Kunstraum Walcheturm – der unmögliche Musikraum mitten in Zürich

Sommerserie zum Schweizer Musikpreis No. 3 :  Spezialpreis an den Kunstraum Walcheturm – der Konzertort nehme «eine herausragende Stellung für die Weiterentwicklung der experimentellen Musik und Kunst in der Schweiz ein», so die Begründung der Jury.
Jaronas Scheurer sprach mit dem künstlerischen Leiter Patrick Huber.

 

Der Kunstraum Walcheturm im Zeughaushof Zürich ©Lorenzo Pusterla

 

Jaronas Scheurer
Patrick Huber treffe ich, als er gerade den Aufbau einer Party überwacht, die am selben Abend stattfindet. Die Party hat sich eingemietet und es gibt viel zu erklären und zu verhandeln. Zudem steht Huber kurz vor seinen Ferien: Zwischen Diskussionen mit den Tontechniker:innen, Einweisungen für das Barpersonal und letzten Ferienvorbereitungen findet er trotzdem Zeit für das Interview. Das Dazwischen-Sein, zwischen verschiedenen Projekten, zwischen Partys, experimenteller Musik, zeitgenössischer Kunst, Experimentalfilm. Dieses Dazwischen-Sein scheint Modus Operandi für Patrick Huber und den Kunstraum Walcheturm: «Diesen Ort sollte es eigentlich gar nicht geben.» meint er im Laufe des Interviews.

Dieser Ort – der Kunstraum Walcheturm auf dem alten Zeughaushof circa 10 Minuten Gehdistanz vom Zürcher Hauptbahnhof – ist der wichtigste Veranstaltungsort für zeitgenössische und experimentelle Musik in Zürich und hat dieses Jahr einen der Spezialpreise Musik des Bundesamts für Kultur (BAK) erhalten.

Galerie Walcheturm

Wie kam es dazu, dass der Walcheturm heute vor allem für spannende Konzerte und weniger für aufregende Kunst bekannt ist? Immerhin wurde der Walcheturm in den 1950er als Verein zur Förderung von junger Schweizer Kunst und Künstlern gegründet. Und in den 1980er-Jahren formten die heute international renommierten Kunsthändler:innen Eva Presenhuber und Iwan Wirth die Galerie Walcheturm, wie der Kunstraum, benannt nach dem ersten Standort an der Walchestrasse, damals hiess, zu einem der wichtigsten Akteure der Zürcher Kunstszene. «Irgendwann wurde klar», meint Patrick Huber, «dass ein Verein nicht das richtige Vehikel ist für ein derart kommerzielles Unterfangen wie eine international agierende Galerie.» Es kam Mitte der 1990er zu einer Abspaltung, aus der dann u.a. die Galerien Eva Presenhuber sowie Hauser&Wirth entsprangen. Der Verein Walcheturm durchlebte danach eine schwierige Phase, bevor 1999 die Leitung des Vereins Patrick Huber übergeben wurde. Huber bewarb sich mit der Vision, die Galerie zu einem Kunstraum zu machen: «Ein Bruch – keine Galerie, kein Kunstmarkt – ein Kunstraum.» wie Huber seine damalige Idee skizzierte.

 

Marc Zeier: ‘Daphnia Heart Beat’, Flügel, Bassboxe and Daphnia magna Modell, Kunstraum Walcheturm 2017 ©Lorenzo Pusterla

 


Luigi Archetti: LAVA – Part 01, Label Karluk 2021

 

Die Galerie wird zum Kunstraum

Patrick Huber selbst hatte damals schon vielfältige Erfahrung im Organisieren von Ausstellungen, Partys und Festivals. Seit den 1980er Jahren organisierte er Partys: Techno, Hiphop, Drum’n’Bass, kuratierte Ausstellungen in Offspaces und seit 1998 das Experimentalfilmfestival VideoEx.

«Als ich die Leitung des Vereins übernommen habe, gab es sozusagen keine Mitglieder und in der Galerie nicht einmal einen Hammer, um Nägel für die Kunstwerke einzuschlagen.» Das brachte jedoch auch Vorteile mit sich, denn so konnte er von Grund auf Neues schaffen. Dies gelang ihm einerseits dank einem grossen Netzwerk an Freund:innen und andererseits dank seiner Erfahrung als Partyorganisator. «Die ersten paar Jahre haben Partys, oft Techno-Partys, den Kunstraum finanziert.» Die Einnahmen der grossen Partys am Abend wurden in den Kunstraum und in die Ausstellungen am Tag gesteckt. «Ich wusste damals gar nicht, dass man Gesuche für finanzielle Unterstützung stellen kann.» meint Huber lachend. Doch schon bald musste der Kunstraum Walcheturm umziehen. Glücklicherweise bekamen sie eine Zusage für den jetzigen Ort im alten Zeughaushof. «Den Schlüssel haben wir im Januar 2002 bekommen. Den Schlüssel für einen staubigen Raum. Draussen waren es 5 Grad und drinnen auch. Kies am Boden, sonst nichts. Es war nicht viel Geld da, aber ganz viel Hilfe, eine ganze Gruppe von Menschen: Jemand konnte einen Bagger fahren und hat ein paar Kubik Kies rausgebaggert. Jemand konnte stromern, jemand Heizungen montieren usw.» beschreibt Huber den Umzug. «Und im Mai war der Boden drin und das Experimentalfilmfestival VideoEx fand das erste Mal hier statt. Im August gab es dann noch eine offizielle Eröffnung mit einem Projekt mit 12 Schlagzeugern. Eine Performance, die immer noch unter Kunst lief, aber da spielten halt zwölf Schlagzeuger.»

 

Katharina Rosenberger: Ausstellung “quartet”, Kunstraum Walcheturm 2018 ©Lorenzo Pusterla

 


Katharina Rosenberger: REIN, Basel Sinfonietta unter Baldur Brönnimann, UA 2019 in Basel

 

Von der zeitgenössischen Kunst zur experimentellen Musik

Der Wandel vom Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst hin zum Veranstaltungsort für experimentelle Musik schien sich also schon bei der Eröffnung abzuzeichnen. «Mich hat die zeitgenössische, experimentelle Musik interessiert. Ich fand das spannend. Aber es schien auch eine Notwendigkeit für einen solchen Raum in Zürich zu gebe. Denn Raum für zeitgenössische Kunst gab es in Zürich schon immer.» erläutert Patrick Huber diesen Wandel.

 

Julian Sartorius: Locked Grooves Record Release, Kunstraum Walcheturm 2021 ©Lorenzo Pusterla

 


Julian Sartorius: Locked Groove 093, Label OUS 2021

 

Heute finden vor allem Konzerte im Walcheturm statt. Neben einigen wichtigen Festivals wie das VideoEx, das Sonic Matter, das Taktlos Zürich oder das FemaleClassics, spielen im Walcheturm Musiker:innen und Ensembles irgendwo zwischen Noise, Freier Improvisation, Neuer Musik, Klangkunst und Free Jazz. Und die Konzertanfragen trudeln zahlreich bei Patrick Huber ein. Doch das Problem bei der Programmierung ist die Finanzierung. Der Kunstraum Walcheturm wird vom Kanton Zürich unterstützt, was knapp für die Miete des Raums reicht. Darüber hinaus, haben sie sozusagen kein Budget. «Das Erstaunliche am Walcheturm ist die musikalische Diversität trotz den engen finanziellen Leitplanken.» so Huber. Damit das funktioniert, ist eine ordentliche Portion Pragmatismus und gesunder Menschenverstand gefragt. Konkret funktioniert es so, dass die Gruppen, die im Walcheturm spielen, den Walcheturm je nach Höhe der eigenen Finanzierung bezahlen. «Wenn die andere Seite eine Yacht hat, dann soll bitte auf unserer Seite auch ein bisschen Geld ankommen. Aber wenn die in einem kleinen Ruderboot sitzen, dann können wir auch rumrudern. Das haben wir ja schon immer gemacht.» meint Huber lachend. «Auf dem Papier geht unsere Rechnung eigentlich nicht auf. Aber irgendwie geht es dann doch.»

Und so machen sie weiter – dieser unmögliche Raum mitten in Zürich: Zwei bis vier Konzerte pro Woche, mit der Hilfe von Freund:innen, mit einer gesunden Portion Pragmatismus und vor allem mit viel Liebe und Engagement für die Musik.
Jaronas Scheurer

 

Die Saison 2023/2024 des Kunstraum Walcheturm begann am 2. September mit einem Jubiläumskonzert des Collegium Novum Zürich.
Weitere Anlässe im September:
7. September – CD Release «The Five»,
9. September – Guy Mintus Songbook,
14. September – IGNM Konzert: Tomoko Sauvage und Christoph Rüttimann mit «Kakteenmusik / Wasserschalen»,
16. September – Zapparoli, Hofmann und Lorenz,
21. September – Insub Meta Orchestra,
22. September – Under the Olive Tree,
29. September – News3Art plays Stockhausens «Kontakte».

 

Sendungen SRF Kultur:
SRF Kultur online, 11.5.23: Trompeter Erik Truffaz erhält den Grand Prix Musik, Redaktion Jodok Hess.
Musikmagazin, 22.7.23Carlo Balmelli: Ein Leben für die Blasmusik, Redaktion Annelis Berger, Musiktalk mit Carlo Balmelli (ab Min 9:40).
Musikmagazin, 17.6.23, Inspirationen mit offenem Ende: Die Vokalkünstlerin Saadet Türköz, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Saadet Türköz (ab Min 8:38).
Musikmagazin, 13.5.23, Schweizer Musikpreise 2023, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Katharina Rosenberger (ab Min 4:55)

 

Neo-profiles:
Kunstraum Walcheturm, Luigi Archetti, Katharina Rosenberger, Julian Sartorius, Collegium Novum Zürich, Martin Lorenz, Sebastian Hofmann, Insub Meta Orchestra, Sonic Matter.

