Contrechamps Genève feiert das Hören

Ensemble Contrechamps Genève startete eine dichte Saison mit zahlreichen Highlights. Das Programm ist exemplarisch für die neue Ausrichtung des wichtigsten Genfer Ensemble für zeitgenössische Musik unter der künstlerischen Leitung des Perkussionisten Serge Vuille. Er übernahm Contrechamps vor fünf Jahren und hat die Ensemble-DNA seither radikal neu geprägt. Serge Vuille im Gespräch:

 

Portrait Serge Vuille © Serge Vuille

 

Gabrielle Weber
Contrechamps bespielt den grossen Konzertsaal der Victoria Hall in Genf, es eröffnet die Festivals Biennale Musica Venezia oder Sonic Matter Zürich oder es lädt ganz einfach – ohne Konzert – zu einem Vinyl- und neo.mx3.ch-Release-Hörwochenende in Genf ein. Die unterschiedlichen Veranstaltungen sind charakteristisch für die neue Ausrichtung des traditionsreichen Ensembles unter Serge Vuille.

„Contrechamps sucht ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Musik-Praktiken“, sagt Vuille. Da sind einerseits Konzerte mit Instrumentalmusik für grosses Ensemble, oft verbunden mit Komponistenpersönlichkeiten und der jungen Szene der Romandie, andererseits Projekte in Verbindung mit anderen Sparten und Musikgenres, in Kombination mit Visuellem und Performativem, Elektronik, Pop oder Jazz. Und immer geht es Vuille auch um ganz spezielle Hörerlebnisse.

Für Ersteres stand anfangs Saison beispielsweise ein Konzert zum 65. Geburtstag des Genfer Komponisten Michael Jarrell, ein „traditionelles“, dirigiertes Konzert für große Ensembles in der Victoria Hall. Contrechamps gab dazu sieben neue kurze Stücke an seine Studierenden in Auftrag. „Damit unterstützen und fördern wir die regionale Kreationsszene, das ist uns ein wichtiges Anliegen“, sagt Vuille.

Ende 2022 veranstaltete es bereits eine Hommage an Éric Gaudibert, vor zehn Jahren verstorbener Lausanner Komponist, der die Szene wesentlich prägte. Dabei führte es nebst Gaudibert 22 neue Stücke ehemaliger Studierender auf, Miniaturen von je nur zirka einer Minute Dauer, in ganz unterschiedlicher, frei gewählter Besetzung.

 


Éric Gaudibert, Skript, pour vibraphone et ensemble, Contrechamps, Bâtiment des Forces Motrices de Genève, Concours de Genève, 2009, Eigenproduktion SRG/SSR

 

In einem ganz anderen Kontext und Setting, zur Eröffnung der Biennale Musica Venezia, zeigte Contrechamps GLIA für Instrumente und Elektronik, ein Werk der 2009 verstorbenen US- Elektropionieren und Klangkünstlerin Maryanne Amacher aus dem Jahr 2005. An Amachers Schaffen interessiert Vuille auch der Aspekt spezieller gemeinsamer Hörerfahrung: Zur Festivaleröffnung in einer grossen leergeräumten und abgedunkelten Halle der umgenutzten Schiffswerft Arsenale, ging das zahlreiche Publikum (darunter auch die Autorin), umgeben von Lautsprechern, extremen Klangveränderungen umherwandernd nach: die Instrumentalist:innen spielten auf einem Podest, als vibrierende Klangskulptur, oder sie bewegten sich mit den Zuhörenden. „GLIA ist  fast eine Klanginstallation, ein Teil des Stücks spielt sich in den Innenschwingungen im Ohr ab, nicht im Raum und es basiert nicht auf einer Partitur, sondern auf mündlichen Schilderungen damals Beteiligter: das fordert einen hohen kreativen Anteil von jedem Einzelnen der Interpreten“, sagt Vuille.

 

Maryanne Amacher, ‘GLIA’ am Eröffnungskonzert der Biennale Musica Venezia, Contrechamps, Arsenale 16.10.2023 © Gabrielle Weber

 

Zurück zu den Gaudibert-Miniaturen: sie finden sich nun auf einer der eingangs erwähnten neuen Vinyl-Schallplatten und markieren den Beginn der neuen Vinyl-Reihe Contrechamps/Speckled-Toshe, zusammen mit dem Lausanner Label Speckled-Toshe. „Die 22 Kompositionsaufträge von je einer Minute, das war eine immense Arbeit und es entstanden so vielfältige Werke, dass wir die Hommage mit einem bleibenden Objekt dieser neuen Generation beschliessen wollten. Die Schallplatte ist dafür das passendste Format: es gibt kaum etwas Besseres sowohl in Bezug auf die Aufnahme- und Übertragungsqualität, als aufs Objekt“.

 


Daniel Zeas, «Eric – Cara de Tigre» für Ensemble und Tonband, eine der 22 Miniaturen auf der neuen Vinyl-Schallplatte, Contrechamps / Speckled-Toshe 2023: Der Hintergrund: Gaudibert sei Zea im Traum kurz nach dessen Tod als lachender Tiger erschienen: er habe danach lange geweint zwischen Trauer und Freude.

 

Zum Vinyl-launch lud Contrechamps wieder zu einem speziellen Hörerlebnis ein: im les 6 toits , einem angesagten Genfer Kulturzentrum auf einer ehemaligen Industriebrache, konnte man sich ein Wochenende lang in Hörlounges die neuen Vinyl-Releases und eigene Lieblings-Schallplatten zu Ohr führen. Und mit einer Vernissage wurde auch das frisch veröffentlichte Contrechamps-Audioarchiv auf neo.mx3.ch gefeiert. Dazu gab’s live-aufgenommene oder -ausgestrahlte Radiosendungen auf RTS und SRF2Kultur rund ums Hören und qualitatives Aufnehmen zeitgenössischer Musik.

Wie Vinyl stehe die SRG-online-Plattform neo.mx3.ch für eine Art des Hörens und eine Sorgfalt der Produktion: „Beide sind darin verbunden, dass sie der zeitgenössischen Musik Visibilität und Dauer verleihen – durch sorgfältige Neueditionen und die Pflege von historischen Archiven“.

Auf der Plattform für das Schweizer zeitgenössische Musikschaffen finden sich auch zahlreiche selten gespielte Werke in ungewöhnlicher Besetzung, wie Michael Jarrells «Droben schmettert ein greller Stein» von 2001 für Kontrabass, Ensemble und Elektronik.

 


Contrechamps nahm Jarrells Stück 2005 im Radiostudio Ansermet unter der Leitung von George Benjamin auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Contrechamps lädt sukzessive sein gesamtes umfangreiches Radioarchiv hoch, zurückgehend bis 1986, den frühsten Aufnahmen. Es sei wichtig, dass solche Plattformen existierten und  geschätzt  würden. „Viele der Stücke sind sonst nirgends hörbar: das ist einzigartig“, sagt Serge Vuille.

