzwerk akustischer und narrativer Räume, in denen sich das Publikum verlieren kann, bis es heisst «Game over».
Jaronas Scheurer

 

 

ZeitRäume Basel – Biennale für Neue Musik und Architektur, findet vom  9. Bis 19. September 2021 an diversen Orten und im öffentlichen Raum in der Stadt Basel statt, mit zahlreichen Uraufführungen u.a. von Barblina Meierhans Skript im Lesesaal der Basler Universitätsbibliothek (17.9.), Niemandsland, ein Immersionsraum von Dimitri de Perrot in der Kaserne Basel (10.-12.9.), oder die Oper Poppaea von Michael Hersch und Stephanie Fleischmann im Don Bosco (Kooperation mit WienModern 10./12.9.).

Michel Roths „Spiel Hölle“ wird am 18. und am 19. September im Flipperclub Basel vier Mal aufgeführt, Premiere ist am 18.9. um 16h.

Im ZeitRäume Basel Festivalpavillon an der Mittleren Brücke gibt es bereits ab dem 4. September Liveperformances, Klanginstallationen, Coctails und SUISA-Talks oder Mitmachaktionen zur Einstimmung aufs Festival.

Drei Installationen öffnen ihre Tore bereits vor Festivalstart: 7.9., 18h, Jannik Giger Blind audition, 8.9., 19h, Cathy van Eck Der Klang von Birsfelden und auf dem Feuerschiff Gannet, am 9.9. um 11h Phase 4, ein multidisziplinär-kollektiv entwickelter begehbarer Klangraum im Schiffsbauch.

 

Dimitri de Perrot, Stephanie FleischmannMichael HerschSascha ArmbrusterIsaï Angst

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 29.9.2021, Reportage Barblina Meierhans: Skript, Redaktion Benjamin Herzog

Neo-profiles: Michel Roth, soyuz21, Zeiträume Basel, Barblina Meierhans, Cathy van Eck, , Philipp MeierJeanne LarrouturouMats Scheidegger, Aleksander Gabrys, Ensemble Vortex, ensemble proton bern