Die Komponistin mit dem Lötkolben

Sie lebt mit ihrer Familie auf der schwedischen Insel Gotland, wenn sie nicht gerade unterwegs ist mit Ihrer Musik, die inzwischen von den wichtigsten Ensembles für zeitgenössische Musik und grossen Sinfonieorchestern gespielt wird. Lisa Streich erschafft mit modernsten Kompositionstechniken eine universelle Musiksprache, die das Publikum direkt anspricht und den heutigen Zeitgeist trifft, ohne anbiedernd zu sein. Wie sie das schafft, versucht Annelis Berger im Gespräch mit ihr herauszufinden.

 

Portrait Lisa Streich zVg. Lisa Streich

 

Annelis Berger
Kontraste, immer wieder diese Kontraste: Scharfe Peitschenschläge dringen ans Ohr, und in den Lücken – diesen entsetzlichen Lücken zwischen den Schlägen – schweben seltsam entrückte Pianissimo-Akkorde, bei denen man nicht weiss, ob das Ohr sich täuscht oder ob da tatsächlich die Orchestermusiker:innen leise mitsingen. Staunend sitzt man da und taucht ein in eine überraschende Musiksprache, die irgendwie «einleuchtet», Sinn ergibt, obgleich sie komplex und vielschichtig ist. Segel heisst das Stück von Lisa Streich, das 2018 am Lucerne Festival uraufgeführt wurde.

Es ist mein erster Kontakt mit der Musik der schwedischen Komponistin. Später wird mir klar, dass diese Musiksprache typisch ist für die Werke von Lisa Streich: sie überraschen, gleichzeitig sprechen sie die Hörer:innen direkt an. Man fühlt sich nicht ausgeschlossen, auch beim ersten Hören nicht. Da ist kein hermetischer Überbau, an dem man sich erst mal abarbeiten muss, um Zugang zu dieser Musik zu finden. Und dies, obwohl in jedem der Stücke sehr aufwändige intellektuelle, künstlerische und handwerkliche Arbeit steckt.

 


In Segel aus dem Jahr 2017 setzte Lisa Streich erstmals eine «spektrale Tonalität» ein.

 

Lisa Streich, geboren 1985 in Schweden, hat sich zur Organistin ausbilden lassen und dann in Berlin, Stockholm, Salzburg, Paris und Köln Komposition studiert. Sie meidet das Scheinwerferlicht, die Bühne ist nicht ihr Ding. Auf der Empore aber, allein an der Orgel, diesem «atmenden Geschöpf, das dir nicht gehört und das in jeder Kirche anders riecht», dort fühlt sie sich wohl. Ebenso beim Komponieren zu Hause auf der Insel Gotland, die an der Ostsee zwischen dem Baltikum und Schweden liegt und wo sie, nahe am Meer und inmitten einer malerischen Insellandschaft, sich abwechselnd mit ihren Kindern beschäftigt oder komponiert. Dazu gehört auch tüfteln, basteln, Geräte bauen. Irgendwann hat Lisa Streich nämlich angefangen, Elektronik in ihre Musik einzubauen, kleine Maschinen, die sie in einem alten Schuppen neben ihrem Wohnhaus herstellt: Sie lötet, baut, fügt zusammen, um dann z.B. im Stück Pietà für motorisiertes Cello und Ensemble einen fast mechanischen Sound zu erzeugen, der gerade darum so aufregend ist, weil er durch die maschinelle Anonymität universell wird.

Pietà endet leise. Lisa Streichs Stücke enden alle, ohne Ausnahme, im Piano. Sie habe es sich bis jetzt untersagt, laute Schlüsse zuzulassen, ein Fortissimo-Finalschluss komme ihr vor wie ein Plagiat, abgenutzt, ein billiger Effekt. So sagt mir Lisa Streich im Interview. Solche Sätze sind typisch für die schwedische Komponistin, die perfekt deutsch spricht. Sie hat einen hohen, fast moralischen Anspruch, mit ihrer Musik ehrlich zu sein. Darum beschäftig sie eine Aussage des französisch-griechischen Komponisten Georges Aperghis bis heute, demzufolge ein Künstler ein guter Lügner sein müsse. Irgendwie leuchte ihr ein, was er damit meine. Aber für sie funktioniere das nicht, meint sie.

Nein, für Lisa Streich funktioniert das nicht. Was ihre Musik stattdessen auszeichnet, ist spielerische Spiritualität. Und die erreicht man nicht durch Blendwerk, sondern durch Authentizität, Ehrlichkeit, keine moralinsaure, sondern eine sinnliche Wahrhaftigkeit. Wie sie das schafft, bleibt ein Geheimnis, allerdings, so sagt sie, fange sie vielleicht mit ihrer Musik ein bestimmtes Zeitgefühl ein, was dem heutigen Publikum entspreche. Die Kontrolle darüber habe man naturgemäss nicht. Aber manchmal schleiche sich in einem Werk etwas ein, was genau den Kern unserer Zeit treffe.