Entdecken lässt sich auch zum Beispiel Feux von Caroline Charrière. Die 1960 in Fribourg geborene Komponistin Charrière verstarb früh, bereits 2018, und Contrechamps setzt sich für ihr Werk ein. Vuille ist es auch ein Anliegen, dem Schaffen von Komponistinnen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und zu einer ausgewogeneren Genderbalance in der zeitgenössischen Musik beizutragen.

 


Feux für Flöte, Klarinette, Marimba, und Streicher von Caroline Charrière, dirigiert von Kaziboni Vimbayi, führte Contrechamps 2019 in der Genfer Victoria Hall auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Am Eröffnungskonzert des diesjährigen Zürcher Festivals Sonic matter präsentiert Contrechamps neue Stücke von drei Komponistinnen aus dem Nahen Osten für kleines elektronisches Ensemble. Da kommen weitere Leidenschaften Vuilles zusammen: „Ich interessiere mich schon lange sehr für die Szene des Nahen Ostens. Sie ist in Bezug auf Kreation, insbesondere in allem, was mit Elektronik zu tun hat, sehr lebendig“, sagt Vuille. Dass Sonic Matter dieses Jahr mit dem Gastfestival Irtijal aus Bejrut kollaboriert, sei eine hervorragende Gelegenheit zur ersten Zusammenarbeit. Und sicherlich auch für einzigartige Hörerfahrungen.
Gabrielle Weber

 

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Sonic Matter: Becoming / Contrechamps 30.11.2023, 19h (Einführung 18h)
Biennale Musica Venezia, Maryanna Amacher, GLIA / Contrechamps, 16.10.2023
Genève, Les 6 toits: Contrechamps: Partage ton Vinyle!, 20-22.10.2023

Speckled-Toshe; Contrechamps/Speckled-Toshe:
1.Vinyl: 22 Miniatures en hommage à Éric Gaudibert
2.Vinyl: Benoit Moreau, Les mortes

Sonic matter, Nilufar Habibian, Irtijal, les 6 toits

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 18.10/21.10.23: Partage ton Vinyle! Ensemble Contrechamps Genève feiert das Hören, Redaktion Gabrielle Weber
neoblog, 7.12.22: Communiquer au-delà de la musique, Autorin Gabrielle Weber
neoblog, 19.6.2019: Ensemble Contrechamps Genève – Expérimentation et héritage, auteur Gabrielle Weber

Sendungen RTS:
L’écho des pavanes, 21.10.23: Aux 6 toits, enregistrer la musique contemporaine,  auteur: Benoît Perrier
Musique d‘avenir, 30.10.23, Partage ton Vinyle, ta cassette ou ta bande Revox!  auteur: Anne Gillot

Neo-Profile:
Contrechamps, Daniel Zea, Festival Sonic Matter, Benoit Moreau

 

 

Freundlicher Komponist düsterer Geschichten

Der britische Komponist und Dirigent George Benjamin wurde 2023 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrt. Seine schwärzeste Oper Lessons in Love and Violence dreht sich um das historische Männerpaar Edward II. und Piers Gaveston. Ab diesem Wochenende ist sie in einer Neuproduktion am Opernhaus Zürich zu sehen. Moritz Weber interviewte Benjamin vor der Premiere.

Moritz Weber
Der 63-jährige George Benjamin ist sehr gut gelaunt, scherzt und ist sehr freundlich, als ich ihn per Videokonferenz bei sich zuhause erreiche. Im Hintergrund zwitschern die Vögel, die Sonne scheint ihm ins Gesicht.

 

Portrait George Benjamin © Maurice Foxall / zVg Contrechamps

 

Die Opern, die er komponiert und für die er unter anderem berühmt ist, sind jedoch alles andere als freundlich. Im Gegenteil: In seinem ersten Welterfolg Written on skin (2012) serviert der betrogene Ehemann seiner Frau zum Schluss das Herz ihres Geliebten zum Essen. Und seine nächste abendfüllende und ebenso umjubelte Oper Lessons in Love and Violence (2018) ist ein fesselndes Mittelalter-Drama rund um den einstigen englischen König Edward II. und seinen Geliebten Gaveston, die beide Opfer eines Komplotts wurden.

Schon als Kind träumte Benjamin davon, Opern zu komponieren, und er erdachte sie für sich in seinem Kopf. Waren die Themen für diese Fantasieopern auch schon so brutal? «Ja, ich fürchte sie waren sehr brutal. Ich mochte dramatische und gefährliche Geschichten, und ich hatte als kleines Kind keine Angst vor Dunkelheit in der Kreativität». Seine ersten Lieblingsopern des Repertoires waren denn auch Wozzeck, Elektra, Salome und La damnation de Faust – mit Mozarts Zauberflöte konnte er nicht viel anfangen, und mit Rossini hat er bis heute Probleme. «Das war mir zu nett und zu wenig beängstigend».

Seine Inspiration damals war ein bebildertes Buch mit alten Mythen und Legenden, von Herkules und Pegasus bis zum Rattenfänger von Hameln (letztere Geschichte wurde schliesslich zum Stoff seines ersten Bühnenwerks, der kurzen Zwei-Personen-Kammeroper Into the little hill (2006). «Ich bin sehr für Fröhlichkeit und für Harmoni zwischen den Menschen, aber im Theater braucht es Spannung, Drama, Mysteriöses und möglicherweise auch Dunkles».

König Edward II. vernachlässigte sein Volk und seine politischen Geschäfte, er gab lieber Geld aus für Kunst und Musik und war Piers Gaveston vollkommen verfallen. Es war George Benjamin wichtig, einmal eine Oper mit einem homosexuellen Paar im Zentrum zu schreiben, «und die grösste Herausforderung war eine technische: Wie schreibt man in einer modernen Klangsprache für ein Paar von zwei Baritonen?»

Überhaupt gibt es in der Operngeschichte bislang kaum Vorbilder für Männer-Liebespaare, abgesehen etwa von den Opern Brokeback Mountain (Charles Wuorinen, 2014) oder Edward II (Andrea Lorenzo Scartazzini, 2017).

In diesen beiden Werken singen die Geliebten allerdings in den Stimmlagen Bariton und Tenor. Auf die Frage, ob er in die Komposition dieser Männerliebe auch Autobiographisches eingebracht habe antwortet Benjamin: «Das müssten sie meinen Partner Michael Waldman fragen, aber soweit ich weiss nicht. Das Leben heute in West-London ist aber auch viel friedvoller als damals in jenem Palast, wo die Oper spielt», sagt er und lacht.

