..Inspiriert vom Fussball.. – Klanglieferservice Gare du Nord Basel

Das Team des Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel, dachte sich ein spezielles Programm für die Zeit des Zuhause Bleibens aus: der Klanglieferservice.

Das Motto: Reisen in der Phantasie sind gerade in diesen Tagen nicht der schlechteste Weg, um beweglich zu bleiben und die Seele zu wärmen.

Gare du Nord: Klanglieferservice ©Alexa Früh

Wie alle Veranstaltungsorte ist auch der Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel seit Mitte März stillgelegt. Als einer der wichtigsten Musikbetriebe der zeitgenössischen Musik in der deutschen Schweiz bietet der Gare du Nord ein einzigartiges Ganzjahresprogramm. Désirée Meiser, künstlerische Leiterin, erzählt im Gespräch mit Gabrielle Weber wie der Gare du Nord die aktuelle Corona-Ausnahmesituation überbrückt. 

Désirée Meiser, die Homepage des Gare du Nord empfängt uns mit den Worten: “Wir arbeiten zu Hause”: Wie sieht ihr Tag gerade aus?

Wir staunen, dass diese Tage sehr gefüllt sind. Wir kümmern uns natürlich um die Absagen und Verschiebungen, aber auch die Planung muss weitergehen. Wir haben dafür verschiedene Chatrooms. Qualitativ funktioniert es gut. Aber quantitativ ist es manchmal anstrengend.

Sie steckten mitten in zwei grossen Saisonschwerpunkten, ‘Later Born’ und ‘Musiktheaterformen’. Nun sind alle Veranstaltungen vorerst abgesagt: Wie sieht die nahe Zukunft aus?

Im schlimmsten Fall können wir diese Spielzeit nichts mehr anbieten – sicher ist dies aber noch nicht. Am 8.Mai wäre im Rahmen von ‘Later born’ bspw. ein grosses Kooperationsprojekt angesetzt: der Stummfilm: “Die Stadt ohne Juden” (1924, Karl Breslauer) mit einer Neukomposition von Olga Neuwirth (UA WienModern, 2018), gespielt vom Sinfonieorchester Basel. Das ist ein hoch politisches Projekt und wäre uns sehr wichtig gewesen. Aber wir planen inzwischen gemeinsam mit dem Sinfonieorchester, eine Verschiebung.

Olga Neuwirth, Die Stadt ohne Juden, UA Festival WienModern, Wiener Konzerthaus 7.11.2018

Was bedeutet die aktuelle Situation für Sie, für das Team, für die an den Projekten Beteiligten?

Es ist eine große Herausforderung. Für Teile des Teams haben wir nun Kurzarbeit beantragt. Im Moment können wir die Situation noch halbwegs stemmen, aber wie es langfristig aussieht, ist offen. Wir versuchen, so solidarisch wie möglich damit umzugehen, auch in Bezug auf die Musiker und die Ensembles, die sich in einer schwierigen Lage befinden.

Der Gare du Nord rief zu Solidarität auf mit der Aktion #ichwillkeingeldzurück / #solidaritätmitfreienkünstlerinnen: das ist eine tolle und wichtige Initiative – wie entstand sie?

Die Idee haben wir von bestehenden Aktionen übernommen und finden sie wichtig und sinnvoll. Wir sind mit Ensembles im Gespräch, um gewisse Konzerte vielleicht zu verschieben, aber Vieles ist noch offen. Insbesondere von Seiten des Publikums erfahren wir großes Verständnis und große Anteilnahme für alle Kulturschaffenden.

Germán Toro-Peréz / Reise nach Comala, Hörspielfassung Juan Rulfo, GdN / IGNM Basel

“Es ist jetzt von allen eine große Flexibilität -auch im Kopf- gefordert..”

Für Ihr Publikum haben Sie ein Programm entworfen, das in die Bresche springt: den Klanglieferservice: Wie kam es dazu?

Als der Ruf nach Streamingangeboten laut wurde, kam die Idee auf, dieser Schnelllebigkeit, und dem permanent Neues bieten zu wollen, etwas entgegenzusetzen. Wir wollten Zeitfenster öffnen, um in ausgewählten Archivaufnahmen zu schmökern. Es gibt so wundervolle Sendungen, Gespräche und Konzertmitschnitte, gerade von SRF 2 Kultur.

Neue Stücke aufzuführen ist wichtig und toll. Aber viel gute bestehende Musik wird zu selten wieder in die Programme aufgenommen. Dass wir nun alle zu Hause bleiben müssen, bietet eine schöne Gelegenheit, um sich Werken zuzuwenden, die in Vergessenheit geraten sind.

