Ein lebendes Archiv – das Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente

Erst sieben Jahre ist es alt, und schon hat es einen der drei Spezialpreise der Schweizer Musikpreise eingeheimst: Das Schweizer Museum und Zentrum elektronischer Musikinstrumente – kurz: SMEM – in Fribourg macht es die Technik, Geschichte und Praxis elektronischen Musikmachens erfahrbar.

 

Hochregale im Schweizer Museum für Elektronische Musik

 

Friedemann Dupelius
„Der Preis kam total überraschend für uns“, sagt Victorien Genna, Projektkoordinator am SMEM, „so etwas hätten wir uns frühestens in ein paar Jahren vorgestellt. Es ist wunderbar, dass wir jetzt eine anerkannte Schweizer Institution sind.“ Die längst nicht nur in der Schweiz bekannt ist. Neben Gästen aus Frankreich und Deutschland reisen auch zahlreiche Fans aus England, den USA, Japan, Australien oder Neuseeland nach Fribourg, um die beachtliche Sammlung zu bestaunen. Rund 5000 elektronische Musikinstrumente stellt das SMEM aus, darunter fast alle erdenkliche Arten von Geräten: Sampler, Drummachines, Synthesizer, Mischpulte, Effektgeräte, Verstärker, Aufnahmedevices, Mikrofone – sogar Software wie die erste Version des heute weit verbreiteten Musikprogramms Ableton Live aus dem Jahr 2001 und die entsprechend alten Computer, auf denen diese läuft.

 

(c) Johnma.ch
Die Hammond Novachord wurde zwischen 1938 und 1942 produziert

 

Meterhoch ragen die Regale an die Decke einer ehemaligen Brauerei – heute zu einem Areal für Startups und kulturelle Initiativen umfunktioniert. Doch wer nun dicke Staubschichten auf den Keyboards befürchtet, darf beruhigt aufatmen: Das SMEM versteht sich als „lebendiges Archiv“. All diese Geräte werden nicht nur professionell gewartet, sondern können auch gespielt werden. Im “Playroom des Museums steht immer eine breite Auswahl unterschiedlicher Instrumente angeschlossen bereit, darunter Klassiker wie die Drumcomputer TR-808 und TR-909 der Firma Roland. Für wenig Geld kann man sich hier eine Session buchen, die eigenen Jams auch aufnehmen und auf dem Stick mit nach Hause nehmen.

 

Ein Museum für Kids wie für Nerds

Auf die Frage, ob das SMEM eigentlich eine Unterscheidung zwischen akademisch geprägter, „ernster“ elektronischer Musik und ihren popkulturellen Spielarten macht, fragt Victorien Genna zurück, was ich damit eigentlich meine – und gibt damit schon eine indirekte Antwort. Er ist kein Musikwissenschaftler oder Komponist, sondern stieß als Philosophie-Student, der gerne privat mit Synthies spielt, zum SMEM. „Die FM-Synthese ist ein gutes Beispiel: Sie gelangte von den Laboren der Universitäten auf den Konsummarkt und wurde mit dem Yamaha DX7 in den 80ern weltberühmt. Bei uns kommen die Nerds auf ihre Kosten, man kann hier richtig ins Detail gehen. Aber auch fünfjährige Kinder oder jemand von 100 Jahren soll hier Spaß haben können.“

 

Auch Kinder haben im SMEM ihren Spass.

 

Der erste Schaltkreis schließt sich auf einer Zugfahrt

Dass das SMEM überhaupt existiert, war glückliche Fügung: Der Großteil der Sammlung stammt von Klemens Niklaus Trenkle – einem Schauspieler aus Basel, der seit den 70er-Jahren elektronische Instrumente sammelt. So viel, dass es seinem Vermieter irgendwann zu bunt wurde, er solle das Zeug wegschaffen. Auf einer Zugfahrt kam er mit dem Architektur-Professoren Christoph Allenspach aus Fribourg ins Gespräch. Allenspach hatte seit Jahren die Idee, ein Museum mit Musikbezug zu eröffnen und so war die erste Verkabelung unverhofft gelungen. Bald zogen die Instrumente von Basel in die Westschweiz um, ein Verein wurde gegründet und ein Team von Freiwilligen zusammen gestellt. 2017 eröffnete das Museum. Bis heute hat sich nicht viel geändert: Die Menge an Instrumenten ist groß, das Budget gering.

 


Victorien Genna vom SMEM hat eine Dokumentarfilm-Reihe über Instrumente aus der SMEM-Sammlung produziert.