Enno Poppe: Composer in Residence @Lucerne Festival 2023

Enno Poppe gilt als einer der originellsten Komponisten unserer Zeit. Die Musik des 55-Jährigen ist hochkomplex und dennoch äusserst attraktiv für die Ohren und oft spannend wie ein Krimi. Enno Poppe ist diesjähriger composer-in-residence am Lucerne Festival. Dort wird u.a. sein Werk Fett zu hören sein und das Orchesterstück Prozession. Annelis Berger hat den Komponisten getroffen.

Annelis Berger
Er ist ein Stadtmensch durch und durch: «Das Leben auf dem Land wäre mir zu kompliziert. Ich wohne sehr gerne in der Stadt, wo ich jederzeit einen Liter Milch kaufen kann, ohne viel überlegen zu müssen. Was nicht heisst, dass ich nicht auch gerne mal auf einen Berg steige oder in einen See springe». Dafür wird er in Luzern leider keine Zeit haben: «Man schafft es nicht, das weiss ich vom letzten Mal, als ich mit der Academy gearbeitet habe. Ich betreue dort rund 100 junge Menschen, die alle gierig und hungrig nach Wissen sind; die wollen von morgens bis abends arbeiten und Dinge erleben, da kann ich hinterher nicht noch auf einen Berg steigen».

 

Portrait Enno Poppe © Ricordi: Harald-Hoffmann

 

Poppe selber hat in Berlin Komposition und Dirigieren studiert, lebt bis heute in der deutschen Hauptstadt und arbeitet in ganz Europa mit den wichtigsten Ensembles für zeitgenössische Musik. Ich treffe den Komponisten in Zürich, wo er eben mit dem Ensemble Collegium Novum Zürich geprobt hat. Ein hochsommerlicher Spätnachmittag, Poppe konnte gerade noch ein Bier trinken vor dem Interview. Wir reden zuerst darüber, was seine Musik ausmacht.

«Ich mag intensive Musik, ich mag es, wenn ich die Hörer*innen mitnehme. Und ich mag expressive Musik. Aber ich muss eine neue Form von Expressivität suchen, Expressivität darf nicht nur behauptet sein, nicht aufgestülpt oder sentimental. ich kann nicht die Expressivität einer Bruckner-Sinfonie nehmen, ich muss eine finden, die mit der heutigen Zeit etwas zu tun hat, und mit den Mitteln, die heute da sind. Es ist nicht einfach ein Suchen nach neuen Klängen, sondern die Suche nach einer neuen Expressivität. Das ist etwas, was mich permanent beschäftigt.»

Exemplarisch dafür steht das Stück Prozession. «Das Werk ist eigentlich ein einziger Wachstumsprozess», meint Poppe. «Es beginnt mit einzelnen Tönen, daraus entstehen Melodien, daraus Akkorde, die ballen sich zusammen zu choralartigen Stellen, und das Stück schaukelt sich immer weiter auf, wird immer intensiver. Formal sind es neun grosse Steigerungswellen, die sechste ist die grösste, dann baut es langsam wieder ab. Jeder einzelne Musiker im Ensemble hat hier eine Solostimme und führt dann jeweils einen Teil an, bis dann der nächste Teil mit dem nächsten Soloinstrument kommt.»

 

Enno Poppe, Prozession, 2015/20, Ensemble Musikfabrik Köln, Dirigent Enno Poppe, Ensemblefestival for Contemporary Music 2020, Leipzig Kölner Philharmonie Nov. 22nd, 2020

 

Eine wichtige Inspirationsquelle für dieses Werk war für Poppe die katholische Prozession «Semana Santa» in Sevilla, die jedes Jahr in der Karwoche stattfindet. «Die laufen sieben Tage lang durch die Stadt, 24 Stunden am Stück mit Blaskapellen und Trommeln, da ist die Basler Fasnacht ein Klacks dagegen. Diese spanische Prozessionsmusik hat mit dem Stück einen tiefen Zusammenhang, ohne dass ich sie direkt zitiere.»

 

Prozession ist ein Werk, das beim Hören einen Sog entwickelt, da es tatsächlich immer dichter und dichter wird. Und dem kann man sich kaum entziehen, es vermittelt auch das Gefühl von Hartnäckigkeit: vor dieser Musik gibt’s kein Entrinnen, ihre Expressivität ist sehr direkt.

Ein kompositorisches Mittel für die Expressivität findet Enno Popp im Glissando und im Vibrato. Das zeigt sich sehr schön in Wald von 2010 für vier Streichquartette. Seit vielen Jahren beschäftige sich Enno Poppe mit dem «bewegten» Ton, u.a. auch inspiriert von der asiatischen Tradition von Tönen, die immer in Bewegung sind, das heisst, man hört nie zweimal den gleichen Ton, der Musiker, die Musikerin intoniert ihn jedes Mal anders. Damit hat Enno Poppe oft gearbeitet. «Bei Wald rutscht jeder Ton ständig, bewegt sich nach oben und unten, hin und her. In den verschiedensten Geschwindigkeiten. Das ist wiederum ungemein expressiv. Weil jeder einzelne Ton beseelt wird.»

 


Auch im Ensemblewerk Scherben beschäftigt sich Enno Poppe mit dem “bewegten” Ton, in der Aufnahme mit dem Collegium Novum Zürich, Dirigent: Enno Poppe, 2008, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Enno Poppe redet bereitwillig über seine Musik. Selten gibt es Komponisten, die dies so unverkrampft und entspannt tun. Das macht ein Treffen mit ihm sehr angenehm.

Und natürlich möchte ich mit Enno Poppe auch noch über das Werk Fett reden, einer der Höhepunkte am Lucerne Festival, dirigiert von Susanna Mälkki im grossen Saal des KKL: «Das Stück IST tatsächlich fett! Sonst dürfte es nicht so heissen», meint er schmunzelnd. In dieser Komposition verzichtet Poppe komplett auf Melodien und Themen und alles andere, was klassischerweise Sinfonik auszeichnet. Akkordballungen haben ihn hier interessiert – zunächst nur viertönige Akkorde, die immer grösser werden. «Gegen Ende haben wir 40-50-tönige Akkorde! Und zwar nicht nur Oktaven, sondern das sind mikrotonale Ballungen.»

 


Enno Poppe, Fett (2018/19): Helsinki Philharmonic Orchestra, Dirigentin Susanne Mälkki, UA 10.5.2019, Helsinki Music Center

 

Zum Schluss geht’s im Gespräch um die Arbeitsweise des Komponisten.  Das Arbeiten, sprich komponieren und dirigieren, mache ihm eigentlich immer Spass. Sonst würde er es gar nicht machen. Und manchmal, wenn er für ein neues Werk eine Tür aufstosse in eine neue klangliche Welt – so wie bei Fett die mikrotonalen Ballungen – dann sei es für ihn sehr einfach, weil er sich sehr schnell in der neuen Welt zurechtfinde. «Fett ging unheimlich schnell. Ich war so richtig in Schwung. Es war unberührtes Gelände, und das belebt mich immer, ich kann dann manchmal sehr rasch arbeiten. Für Fett habe ich zirka zehn Wochen gebraucht, mir ist es eigentlich ein Rätsel, warum es so schnell ging, weil da ja unglaublich viele Töne drin sind in diesem Werk.» Eine Leichtigkeit ist da zu spüren – und gerade das zeichnet Enno Poppes Musik auch aus: sie ist komplex und vielschichtig, aber nie sperrig. Und sie nimmt den Hörer mit auf eine Reise durch eine Welt, die nie stillsteht.
Annelis Berger

 

LUCERNE FESTIVAL, Sommerfestival 2023: Das Ensemble Intercontemporain interpretiert Werke des Composer in Residence, Enno Poppe; mit Enno Poppe als Dirigent. Luzern, 13.08.2023 © LUCERNE FESTIVAL / Priska Ketterer

 

Enno Poppe am Lucerne Festival 2023

Susanna Mälkki, Ensemble Musikfabrik

Sendungen SRF 2 Kultur:
Künste im Gespräch, 3.8.2023, Enno Poppe, Composer in Residence am Lucerne Festival, Redaktion Annelis Berger.

Musik unserer Zeit, 13.9.2023, Enno Poppe im Portrait, Redaktion Annelis Berger.

Neo-Profile:
Enno PoppeLucerne Festival Contemporary, Collegium Novum Zürich

 

 

Sonic Matter: Auf den Klang kommt es an

Sonic Matter – Festival für experimentelle Musik findet dieses Jahr vom 1. bis zum 4. Dezember in Zürich zum zweiten Mal statt. Unter dem vieldeutigen Motto Rise weist das Festival über das Festival hinaus. Ein Schwerpunkt ist dabei das Musikschaffen in Subsahara-Afrika.

Friedemann Dupelius
„It matters what matters we use to think other matters with“, schreibt die Philosphin Donna Haraway. Sinngemäss übersetzt kommt es also darauf an, mit welchen Mitteln wir über etwas anderes nachdenken. Das Zürcher Festival Sonic Matter versteht Klang als so etwas, auf das es ankommt. Mit Klang und Musik können wir über Dinge nachdenken, die wiederum darüber hinausgehen. Sound kann ein Tor zur Welt sein, Zuhören eine Art der Reflexion und Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. In der zweiten Ausgabe des Festivals, das 2021 die Nachfolge der Zürcher Tage für Neue Musik angetreten hat, wird diese Perspektive deutlich.