 

Portrait Lisa Streich zVg. Lisa Streich

 

Was sind denn nun die wichtigsten kompositorischen Mittel, die Lisa Streichs Stücke so authentisch, spannend und «heutig» machen?

 

Spektrale Tonalität und elektronische Klänge

Da gibt es zum Beispiel die sogenannte spektrale Tonalität, die Lisa Streich zum ersten Mal im oben erwähnten Werk «Segel» anwandte. Um solch schwebende Akkorde zu schaffen, sucht sie nach Aufnahmen von Amateurchören, die naturgemäss nicht perfekt sind. Sie nimmt Akkorde von diesen intonatorisch nicht ganz sauberen Aufnahmen und macht eine spektrale Analyse davon. Mit diesem Spektogramm arbeitet die Komponistin; das Ergebnis ist mikrotonale oder eben «spektrale Tonalität». Lisa Streich sagt dazu, dass sie tonale Musik liebe, aber durch häufiges Spielen und Hören allmählich nichts mehr dabei fühlte. Hingegen habe sie, wenn sie Laienchöre höre, die nicht ganz sauber intonierten, Moll und Dur neu erlebt. Sprich: Wenn gewohnte Akkorde eine Spur falsch sind, kann man Dur und Moll wieder neu erfahren

Ein weiteres kompositorisches Mittel in der Musik von Lisa Streich sind elektronische Klänge, die sie erzeugt, indem sie kleine Geräte am Instrument anbringt. Dadurch entsteht eine sehr eigene, beseelt-maschinelle Atmosphäre – oft im Kontrast mit scharfen Ensembleklängen, die auf diese mechanischen «Olimpia-Welten» (E.T.A. Hoffmann) prallen.

 

Anklänge an die römische Mehrchörigkeit

Und schliesslich gibt es diese Affinität zur menschlichen Stimme und zur Chortradition, die sich durch Lisa Streichs Oevre hindurchzieht. Zum Beispiel im wunderbaren Werk Stabat für 32 Stimmen und vier Chöre. Es ist in Rom entstanden, während Streichs Aufenthalt in der Villa Massimo. Es ist eins ihrer längsten Stücke und inspiriert von der römischen Mehrchörigkeit. Diese wird im Gegensatz zur venezianischen kaum mehr gepflegt, da es sehr aufwändig ist, diese 400 Jahre alte, mehrchörige Musik aufzuführen. Damals haben Knaben auf den Balkonen und sogar in der Kuppel des Petersdoms gesungen, nur durch Luken mit dem Dirigat verbunden. Zwölf Balkone gibt es zum Beispiel in der KircheS. Giovanni in Laterano, wo das Chorwerk uraufgeführt wurde. Mit dieser Vielchörigkeit stellte man damals eine Art unplugged Dolby-Surround-Tonsystem her. Das hat Lisa Streich fasziniert und sie versuchte, in einem vierchörigen Werk diesen Klang ins 21. Jahrhundert zu holen. Das Stück Stabat, das daraus entstand, ist eine Art Meditation für Chor, die eine weite Landschaft suggeriert, oder eine zeit- und raumlose Ebene, in die man sich fallen lassen kann, ohne weich oder hart zu landen. Man IST einfach.

 


32 Stimmen, verteilt auf vier Chöre sind in Stabat von Lisa Streich aus dem Jahr 2017 zu hören. Hier übersetzt sie die 400 Jahre alte römische Mehrchörigkeit ins 21. Jahrhundert

 

Die Frage nach dem religiösen Gehalt solcher Werke, die schon vom Titel her auf eine kirchliche Tradition verweisen, beantwortet Lisa Streich zögernd. Ja, die Religion habe früher in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt. Heute weniger, aber sie sei immer noch wichtig. Allerdings weniger geknüpft an eine bestimmte Religion. «Dass es eine Welt gibt, die unsichtbar ist, aber stärker und grösser als unsere sichtbare Welt, da bin ich mir sicher.  Auch die Musik lässt uns ja Dinge erleben oder spüren, die vielleicht gar nicht von dieser Welt sind.»

Tatsächlich bietet Lisa Streichs Musik die Möglichkeit für spirituelle Öffnungen, wenn man sich denn darauf einlässt. Vielleicht liegt gerade darin die Anziehung im Werk der Komponistin, nicht als Programm, sondern als untergründiger Strom, den man bewusst oder unbewusst wahrnimmt.
Annelis Berger

 

Am Samstag, 8. Oktober, 19:30h, bringt das Collegium Novum Zürich in der Zürcher Tonhalle ihr neues Stück OFELIA zur Uraufführung.

Georges Aperghis

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 12.10.22, 20h / 15.10.22, 21h: Im Innern der Orgel: Lisa Streich, Komponistin und Organistin, Redaktion Annelis Berger

 

Neo-Profile: Lisa Streich, Collegium Novum Zürich,

 

 

 

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