Benjamin sind einige eindringliche Szenen zwischen Edward und Gaveston gelungen, in welchen sich Liebe und Gewalt teils auch vermischen. Zwei Handlese-Szenen etwa (Szenen 3 und 6), die eine Achse durch das ganze Stück bilden. Sie sind mit fast rituellen Klängen von Perkussionsinstrumenten aus aller Welt untermalt: Von zwei persischen Tombaks, einer afrikanischen Sprechtrommel und zwei karibischen Tumbas. Dazu kommt das mitteleuropäische Cymbalon, «denn meine Idee war es, dass Musik aus der ganzen Welt erklingt, während Gaveston aus der Hand des Königs liest. Es sollte wie ein Fenster zum Übernatürlichen sein.»

 

 

Eine weitere Schlüsselszene spielt sich kurz darauf im Theater ab. Dort lädt die betrogene Königin Isabel Edward und Gaveston zu einem «Entertainment» ein, zu einer Unterhaltung. Damit will sie den Putsch in die Wege leiten. Die Musik ist vielschichtig, denn das, was auf der Bühne gezeigt wird, soll sich von dem, was sich zwischen den Protagonist:innen abspielt, abheben und gleichzeitig damit harmonieren. Das Bühnenstück dreht sich um die alttestamentliche Liebesgeschichte zwischen David und Jonathan, ebenfalls ein Männerpaar, und Gaveston soll mit dieser Aufführung becirct werden. «Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, um diese Szene zu schreiben: Im Theater auf dem Theater singen hohe Stimmen in einer eigenen Textur und Klangfarbe, hinzu kommt der versteckte Hass und das Unbehagen». Sie kulminieren schliesslich und Gaveston wird gegen den Willen des Königs verhaftet. Am Ende der Oper lädt schliesslich der Thronfolger seine Mutter Isabel zu einem Entertainment ein, in welchem er das Komplott gegen seinen Vater auf die Bühne bringt und ihren Komplizen und Geliebten ermorden lässt. Edwards Sohn hat also seine Lektionen in Liebe und Gewalt gelernt.

Auch für diese seine bisher finsterste Oper hat George Benjamin intensiv mit den Sänger:innen der Uraufführungsproduktion am Royal Opera House zusammen gearbeitet. «Sie alle kamen zu mir nach Hause, ich habe sie am Klavier in Liedern und Opernarien begleitet, ihnen viele Fragen zu ihren Stärken und Schwächen und zu ihren musikalischen Vorlieben gestellt». Die Rollen sind Stéphane Degout, Gyula Orendt und Barbara Hannigan auf den Leib geschrieben, aber selbstverständlich nicht ausschliesslich für sie. «Ich liebe es und bin gespannt, welche eigenen Timbres und Charakteristika andere Sänger:innen in diese Rollen einbringen. Es ist mir aber wichtig, dass sie alle Töne klar und am richtigen Platz singen, mit wenig Vibrato. Denn ich habe sie sehr sorgfältig auf die Orchesterklänge abgestimmt.»

 

George Benjamin, Martin Crimp und Barbara Hannigan im Gespräch zur Uraufführung von Lessons in love and violence im Royal Opera House 2018

 

Das Libretto stammt wie auch bei seinen anderen Bühnenwerken vom Dramatiker Martin Crimp. Wenn er ihn nicht getroffen hätte, hätte er wahrscheinlich nie eine Oper komponiert, sagt Benjamin, «ich wartete 25 Jahre um ihn zu finden. Alle Versuche mit anderen Librettisten scheiterten». Nun sind sie ein eingespieltes, kongeniales Team, vielleicht ähnlich wie einst Da Ponte und Mozart, Hofmannsthal und Strauss. Denn auch Crimp und Benjamin verbinden gemeinsame ästhetische Prämissen: Eine sehr klare und konzise (Ton-)Sprache sowie Kraft – oder Gewalt – im Ausdruck. «Er setzt die Worte sehr genau und intendiert; er ist ein Perfektionist, so wie ich es beim Komponieren auch zu sein versuche», sagt der Siemens-Musikpreisträger bescheiden.

 

Märchenhaftere neue Oper

George Benjamins viertes Bühnenwerk wird diesen Sommer am Opernfestival in Aix-en-Provence uraufgeführt, er selbst wird dirigieren. Picture a day like this wird weniger dunkel sein als Lessons, verrät er: «Martin Crimp und ich wollten etwas anderes machen, auch um uns selbst zu erfrischen. Diese Oper ist kürzer und auch kleiner besetzt, fünf Protagonist:innen anstatt acht, im Orchester 22 anstatt 70 Musizierende».

 

Hier geht es um eine Suche: Eine Frau verliert ihr Kind und soll an einem einzigen Tag eine Person finden, die vollkommen glücklich ist. Als ihr das nicht gelingt, wendet sie sich an eine Zauberin. «Ich liebe Instrumente, die eigentlich nicht zum klassischen Orchester gehören, und verwende auch in Picture a day like this ein paar davon, zum Beispiel Tenor- und Bassblockflöten.» In dieser neuen und auch kürzeren Oper ist die Protagonistin die ganze Zeit auf der Bühne, was ebenfalls ein Novum ist für Benjamin und Crimp. Die Personen, welchen sie begegnet, sind hingegen ganz unterschiedlich charakterisiert. Mehr verrät er noch nicht: «Mir wäre es lieber, wenn das Publikum das ohne meine Worte entdecken würde».
Moritz Weber

 

Portrait George Benjamin © Rui Camilo zVg. EvS. Musikstiftung

 

Opern George Benjamins:
Into the little hill (2006), Written on skin (2012)

George Benjamin, Charles Wuorinen, Stéphane Degout, Barbara Hannigan, Martin Crimp

Partituransicht Lessons in Love and Violence bei Faber Music

Neuproduktion Opernhaus Zürich: 21.Mai -11.Juni 2023 (musikalische Leitung Ilan Volkov, mit: Ivan Ludlow/Lauri Vasar als König, Björn Bürger als Gaveston und Jeanine De Bique als Isabel.

Festival Aix-en-Provence, George Benjamin, Picture a day like this, UA 5.-.23.Juli 2023

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 17.5.23, 20h/ 20.5.23., 21h: Drama um den schwulen Edward II. George Benjamins düsterste Oper, Redaktion Moritz Weber.
Musikmagazin, 20./21.5.2023: Kurzportrait George Benjamin, Redaktion Moritz Weber.