Aufnahmen für “Play the Village” mit Manon Fantini, Léo Collin und Menschen aus Horgen bei Zürich

Mit Rise gibt nun das Mittelwort der Motto-Trias Turn – Rise – Leap den leitenden Gedankenimpuls: „Das kann im Sinne von Wachsen oder Entstehen begriffen werden – oder auch als etwas Widerständiges, Aufbegehrendes, als etwas, das Grenzen erweitern will“, erläutert Lisa Nolte. Auch sie ist Teil einer Trias. Neben der Kulturmacherin gehören die Komponistin Katharina Rosenberger und die Künstlerin und Kuratorin Julie Beauvais zu dem Kernteam, das Sonic Matter seit 2021 konzipiert. Zweierlei verdeutlicht der Untertitel „Plattform für Experimentelle Musik“: Sonic Matter denkt über die Grenzen eines Festivals hinaus. Es ist nicht nach vier dichten Veranstaltungstagen vorbei, sondern begreift sich als ein Prozess, der kontinuierlich andauert. Ausserdem signalisiert der Begriff des Experimentellen eine ästhetische Breite. Es gehe darum, „möglichst viel Spielraum für klangbasierte aktuelle Kunstformen zu haben“, so Lisa Nolte. Einerseits gibt es Formate mit zeitgenössischer Musik, wie sie sich in Europa etabliert hat – zum Beispiel im Konzert des Tonhalle-Orchesters mit Musik von Peter Ruzicka und George Enescu, oder wenn das Collegium Novum Zürich Iannis Xenakis’ Φλέγρα (Phlegra) neben einer Uraufführung von Laure M. Hiendl spielt. Doch sagt Lisa Nolte auch: „Oft geht es bei der Neuen Musik um eine ganz bestimmte Vorstellung von Qualität, die man aber nicht überall teilt. Andere Ansätze können sehr bereichernd sein.“


Iannis Xenakis – Φλέγρα (Phlegra) (1975), gespielt vom Ensemble Phoenix Basel

Hören, Denken und Träumen mit Archiven

Diese Ansätze können aus anderen Musik- und Kunstformen kommen, oder auch aus lange zu wenig beachteten Orten auf der Welt. Das Duo Listening at Pungwe aus Südafrika und Simbabwe etwa hat eine ganz eigene künstlerische Umgangsweise mit Klang. Memory Biwa und Robert Machiri sammeln Musik und Fieldrecordings aus ihren Heimatregionen. Dieses Material begreifen sie als klingendes Archiv, dessen Inhalte sie in Performances und Listening Sessions neu kontextualisieren. Der namensgebende Begriff „Pungwe“ erinnert an das Ritual einer Totenwache, während der die Anwesenden in einem besonders wachsamen Zustand sind – ein Zustand, der es auch ermöglicht, von einer besseren Zukunft zu träumen oder sich für die Revolte zu motivieren.

 

Eine Live-Session von Listening at Pungwe in Kapstadt 2017

Klang- und Musik-Archive sind so ein „Matter“ (Mittel), mit dem über andere „Matters“ (Dinge, Themen) nachgedacht werden kann. In gesammelten Tonaufnahmen stecken Informationen über Geschichte, soziale und politische Umstände und vieles mehr. Und: Sie bieten Möglichkeit zur Imagination, zum Träumen davon, wie die Welt auch sein könnte. In diesem Sinne haben die Schüler:innen im Projekt Once Upon A Sound mit Roman Bruderer, Peter Nussbaumer und Iva Sanjek eigene Klangarchive angelegt, die sie beim Festival in Listening Sessions und DJ-Sets präsentieren.

Auch die Menschen aller Altersgruppen, die mit den Künstler:innen Léo Collin und Manon Fantini arbeiteten, schärften ihre Ohren auf die Klänge ihrer Umgebungen. Daraus entstand die Installation Play The Village. In den gemeinsamen Listening Sessions mit dem lauschigen Titel Weiche Kissen – heisse Ohren steht ebenso das gemeinsame Hören im Fokus. Eine ganze Symphony Of Archives lässt der marokkanische Künstler Abdellah M. Hassak im Kunstraum Walcheturm erschallen. Sonic Matter ist also auch eine riesige Ansammlung von archivierten Klängen, die in verschiedenen Veranstaltungsformaten für die offenen Ohren des Publikums zugänglich gemacht werden.


Noémi Büchi spielt am 3.12. “live from the Listening Lounge” im Kunstraum Walcheturm

Ein weiterer Schwerpunkt von Sonic Matter 2022 ist die Region Subsahara-Afrika. Neben Pungwe sind insbesondere Künstler:innen des ugandischen Musikfestivals und Labels Nyege Nyege in Zürich dabei. So steht Labelgründer Rey Sapienz hinter den Decks bei der Party in der Gessnerallee, wenn klar wird, was Lisa Nolte schon weiss: „Hören ist etwas Aktives. Das zeigt sich auch, wenn man von Musik direkt in körperliche Bewegung versetzt wird.“ Auch Tanzen ist Sonic Matter – ein klangliches Matter („Angelegenheit“) und der Moment, in dem Klang selbst als Matter („Materie“) ganz körperlich wird. Von Träumen und Sehnsüchten nach der verlorenen afrikanischen Heimat erzählen Latefa Wiersch, Rhoda Davids Abel und Dandara Modesto in ihrer interdisziplinären Performance Neon Bush Girl Society. Dabei greifen sie Legenden der geflohenen Volksgruppen Nama und Damara aus dem südlichen Afrika auf.

Neon Bush Girl Society

Sonic Matter ist immer

Auch im Sonic Matter Open Lab ist Subsahara-Afrika 2022 schwerpunktmässssig vertreten. Mit diesem dauerhaften Format unterstreicht Sonic Matter, dass es an 365 Tagen im Jahr stattfindet. Beim Open Lab arbeiten Expert:innen aus Kunst, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam an dringenden Fragen ihrer jeweiligen Region auf der Welt. Die Einzelprojekte beschäftigen sich u.a. mit indigenen Völkern in Uganda und Mosambik, mit dem kulturellen und politischen Leben südsudanesischer Flüchtlinge in Kenia oder historischen Sounds in Johannesburg. Fortlaufend wird die Online-Plattform upgedatet. Und auch das Sonic Matter Radio hält die Klang- und Denkprozesse rund um die Uhr am Laufen. Sonic Matter, das sind also nicht nur vier spannende Tage voller Musik, Klang und Kunst in Zürich – es ist auch ein Dauerzustand des Hinhörens, Nachdenkens und Erzählens rund um den Globus. Ganz nach Donna Haraway, denn Erzählungen erschaffen die Welt: „It matters what stories make worlds, what worlds make stories“.
Friedemann Dupelius

Sonic Matter: 1.-4.12.2022 in Zürich
Sonic Matter RadioSonic Matter Open Lab

Partner-Festival 2022:
Nyege Nyege (Uganda)

SRF 2 Kultur:
Sonic Matter 2021 auf dem neoblog @neo.mx3
SRF-Bericht über Sonic Matter 2021

Donna Haraway, Roman BrudererLaure M. Hiendl, Latéfa Wiersch, Manon Fantini, Rey Sapienz, Listening at Pungwe

neo-Profile:
Sonic MatterKatharina RosenbergerIannis XenakisLéo CollinCollegium NovumTonhalle-Orchester ZürichOlga KokcharovaNoémi Büchi

 

Die Komponistin mit dem Lötkolben

Sie lebt mit ihrer Familie auf der schwedischen Insel Gotland, wenn sie nicht gerade unterwegs ist mit Ihrer Musik, die inzwischen von den wichtigsten Ensembles für zeitgenössische Musik und grossen Sinfonieorchestern gespielt wird. Lisa Streich erschafft mit modernsten Kompositionstechniken eine universelle Musiksprache, die das Publikum direkt anspricht und den heutigen Zeitgeist trifft, ohne anbiedernd zu sein. Wie sie das schafft, versucht Annelis Berger im Gespräch mit ihr herauszufinden.

 

Portrait Lisa Streich zVg. Lisa Streich

 

Annelis Berger
Kontraste, immer wieder diese Kontraste: Scharfe Peitschenschläge dringen ans Ohr, und in den Lücken – diesen entsetzlichen Lücken zwischen den Schlägen – schweben seltsam entrückte Pianissimo-Akkorde, bei denen man nicht weiss, ob das Ohr sich täuscht oder ob da tatsächlich die Orchestermusiker:innen leise mitsingen. Staunend sitzt man da und taucht ein in eine überraschende Musiksprache, die irgendwie «einleuchtet», Sinn ergibt, obgleich sie komplex und vielschichtig ist. Segel heisst das Stück von Lisa Streich, das 2018 am Lucerne Festival uraufgeführt wurde.

Es ist mein erster Kontakt mit der Musik der schwedischen Komponistin. Später wird mir klar, dass diese Musiksprache typisch ist für die Werke von Lisa Streich: sie überraschen, gleichzeitig sprechen sie die Hörer:innen direkt an. Man fühlt sich nicht ausgeschlossen, auch beim ersten Hören nicht. Da ist kein hermetischer Überbau, an dem man sich erst mal abarbeiten muss, um Zugang zu dieser Musik zu finden. Und dies, obwohl in jedem der Stücke sehr aufwändige intellektuelle, künstlerische und handwerkliche Arbeit steckt.

 


In Segel aus dem Jahr 2017 setzte Lisa Streich erstmals eine «spektrale Tonalität» ein.

 

Lisa Streich, geboren 1985 in Schweden, hat sich zur Organistin ausbilden lassen und dann in Berlin, Stockholm, Salzburg, Paris und Köln Komposition studiert. Sie meidet das Scheinwerferlicht, die Bühne ist nicht ihr Ding. Auf der Empore aber, allein an der Orgel, diesem «atmenden Geschöpf, das dir nicht gehört und das in jeder Kirche anders riecht», dort fühlt sie sich wohl. Ebenso beim Komponieren zu Hause auf der Insel Gotland, die an der Ostsee zwischen dem Baltikum und Schweden liegt und wo sie, nahe am Meer und inmitten einer malerischen Insellandschaft, sich abwechselnd mit ihren Kindern beschäftigt oder komponiert. Dazu gehört auch tüfteln, basteln, Geräte bauen. Irgendwann hat Lisa Streich nämlich angefangen, Elektronik in ihre Musik einzubauen, kleine Maschinen, die sie in einem alten Schuppen neben ihrem Wohnhaus herstellt: Sie lötet, baut, fügt zusammen, um dann z.B. im Stück Pietà für motorisiertes Cello und Ensemble einen fast mechanischen Sound zu erzeugen, der gerade darum so aufregend ist, weil er durch die maschinelle Anonymität universell wird.