 

Das SMEM lebt – neben öffentlicher Förderung und privaten Spenden – durch den Einsatz von Ehrenamtlichen, so wie es auch Victorien Genna einer war, bis er vor kurzem eine der drei festen Stellen am Museum bekam. Die Freiwilligen reparieren die Instrumente, mischen Konzerte ab oder übernehmen Barschichten dort. Der frisch erhaltene Preis ist für das Museum daher natürlich Gold wert, denn die Sammlung wächst stetig. Doch wie soll man aus einer Flut technischer Neuerscheinungen herausfiltern, welches Delay-Modul, welcher Wavetable-Synthie wirklich historisch relevant sein werden? „Manchmal kann man technische Revolutionen schnell erkennen“, sagt Victorien Genna und verweist auf den Elektron Digitakt, 2017 erschienen, „da war es schon mit dem Erscheinen klar, dass das ein wichtiger Sampler für das 21. Jahrhundert sein wird. Oft kann man aber nur spekulieren und weiß es erst nach ein paar Jahren.“ Klemens Niklaus Trenkle kauft immer noch selbst neue Instrumente für das Museum ein. „Er hat einen ziemlich guten Riecher dafür, was relevant ist oder sein wird.“

 

 

Das SMEM veranstaltet u.a. Konzerte, Workshops und Vorträge – mindestens einmal im Monat. Mehrmals im Jahr sind auch Residenz-Künstler:innen für eine bis vier Wochen zu Gast in Fribourg, um mit Instrumenten ihrer Wahl zu experimentieren. Ein künstlerisches Ergebnis ist dafür nicht verpflichtend. Doch immer wieder kommt etwas dabei heraus, das dann in der Regel auf dem Fribourger Label oos erscheint. Im Oktober steht ein Release des Wiener Musikers Oliver Thomas Johnson alias Dorian Concept an, der sich am SMEM mit dem Yamaha CS01-Synthesizer beschäftigt hat. Die polyrhythmischen Geflechte aus perkussiven Synthesizern beginnen mit jeder neuen Schichtung mehr zu grooven, die 200 Beats per Minute Geschwindigkeit merkt man dieser leichtfüßigen Musik nicht an. Es ist eben ein lebendiges Archiv, in dem Geschichte nicht nur dokumentiert, sondern auch aktiv mitgestaltet wird.
Friedemann Dupelius


Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente (SMEM)
SMEM auf Instagram
Das Online-Magazin des SMEM
Dorian Concept auf Bandcamp
Klemens Niklaus Trenkle
Das Album Unconditional Contours von Legowelt, das auch am SMEM entstand

Termine
04.09.2024 – Modular-Synthesizer-Workshop mit dem Duo OK EG (Lauren Squire & Matthew Wilson) aus Melbourne
09.09.2024 – 25 Jahre Anyma (Audiovisuelles Kunst-Kollektiv aus Fribourg): SMEM Open Doors und Konzert von Synkie
Oktober 2024 – Veröffentlichung von Dorian Concept auf ous

Klangkunst von „Sonic Architect“ Merlin Modulaw

Merlin Züllig alias Merlin Modulaw bezeichnet sich als „Sonic Architect“. Der in Paris lebende Zürcher hat Komposition und Sound Design in der Schweiz studiert und entdeckt mit seinen Verknüpfungen von Akusmatik, 3D-Klang, Sound Design und Pop-Referenzen neue künstlerische Räume.

 

Merlin Modulaw © Andreas Lumineau

 

Friedemann Dupelius
„Einen Tisch dekorieren ist komponieren, ein Blumenstrauß ist eine Komposition. Für mich ist Komposition ein sehr weiter Begriff. Auch Sound Design gehört dazu“. Merlin Züllig alias Merlin Modulaw denkt viel in Verbindungen und Assoziationen. Kaum ein Musikgenre und kaum eine gestalterische Tätigkeit gibt es, die er nicht im Zusammenhang miteinander sieht. Das zeigt sich schon früh in seiner musikalischen Biografie: Merlin Modulaw ist noch keine 30 und gehört zu einer jungen Generation, die in den 2010er-Jahren auf Online-Musikplattformen wie Soundcloud sozialisiert wurde. Hier tummelten sich Musiker:innen, die (oft aus dem Jugendzimmer heraus) ihre Stücke mit der Welt teilten, ohne dass ein Plattenlabel oder ein Vertrieb nachhelfen mussten. Angefixt von HipHop-Produktion und elektronischer Clubmusik vertiefte Modulaw seine Fähigkeiten in Komposition und Klangkunst in Studien in den Musikhochschulen in Basel und Bern. Dort kam er in Kontakt mit zeitgenössischer und akusmatischer Musik, Musik für Lautsprecher ohne sichtbare Instrumente, und vertiefte sich in das Thema 3D-Audio.

 

Klänge für Räume: Der „Sonic Architect“

So entstand die Selbstbezeichnung „Sonic Architect“. Denn: Ob Musiker, Komponist, Produzent, Klangkünstler oder Sound Designer, all diese Begriffe reichten für Merlin Modulaw nicht aus, um den zitierten Blumenstrauß zu beschreiben, aus dem sich seine Aktivitäten komponieren. „Sonic Architect“ bedeutet einerseits, Klänge und Musik für spezifische Räume zu gestalten, wie etwa in der Konzertreihe „Spectres“, die Modulaw gemeinsam mit Axel Kolb in Zürich veranstaltet. Hier erschließen sich Komponist:innen unterschiedlichste Räume mit Lautsprecher-Konstellationen – von großen Industriehallen über Kellergewölbe bis zu Kunstgalerien.