Und wir waren auch inspiriert vom Fußball: weil die Spiele nicht mehr stattfinden können, begannen die Fußballfans sich gemeinsam legendäre Spiele von früher anzuschauen.. (lacht)

Was ist das Besondere am Klanglieferservice – Weshalb sollte man ihn anhören?

Wir haben Fachfrauen und Fachmänner aus der Musikszene gebeten, uns ihre persönlichen Highlights zukommen zu lassen. Da kommen nun laufend schöne Fundstücke zusammen, die immer wieder überraschen und auch für uns eine Freude sind anzuhören.

aus: Klanglieferservice GdN, Tipp: Anja Wernicke, 9.4.20

Die Begriffe ‘Physical distancing’ oder ‘social distancing’ sind omnipräsent: Spüren Sie soziale Nähe trotz der physischen Distanz – mit dem Publikum, mit dem Team..? Der Klanglieferservie steht ja auch symbolisch für das Verbindende der Musik…

Das Publikum wollen wir in der Pause nicht mit einer Mailflut überhäufen. Der Klanglieferservice soll eine Art virtuelle Verbindung darstellen, indem wir uns gemeinsam in einen virtuellen Raum begeben und uns zusammen etwas anhören. Das gibt einen gewissen Trost. Aber gemeinsam etwas in einem realen Raum zu erleben und Klang live zu hören, ist etwas Einzigartiges. Das kann nicht ersetzt werden.

Und gerade jetzt ist unser Team unglaublich kostbar. Auch über die zum Teil großen geografischen Distanzen sind wir alle hoch motiviert und haben einen starken Zusammenhalt.

Der Ausnahmezustand – eine Art ,Wachmacher’

Bietet die Corona-Zeit auch Chancen oder Potenziale?

Ein Phänomen dieses seltsamen Ausnahmezustands: er ist auch eine Art ,Wachmacher’ –  wir schätzen mit einem neuen Bewusstsein was wir hatten und haben…
Interview: Gabrielle Weber

Der Klanglieferservice startete am 30. März und stellt täglich ein persönliches Highlight auf die Homepage des GdN. Die ausgewählten Fundstücke stammen u.a. von Mark Sattler, Dramaturg Lucerne Festival, Bernhard Günther, künstlerischer Leiter der Festivals WienModern und Zeiträume Basel, Anja Wernicke, Geschäftsführung und zentrale Produktionsleitung ZeitRäume Basel, Uli Fussenegger, Leiter Neue Musik FHNW oder Désirée Meiser, künstlerische Leiterin GdN, sowie von Musikredakteurinnen und -redakteuren von SRF 2 Kultur.

Klanglieferservice / GdN

Vorgestellte Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit: Heinz Holliger und die Literatur
Klassiker der Moderne: Concorde Sonata von Charles Ives
Neue Musik im Konzert: Wassermusik, darin UA Katharina Rosenberger: Rein
neo.mx3: Antoine Chessex, écho/cide

Neo-profiles:
Gare du Nord, Antoine Chessex, Eklekto Geneva Percussion Center, Lucerne Festival, Lucerne Festival Academy, Lucerne Festival Alumni, Germán Toro-Peréz, Katharina Rosenberger

«Hiob leidet grundlos»

Am Gare Du Nord in Basel bringt Michèle Rusconi ihre Komposition «Les Souffrances de Job» zur Uraufführung. Im Interview erzählt die Komponistin, wie sie die Tragödie von Hanoch Levin adaptiert hat.

Die Komponistin: Michèle Rusconi

Björn Schaeffner
Michèle Rusconi, was begeistert Sie an Hanoch Levins Text «Les Souffrances de Job»?
Ich halte Hanoch Levin für einen der weltweit wichtigsten Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mich begeistert seine grandiose Sprache, sein Witz, die Satire und der bittere schwarze Humor, die ihm erlauben, das Unsagbare zu sagen.

Wie meinen Sie das?
Ich bewundere Levins scharfen kompromisslosen Blick und fürchte gleichzeitig den Spiegel, den er mir so schonungslos vorhält. Levin versetzt die Bibelgeschichte von Hiob in die Zeit der Römer, etwa tausend Jahre später. Das ergibt eine Art Verfremdungseffekt wie bei Brecht.

Mit der Figur Hiob können Sie sich identifizieren?
Hiob ist eine Parabel, eine universelle Figur. Levin beschreibt in seiner Tragödie den grundlos leidenden und ungerecht bestraften Menschen, dessen Unglück weder eine Ursache hat noch einen Zweck erfüllt. Es ist dies eine atheistische Haltung. Denn Hiobs Frage an seine Freunde ‘hat das Leiden einen anderen Sinn als das Leiden?’ beantwortet Levin mit Nein. Levins Hiob, ein Bruder «in spirit» von Kleists Michael Kohlhaas, betrifft mich. Er wird, im Gegensatz zum biblischen Hiob durch seine Gottestreue nicht belohnt. Sein Verlust ist endgültig, er stirbt.