Neo-Profile:
Contrechamps, Opernaus Zürich, George Benjamin, Andrea Lorenzo Scartazzini

 

 

Communiquer au-delà de la musique 

Eric Gaudibert, Genfer Pianist, Komponist und Dozent war eine Schlüsselfigur der zeitgenössischen-experimentellen Musikszene der Romandie. Verstorben vor zehn Jahren, prägte er als Pädagoge eine ganze Generation Musikschaffender und förderte wichtige Ensembles für zeitgenössische Musik. Vom 09. bis zum 17. Dezember veranstalten diese für ihn gemeinsam ein Festival mit Marathonkonzert in der Genfer Victoria Hall. Dabei kommen auch 22 Miniaturen seiner ehemaligen Studierenden zur Uraufführung.

Gabrielle Weber
Sie heissen Contrechamps, Ensemble Vortex, Eklekto Geneva Percussion Center oder Nouvel Ensemble Contemporain (NEC) und gemeinsam ist ihnen nicht nur, dass sie in der zeitgenössischen Musikszene der Romandie sehr aktiv sind, sondern auch, dass alle einen starken Bezug zu Eric Gaudibert haben.

Daniel Zea, Serge Vuille und Antoine François, die künstlerischen Leiter von Vortex, Contrechamps und NEC, initiierten das Festival als kollaboratives Projekt: «die Idee entstand spontan als wir uns über Eric unterhielten und es ergab sich ganz von selbst, dass wir es gemeinsam angehen wollten», meint Daniel Zea, denn Gaudibert sei für die Entwicklung der ganzen Szene wichtig gewesen. In der Haute école de musique Genève (HEMG) finden nun eine Tagung, ein Filmscreening mit table ronde, sowie ein Konzert von Vortex statt. In der Victoria Hall gibt es zum Schluss ein Marathonkonzert der Ensembles zusammen mit dem Orchester der HEMG.

 

Portrait Eric Gaudibert ©DR zVg. Contrechamps

 

Als «communiquer au-delà de la musique», ein Kommunizieren über die Musik hinaus, bezeichnete Gaudibert, was ihn zum Unterrichten antreibe. Dieses Kommunizieren erprobte er zunächst in Frankreich, wo er nach dem Klavierstudium in Lausanne und dem Kompositionsstudium in Paris ab 1962 im Bereich der «Animation», der Musikvermittlung, in ländlichen Regionen tätig war. Anschliessend, zurück in der Schweiz, unterrichtete er viele Jahre Komposition am Conservatoire Populaire de Genève, bevor er an die HEMG wechselte. Bereits Michael Jarrell oder Xavier Dayer, beides heute namhafte Komponisten und Dozenten mit Wurzeln in Genf, waren seine Schüler. Viele weitere nationale und internationale Laufbahnen begleitete er als künstlerische Leitfigur, Förderer und Netzwerker.

Serge Vuille, Leiter von Contrechamps, selbst kein direkter Schüler von Gaudibert, beindrucke am «Phänomen Gaudibert» dessen nachhaltige Präsenz in der Szene, die sich auch daran gezeigt habe, wie rasch weitere Partner fürs Festival zugesagt hätten. Contrechamps arbeite laufend mit ehemaligen Schüler:innen zusammen, seien es Interpret:innen oder Komponist:innen. «Am Festival wollte ich deshalb diesen Lehrer-Schüleraspekt in zweierlei Richtungen abbilden», sagt Vuille.

Da ist einerseits Nadia Boulanger, Gaudiberts Theorielehrerin in Paris: von ihr bringt Contrechamps ein Orchesterwerk zur Aufführung. Boulanger unterrichtete ihrerseits zahlreiche, heute weltweit gespielte Komponierende. Ihr eigenes Werk wird hingegen selten aufgeführt. Sie sei als Komponistin verkannt, da sie selbst hauptsächlich als Pädagogin wahrgenommen werde, so Vuille.

Andererseits gab Contrechamps im Kreis von Gaudiberts ehemaligen Studierenden Kurzkompositionen in Auftrag. Angesichts der hohen Zahl von 45 Absolvent:innen fragte man «nur» einen regional überschaubaren Kreis von weiterhin in der Romandie tätigen oder mit der Romandie verbundenen an. Von diesen sagten mit zwei Ausnahmen alle zu. «Dieses klare Bekenntnis seiner Schüler:innen war beeindruckend», sagt Serge Vuille.

Mit Vorgabe einer Dauer von nur einer Minute und offener Besetzung, vom grossen Ensemble bis zum Solo und ggf. Tonband, werden nun 22 Miniaturen aufgeführt, darunter Stücke von Arturo Corrales, Fernando Garnero, Dragos Tara oder Daniel Zea.

Daniel Zea hebt noch einen anderen Aspekt der Lehrer-Schüler-Kommunikation hervor: «Wir alle sind sehr dankbar dafür, was er uns mitgegeben und ermöglicht hat. Zugleich war es ein Hin und Her: Eric war offen und neugierig – ihn interessierte was uns interessierte. Wir beeinflussten ihn zum Beispiel mit unserem Interesse an unserer traditionellen Musik». Zea stammt wie einige Absolvent:innen von Gaudiberts Kompositionsklasse aus Südamerika. Sein Ensemble Vortex fand in Gaudiberts Unterricht zusammen und wurde von ihm bis zuletzt begleitet und gefördert.

 


Hekayât, pour rubâb, hautbois, hautbois baryton, alto et percussion, 2013 Eigenproduktion SRG/SSR, interpretiert von Khaled Arman an der Rubâb, einer arabischen Laute, ist eines der späten Werke Gaudiberts, in denen er Instrumente, deren Interpret:innen und Spielweisen aus anderen Kulturräumen zu integrieren sucht.

 

Elektroakustik und Diversität

 

Gaudibert, geboren 1936 in Vevey, studierte in Paris bei Nadia Boulanger und bei Henry Dutilleux, und ist vor allem für seine poetischen klangmalerischen Instrumentalwerke bekannt. Es gibt aber auch andere, weniger bekannte Seiten:Zurück in der Schweiz, forschte er in den frühen siebziger Jahren in seiner selbstbezeichneten «experimentellen» Phase im Experimentalstudio des Radios in Lausanne an elektronischen Klängen.

 

Portrait Eric Gaudibert zVg. Contrechamps

 

Vortex widmet ein Konzert am 10. Dezember ganz seinen elektroakustischen Werken, was der multimedialen Ausrichtung des Ensembles entspricht: «es ist eine wichtige, viel zu selten gezeigte Phase seines Schaffens», sagt Daniel Zea. Zusammen mit John Menoud, Komponist und Multiinstrumentalist, besuchte er Gaudiberts Witwe Jacqueline, wobei sie Videos, Tonkassetten und Partituren durchforstet hätten. Zur Aufführung kommen nun Stücke für Instrumente und Tonband oder Live-Elektronik, die oft nur ein-zwei Mal aufgeführt wurden, interpretiert von Musiker:innen, die eng mit Gaudibert zusammen gearbeitet haben. Benoît Moreau spielt bspw. En filigrane für Epinette (Spinett) und Tonband, das nur einmal, durch Gaudibert selbst an der Uraufführung 20018 gespielt wurde – Moreau war damals dabei.