Pietà endet leise. Lisa Streichs Stücke enden alle, ohne Ausnahme, im Piano. Sie habe es sich bis jetzt untersagt, laute Schlüsse zuzulassen, ein Fortissimo-Finalschluss komme ihr vor wie ein Plagiat, abgenutzt, ein billiger Effekt. So sagt mir Lisa Streich im Interview. Solche Sätze sind typisch für die schwedische Komponistin, die perfekt deutsch spricht. Sie hat einen hohen, fast moralischen Anspruch, mit ihrer Musik ehrlich zu sein. Darum beschäftig sie eine Aussage des französisch-griechischen Komponisten Georges Aperghis bis heute, demzufolge ein Künstler ein guter Lügner sein müsse. Irgendwie leuchte ihr ein, was er damit meine. Aber für sie funktioniere das nicht, meint sie.

Nein, für Lisa Streich funktioniert das nicht. Was ihre Musik stattdessen auszeichnet, ist spielerische Spiritualität. Und die erreicht man nicht durch Blendwerk, sondern durch Authentizität, Ehrlichkeit, keine moralinsaure, sondern eine sinnliche Wahrhaftigkeit. Wie sie das schafft, bleibt ein Geheimnis, allerdings, so sagt sie, fange sie vielleicht mit ihrer Musik ein bestimmtes Zeitgefühl ein, was dem heutigen Publikum entspreche. Die Kontrolle darüber habe man naturgemäss nicht. Aber manchmal schleiche sich in einem Werk etwas ein, was genau den Kern unserer Zeit treffe.

 

Portrait Lisa Streich zVg. Lisa Streich

 

Was sind denn nun die wichtigsten kompositorischen Mittel, die Lisa Streichs Stücke so authentisch, spannend und «heutig» machen?

 

Spektrale Tonalität und elektronische Klänge

Da gibt es zum Beispiel die sogenannte spektrale Tonalität, die Lisa Streich zum ersten Mal im oben erwähnten Werk «Segel» anwandte. Um solch schwebende Akkorde zu schaffen, sucht sie nach Aufnahmen von Amateurchören, die naturgemäss nicht perfekt sind. Sie nimmt Akkorde von diesen intonatorisch nicht ganz sauberen Aufnahmen und macht eine spektrale Analyse davon. Mit diesem Spektogramm arbeitet die Komponistin; das Ergebnis ist mikrotonale oder eben «spektrale Tonalität». Lisa Streich sagt dazu, dass sie tonale Musik liebe, aber durch häufiges Spielen und Hören allmählich nichts mehr dabei fühlte. Hingegen habe sie, wenn sie Laienchöre höre, die nicht ganz sauber intonierten, Moll und Dur neu erlebt. Sprich: Wenn gewohnte Akkorde eine Spur falsch sind, kann man Dur und Moll wieder neu erfahren

Ein weiteres kompositorisches Mittel in der Musik von Lisa Streich sind elektronische Klänge, die sie erzeugt, indem sie kleine Geräte am Instrument anbringt. Dadurch entsteht eine sehr eigene, beseelt-maschinelle Atmosphäre – oft im Kontrast mit scharfen Ensembleklängen, die auf diese mechanischen «Olimpia-Welten» (E.T.A. Hoffmann) prallen.

 

Anklänge an die römische Mehrchörigkeit

Und schliesslich gibt es diese Affinität zur menschlichen Stimme und zur Chortradition, die sich durch Lisa Streichs Oevre hindurchzieht. Zum Beispiel im wunderbaren Werk Stabat für 32 Stimmen und vier Chöre. Es ist in Rom entstanden, während Streichs Aufenthalt in der Villa Massimo. Es ist eins ihrer längsten Stücke und inspiriert von der römischen Mehrchörigkeit. Diese wird im Gegensatz zur venezianischen kaum mehr gepflegt, da es sehr aufwändig ist, diese 400 Jahre alte, mehrchörige Musik aufzuführen. Damals haben Knaben auf den Balkonen und sogar in der Kuppel des Petersdoms gesungen, nur durch Luken mit dem Dirigat verbunden. Zwölf Balkone gibt es zum Beispiel in der KircheS. Giovanni in Laterano, wo das Chorwerk uraufgeführt wurde. Mit dieser Vielchörigkeit stellte man damals eine Art unplugged Dolby-Surround-Tonsystem her. Das hat Lisa Streich fasziniert und sie versuchte, in einem vierchörigen Werk diesen Klang ins 21. Jahrhundert zu holen. Das Stück Stabat, das daraus entstand, ist eine Art Meditation für Chor, die eine weite Landschaft suggeriert, oder eine zeit- und raumlose Ebene, in die man sich fallen lassen kann, ohne weich oder hart zu landen. Man IST einfach.

 


32 Stimmen, verteilt auf vier Chöre sind in Stabat von Lisa Streich aus dem Jahr 2017 zu hören. Hier übersetzt sie die 400 Jahre alte römische Mehrchörigkeit ins 21. Jahrhundert

 

Die Frage nach dem religiösen Gehalt solcher Werke, die schon vom Titel her auf eine kirchliche Tradition verweisen, beantwortet Lisa Streich zögernd. Ja, die Religion habe früher in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt. Heute weniger, aber sie sei immer noch wichtig. Allerdings weniger geknüpft an eine bestimmte Religion. «Dass es eine Welt gibt, die unsichtbar ist, aber stärker und grösser als unsere sichtbare Welt, da bin ich mir sicher.  Auch die Musik lässt uns ja Dinge erleben oder spüren, die vielleicht gar nicht von dieser Welt sind.»

Tatsächlich bietet Lisa Streichs Musik die Möglichkeit für spirituelle Öffnungen, wenn man sich denn darauf einlässt. Vielleicht liegt gerade darin die Anziehung im Werk der Komponistin, nicht als Programm, sondern als untergründiger Strom, den man bewusst oder unbewusst wahrnimmt.
Annelis Berger

 

Am Samstag, 8. Oktober, 19:30h, bringt das Collegium Novum Zürich in der Zürcher Tonhalle ihr neues Stück OFELIA zur Uraufführung.

Georges Aperghis

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 12.10.22, 20h / 15.10.22, 21h: Im Innern der Orgel: Lisa Streich, Komponistin und Organistin, Redaktion Annelis Berger

 

Neo-Profile: Lisa Streich, Collegium Novum Zürich,

 

 

 

Nomaden der Neuen Musik

Seit Herbst 2019 hat das Collegium Novum Zürich einen neuen künstlerischen Leiter: den Cellisten und Musikwissenschaftler Johannes Knapp. Neue künstlerische Perspektiven und eine Erweiterung der Hörerschaft hat sich Knapp für das Spezialistenensemble der Neuen Musik auf die Fahnen geschrieben. Seine erste Saison fiel Pandemiebedingt reduziert aus. Nun startet die erste von Knapp kuratierte Spielzeit. Thomas Meyer sprach ihn vor dem zweiten Konzert: dieses findet am 30. Oktober unter der Leitung von Emilio Pomàrico im frisch restaurierten grossen Saal der Tonhalle in Zürich statt.

 

Portrait Collegium Novum Zürich, Konzert Tonhalle Maag Zürich, zVg Collegium Novum Zürich ©François Volpe

 

Thomas Meyer
Die Neue Musik ist zwar nicht mehr so jung, aber sie versteht es doch immer wieder, sich zu verjüngen. Das wird deutlich, wenn zwei Werke aufeinandertreffen, die im Abstand von einem halben Jahrhundert entstanden sind, ein Klassiker und ein Newcomer wie im 3. Saisonkonzert des Collegium Novum Zürich (CNZ) unter Michael Wendeberg am 18. Dezember. Éclat-Multiples steht dort neben (Re)incarnation [Yerlik]: ein zentrales Werk von Pierre Boulez aus dem Jahr 1970 neben jenem eines 34 Jahre jungen Komponisten, dessen Namen die wenigsten bei uns kennen dürften. Der Kasache Sanzhar Baiterekov verarbeitet darin einen alten tengristischen Mythos aus seiner Heimat, in dem es um Unterwelt und Wiedergeburt geht.

Solche Begegnungen haben beim CNZ durchaus Tradition. Seit seiner Gründung 1993 verfolgt es diese doppelte Aufgabe. Einerseits führt es die wichtigen Werke der Neuen Musik auf, die gleichsam einen Standard setzen und für die Bildung der MusikerInnen, aber auch des Publikums von Bedeutung sind. Damit hat das CNZ sich seinen festen Platz im Zürcher Musikleben erarbeitet. Einige MusikerInnen sind seit der Gründung mit von der Partie.

Andererseits sucht das Ensemble das junge, unbekannte: die Herausforderung und Öffnung. Eine „Musik, in der sich das Morgen ankündigt“ möchte auch der Cellist und Musikwissenschaftler Johannes Knapp. Vor zwei Jahren übernahm er die künstlerische Leitung und Geschäftsführung. Seine erste Saison fiel coronahalber reduziert aus.

 

Portrait Johannes Knapp ©Alessandra Carosi

 

Nur vier Konzerte konnten vor kleinem Publikum stattfinden. Deshalb wurden einige Auftritte für Idagio gestreamt. Zudem nahm das Ensemble drei CD-Projekte in Angriff, die heuer fertiggestellt werden sollen, etwa je eine CD mit Musik von Boulez und des Westschweizers William Blank sowie eine Reihe von Schüler-Lehrer-Doppelporträts wie Heinz Holliger/Sándor Veress oder Klaus Huber/Willy Burkhard. Hubers „Erinnere dich an Golgatha“ stand deshalb am Anfang der neuen Saison.

 


Klaus Huber, Psalm of Christ, Collegium Novum Zürich, Bariton: Robert Koller, Dirigent Heinz Holliger, Tonhalle Zürich, Eigenproduktion SRG/SSR 2015

 

Mythen und Legenden

Diesmal liegt ein Fokus auf Mythen und Legenden in aktueller Musik. Das eher als anregende Ausgangsidee denn als durchgängiges Motto. Mythen, so meint Knapp, hätten eine tiefe Verbindung zur Musik, weil sie ebenfalls jenseits von Logik und Worten funktionieren und sich nicht eindeutig fixieren lassen. Es seien Versuche, mit dem Ungewissen, ja dem Schrecken umzugehen.