 


Die akusmatischen Kompositionen von Merlin Modulaw kombinieren Fieldrecordings und Synthesizerklänge und führen an verschiedene imaginäre Orte

 

Je nach Ort und künstlerischer Intention werden die Boxen im Kreis aufgestellt, frontal aufs Publikum gerichtet oder beschallen auch mal Wände und Winkel des Raumes mit elektronisch-akusmatischen Kompositionen, die speziell für diese Lautsprecher und die Räume mit ihren Eigenfrequenzen und Nachhallzeiten abgemischt und inszeniert werden. Die beteiligten Komponist:innen rotieren von Ausgabe zu Ausgabe. Im Dezember 2023 war die „Spectres“-Reihe Teil des Zürcher Sonic Matter-Festivals. Bei der „Biennale Son“ im Herbst 2023 im Wallis verräumlichte Merlin Modulaw die Klangspuren anderer Künstler:innen in einer Installation von Deborah Joyce-Holman. Er verteilte das Tonmaterial auf fünf in einer Reihe aufgestellte Lautsprecher und auf Subwoofer unter einer Sitzbank für das Publikum. Auch das ist für ihn ein eigener kompositorischer Akt, selbst wenn er die Klänge nicht selbst gestaltet hat.

 

Kreis aus acht Lautsprechern am Rindermarkt Zürich

 

„Sonic Architect“ bedeutet für Merlin Modulaw aber noch mehr: Nicht nur, mit Klängen Architektur zu betreiben, sonder auch, Identitäten zu schaffen – aus dem unbestimmten Klangstrom der Gegenwart etwas Spezifisches festzuhalten und zugänglich zu machen. Das lässt sich auf alle Tätigkeitsfelder von Merlin Modulaw übertragen, auch etwa auf seine Arbeit als Mastering-Engineer, wenn er der Musik anderer Künstler:innen den filigranen Schliff gibt, der sowohl ihre als auch seine eigene Identität in Szene setzt – oder als Sound Designer, der mit Klängen für Atmosphäre und Identität in Filmen oder Werbeclips sorgt.

„Oft nerven mich Filme mit einer markanten Filmmusik, die einfach drübergeklatscht ist und dir vorschreibt, welche Emotionen du fühlen musst. Also versuche ich, die musikalische Information bereits auf der Ebene des Sound Designs und diegetisch, also direkt in der Szene einzubringen. So könnte dann ein Wind im Hintergrund einen Moll-Akkord beinhalten, den niemand bewusst als solchen wahrnimmt, der aber die Umgebung subtil einfärbt und eine bestimmte Aura erzeugt.“

 

Für die Zürcher Design-Marke Casella Meyer gestaltete Merlin Modulaw das Sound Design eines Image-Videos mit der für ihn typischen Klangsprache

 

Klänge für Stimmen: Der Assoziierer

Die musikalischen Ergebnisse, die aus dieser Denk- und Arbeitsweise resultieren, haben andere Künstler:innen neugierig darauf gemacht, mit Merlin Modulaw zu kooperieren. Oft sind es Vokalist:innen – singend, rappend, mit der Stimme oder mit Effekten wie Autotune experimentierend –, die ihre Stimme in Modulaws Soundgewand kleiden wollen. Neun davon fanden Platz auf dem 2023 veröffentlichten Album Ignition. Auch in der Arbeit mit Vokalist:innen geht es Merlin Modulaw viel um Assoziationen: „Die Stimme ist für mich ein Referenzpunkt, an dem sich Hörer:innen schnell orientieren können. Ich kann dann Stimm-Elemente, die oft mit Popmusik im weitesten Sinne assoziiert sind, mit Referenzen aus zeitgenössischer oder elektroakustischer Musik kombinieren und damit experimentelle Musik einem anderen Publikum näherbringen.“

 


Das Stück C ist Teil des Modulaw-Albums Ignition und entstand in Kollaboration mit dem kalifornischen Rapper DÆMON.

 

Diese Kombinationen von Referenzen sind für Merlin Modulaw – neben technischen Neuerungen – die Möglichkeit, mit der Innovation in der Musik stattfinden kann. Als Grenzgänger zwischen dem Noch-Bekannten und dem So-noch-nicht-Dagewesenen hat sich Merlin Modulaw in den letzten Jahren gleich mehrere neue Räume erschlossen.
Friedemann Dupelius

 

Merlin ModulawMerlin Modulaw auf BandcampMerlin Modulaw – Ignition (Album)Konzertreihe Spectres in ZürichDeborah Joyce-Holman, Axel Kolb

neo-Profile:
Merlin ModulawFestival Sonic Matter

Klangkunst und Musik von Martina Lussi

Die Luzernerin Martina Lussi hat Kunst studiert. Über das Hören kam sie dazu, selbst Klangkunst und Musik zu produzieren. Mit Mikrofonen und Audiorekorder bewegt sie sich durch Natur und Alltag und geht mit ihren Eindrücken zurück ins Studio. Dort verdichtet sie ihre Hörerlebnisse in Installationen, Performances und Studioalben, aber auch in Fieldrecordings und Soundwalks.