 

Die Stückauswahl fürs Schlusskonzert zeigt die Vielseitigkeit Gaudiberts. «wir entschieden uns für eine Kombination von Schlüsselwerken wie Gong – sein letztes grosses Ensemblewerk – mit selten gespielte Stücken, um die Diversität seines Schaffens zu zeigen», so Vuille. Gong ist dem Pianisten Antoine Françoise gewidmet, der es auch am Festival interpretiert, zusammen mit Contrechamps. François, heute international gefragter Solo-Pianist und Leiter des NEC, hatte gleichfalls eine enge Beziehung zu Gaudibert. Selbst Pianist, begleitete und unterstützte Gaudibert die Entwicklung von François seit der ersten Begegnung als er 16 Jahre alt war und setzte auf sein Können für die anspruchsvolle Partie in Gong mit erst 24  Jahren.

 


Gong &Lémanic moderne ensemble, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Nebst Instrumentalwerken ist auch in der Victoria Hall Gaudiberts elektroakustische Phase vertreten: Vortex bringt Ecritures von 1975 für eine Stimme und Tonband, entstanden im Experimentalstudio in Lausanne, in einer neuen Version für vier im Raum verteilte Stimmen zur Aufführung. «Das Stück lebt weiter mit neuen technischen Möglichkeiten. Das wäre in Gaudiberts Sinn gewesen», sagt Zea. Dass seine ehemaligen Studierenden weiterhin kollaborativ zusammenarbeiten, das hätte Eric Gaudibert sicherlich gleichfalls begrüsst – als Kommunizieren über die Musik hinaus.
Gabrielle Weber

Nadia Boulanger, Henri Dutilleux

 

 Im Filmportrait: Eric Gaudibert, pianiste, compositeur, enseignant (Plans fixes, 48min, Suisse, 2005) äussert sich Gaudibert zu seinen grossen Themen, bspw. seine Vorliebe für Literatur und Malerei, die Zeit in Paris, das Unterrichten und die Einflüsse anderer Kulturen in sein Musikschaffen: der Film steht im Zentrum einer Roundtable am Genfer Festival Gaudibert am 10. Dezember.

 

Festival Gaudibert:
9./10. Dezember 2022, HEMG: Tagung / Konzerte: An der Tagung an der HEMG diskutieren u.a. die Komponisten und Dozenten Xavier Dayer, Nicolas Bolens oder der Musikethnologe und Interpret Khaled Arman.
17.Dezember 2022, Victoria Hall Genève, 18:30h: Marathonkonzert Contrechamps, Eklekto, le NEC, Vortex, orchestre de la HEMG, Dirigent: Vimbayi Kaziboni, Gaudibert, Boulanger, UA 22 Miniaturen:

Sendung RTS:
musique d’avenir, 6.2.23: Festival Gaudibert 2022, Redaktorin/Autorin Anne Gillot

Neo-Profile
Eric Gaudibert, Daniel Zea, Antoine Françoise, Arturo Corrales, Fernando Garnero, Dragos Tara, Ensemble Vortex, Contrechamps, Nouvel Ensemble Contemporain, Eklekto Geneva Percussion Center, John Menoud, Benoit MoreauEnsemble Batida, Xavier Dayer, Michael Jarrell

Holz, Mund, Ritual – Erzählen am Festival Archipel

Gabrielle Weber
‘Holz, Mund, Ritual, Besitz’. Keine übergreifende Gesamtthematik, sondern einzelne Motive prägen die diesjährige Ausgabe des traditionsreichen Genfer Neue Musik-Festival Archipel. Die künstlerischen Leitenden, Marie Jeanson und Denis Schuler, wollen Geschichten erzählen und unerwartete Begegnungen schaffen. Ein spielerischer, heiterer Zugang und das gemeinsame Erleben stehen dabei im Vordergrund.

Jeanson, Veranstalterin aus der experimentellen und improvisierten Musik, und Schuler, Komponist, kuratierten ihre erste gemeinsame Festivalausgabe 2021. Mitten in der Pandemie online, zwar (erfolg-)reich an Konzerten und Begegnungen von Musikschaffenden, aber ohne Live-Publikum. Dieses Jahr wird nun das Stammhaus des Festivals, die ‘Maison communale de Plainpalais‘, an zehn Tagen rund um die Uhr be-spielt und gleichzeitig zum Ort der Begegnung. Nebst dem umfangreichen Konzertprogramm – mit Composer in residence Clara Jannotta oder einem Fokus Alvin Lucier- gibt es Klanginstallationen, gemeinsame, von Musikschaffenden zubereitete Mahlzeiten, nächtliche salons d’écoute, wo Mitwirkende ihre Lieblingsstücke über Dolby-Surround-System vorstellen, oder Talkrunden und Vermittlungsateliers. Daneben ist ein durchgängiges Festivalradio zu hören und gibt es zahlreiche weitere Veranstaltungen, verteilt über die ganze Stadt.

 

Die Motive ziehen sich dabei als verborgener roter Faden durchs gesamte Festival. Eng in die Festivalkonzeption involviert sind verschiedene Komponierende. Sie spinnen aus den Motiven ihre je eigenen Geschichten. Beispielsweise die Genfer Komponistin Olga Kokcharova. Mit ihr unterhielt ich mich in Genf zu ihrem mehrteiligen Festivalprojekt ‘sculpter la voûte‘ – den Harz formen.

 

Portrait Olga Kokcharova, zVg. Festival Archipel

 

 

“Wir haben die Verbindung zur Umwelt verloren – durch Klang lässt sich diese wiederherstellen”, sagt Olga Kokcharova. Die zarte, fast scheu wirkende Komponistin klangmächtiger Natur-Soundscapes widmet sich in ihrem zentralen Festivalprojekt dem Motiv des Holzes.

Sculpter la voûte basiert auf mehrjährigen Forschungen, in denen sich Kokcharova mit dem Wachstum von Bäumen in Tessiner Wäldern beschäftigte. Dabei nimmt sie sowohl Holz als Klangerzeuger als auch den Wald als Bedingung für menschliche Kultur unter die Lupe.

Im Frühling 2021 zeichnete Kokcharova in einem Naturreservat im Tessin Klänge auf. Da hört man die physiologische Aktivität der Bäume. Das sind fast brutale, rohe Klänge – tiefe Sonoritäten, Knacken. Man spürt, dass da Kräfte im Spiel sind, die weit über das Menschliche hinausgehen”, sagt Kokcharova.