Und so tauchen in diesen Programmen berühmte Mythen auf: Orpheus in Orpheus falling von Sarah Nemtsov, der Schöpfungsmythos (6. Tag) in Eufaunique von Stefano Gervasoni, der ägyptische Sonnengott Ra in Sortie vers la lumière du jour von Gérard Grisey. Die in Bern lehrende Cathy van Eck wird für den Daphne-Mythos in ihrer neuen Performance die Tonhalle in einen „Wald verwandeln, durch den der Wind weht.“

 


Gérard Grisey: Sortie vers la lumière du jour (1978), Ensemble Phoenix Basel, Leitung Jürg Henneberger, Eigenproduktion SRG/SSR, Gare du Nord Basel 2016

 

 

Schliesslich erscheinen Tierlegenden von Igor Strawinsky (Renard), Ruth Crawford Seeger oder Frank Zappa, die am Ende der Spielzeit erklingen. Der Rockmusiker war in seinen Anfängen stark von Edgard Varèse und Strawinsky beeinflusst.

 

Begegnung mit Barockinstrumenten

 

Andererseits werden in solchen Programmen auch die absolutistischen Dogmen Neuer Musik hinterfragt. Warum muss neue Musik immer „neu“ klingen“? Kann sie nicht historische Grenzen überwinden? So kommt es zur Begegnung mit Barockinstrumenten, konkret mit La Scintilla, der Alte Musik-Formation der Zürcher Oper. Der Franzose Philippe Schoeller schreibt dafür ein neues Werk. Kátoptron und erzählt den antiken Mythos von Echo und Narziss neu.

Sie sind also unterwegs. „Crazy nomads of Zurich“ formulierte ein Spassvogel einmal das Kürzel CNZ aus, weil das Ensemble keine feste Spielstätte hat. Stattdessen sucht es immer wieder neue Spielorte auf, heuer die Krypta des Grossmünsters. Und so notiert Knapp denn auch in seinem Saisoneditorial: „Reisen als ein Erwandern von Klanglandschaften mit dem Ohr. Kunst heisst, nie anzukommen.“
Thomas Meyer

 

Pierre Boulez, Sanzhar Baiterekov, Sarah Nemtsov, Stefano Gervasoni, Gérard Grisey, Frank Zappa, Igor Strawinsky, Ruth Crawford Seeger, Edgar Varèse, La Scintilla, Philippe Schoeller, Emilio PomàricoChristoph Delz, Dahae BooKelley SheehanMichael Wendeberg

 

Portrait Collegium Novum Zürich @Tonhalle Maag Zürich, zVg Collegium Novum Zürich ©François Volpe

 

Kommende Konzerte CNZ:
Grosse Tonhalle Zürich, 30.10.21: And falls into the Netherworld, Dirigent: Emilio Pomàrico, Werke von Sarah Nemtsov, Aureliano Cattaneo, Rebecca Saunders, Stefano Gervasoni
Grosse Tonhalle Zürich, 4.12.21: Konzert 3, Dirigent: Johannes Schöllhorn, Stefan Wirth Klavier; Werke von Kelley Sheehan, Tobias Krebs, Dahae Boo, Christoph Delz

Sendungen SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert, 1.12.21: Konzert CNZ, Tonhalle Zürich, 30.10.21

neo-profiles:
Collegium Novum Zürich, William Blank, Heinz Holliger, Sandor Veress, Klaus Huber, Willy Burkhard, Cathy van Eck, Gare du Nord, Ensemble Phoenix Basel, Rebecca Saunders, Tobias Krebs

Lucerne Festival – Engagement für neue und neuste Musik

Rebecca Saunders, gefeierte britische Komponistin, ist composer-in-residence am Lucerne Festival. Acht Schweizer Erstaufführungen und eine Uraufführung gibt es von ihr zu hören. Viele der Stücke werden vom neuen ‘Lucerne Festival Contemporary Orchestra’ interpretiert: es steht für das langjährige Engagement für neue und neuste Musik des Festivals und bildet künstlerischen Kern des neuen Herbstfestivals für Gegenwartsmusik ‘Lucerne Festival Forward’.

Der neoblog portraitiert den neuen Fokus zeitgenössische Musik am Lucerne Festival in mehreren Folgen: Den Einstieg bildet Rebecca Saunders – composer-in-residence am Sommerfestival.

 

Portrait Rebecca Saunders © Astrid Ackermann / zVg Lucerne Festival

 

Gabrielle Weber
Rebecca Saunders, Trägerin des Ernst-von-Siemens-Musikpreises 2019 und weltweit gefragte Komponistin, ist dieses Jahr in Luzern hautnah zu erleben. Seit ihrem Studium bei Wolfgang Rihm in Karlsruhe lebt die britische Komponistin in Berlin und ist an allen wichtigen Festivals der zeitgenössischen Musik präsent: sei es mit Kammermusik, Orchesterwerken oder auch mit performativen Klanginstallationen.

In Luzern kann man nun so umfassend wie selten in Saunders Musik der Stille, der Farben und der Körperlichkeit eintauchen. 

“Stille ist wie die Leinwand hinter dem Klang, Stille rahmt den Klang”, sagt Saunders. Die Stille mischt Saunders mit Klangfarben und leisen Klangfarbenveränderungen. Oft schwebt Saunders beim Komponieren als erstes ein einzelner Klang, eine reale Farbe oder eine Stimmung vor. “Man begibt sich beim Komponieren in eine Landschaft, in eine klangliche Situation, und irgendwann erreicht man eine absolute Fokussiertheit – dann ist alles was man macht richtig”.

Nach Möglichkeit geht Saunders neue Stücke zusammen mit den Interpretinnen und Interpreten an, im gemeinsamen behutsamen Herantasten an die Eigenheiten von Instrumenten. „Was gibt es Schöneres als im Austausch mit den Musikern zu sein, und über jedes kleine Detail bis zum Schluss zu diskutieren“, meint sie dazu.

Das Solostück blaauw aus dem Jahr 2004 komponierte Saunders bspw. für den niederländischen Trompeter Marco Blaauw, der es in Luzern selbst spielen wird. Mit seiner von ihm entwickelten Doppeltrichtertrompete führt Blaauw in Saunders Stück ein Gespräch, nicht nur zwischen den zwei Teiltrompeten, sondern auch mit der Raumakustik oder mit einem Konzertflügel, in dessen Resonanzraum die Trompete spielt, und mit dem Publikum. Der Titel steht für den Interpreten Blaauw und ist gleichzeitig leise augenzwinkernde Anspielung an Saunders Vorliebe für Farben.

 

Rebecca Saunders: blaauw, 2004, Nenad Markovic, Trompete / Ensemble Laboratorium, Davos Festival 2012, Eigenproduktion SRG

 

Auf Blaauws Doppeltrichtertrompete sind nicht nur Vierteltöne, sondern auch feine und abrupte Klangfarbenveränderungen oder extrem lange und grosse Glissandi möglich.

Glissandi prägen auch das neue Klavierkonzert To an Utterance, geschrieben für den Pianisten Nicolas Hodges. Saunders lotet hier fast körperliche Grenzen pianistischer Virtuosität aus, erläutert sie im Vorgespräch mit Mark Sattler, Festivaldramaturg für die zeitgenössische Musik am Lucerne Festival.

Gemeinsam mit dem Pianisten Hodges erforschte sie die Realisierbarkeit von extremen Glissandis unter verschiedenen Vorgaben, bspw. unter Einbezug ausschliesslich aller schwarzen oder aller weissen Tasten. Als energiebeladene Klanggesten verbunden mit melodischen Linien ziehen sie sich durch das Stück und erschaffen einen ungeahnten Farbenreichtum.

 

Portrait Rebecca Saunders © Astrid Ackermann / zVg Lucerne Festival

 

“Das Klavier ist mein Zuhause” sagt Saunders. Die starke Beziehung zum Instrument sei der Grund, weshalb sie viele Stücke für Klavier geschrieben habe und schon seit Jahren den starken Wunsch verspürte, ein Klavierkonzert zu schreiben. Mit der Uraufführung von to an utterance, Saunders erstem Klavierkonzert, wird der Traum in Luzern nun wahr.

 


Rebecca Saunders, The underside of green for Clarinet, Violin &Klavier 1994, Collegium Novum Zürich, Eigenproduktion SRG: The underside of green gehört zu einer Reihe von Kompositionen, die durch den Schlußmonolog der Molly Bloom in James Joyce Ulysses angeregt wurden.

 

Literatur, Prosa, Lyrik aber auch lexikalische und Sachtexte faszinieren Saunders seit jeher. Autoren wie Samuel Becket oder James Joyce begleiten ihr Komponieren ständig.

Aus der Faszination entstehen manchmal reine Instrumentalstücke, die auf Texten oder Worten basieren aber ohne Worte auskommen. Dann übersetzt Saunders die Farbe der Sprache in Klang, wie im Streichquartett Fletch (UA 2012)Die zischende Aussprache des titelgebenden Wortes (Fletch = ‘befiedert’ steht für das befiederte Ende eines Pfeils) verwandelt sie in pfeilartige, impulsive Gesten des Streicherklangs.

Oder es resultieren Stücke für Stimme, in denen ein Text oder manchmal auch nur einzelne Worte im Zentrum stehen. Nether für Sopran und Ensemble (UA 2019) bspw. dreht sich um den Monolog der Molly Bloom aus dem letzten Kapitel von James Joyces Jahrhundertepos ‘Ulysses’. Den Stimmpart übernimmt in Luzern die britische Sopranistin Juliet Fraser, mit der Saunders schon lange zusammenarbeitet.

Sie wolle einen Text nicht bloss vertonen, sondern das, was den Text ausmache, hörbar und spürbar zu machen, sagt Saunders. Viel geschieht dabei ‘hinter dem Text’, in Zwischenmomenten. ‘Nether’ bedeutet im Deutschen so viel wie ‘unter’, also das unter der Oberfläche Verborgene. Aus Mollys Monolog entsteht eine emotionale, fast theatrale, räumlich angelegte Vokalperformance. «Die Zuhörer*innen befinden sich im Innern der Musik», so Saunders, «als würden sie mitten in einer musikalischen Skulptur, im Gewebe des Klangs sitzen.»