Friedemann Dupelius
Am Anfang unseres Zoom-Gesprächs gesteht Martina Lussi ein, dass sie sich etwas unsortiert fühlt. Sie arbeitet gerade viel in einer Kunst-Bibliothek, so fehle momentan die Zeit, die für sie so wichtig ist: Zum Hören, sich auf Klänge einzulassen. „Hören ist etwas sehr Langsames. Man kann nicht einfach in etwas hineinhören – man muss von vorne beginnen und sich darin absorbieren, sonst verliert man den Zusammenhang. Wer hat denn heute noch wirklich Zeit zu hören?“

Martina Lussi © Calypso Mahieu

Um sich auf unsere Unterhaltung einzustimmen, hat sie an diesem Morgen ihre Routine-Route am Vierwaldstätter See zu einem Soundwalk gemacht – zu einem Spaziergang also, bei dem man aktiv auf die Umgebung hört. Sie liest mir ihr Hör-Protokoll wie eine Einkaufsliste vor: „Rollkoffer, Gespräche, vorbeirennende Joggerin, meine Jacke, Atmen eines Hundes, Schiffsmasten, ein Mensch ahmt eine Ente nach…“ Wir merken beide, dass wir uns zwar die einzelnen Geräusche vorstellen können, dass solch einer Beschreibung aber eines abgeht: Die Räumlichkeit und Gleichzeitigkeit der Szenerie. „Meine Musik lebt davon, dass sich viele unterschiedliche Geräusche miteinander verbinden und ineinander fließen. Sie ist wie ein Stream, in dem Klänge plötzlich ganz nahe sind, um sich dann wieder in etwas aufzulösen.“

Frösche oder Holz?
Ende 2019 war Martina Lussi auf einer Residency im brasilianischen Regenwald und konnte dort in eine unbekannte Klangwelt eintauchen. „Manche Sounds waren beunruhigend, weil ich sie nicht kannte, vor allem nachts. Und es gab einen Frosch, der wie Holz klingt – das musste mir erst jemand erklären.“ Ihre Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk basiert auf einem Hörspaziergang in dem gleichnamigen Ort.

Hören als gemeinsame Erfahrung: Martina Lussi und ihre Soundwalk-Gruppe im Regenwald von Brasilien, © Karina Duarte

Schritte einer Gruppe von Menschen knirschen auf unebenem Untergrund und geben den Rhythmus vor, über dem die Stimmen verschiedener Vögel zirpen. Allmählich steigt eine Synthesizer-Klangfläche wie Nebelschwaden aus der Geräuschkulisse des Regenwaldes und geht über in sanften tropischen Regen, bis irgendwann die Frösche klappern. Es geht Martina Lussi nicht darum, die Umwelt wiederzugeben, wie sie scheinbar real klingt – sie fügt künstliche Klänge hinzu und erzeugt so neue Klangräume, wie traumhafte Erinnerungen. Auch den Wind, der manchmal in den Audiorekorder pustet, hat sie nicht herausgeschnitten. Manche Fieldrecording-Purist:innen würden das für eine schlechte Aufnahme halten. Martina Lussi nicht.


Die Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk erschien 2020 auf Vinyl beim Label Ōtium, zusammen mit einem Stück von Loïse Bulot.

Jacke oder Vögel?
Im Gegenteil: Immer wieder lässt sie in ihren Arbeiten ungewollte Nebengeräusche mit in die Kompositionen einfließen. In ihrem Stück The Listener werden diese sogar zum einzigen Klangmaterial. Es besteht ausschließlich aus den Geräuschen von Jacken. Die gerieten in Martina Lussis Fokus, als sie im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Vogelklängen Aufnahmen in der Natur machte: „Man stellt sich das so idyllisch vor, aber frühmorgens ist es oft so kalt, dass ich friere und mich ständig bewegen muss. Und in einer dicken Jacke eingepackt, klingt diese eben mit.“ Ihr fiel auf, dass diese Klänge oft selbst wie die Stimmen oder auch die Flügelschläge von Vögeln anmuteten. Sie nahm vier Jacken, improvisierte mit jeder für zehn Minuten und erstellte daraus eine Vierkanal-Installation und eine Komposition.


Das Stück The Listener ist Teil der Compilation Synthetic Bird Music und 2023 auf dem Label mappa als Kassette erschienen

Die 4-Kanal-Klanginstallation „The Listener“ wurde 2022 im Kunstraum sic! Elephanthouse in Luzern gezeigt, © Andri Stadler

Martina Lussi schärft ihre Ohren nicht bewusst mit Hörübungen, bevor sie sich ins Feld begibt: „Das passiert ganz beiläufig. Wenn ich in den Wald gehe, rieche ich die Öle der Bäume, ich sehe nicht weit, da komme ich automatisch in einen aufmerksamen Zustand, auf den ich mich gar nicht vorbereiten muss.“ So eindringlich, wie sie Jahre später noch vom brasilianischen Regenwald erzählt, wird klar: Hören geht über den Moment hinaus. Es erzeugt Erinnerungen, die lange nachwirken und von denen man auch in unruhigeren Zeiten zehren kann.
Friedemann Dupelius

Portrait Martina Lussi © Johanna Saxen

Martina LussiMartina Lussi auf BandcampSerrinha Do Alambari (Vinyl)Forschungsprojekt „Birdscapes“Kunstraum sic! Elephanthouse in LuzernCompilation: „Synthetic Bird Music“