Kokcharova stammt ursprünglich aus Sibirien und wanderte im Alter von 16 Jahren in die Schweiz aus. Sie habe da einen regelrechten Kulturschock erlebt, aber auch einen Inspirationsschub. Denn in Sibirien sei sie von Natur umgeben, fern von Städten aufgewachsen und hätte nichts über die europäische Kultur erfahren.

In Genf studierte sie zunächst Architektur, Design und Bildende Kunst, dann Klavier und Komposition. Klang sei ihr von Anfang an wichtig gewesen. Heute arbeitet sie insbesondere mit Klängen aus der Natur, mit field recordings, und integriert diese in Konzertkompositionen, in Installationen, Soundwalks, Klangperformances oder auch in Filmmusik, für Festivals und Institutionen im In- und Ausland.

 


Olga Kokcharova und Antoine Läng, Venera, 2018

 

Kokcharova geht es in ihren Arbeiten immer um grössere Zusammenhänge, um die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Umwelt.

 

Knacken von Bäumen beim Wachstum – rohe, brutale Klänge

 

In der Uraufführung von Sculpter la voûte– ‘altération’ (Veränderung) für verstärktes Lautsprecherdispositiv, einer Auftragskomposition des Festivals und gleichzeitig dem ersten Teil ihres Projekts, führt sie die im Tessin aufgenommenen Klänge in einem Lautsprecherorchester zusammen. Realitätsnah verräumlicht wird der Waldklang dabei durch ein Ambisoniksystem, einen raumumspannenden ‘Dom an Lautsprechern’, erstellt in Zusammenarbeit mit der ZHdK Zürich. Dieses wird am Festival auch für andere Konzerte eingesetzt, bspw. für die Schweizer Erstaufführung von Luis Naóns Streichquartett mit électronique ambisonique, aufgeführt durch das Quatuor Diotima am Vorabend.

Kokcharova ergänzt diese ambisonics hingegen durch ein Akusmonium, ein System aus zusätzlichen Lautsprechern, wodurch sie den Klang mit ‘altérations’ stark verfremdet.

“Es ist, wie wenn ich den Wald auferstehen lasse. Man ist direkt in Kontakt mit dem Klang des Lebens, das ihn bevölkert: man fühlt sich mittendrin.”

 

Der Wald ist für Kokcharova kein Ort der Erholung, sondern im Gegenteil ein Ort der höchsten Konzentration, ein Ort, der die Verbindung schafft zu Dingen, die wir nicht verstehen. Darauf macht sie durch die Verfremdungen in ihrem Stück aufmerksam.

 


Olga Kokcharova, Mixotricha Paradoxa – part II, 2019

 

 

Performance installatique et sensorielle

 

Als Performance installatique et sensorielle betitelt Kokcharova den zweiten Teil von Sculpter la voûte –  ‘auscultation‘ (Auskultivierung), eine Zusammenarbeit mit dem Ensemble Contrechamps Genève. Kokcharova zeichnet in ihrer Installation den Klangweg des Holzes nach: vom lebenden Baum, der durch die Zirkulation des Safts in Schwingung versetzt wird, bis hin zum Tonholz, das in den Händen des Geigenbauers zum Instrument wird und dann gemeinsam mit dem Körper eines Musikers vibriert. Und das spürbar, im wahrsten Sinne des Wortes. Je eine ‘Musiker:in des Genfer Ensemble Contrechamps spielt jeweils für eine einzelne Zuhörer:in. Diese:r kann dabei das Instrument ertasten, seinem Klang und seiner Vibration nachspüren, und so ihre je eigene expérience vibratoire erleben.

 

 

Pour entendre le son on a besoin de la matière..

 

Klang, das ist Vibration: das ist unsere Verbindung zur Welt, meint Kokcharova. Und um Klang zu hören, brauche es Materie, bspw. Holz: diese Verbindung schafft für Kokcharova auch einen grösseren Zusammenhang, der uns im Verborgenen präge: «Wenn man über die Menschheitgeschichte spricht, geht es immer um den Menschen mit Werkzeugen und Tieren. Pflanzen werden nicht erwähnt – aber ohne die Pflanzen wäre der Mensch nichts”. Ihr gehe es darum auf zu zeigen, wie andere Lebensformen -in diesem Falle die Bäume-  alle Facetten unseres Lebens, und auch unsere kulturelle Produktion beeinflussen.

Mensch und Natur stehen seit jeher in Beziehung, sagt Kokcharova. Und so erzählt sie in ihrem Festivalprojekt eine etwas andere, sehr persönliche Geschichte vom Holz und vom Menschen.
Gabrielle Weber

 

Olga Kokcharova, Lutherie Guidetti, Locarno

 

Festival Archipel Genève: 1.-10.April Genf

Clara Ianotta, italienische Komponistin ist artist en residence und am gesamten Festival anwesend.

Alvin Lucier, dem 2021 verstorbenen US-Elektropionier ist eine Hommage mit drei Performance-Installationen gewidmet.

Antoine LängQuatuor Diotima, Denis Schuler, Marie Jeanson

 

Erwähnte Veranstaltungen:
Samstag, 2.4.: UA Olga Kokcharova ‘Sculpter la voûtealtération’, und’Mycenae Alpha‘ von Iannis Xenakis (1978), zu Ehren von dessen 100jährigem Geburtstag, Olga Kokcharova am’système ambisonique‘.

3.-10.April: Olga Koksharova: Sculpter la voûte –  ‘auscultation‘:

Samstag, 9.4., 14h: Gespräch ‘arbre, bois, vibration, transmission‘ mit Ernst Zürcher, Schriftsteller, und Christian Guidetti, Laute.

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
in: Musikmagazin, Sa, 2.4.22, 10h /So, 3.4.20h, von Benjamin Herzog: Café mit Olga Kokcharova, Redaktion Gabrielle Weber
Musik unserer Zeit, Mi, 22.6.22, 20h/Sa, 25.6.22, 21h: Erzählen am Festival Archipel Genève 2022, Redaktion Gabrielle Weber

Profile neo-mx3:
Festival Archipel, Olga Kokcharova, Contrechamps, Luis Naon

Poetischer Norden, Elektronische Nacht

Friedemann Dupelius
„Man muss schon eine Poetin sein, um im Norden zu leben“, sagt Cosima Weiter und lacht laut. Die Frankoschweizerin muss wissen, wovon sie spricht, hat sie doch mehrmals den hohen Norden Europas bereist – und sich dabei ziemlich wohl gefühlt. Kein Wunder, sie ist ja auch Poetin, Soundpoetin, um genau zu sein. „Ich will das aber nicht idealisieren“, räumt sie ein. Eine besondere Mentalität hat sie jedoch ausmachen können, als sie die nördlichen Regionen Finnlands und Norwegens bereiste, um den szenischen Kaija Saariaho-Abend Nord mit dem Ensemble Contrechamps vorzubereiten. Gemeinsam mit dem Video-Künstler Alexandre Simon fing Cosima Weiter nicht nur Bilder und Klänge, sondern auch Eindrücke von den Menschen ein, die dort leben, wo Nord spielen wird. „Wenn du in der Großstadt lebst und jemanden Neues triffst, den du nicht magst, gehst du einfach weiter. Dort aber, wo so wenige Menschen leben, strengst du dich an, die andere Person zu verstehen. Weit weg von allem zu sein heißt, offen zu sein“, erzählt Weiter.