The Mouth für Sopran und Tonband und Skin für Stimme und Ensemble schrieb Saunders Fraser auf den Leib oder auf die Stimme. Der Mund und die Haut sind für Saunders zwei der wichtigsten Schnittstellen des Menschen zwischen seinem Inneren und der Aussenwelt. Für The Mouth entwickelte Saunders in enger Zusammenarbeit mit Fraser ‘unverbrauchte Artikulationsformen’, die diese Schnittstelle fühlbar machen.

 

Rebecca Saunders, The mouth, Juliet Fraser, World premiere 2020, Centre Pompidou Paris

 

Sie wolle ‘von der Oberfläche des Klangs zur Essenz der Stimme vordringen: dem physischen Körper, der diesen Klang produziert’, schreibt Saunders zu The Mouth (UA 2020). “Klang ist körperliche Erfahrung, ein Erleben das auf alle Sinne zugreift”, so Saunders.
Gabrielle Weber

 

Portrait Rebecca Saunders © Johannes List – Ernst von Siemens Musikstiftung / zVg Lucerne Festival

 

Rebecca Saunders – composer-in-residence am Lucerne Festival

Portraitkonzerte:
21.8., 11h: Marco Blaauw, Trompete, Arditti Quartet, Trio Accanto (u.a. blaauw, fletch)
4.9., 11h: Juliet Fraser, Sopran, Solist*innen der Hochschule Luzern – Musik: Daniela Argentino, Sopran, Clemens Heil, Dirigent (u.a. The Mouth / Skin)

Weitere erwähnte Konzerte:
28.8., 22h: Juliet Fraser, Sopran, Ensemble des Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Dirigentin: Johanna Malangré (u.a. Nether, Schweizer Erstaufführung)
4.9., 18:30h: Nicolas Hodges, Klavier, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Dirigent: Ilan Volkov (u.a. to an utterance, Uraufführung)

 

Rebecca SaundersWolfgang Rihm, Juliet Fraser, Marco Blaauw, Arditti Quartet, Trio Accanto

 

Sendungen SRF2Kultur:
Kultur-Aktualität, 17.1.2019: Ernst von Siemens Musikpreis an Rebecca Saunders: die Lautmalerin der Stille, Redaktion Florian Hauser (verlinken):

Musikmagazin, 22.10.2016: Kaffee mit Rebecca Saunders, Redaktion Florian Hauser

Kontext – Künste im Gespräch 26.8.2021: Rebecca Saunders: composer-in-residence Lucerne Festival, Redaktion Annelis Berger

Musik unserer Zeit, 22.9.2021, 20h: Rebecca Saunders, Redaktion Annelis Berger

Neue Musik im Konzert, 22.9.2021, 21h: Portraitkonzert Rebecca Saunders 2, u.a. the mouth & skin

 

Neo-profiles:
Rebecca SaundersLucerne Festival ContemporaryLucerne Festival Contemporary Orchestra, Davos Festival – Young artists in concert, Collegium Novum Zürich

“partage de l’écoute”

Archipel, das Genfer Festival für zeitgenössische Musik, findet statt: live on stream vom 16. bis zum 25.April. Archipel sous surveillance, das Festival-Web-TV, bringt das Festival live ins Zuhause des Publikums.

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

Gabrielle Weber
2020 war in mancher Hinsicht ein besonderes Jahr für das legendäre Genfer Festival. Nach langjähriger Intendanz des Musikwissenschaftler Marc Texier trat ein neues Intendantenduo an. Marie Jeanson -sie stammt aus der experimentellen und improvisierten Musik- und Denis Schuler -er ist Komponist und künstlerischer Leiter des Genfer Ensemble Vide- wollen das Festival umkrempeln.

Das neue Intendantenduo erklärte mir im letzten Frühjahr, kurz vor dem geplanten Start, seine Vision des idealen Festivals. In einer eintägigen Carte Blanche sollte diese Vision exemplarisch umgesetzt werden.

Das Festival fiel als eines der ersten dem ersten Lockdown zum Opfer.
Dieses Jahr findet es online statt.

 

 So präsentierten Marie Jeanson und Denis Schuler sich und ihre eintägige Carte blanche, geplant für ihre erste Festivalausgabe 2020. Video Genf März 2020 ©neo.mx3

 

Die Vision von Jeanson und Schuler hörte sich an wie ein Fünf-Punkte-Plan: wie steht es nun damit? Was wurde -trotz Pandemie und Streaming- umgesetzt? Ich nahm unser Gespräch nochmals hervor… Ein Abgleich zeigt die Schnittmenge:

 

Der fünf-Punkte-Plan von 2020 – das Festival 2021: ein Vergleich

La musique c’est fait pour être vécue ensemble

2020: Alles ist eine Einheit – Musik und Leben gehören zusammen. Die Carte Blanche sollte einen ganzen Tag dauern, alles an einem Ort stattfinden -in der maison communale de Plainpalais-, und Gastfreundschaft mit gemeinsamen Mahlzeiten und Gelegenheiten zum Austausch im Zentrum stehen. Denn: “Musik ist da, um zusammen gelebt zu werden”, sagt Schuler.

2021: Umgesetzt ist die Einheit von Leben und Musik in Archipel sous surveillance’. Das experimentelle Festival-Web-TV begleitet on- &backstage hautnah vor Ort und bringt das Festival ins Wohnzimmer des Publikums, täglich von 12h-00h. Das Publikum lebt -wenn es möchte- mit dem Festival.. 

  

Archipel sous surveillance ©zVg Festival Archipel

 

‘cohérence poétique’

2020: Das Festival will sich in Zukunft weniger auf die Musikschaffenden als auf das Publikum ausrichten. “Wir möchten einen Rahmen schaffen, wo man berührt wird durch eine poetische Kohärenz. Wir erzählen Geschichten und möchten in den Menschen ein Begehren wecken, wiederzukommen”, sagt Jeanson.

2021: Vier Klanginstallationen bespielen vier Räume der Maison communale de Plainpalais. Sie sind während des ganzen Festivals online begehbar. Das charakteristische, historische Festivalstammhaus ersteht online neu und bildet einen durchgängigen poetischen Raum zwischen Fiktion und Realität.. 

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

‘faire exister la création’

2020: Am Festival-Wettbewerb um die meisten und besten Uraufführungen will Archipel nicht (mehr) mitmischen. “Vielen geht es ja nur darum, die ersten zu sein, die irgendetwas tun oder zeigen”, sagt Schuler. Dem Intendantenduo geht es aber darum, “die Kreation lebendig zu erhalten”. “Uns interessiert die Mischung von Komposition mit dem was direkt im Moment entsteht.

2021: Komposition und Improvisation begegnen sich an vielen Konzerten. Bspw. die Improvisatorin Shuyue Zhao und das Basler Ensemble neuverBand. Zhao hinterfragt in ihren Performances die Rolle der Interpretin und arbeitet mit Live-Elektronik, noise und Improvisation. Werke u.a. von Sofia Gubaidulina oder Junghae Lee, interpretiert vom Ensemble neuverBand, bilden zusammen mit Zhaos Improvisationen ein neues Ganzes.

 


Shuyue Zhao: noise fragments, 2019

 

‘partage de l’écoute’

2020: Auch Transdisziplinarität steht nicht im Zentrum des künftigen Festivals. Vielmehr geht es um das ‘reine Hören’. “Wir möchten einen besonderen Rahmen schaffen, in dem das konzentrierte Hören im Zentrum steht”, so Jeanson. Konzentration schaffe eine besondere Präsenz, die paradoxerweise der Stille nahekomme. “An der Carte Blanche gibt es bspw. ‘Salons d’écoute‘, Räume für das reine Hören also, mit Klangdiffusionssystem (Acousmonium) und Soundingenieur. Wer will bringt eine eigene CDs zum gemeinsamen Hören und Besprechen mit”.

2021: die salons d’écoute finden etwas anders statt: CDs können zwar nicht mitgebracht werden. Aber jeden Mittag um 12h gibt es sogenannte ‘partages d’écoute’ an denen ein*e Komponist*in seine/ihre Hörschätze (mit)teilt. Bspw. lassen sich da gemeinsam mit dem Komponisten Jürg Frey oder der Komponistin-Sängerin Cassandra Miller ihre Trouvaillen entdecken.

 

Rencontres à l’improviste – Unverhoffte Begegnungen

2020: Musikschaffende, die sich vorher nicht kannten, werden von den Kuratoren zusammengeführt. “Wir provozieren Begegnungen und schaffen den Rahmen: die Musiker*innen können in einem gegebenen Zeitrahmen spielen, was und wo sie wollen. Sie entscheiden kurzfristig, so dass das Publikum überrascht wird”, meint Schuler.

2021:  Insub.distances#1-8  verlinkt remote Musikschaffende. Cyril Bondy, der Leiter des Genfer Insub Meta Orchestra und d’Incise, Träger eines Schweizer Musikpreises 2019, initiierte das Projekt für Archipel’21. Dabei komponierten vier Genfer und vier internationale Komponierende je ein Stück für ein Duo: im harten Genfer Lockdown, von September bis Dezember 2020. Alle haben Nähe und Distanz zum Thema. Die Stücke wurden remote geprobt, eingespielt und online gestellt. Nun sind sie alle verteilt übers ganze Festival zu hören.


Insub Meta-Orchestra / Cyril Bondi & d’incise: 27times, 2016

 

Erstaunlich, wie passgenau sich Marie Jeansons und Denis Schulers im Kleinen angelegte Festivalvision nun im Grossen wiederfindet. Und das trotz Pandemie und Streaming.
Gabrielle Weber

 

Festival Archipel Teaser 2021

 

Das Genfer Festival Archipel findet vom Freitag, 16. bis zum Sonntag, 25. April statt. An zehn Tagen treten internationale Interpret*Innen und Ensembles wie Ensemble Ictus, Collegium Novum Zürich, ensemble Contrechamps, Eva Reiter mit Werken von u.a. Clara Iannotta, Alvin Lucier, Jürg Frey, Helmuth Lachenmann, Eliane Radigue, Cassandra Miller, Morton Feldman, John Cage oder Kanako Abe auf. Alle Konzerte sind per Stream kostenlos zugänglich.