Kommende Veranstaltungen:
18.05.2024 – Konzert in Tbilisi (Georgien), Left Bank
24.05.2024 – Moa Espa, Genf (Soundwalk)
18.06., 19:30 Uhr – Dampfzentrale Bern (UA Proximity mit dem Ensemble Proton, + Offene Probe am 17.06.)
23.06., 17 Uhr – Postremise Chur

neo-Profil: Martina Lussi

Zwischen Schaltungen und Schlagwerk

Als Schlagzeuger und Perkussionist hat Martin Lorenz angefangen. Seine Neugier führte ihn erst zu Experimenten mit Schallplatten und schließlich zur elektronischen Klangerzeugung mit Synthesizern. Und immer häufiger wendet er sich dem Komponieren zu. Mit dem Synthesizer-Trio Lange/Berweck/Lorenz spielt er im September beim KONTAKTE-Festival in Berlin und im Kunstraum Walcheturm in Zürich.

 

Der Schlagzeuger Martin Lorenz, konzentriert mit diversen Schlegeln in der Hand. Foto: Heidi Hiltebrand
Portrait Martin Lorenz © Heidi Hiltebrand

 

Friederike Kenneweg
Groß und schlaksig wirkt Martin Lorenz und so, als müsste er sich immer ein wenig zu allen herunterbeugen. Wenn er von der Suche nach besonderen Sounds erzählt, davon, wie sich das Geräusch von Kies auf einer Auffahrt mit Synthesizern erzeugen lässt oder der Klang einer sich schließenden Fahrstuhltür, dann leuchtet ihm die Begeisterung aus dem Gesicht.

Eine solche Begeisterung für die Klangsuche ist auch notwendig, wenn man als Schlagzeuger oder Perkussionist für Neue Musik arbeitet.

 

Suche nach dem richtigen Klangmaterial

Oft müssen Perkussionist:innen nicht nur das gewohnte Schlagwerk-Instrumentarium spielen, sondern für ein Musikstück die erforderlichen Gegenstände mit dem richtigen Sound – Steine, Holzstücke, Tassen o.ä.-  überhaupt erst ausfindig machen. Teilweise übernehmen sie damit eine große Mitverantwortung dafür, wie ein Stück am Ende klingt, denn nicht immer schreiben die Komponist:innen genau auf, was sie sich vorstellen oder welche Tonhöhe eine bestimmte Trommel oder gar ein Stein eigentlich haben soll.

 

Die stetige Suche nach neuen Klängen brachte Martin Lorenz dazu, sich auch mit den Möglichkeiten von Schallplatten zu beschäftigen.  Die Spezialität, die er für eigene Turntable-Performances entwickelte: mit einem Messer während einer Live-Performance Schnitte in die Schallplatten ritzen, so dass beim Abspielen ganz bestimmte Rhythmen und Loops entstehen.

 

Schnitte in Vinyl

Aber natürlich ist es entscheidend dafür, wie die Loops am Ende klingen, was auf der zerschnittenen Platte aufgezeichnet ist. So war es für Lorenz naheliegend, sich selbst Schallplatten mit eigenen Sounds pressen zu lassen – und sich darum mit Synthesizern zu beschäftigen. Zu dieser Zeit gründete er auch in Zürich sein Label DUMPF Edtion, wo er eigene oder fremde Produktionen experimenteller Musik veröffentlicht. Eigentlich immer noch am liebsten auf Schallplatte. Aber als kleines Label auf Vinyl zu setzen, macht schon seit einer Weile keinen richtigen Spaß mehr, sagt Lorenz.
“Es gibt da einfach zu lange Wartezeiten, dann wieder Lieferschwierigkeiten, es ist nicht verlässlich, und dann dauert es ewig, bis eine Aufnahme endlich veröffentlicht wird.”

 

 

Lange hält Lorenz sich aber nicht bei solchen Problemen auf. Eher sucht er nach Möglichkeiten, Frustrationen aufzulösen und fruchtbar zu machen – wie sich auch an seinem Weg hin zum Komponieren zeigt. Da verspürte er nämlich immer wieder eine gewisse Enttäuschung, wenn das Ensemble, in dem er als Schlagzeuger beschäftigt war, an Komponist:innen Auftragswerke vergab und das Ergebnis, das diese vorlegten, so gar nicht seinen Erwartungen entsprechen wollte.
“Da habe ich mir irgendwann gesagt, wenn ich so genaue Vorstellungen von so einem Stück habe, vielleicht sollte ich die einfach mal aufschreiben und selber meine eigenen Stücke komponieren.”

 

Feedback und Raumklang

Eine Werkreihe von Martin Lorenz für Instrumente und Live-Elektronik heißt “Oscillations”. Darin arbeitet er mit dem Feedback, das entsteht, wenn Instrumente live im Raum aufgenommen und wieder eingespielt werden, und das er für komplexe Strukturen der Klangüberlagerung nutzt.

Im Jahr 2021 entstand für das im selben Jahr neu gegründte Ostschweizer Ensemble Orbiter die Komposition Swift Oscillations. Martin Lorenz spielt darin selbst das Vibraphon.