 

Vier Stücke von Kaija Saariaho sind Teil der Inszenierung “Nord” von Cosima Weiter & Alexandre Simon © Andrew Campbell

 

In Nord bricht eine Frau in Finnland auf, um eben dort hin zu wandern, wo man weit weg von allem ist: in den Norden. Während dieses durch und durch romantischen Unterfangens begegnet sie unterschiedlichen Menschen, die verschieden auf sie reagieren. Die einen lässt sie neidisch, andere voller Bewunderung, und einen sogar mit Liebes-kummer zurück. „Ich wollte die Geschichte eigentlich feministisch erzählen“, sagt Cosima Weiter, „und dass es als Frau nicht einfach ist, alleine ins Nirgendwo zu wandern. Aber als ich im Norden war, musste ich das verwerfen – dort sind alle gleich. Das kennen wir hier in Mitteleuropa so nicht. Es kümmert keinen, ob du eine Frau bist, du kannst tun und lassen, was du willst.“

 

Zeit, Raum, Klang

Eine Frau, die seit Jahrzehnten tut und komponiert, was sie möchte ist die Finnin Kaija Saariaho. Ihre Musik steht im Zentrum der szenischen Erzählung, die von drei Schauspieler:innen vor einer großen Film-Leinwand verkörpert wird. „Es war uns sehr wichtig, dass Saariahos Musik in dem Stück respektiert und nicht gekürzt wird, dass sie einen großen Raum erhält.“ Mit Nocturne (1994) in der Fassung für Solo-Viola, Aure (2011) für Cello und Viola, Petals (1988) für Cello und Elektronik sowie Fleurs de neige (1998) in der Fassung für Streichquartett bilden vier Saariaho-Kompositionen die musikalische Basis für die Erzählung. (So schwer deren Reminiszenz an das Winterreisen-Topos zu ignorieren ist: Ironischerweise gibt Cosima Weiter zu, erst mit dem Interview für neo.mx3 daran zu denken.) Um die langsame, behutsame Musik herum tut sich eine Klanglandschaft auf, die Weiter und Simon gemeinsam mit Lau Nau und Bertrand Siffert aus eigenen Aufnahmen und Einsprengseln anderer Musik gestaltet haben. „Es gibt drei Dinge, die mich in der Musik und der Poesie interessieren: Zeit, Raum und Klang“, sagt Cosima Weiter, „und in Saariahos Musik finde ich das alles.“ In Nord leiht die Soundpoetin der Protagonistin ihre Stimme, entkörperlicht wiedergegeben über Lautsprecher.
Man muss schon eine Poetin sein, um vom Norden zu erzählen.

 


Kaija Saariaho, Graal Théâtre, Contrechamps, Eigenproduktion SRG/SSR 2009

 

Nuit de l’électroacoustique

Eine ganz andere Erzählung spinnt Contrechamps am 19.3., wenn das Ensemble zu seiner ersten Nuit de l’électroacoustique lädt. Fast wäre sie ausgefallen: Aufgrund von Lieferengpässen konnte die Renovierung der postindustriellen Räumlichkeiten, die Contrechamps künftig als Arbeits- und Begegnungsort beziehen wird, nicht rechtzeitig abgeschlossen werden. Eigentlich hätte das Les 6 Toits auf dem Genfer ZIC-Gelände mit der Nuit eingeweiht werden sollen. Dankbarerweise fand man kurzfristig Exil im Pavillon ADC, einem Zentrum für zeitgenössischen Tanz in Genf. Von Beginn an in die Kuration und Organisation mit eingebunden war auch der Genfer Subkultur-Club Cave 12, der gemeinsam mit Contrechamps die Nuit de l’électroacoustique präsentiert. Dass nun auch noch der Pavillon ADC mit von der Partie ist, sollte einer gesunden Durchmischung des Publikums nur zuträglich sein.

 


Heinz Holliger, Cardiophonie, Contrechamps, Oboe: Béatrice Laplante, Eigenproduktion SRG/SSR 2018

 

„Teile unseres Stammpublikums werden sicher mit Heinz Holliger vertrauter sein“, vermutet Serge Vuille, der künstlerische Leiter von Contrechamps. Holliger ist mit Cardiophonie für Oboe und Elektronik vertreten. „Andere Leute, die aus der elektronischen Musikszene kommen, können wir bspw. mit Phill Niblock, Jessica Ekomane oder Beatriz Ferreyra locken.“ Bereits mit den zwei letztgenannten Namen spannt sich ein großer Bogen: Hier die junge Künstlerin, die seit wenigen Jahren mit scharfsinnigen Performances auf sich aufmerksam macht, etwa neulich beim Festival MaerzMusik Berlin – da die 84-jährige Pionierin, die schon in den 1960ern mit Pierre Schaeffer gearbeitet hat. „Wir möchten Verbindungen herstellen“, sagt Vuille, „etwa zwischen rein elektronischer Musik und akustischen Instrumenten in Verbindung mit Elektronik, oder zwischen neuen und alten Tools – wer weiß, vielleicht bringt Beatriz Ferreyra alte Bandmaschinen mit?“

 

Jessica Ekomane spielt bei der Nuit de l’électroacoustique © Camille Blake

 

Lockerheit und Fokus

Für das Kurator:innen-Kollektiv von Contrechamps und Cave 12 war eine Mischung nicht nur aus alt und jung, sondern auch aus internationalen Headlinern und lokalen Akteur:innen der freien Genfer Szene wichtig. Letztere ist mit Performances von Salômé Guillemin und d’incise vertreten. Hinzu kommen drei neue Auftragsstücke für kleine Contrechamps-Besetzungen plus Live-Elektronik – eine Reminiszenz an die IRCAM-Schule, wie Serge Vuille findet.