Archipel sous surveillance sendet täglich von 12h-24h durchgehend von allen Austragungsorten, back- und onstage. Beteiligt sind die Genfer Filmcrew Dav tv und das alternative Fernsehen neokinok.tv.

 

Sendungen:
RTS:
Le festival Archipel met à l’honneur les musiques experimentales
SRF 2 Kultur:

neoblog, 12.3.2020Ma rencontre avec le future – ANNULÉ, Gabrielle Weber im Gespräch mit dem Intendantenduo Jeanson/Schuler.

Neo-Profiles: Festival Archipel, Shuyue Zhao, Jürg Frey, Insub Metha Orchestra, Ensemble Batida, Ensemble Contrechamps, Patricia Bosshard, d’Incise

Offenheit und Kontinuität

35 Jahre ensemble für neue musik zürich
Bereits drei Jahrzehnte setzt es wesentliche Akzente: 1985, im Gründungsjahr, befand sich die zeitgenössische Musik erst im Aufbruch – heute steht sie vor besonderen Herausforderungen. Eine Rückschau mit Ausblick von Thomas Meyer.

ensemble für neue musik zürich

Man muss sich die Situation im musikalischen Zürich um 1980 vergegenwärtigen. Das Konservatorium machte seinem Namen noch Ehre: Es bewahrte und war noch keine Hochburg der Kreation wie heute. Uraufführungen wurden in Tonhalle-Abokonzerten von Herzen ausgebuht. Es gab zwar kleine Konzertreihen für Neue Musik, aber kein Spezialistenensemble dafür. Es war viel zu tun.

Als 1986 erstmals die Tage für Neue Musik durchgeführt wurden, trat ein junges Ensemble hervor, das sich erst ein Jahr zuvor erstmals präsentiert hatte, benannt schlicht als „ensemble für neue musik zürich“. Hier kam eine Handvoll Musiker zusammen, die eben das Neue suchten, die sich für die jungen KomponistInnen ihrer Generation und ihre Umgebung einsetzten und die auch sonst keinen engen Musikbegriff hatten. Auslöser dazu war ein Konzert des Gruppo Musica Insieme di Cremona bei den Zürcher Junifestwochen mit der Mezzosopranistin Cathy Berberian. „Mir ist es wie Schuppen von den Augen gefallen: So etwas möchte ich auch machen.“ sagt der Flötist Hanspeter Frehner, der das Ensemble mit anderen jungen Studenten gründete und bis heute künstlerisch leitet. Zusammen mit dem Pianisten Viktor Müller ist er als einziger noch von der ursprünglichen Crew mit dabei.

Hanspeter Frehner Portrait

Zwei wesentliche Charaktereigenschaften prägen das Ensemble: Offenheit und Kontinuität. Die Offenheit zeigt sich etwa daran, dass sie schon früh Komponistinnen-Programme spielten und mehrere Aufträge etwa an Liza Lim oder Noriko Hisada gaben. Oder aber, dass sie Jazzmusiker um Kompositionen baten – woraus etwa die Karriere eines Dieter Ammann entsprang. Oder dass sie sich bildender Kunst widmeten wie in den Hommages an den Zürcher Bildhauer Hans Josephsohn oder in der Zusammenarbeit mit dem Interventionskünstler Peter Regli.


Verwandtschaft, composer: Junghae Lee, UA Winterthur, Villa Sträuli  2019, ensemble für neue musik zürich

Vor allem aber brachten sie das Musiktheater voran: Die Besetzung des „ensembles“ geht nämlich auf Schönbergs cabarethaften „Pierrot lunaire“ zurück: Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier, erweitert um das Schlagzeug, ähnlich wie die „Fires of London“ von Peter Maxwell Davies in London. Und mit zwei Kurzopern von Davies bewies das „ensemble“ früh schon, dass man mit wenigen, konsequent eingesetzten Mitteln grandioses Musiktheater machen kann. Ein anderes Experiment war, zusammen mit Regisseur Herbert Wernicke, eine radikale Version der „Lustigen Witwe“ – so frech, dass die Léhar-Erben sie prompt verboten. Kammeropern gehören seither fest zum Programm. Kommenden November steht zum Beispiel eine Operette des Dortmunder Komponisten Johannes Marks auf dem Spielplan: „Neues vom Weltuntergang“.

Die Kontinuität zeigt sich in der langen Zusammenarbeit untereinander, aber auch mit Komponistinnen und Komponisten. Das „ensemble für neue musik“, so sagt etwa die Japanerin Noriko Hisada, „ist eine jener Musikgruppen, der ich zutiefst vertraue.“ Und der Deutsche Sebastian Gottschick begleitet das „ensemble“ seit langem auch als Dirigent. Dieser Tage erscheinen bei Hat Hut (ezz-thetics) denn auch gleich zwei neue CDs mit seinen „Notturni“ sowie mit Bearbeitungen von Charles Ives-Songs. Im Herbst ist ausserdem ein Memorial für den 2010 verstorbenen Komponisten Franz Furrer-Münch geplant. Was auch zeigt: Hier geht es nicht nur um die grossen Namen der Neuen Musik, hier wird Basisarbeit betrieben, wird gefördert…


Trailer ZUHÖAN, Komposition Duo: Christoph Coburger / Sebastian Gottschick, UA 2015, ensemble für neue musik zürich

Auf diese Weise hat das ensemble dreieinhalb Jahrzehnte Akzente gesetzt. Vor einiger Zeit tauchte das Gerücht auf, es wolle sich auflösen, die Musiker seien ja allmählich im Pensionsalter. Tatsächlich läuft die Subvention der Stadt Zürich Ende 2021 aus, aber Ideen für Projekte darüber hinaus habe man noch einige, sagt Frehner. Im übrigen sei es durchaus in Ordnung, wenn die regelmässige städtische Unterstützung in die Zukunft, also in ein junges Ensemble investiert würde.

Man muss sich nämlich die Situation im heutigen Zürich vergegenwärtigen: Einen festen Spielort wie die Gare du Nord in Basel hat die Neue Musik nicht, mit dem Walcheturm im Kasernenareal ist zumindest eine von der freien Szene gewünschte Option vorhanden. Die Tage für Neue Musik stehen vor einer Neukonzeption, die Orchesterkonzerte strotzen nicht gerade von Novitäten. Es gibt zwar eine reiche Kreation an der ZHdK und mit dem Collegium Novum Zürich auch ein fixes Kammerorchester, aber ein neues kleineres Ensemble müsste unterstützt werden. Es ist noch viel zu tun.
Thomas Meyer

Die im Mai und Juni geplanten Konzerte wurden Corona-bedingt abgesagt und werden wie folgt nachgeholt:
Stöckli/Neumann/Ustwolskaja (anstelle 16.5.20): am 5.2.21
CD Taufe Ives/Gottschick (anstelle 14.6.20): am 12.12.20
Grüsse an Regli (anstelle 28.6.20): am 29.6.21

ensemble für neue musik zürich, Hat HutSebastian Gottschick, Liza Lim, Franz Furrer-Münch, Dieter Ammann, Hans Josephsohn, Johannes Marks, Peter Regli

Neo-Profilesensemble für neue musik zürich, Dieter Ammann, Junghae Lee

“..spielen bis wir umfallen..”

 

Portrait Urs Peter Schneider ©Aart-Version lagr

Im Rahmen von Focus Contemporary feiert das Musikpodium der Stadt Zürich  den 80. Geburtstag von Urs Peter Schneider.
Hommage an ein ‘querköpfiges Unikat’ von Thomas Meyer:

Die 60er Jahre waren eine höchst bewegte Zeit für die Musik. Die Formen lösten sich auf. Konzepte, Happenings, Performances, Aleatorik und Improvisation traten an die Stelle fix auskomponierter Werke. Während bald jedoch viele wieder zum althergebrachten Handwerk zurückkehrten, verschrieb sich eine Gruppe hierzulande hartnäckig dieser Offenheit: das Ensemble Neue Horizonte Bern, gegründet 1968 und bis heute unverdrossen bestehend. «Wir werden», so sagte ein Ensemblemitglied einmal im Gespräch, «spielen, bis wir umfallen.» Ohne sie gäbe es wohl keine Cage-Tradition in der Schweiz und auch wenig Konzeptmusik auf enger Flur.

Ensemble Neue Horizonte Bern

Schweizer Cage-Tradition

In diesem Kollektiv aus KomponistInnen und InterpretInnen nimmt einer seit Beginn die besondere Position des Spiritus rector ein: Urs Peter Schneider, der heuer seinen Achtzigsten feiert, geboren in Bern, heute in Biel lebend und fröhlich weiter schaffend mit Kompositionen, Texten, Gebilden und Konzepten. Ihm zu Ehren veranstaltet das Musikpodium Zürich im Rahmen von Focus Contemporary ein Konzert: Dominik Blum spielt Klavierstücke von ihm, vom Neue-Horizonte-Kollegen Peter Streiff sowie von Hermann Meier, für dessen fast vergessenes Werk sich Schneider nachhaltig eingesetzt hat. Ausserdem singt der Chor vokativ zürich neben dem „Chorbuch“ von 1977 die neuen „Engelszungenreden“. Der Titel verweist darauf, dass Schneiders Musik auch gern ins Spirituelle hinaufgreift.


Hermann Meier, Klavierstück für Urs Peter Schneider, HMV 99, 1987

Komponist/Pianist/Interpret/Performer/Pädagoge in einem, ist Schneider eines dieser querköpfigen Unikate, wie es sie gerade auch in der Schweiz nicht selten gibt. Seine Musik zu beschreiben ist nicht leicht, weil sie so vielfältig sein kann, denn häufig ändert er die Verfahrensweise. Schneider arbeitet gern mit Strategien. Im Kern folgt er dabei jenen seriellen Techniken, in denen seine Musik ihre Wurzeln hat. So tüftelt er oft lange und gründlichst an den Permutationen von Tönen, Instrumenten, Lautstärken etc., bis sie endlich aufgehen. Und er entwickelt dafür eine sehr eigene, radikale Beharrlichkeitsgestik.