 


Das Kammermusikstück Swift Oscillations von Martin Lorenz aus dem Jahr 2021, gespielt vom Ensemble Orbiter im Kultbau St. Gallen.

 

Martin Lorenz arbeitete sich neben seiner Tätigkeit als Schlagzeuger und Komponist immer mehr in elektronische Klangerzeugung, Live-Elektronik und die Funktionsweise analoger und digitaler Synthesizer ein. Mit dem Projekt “Reviving Parmegiani” schließlich betrat er im Jahr 2014 gemeinsam mit den Pianist:innen Sebastian Berweck und Colette Broeckaert die komplexe Welt der historischen Aufführungspraxis elektronischer Musikwerke. Elektronische Musik zu einem späteren Zeitpunkt mit anderen Performer:innen wieder aufzuführen, ist nämlich häufig gar nicht so einfach. Teils werden die verwendeten Synthesizer nicht mehr hergestellt, es gibt keine Updates mehr, oder das Computerprogramm, mit dem gearbeitet wurde, kann auf neuen Computern nicht mehr gestartet werden.

 

Historische Aufführungspraxis: Stries von Bernard Parmegiani

Weil den Ausführenden die Probleme der Zukunft häufig nicht bewusst sind, machen sie keine oder nur unzureichende Aufzeichnungen dazu, welche Sounds sie eingestellt haben und welche Synthesizer oder elektronischen Effekte sie verwendet haben. In “Reviving Parmegiani” war es das Stück Stries des französischen Komponisten Bernard Parmegiani (1927-2013) aus dem Jahr 1980, das wieder spielbar gemacht werden sollte. Parmegiani hatte das Stück für das Synthesizer-Trio TM+ aus Paris geschrieben. Von dem Stück gab es sogar verhältnismäßig gute Notate und eine Aufnahme, die als Klangreferenz dienen konnte. Trotzdem mussten sich die drei Performer:innen auf eine detailreiche Suche begeben, wie die entsprechenden Sounds jeweils erzeugt worden waren und wie sich die Klänge im Heute neu realisieren lassen.

“An einigen Stellen haben wir bis heute nicht herausgefunden, wie TM+ das genau gemacht haben”, sagt Martin Lorenz. “Manchmal ist es ja auch irgendeine schlecht verlötete Stelle in irgendeinem analogen Effekt oder Synthesizer – und das bleibt dann einfach für immer ein Rätsel.”

 

Martin Lorenz hat ein Gerät, vielleicht ein Mischpult, auf dem Schoß und widmet sich vertieft den bunten Kabeln und Knöpfen.
Portrait Martin Lorenz © Florian Japp

 

Die langwierige und zugleich höchst faszinierende Arbeit an Stries< wurde zum Startpunkt für das Synthesizer-Trio Lange/Berweck/Lorenz, mit dem Martin Lorenz bis heute regelmäßig zusammenspielt. Die drei Musiker:innen Silke Lange, Sebastian Berweck und Martin Lorenz vergeben immer wieder Kompositionsaufträge an zeitgenössische Komponist:innen, um das Repertoire für die ungewöhnliche Kombination von drei Synthesizern zu erweitern.

Dabei ist es ihnen wichtig, längerfristig mit den Komponist:innen zusammen zu arbeiten. “So eine erste gemeinsame Arbeit ist ja oft eher ein Herantasten”, sagt Martin Lorenz. “Erst bei einem zweiten Mal ist klar, was von uns zu erwarten ist, was wir gut können, und womit man uns vielleicht auch gut herausfordern kann.”

Und Herausforderungen sind etwas, das Martin Lorenz immer wieder aufs Neue sucht.
Friederike Kenneweg

 

Lange/Berweck/Lorenz, Silke Lange, Sebastian Berweck, Martin Lorenz, Akademie der Künste Berlin, KONTAKTE Festival,

Erwähnte Veranstaltungen:
23.09.2022 Konzertprogramm von Lange/Berweck/Lorenz beim KONTAKTE-Festival, Akademie der Künste, Berlin
28.09.2022 Lange/Berweck/Lorenz im Kunstraum Walcheturm Zürich

Erwähnte CD-Veröffentlichung:
“Bernard Parmegiani: Stries. Broeckaert/ Berweck/Lorenz”, ModeRecords, 2021

neo-profile:
Martin Lorenz, Ensemble Orbiter, Kunstraum Walcheturm Zürich

 

 

Mit historischen Synthesizern zum Klang der Gegenwart

Elektronische Musik ist die Leidenschaft der Komponistin Svetlana Maraš. Seit September 2021 ist sie Professorin für kreative Musiktechnologie und Co-Leiterin des Elektronischen Studios an der FHNW in Basel. Ihre Kompositionsklasse gestaltet das Radiokonzert der Schwerpunktwoche Classical and Jazz Talents von SRF 2 Kultur am 29. Juni, live übertragen am Radio.

 

Die Komponistin Svetlana Maraš, Foto von Branko Starčević
Die Komponistin Svetlana Maraš ©Branko Starčević

 

Friederike Kenneweg
„An der Hochschule zu arbeiten, ist natürlich eine Herausforderung an das Zeitmanagement, wenn man die eigene künstlerische Arbeit nicht aufgeben will“, sagt Svetlana Maraš.