 


d’incise, Le désir certain, 2019 (Insub.records & Moving Furniture Records)

 

Die Nuit de l’électroacoustique soll aus der Lockerheit heraus zu einem fokussierten Hören verlocken. Das Publikum kann umherwandern. „Wir möchten mit der Veranstaltung zeigen, dass man elektronische Musik auch auf eine konzentrierte Weise hören kann – ob man dabei sitzt oder sich bewegt.“ Und wer möchte, kann sich eine Auszeit vom fünfstündigen Programm an der Bar nehmen. Oder die Virtual Reality-Installation von Raphaël Raccuia und Nicolas Carrel begehen: sie lädt zum Entdecken der Zukunft, denn von der hat elektronische Musik seit ihren Anfängen erzählt.
Friedemann Dupelius

Contrechamps im Frühjahr 2022:
Nord: 7.-20.2., Le Grütli, Genf
Nuit de l’électroacoustique: 19.3., 19-24 Uhr, Pavillon ADC, Genf

ContrechampsCosima Weiter & Alexandre SimonKaija SaariahoBeatriz FerreyraJessica EkomanePhill NiblockLe GrütliPavillon ADCCave 12

Radio-Features SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 9.10.2019: Johannes Knapp und Serge Vuille – zwei junge Querdenker am Ruder, Redaktion Theresa Beyer / Moritz Weber
neoblog, 19.6.19: Ensemble Contrechamps Genève, expérimentation et héritage, Interview mit Serge Vuille von Gabrielle Weber

neo-Profile:
Contrechamps, Heinz Holliger, d’incise, Serge Vuille

Die Aktionsgruppe GRiNM entwickelt sich

Eine diversere und femininere Neue Musik-Praxis: Vision, Option oder Must?
Mitte November trafen sich internationale Akteure in der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) drei Tage lang zum Austausch über Erfahrungen und Zukunftsvisionen.
Positionen-Redakteur Bastian Zimmermann war dabei und zieht sein Fazit.

GRiNM Network-Conference ZHdK © Gender Relations in New Music/ Gözde Filinta

Aus vielen Teilen Europas, teils sogar global wie aus Kanada, und natürlich Berlin kam man zusammen. Ziel war es, sich gegenseitig Projekte und Strategien zur Entfaltung einer diverseren und genderparitätischen Musikwelt zu präsentieren, voneinander zu lernen und bestenfalls neue Projekte zusammen zu er- und beschließen. Und obgleich über sogenannten „Netzwerktreffen“ zumeist der eher unangenehme Wunsch eines „Outcomes“ schwebt, kann man diesem Wochenende einen generellen „Flow“ attestieren. Das mag sicherlich daran liegen, dass die anwesenden Co-GRiNM-Gründer*innen Meredith Nicoll, Brandon Farnsworth, Lucien Danzeisen oder Rosanna Lovell sowie alle Hinzugestoßenen ein echtes Anliegen treibt: Die horrende Schieflage im Musikbetrieb mit teilweise 100prozentiger weißer Männerwirtschaft soll bewusst gemacht und ganz konkret in eine gegenteilige „noch härtere Schieflage“ gebracht werden. Durch Aktionen wie statistische Analysen, deren Publikation und die Aufforderung zur Veränderung machte GRiNM derart erfolgreich auf die Disbalance aufmerksam, dass derzeit vakante künstlerische Leitungspositionen kaum mehr ‘nur’ männlich besetzt werden.

Karlheinz Stockhausen: Mikrophonien, 1966, Filmstill © Gender Relations in New Music

Diese Aufmerksamkeit hat zur Folge, dass sich auch zahlreiche leitende männliche Akteure, zur in Zürich stattfindenden Reflektion des Musikbetriebs und des eigenen Schaffens darin einfanden. So berichtete z.B. Thorbjørn Tønder Hansen vom Ultima Festival in Oslo über die Herausforderungen in einem großen Komplex von Kooperationspartnern und Geldgebern Änderungen oder Experimente wie ein All-Female-Festival durchzusetzen. Dahlia Borsche diskutierte diese Schwierigkeiten innerhalb des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst).

Das auch im Norden angesiedelte Netzwerk für Frauen und nicht-binäre Personen Konstmusiksystrar (Kunstmusikschwestern), vertreten durch Anna Jackobsson und Rosanna Gunnarsson, präsentierte u.a. eine mögliche radikale Satzung der Durchbrechung gängiger Kurationskonventionen: Die durch Calls eingegangenen Werke werden allein im Losverfahren erwählt – eine in viele Richtung das aktuelle Antragsdenken herausfordernde Setzung, die im Anschluss noch weiter diskutiert wurde.

Konstmusiksystrar – sisters in contemporary music ©Hampus Andersson

Auch gab es Versuche, die Idee einer „Global Music Network Initiative“ zu diskutieren, was sich aber hinsichtlich der Fragen von Inklusion und Exklusion musikalischer Genres und Praxen als ein etwas utopisches Unterfangen herausstellte.

Die drei Tage starteten jeweils mit einer Keynote u.a. mit einem brillanten rhetorischen wie analytischen Vortrag von der am King’s College in London lehrenden Christina Scharff zum Denken von Geschlechterkategorien in zeitgenössischer Musik. Am Produktivsten stellten sich jedoch die mehrfach initiierten, moderierten, aber offenen Diskussionsrunden unter den rund 40 Teilnehmer*innen heraus: Anhand einzelner Statements, wie etwa mit den erstarkenden rechten Bewegung im kuratorisch/künstlerischen Kontext umzugehen sei, diskutierte die Gruppe angeregt und pointiert Lösungen. Und das innerhalb eines GRiNM-Rahmens, in dem sich in Zukunft immer mehr Menschen zusammenfinden können, die etwas in dem maßgeblich hierarchisch organisierten Musikbetrieb ändern wollen.
Bastian Zimmermann

Jüngste Engagements aus der Schweiz stellten Serge Vuille für Contrechamps Geneve, die ZHdK und die FHNW, das Global Music-Network Norient, Katharina Rosenberger aus San Diego oder SONART, Musikschaffende Schweiz, vor.

Überläufer – Eine performative Klang-Raum-Komposition zu Wandel und Migration (Trailer), UA 2019 ©ZeitRäume Basel 2019

In der Schweiz ist noch Einiges zu tun: Diskutieren Sie mit, teilen Sie Ihre Erfahrungen und Vorschläge auf dem Neo-Blog. Wir freuen uns, zu Gender und Diversity in der Neuen Musik im Austausch zu sein.
Einen tollen Start ins neue Jahr wünscht:
Gabrielle Weber, Redaktorin/Kuratorin neo.mx3.ch

GRiNM, positionen.BerlinEnsemble Contrechamps Genève, FHNW | Sonic Space Basel, Norient-Space, SONART – Musikschaffende Schweiz, Katharina Rosenberger

Read also: Neo-Blog:
GRiNM? = [GRiNäM]!: Interview with Brandon Farnsworth by Gabrielle Weber
Ensemble Contrechamps Genève – Expérimentation et héritage: Interview Serge Vuille / Contrechamps by Gabrielle Weber

Neo-profiles: Zürcher Hochschule der Künste, Contrechamps, Festival ZeitRäume BaselKatharina Rosenberger