Urs Peter Schneider, ‘Getrost, ein leiser Abschied’ für zwei Traversflöten und Bassblockflöte, 2015

Radikale Beharrlichkeitsgestik

Es bleibt allerdings nicht bei den Tönen. Vielmehr wendet er solche Strategien auch auf Worte an, auf Graphiken und theatralische Handlungen, ja irgendwie auf alles, was sein Schaffen umgibt, bis hin zu den Datierungen, Widmungen. Auch die Konzertprogramme sind – eine wichtige Qualität überhaupt der Neuen Horizonte – komponiert. „Die Bestandteile einer Darbietung relativieren, ergänzen, kommentieren sich gegenseitig in ausgeklügelter Weise.“ Ebenso fügt er, wenn er Bücher oder CDs herausgibt, seine Stücke nicht einfach lose aneinander, sondern stellt aus dem gesamten Schaffen eine neue Konstellation her. Denn dieser Stratege ist besessen davon, Ordnungen herzustellen.

Urs Peter Schneider: meridian-1-atemwende ©aart-verlag

Alles wird dabei gedreht und gewendet. Ständig entdeckt/erfindet er neue Verfahren. Er ist eigentlich ein Verfahrenskomponist und damit der konzeptuellen Musik sehr nahe. Dieser Gattung widmete er 2016 das Buch «Konzeptuelle Musik – Eine kommentierte Anthologie», ein exemplarisches und unverzichtbares Kompendium.

Die Spontaneität dieser offenen Formen wirkt wohl auch als Korrektiv zur Strenge. Zuweilen könnte ja in diesen Verfahrensweisen die Lebendigkeit und Biegsamkeit verloren gehen und die Ordnung in sich selber versanden. Doch gerade dann geschieht oft Überraschendes. Denn die Werke Schneiders kennen Witz, ja Heiterkeit. Zuweilen an ungewohnter Stelle, gelegentlich mit wohltuender Selbstironie.
Thomas Meyer

Hermann Meier, Stück für grosses Orchester und drei Klaviere, 1964, HMV 60 ©Privatbesitz

Das Festival Focus Contemporary Zürich findet vom 27. November bis zum 1. Dezember statt: In fünf Konzerten präsentieren die Zürcher Veranstalter Tonhalle Zürich, Collegium Novum Zürich, Zürcher Hochschule der Künste und Musikpodium Zürich gemeinsam eine Auswahl zwischen jungem experimentellem Musikschaffen und Altmeistern, an Orten wie der Tonhalle Maag, dem ZKO-Haus oder dem Musikclub Mehrspur der ZHdK.

Focus Contemporary Zürich, 27. 11.- 1. 12, Konzerte:
27.11., 20h ZHdK, Musikklub Mehrspur: Y-Band: Werke von Matthieu Shlomowitz, Alexander Schubert
28.11., 19:30h Musikpodium Zürich, ZKO-Haus: Urs Peter Schneider zum Achtzigsten: Werke von Urs Peter Schneider, Hermann Meier, Peter Streiff
29.11., 19:30h Tonhalle Orchester, Tonhalle Maag: Heinz Holliger zum Achtzigsten: Werke von Heinz Holliger und Bernd Alois Zimmermann
30.11., 20h Collegium Novum Zürich, Tonhalle Maag: Werke von Sergej Newski (UA), Heinz Holliger, Isabel Mundry und Mark Andre
1. 12., 11h ZHdK, Studierende der ZHdK: Werke von Heinz Holliger, Mauro Hertig, Karin Wetzel, Micha Seidenberg, Stephanie Haensler

Musikpodium ZürichAart-Verlag

Neo-profilesZürcher Hochschule der Künste, Collegium Novum Zürich, Urs Peter Schneider, Hermann Meier, Heinz HolligerPeter Streiff, Stephanie Haensler, Karin Wetzel, Gilles GrimaitreDominik Blum

Musik für die Trommelfelle – ‘Elemental realities’: UA am Schlusskonzert der Donaueschinger Musiktage, 20.10.2019

Jürg Frey ©Graham Hardy

Gabrielle Weber
Der Aargauer Komponist Jürg Frey hat sich vier Monate in die Arbeit an seinem neuen Stück ‘Elemental Realities‘ fürs Schlusskonzert der Donaueschinger Musiktage vergraben. Im Interview spricht er über diesen Extremzustand, über das ‘Hören’ an sich oder das Privileg, nicht nur für Aufträge komponieren zu können.

Die anglophone Musikszene um Cornelius Cardew und das Londoner Scratch Orchestra oder Christian Wolff waren in seinen frühen Jahren für Jürg Frey wegbestimmend. Heute wird er in Londoner insider-Kreisen selbst regelmäßig gespielt. Das war nicht immer so. Lange Jahre galt er als Geheimtipp, komponierte zunächst kaum für Publikum, und ab den 90er Jahren im engen Austausch mit dem Komponistenkollektiv und Label Wandelweiser, einer Sinnesgemeinschaft , die wie er selbst ‘radikal stille Sachen machte’. 2015 Composer in Residence am Festival Huddersfield, startete eine von ihm eher unerwartete späte internationale Karriere.


Jürg Frey, Floating Categories 2015, live recording 2017

Jürg Frey, Sie sind in der Selbstdefinition ‘Komponist der Stille ‘. Wie fühlen Sie sich vor ihrer Uraufführung am Schlusskonzert der Donaueschinger Musiktage?

Gerade jetzt bin ich ruhig. Vor der ersten Probe -dem ersten Zusammentreffen meiner Musik mit dem Dirigenten und dem Orchester- ist bei mir die Spannung am Größten. Wenn es dort gut läuft, dann gehe ich gelassen in diese Uraufführung.

Wie kam es zu diesem Auftrag?

Das ist mir selber nicht klar -lacht-: ich erhielt eine E-Mail von Björn Gottstein, dem Intendanten, mit Betreff: ‘Achtung kurzfristige Anfrage’. Ich dachte, es ginge wohl um 2020. Ich brauchte zunächst zwei Tage Bedenkzeit. Dann sagte ich zu und vergrub mich während vier Monaten ausschliesslich in die Arbeit. Es ging an die Grenzen meiner körperlichen und mentalen Möglichkeiten.

Was stand am Anfang Ihres neuen Stücks ‘Elemental Realities’?

Der Anfang, die ersten drei bis vier Wochen, waren für mich die schwierigste Zeit. Da waren zunächst hunderte Ideen, ein regelrechtes Gewitter oder Geflimmer. Dann kristallisierten sich Energie und Richtung des Stücks heraus. Die überbordende Kreativität musste ich zunächst auf ein vernünftiges Level bringen um überhaupt arbeiten zu können. 

Gab es Vorgaben – konnten Sie ‘drauflos’ komponieren?

Ich konnte machen was ich wollte. Das Stück sollte nur nicht übertrieben lang sein: das ist das Schöne an einer so kurzfristigen Anfrage, da konnten keine Forderungen gestellt werden.

 In einem Text zum Stück sprechen Sie vom ‘Notenblatt als Membran’ zwischen Stille und Klang – und vom einzelnen Interpreten als fragiles Bindegliede zwischen ‘privater Stille’ und ‘klingender Musik im öffentlichen Raum’ …

Jede einzelne Note entsteht bei mir im Bewusstsein, dass sie in den Raum hinaus klingt und auf der Rückseite des Notenblattes mit Stille in Berührung kommt. Jede Note hat zwei Richtungen. Jede Note zählt. Der Interpret, die Interpretin steht genauso an dieser Schwelle zwischen Sound und Stille. Diese Schwelle interessiert mich.


Jürg Frey, Extended Circular Music No.8 (excerpt), Live at Dog Star Orchestra, LA 2015

“Das Stück gibt den Musikern Gelegenheit echt gut zu sein”.

Was dürfen wir klanglich konkret von Ihrem neuem Stück erwarten?

Es gibt zwei Elemente im Stück, die sich gegenseitig abwechseln. Das eine ist ein Flächiges: Streicher oder Schlagzeuger beispielweise spielen kontinuierliche stehende Klänge.

Daneben gibt es kleine musikalische Objekte, wie kurze Melodien und Akkorde, Folgen von einzelnen Tönen, alles sehr delikat instrumentiert. Da sind die Musiker sehr gefordert.

Sie sprachen von der Trias Komposition, Dirigent und Klangkörper. Welche Rolle spielt dabei das Publikum?

Das ‘Hören’- durch die Musiker oder das Publikum – ist für mich bestimmend. Die Verbindung zum Publikum ist das Hören. Wenn Musikerinnen und Musiker im Orchester präzise spielen aber auch (zu)hören, überträgt sich das auf das Publikum, auch in einem grossen Saal.

“Meine Musik ist eine Musik für die Ohren, für die Trommelfelle der Zuhörenden – ob im Saal oder im Orchester.”


Jürg Frey, Louange de l’eau, louange de la lumière, Basel Sinfonietta 2011

Donaueschingen, insbesondere eine Aufführung am Schlusskonzert, gilt als Schlüsselmoment einer Komponistenkarrieren – Hat sich ihr Komponieren seither verändert?

Aufs Komponieren hatte es keinen Einfluss. Aber die Arbeitssituation hat sich, seitdem meine Musik mehr Resonanz hat, geändert. Früher entstanden 90% meiner Stücke ohne Auftrag. Antrieb war immer eine künstlerische Notwendigkeit. Nun sage ich bereits Aufträge ab, denn ich möchte auch weiterhin frei komponieren, sofern ich eine innere Notwendigkeit spüre. Diesen Freiraum empfinde ich als grosses Privileg.
Interview Gabrielle Weber

Jürg Frey ©Graham Hardy

Die Donaueschinger Musiktage finden vom 17.-20. Oktober statt. In Uraufführungen und Gesprächen sind nebst Jürg Frey auch Michael Pelzel, Beat Furrer und das Collegium Novum Zürich zu hören.

UA Jürg Frey: Elemental Realities, Donaueschinger Musiktage, Sonntag, 20. Oktober, 17h, Saalsporthalle

Sendungen SRF 2 Kultur: t.b.a.

neo-profiles: Jürg Frey, Donaueschinger Musiktage, Michael Pelzel, Beat Furrer, Collegium Novum Zürich, Basel Sinfonietta