Doch zu ihrer Erleichterung konnte die Komponistin feststellen, dass sich die beiden Tätigkeitsfelder nicht im Weg stehen, sondern gegenseitig ergänzen.

„Mit den Studierenden entdecke ich manchmal ganz neue Sachen, die wieder für meine eigene Arbeit fruchtbar sind. Es ist also nicht etwas komplett anderes, es ist eher wie ein Kontrapunkt zu meiner kompositorischen Arbeit.“

Die serbische Komponistin, die 1985 geboren wurde, absolvierte zwar eine eher klassische musikalische Ausbildung, mit frühem Klavierunterricht, dem Besuch einer Schule mit Musikschwerpunkt und mit einem Kompositionsstudium. Zugleich gab es da aber immer das Interesse an den Möglichkeiten der elektronischen Klangbearbeitung, das sie zu internationalen Workshops und Kursen führte und schließlich zu einem Abschluss in Sound- und Medienkunst im Media Lab der Universität in Helsinki.

 


Das Kammermusikwerk Dirty thoughts von Svetlana Maraš aus dem Jahr 2016

 

Von 2016 bis 2021 war Svetlana Maraš Composer-in-residence und zugleich künstlerische Leiterin des Elektronischen Studios von Radio Belgrad. Eines der technischen Glanzstücke dort ist der EMS Synthi 100, ein analoger Synthesizer aus dem Jahr 1971, von dem nur drei Stück gebaut wurden. Maraš setzte sich intensiv mit den Möglichkeiten dieses Instrumentes auseinander und nutzte ihn in verschiedenen ihrer Kompositionen, unter anderem in ihrem Radio Concert Nr. 2, das 2021 für das Heroines of Sound Festival in Berlin entstand.

Der EMS Synthi 100 ist allerdings so groß und schwer, das er nicht an einen anderen Ort transportiert werden kann. Der Studioraum wiederum ist so klein, dass dort kein Platz ist für größeres Publikum. Also wurde die Live-Performance aus dem kleinen Studioraum per Videostream zum Festivalort übertragen.

Einige Teile des Stückes sind festgelegt, doch Maraš schafft sich darin Räume, innerhalb derer sie improvisieren kann. Und dabei kommt ihr zugute, dass sie das Instrument schon so lange erforscht hat. „Es ging nicht mehr darum, was das Instrument kann, sondern darum, was ich mit dem Instrument machen will.“

 

Hommage an die frühe elektronische Musik

Den Klangreichtum des historischen Synthesizers ergänzte sie mit den Möglichkeiten des Computers. Svetlana Maraš nutzte aber auch die alte, analoge Technik des Tonband-Loops in ihrem Radio-Konzert – als Hommage an die frühe elektronische Musik, mit der sie sich immer in einem Dialog sieht. Und tatsächlich sind es die Bilder der Pionierinnen der elektronischen Musik wie Delia Derbyshire, Daphne Oram und Éliane Radigue, die vor dem inneren Auge aufscheinen, wenn man Svetlana Maraš dabei zuschaut, wie sie an den Reglern und Knöpfen des EMS Synthi 100 dreht.

Im Elektronischen Studio Belgrad gab es vor Svetlana Maraš nur eine einzige Frau, die dort Werke produziert hat: die Komponistin Ljudmila Frajt (1919-1999). Als künstlerische Leiterin des Studios widmete Svetlana Maraš dieser Vorreiterin ein eigenes Konzertformat, um auch hier der Vorgängerin die Ehre zu erweisen.

 

Die Komponistin Svetlana Maraš dreht an den Reglern des EMS Synthi 100
Svetlana Maraš dreht an den Reglern des EMS Synthi 100 im Elektronischen Studio von Radio Belgrad.

 

Einen wichtigen Unterschied von damals zur heutigen Zeit sieht Svetlana Maraš allerdings darin, dass die analogen Studiosynthesizer heute nicht mehr als Workstations für vorproduzierte elektronische Musik dienen, sondern live verwendet werden – wenn das auch manchmal über den Umweg des Video-Konzerts passieren muss.

 


Svetlana Maraš, Ausschnitte aus Post-excavation activities von. 2020

 

Beim diesjährigen Heroines of Sound– Festival in Berlin wird die Uraufführung von Scherzo per oscillatori für Minimoog von Svetlana Maraš zu hören sein. Hier spielt die Komponistin aber nicht selbst das Instrument, sondern das Stück wird von dem Pianisten Sebastian Berweck interpretiert. Das stellte in der Vorbereitung eine besondere Herausforderung für die Komponistin dar, musste sie doch erst eine Art der Notation für die Einstellungen des Synthesizers entwickeln.