Michèle Rusconi, Ratafià, Streichquartett, 2009

Wie sind Sie den Stoff angegangen?
Eine Freundin und Übersetzerin zahlreicher israelischer Theaterstücke, schickte mir einen Ausschnitt aus «Les Souffrances de Job». Ich wählte einzelne Sätze und Dialoge der verschiedenen Protagonisten aus. Es sind dies Hiob, seine drei Freunde, der Gerichtsvollzieher, die Bettler, der Offizier, der Zirkusdirektor und die Toten. Ich ging nicht narrativ vor, sondern tauschte die Kapitel untereinander aus und begann zunächst, anhand der französischen Textvorlage zu komponieren. Die israelische Sopranistin Tehila Nini Goldstein, die in Berlin lebt, begeisterte sich für das Projekt. Kurz danach konnte ich das Ensemble Meitar aus Tel Aviv gewinnen, dann Desirée Meiser vom Gare du Nord, ein paar Monate später den Schauspieler Zohar Wexler aus Paris.

Meitar Ensemble, Tel Aviv

Das heisst, das Projekt wurde immer komplexer?
Ich entschied irgendwann, dass ich nebst der französischen Übersetzung auch mit dem hebräischen Originaltext arbeiten wollte. Die Stimme ist bei dieser Komposition zentral. Der Stoff Hiob ist ja unglaublich aufregend: er weint, flucht, brüllt, kämpft, lacht, flüstert, wird wahnsinnig, verzweifelt, gibt auf. Die Komposition wird jetzt abwechslungsweise in beiden Sprachen gesungen und gesprochen.

Die Emotionalität der beiden Sprachen ist ja eine völlig andere.
Genau! Mit einer Sängerin, einem Schauspieler und zwei Sprachen hatte ich neue Parameter, mehrere Oktavlagen, andere akustische Farben, die die Sprachen ausstrahlen. Es gab plötzlich viel mehr Möglichkeiten, mit dem Text umzugehen. Erst dann fiel mir überhaupt auf, dass ich den Text des Hiob anfänglich in den Mund einer Frau gelegt hatte. Dazu kommen die Übertitel: in Tel Aviv Hebräisch, in Basel und Zürich Deutsch, und in Genf Französisch.

Die Sängerin: Tehila Nini Goldstein

Und worauf darf man als Zuschauer*in jetzt gespannt sein?
Auf den tollen Text von Hanoch Levin! Und auf das wunderbare Meitar Ensemble, den wendigen Schauspieler Zohar Wexler, die grossartige Sopranistin Tehila Nini Goldstein und meine Wenigkeit. Dass das Zusammenkommen überhaupt möglich ist, ist schon ein kleines Wunder.

Warum?
Weil es logistisch kaum machbar ist! (lacht). Wir arbeiten ja in vier Städten und inszenieren in drei Sprachen, das macht es nicht gerade einfach.
Interview: Björn Schaeffner


Meitar Ensemble, Ondřej Adámek, ‘Ça tourne ça bloque’, Pierre-André Valade

‘Les Soufffrances de Job’ bildet Teil der zwei Schwerpunkte der diesjährigen Saison des Gare du Nord, ‘Musiktheaterformen‘ und ‘Later Born‘: ‘Musiktheaterformen‘ zeigt Facetten des aktuellen Musiktheaters in Präsentation und Gespräch. ‘Later born‘ hingegen befasst sich mit den grossen Traumata des 20, Jahrhunderts -Nationalsozialismus, den beiden Weltkriege und deren Folgen-, gespiegelt durch einen fragenden Blick der Nachgeborenen.

Im Anschluss an die Vorstellung in Basel findet ein Podiumsgespräch mit Michèle Rusconi und Matthias Naumann (Autor einer Monographie über Hanoch Levin, Übersetzer, Verleger) statt.

Der Schauspieler: Zohar Wexler

Daten:
5. 12.19, 20:30h Tel Aviv, Inbal Multi Cultural Ethnic Center
7.12.19, 20h Basel, Gare du Nord
9.12.19, 19:30h Genève, Salle Ansermet
10.12.19, 19:30h Zürich, Kunstraum Walcheturm

Gare du Nord, IGNM Basel, Kunstraum Walcheturm, Meitar Ensemble

neo-profiles: Gare du Nord, Michèle Rusconi