 

Die Einfachheit des Synthesizer-Klangs entdecken

Bei der Entwicklung des Werkes war Svetlana Maraš auf der Suche nach einer gewissen Einfachheit des Klangs: von dem ausgehen, was der Synthesizer mitbringt, ihn klingen zu lassen, ohne es besonders kompliziert zu machen. Diese Einfachheit kann dann aber ganz unterschiedlich klingen: ein Klicken. Ein Knacken. Eine interessante Klangveränderung oder Verschiebung über einen bestimmten Zeitraum hinweg. Etwas, das einem wie ein Fehler vorkommt. Aber in der elektronischen Musik ist auch das Erzeugen des Einfachen schon recht komplex: Jede Festlegung auf einen Klang setzt eine Vielzahl von Entscheidungen bei den unzähligen Parametern voraus, die innerhalb des Instruments gestaltet werden können.

 

Elektronische Musik im Radio

Mit der Unendlichkeit der Möglichkeiten umzugehen, die einem die Computertechnologie bereitstellt, ist etwas, das Svetlana Maraš auch ihren Studierenden nahebringt. Wenn sie davon spricht, ist ihr die Begeisterung deutlich anzumerken: „Es ist eine tolle Erfahrung, den Studierenden dabei zu helfen, ihre eigene künstlerische Stimme zu finden. Ich bin so zufrieden mit den Projekten, die sie entwickelt haben – das macht mich wirklich glücklich.“

In diesem Jahr bietet sich den Studierenden noch eine besondere Möglichkeit, am Ende des Semesters ihre Projekte der Öffentlichkeit zu präsentieren: ein Radiokonzert. In der Schwerpunktwoche Classical and Jazz Talents widmet sich SRF 2 Kultur vom 26. Juni bis zum 3. Juli dem musikalischen Nachwuchs. Am 29. Juni präsentieren Studierende des Elektronischen Studios der FNHW für diesen Anlass in Zusammenarbeit entstandene, vorproduzierte elektronische Werke im Auditorium des Meret-Oppenheim-Hochhauses (MOH) in Basel, live übertragen am Radio. Danach kommt das Stück Welcome to the Radio! von Maraš’ Kompositionsstudent Dakota Wayne zur Uraufführung, interpretiert durch das Noise Ensemble des Elektronisches Studios Basel: eine fiktive Talkshow, für die er u.a. Jingles von Radio SRF 2 Kultur gesampelt hat.

 


Dakota Wayne, Welcome to the Radio!, UA Basel 2022, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Auch diesen Auftritt im Radio betrachtet Svetlana Maraš vor dem Hintergrund der Tradition: „Das hilft den Studierenden, die Bedeutung des Radios für die elektronische Musik zu verstehen. Auch wenn das Radio als Medium etwas in den Hintergrund getreten ist: wenn man fürs Radio komponiert, fügt das etwas zur Musik hinzu. Verändert die Form, die Dramaturgie, die Materialauswahl… Ich bin froh, dass wir dieses Jahr diese Erfahrung machen und zusammen daran arbeiten können.“
Friederike Kenneweg

 

Erwähnte Sendungen SRF 2 Kultur:
Classical and Jazz Talents: 26. Juni bis zum 3. Juli 2022: Schwerpunktwoche zum musikalischen Nachwuchs: Vollständiges Programm als pdf

Neue Musik im Konzert, 29.6.22: Classical and Jazz Talents – Live aus dem SRF-Auditorium, Redaktion Annina Salis: Livekonzert Neue elektronische Musik mit den Studierenden von Svetlana Maraš – Elektronisches Studio Basel.

7.-9. Juli 2022: Heroines of Sound Festival im Radialsystem Berlin
Dort kommt in einem Konzert am 8. Juli 2022 um 20 Uhr im Radialsystem Berlin  das Scherzo per oscillatori für Minimoog von Svetlana Maraš, gespielt von Sebastian Berweck, zur Uraufführung.

Svetlana Maraš, Dakota Wayne, Sebastian Berweck, Elektronisches Studio Basel, FHNW Basel

Über das Elektronische Studio des Radios Belgrad, Podcast über Ljudmila Frajt

neo-profile:
Svetlana Maraš, Elektronisches Studio Basel,  Tim Shatnyy, Dakota Wayne, Anton Kiefer, Cyrill Jauslin, Louis Keller, Isaac Blumfield, Janik Pokorny, Minh Phi  Guillod

 

Ein Pilzgeflecht aus Klängen und Beziehungen

Vom 18. bis zum 27. März 2022 findet in Berlin das Festival MaerzMusik statt. Ein Schwerpunkt widmet sich dem Werk von Éliane Radigue anlässlich des 90sten Geburtstags der Komponistin. Friederike Kenneweg sprach mit dem französisch-schweizerischen Musiker François J. Bonnet. Er ist als Klangregisseur für die Aufführungen des elektronischen Gesamtwerks von Radigue am Festival verantwortlich.

 

Schwarzweissbild von den abstrakten Verbindungslinien eines Pilzmyzels
Das Art Work zum Programm der Maerzmusik 2022

 

Friederike Kenneweg
Das Kuratoren-Team aus Berno Odo Polzer und Kamila Metwaly nimmt bei der Programmgestaltung des Festivals 2022 die sichtbaren und unsichtbaren Beziehungen in den Blick, die uns alle, in der Musik und darüber hinaus, zusammen halten. Als Metapher dafür dient ihnen ein Phänomen aus der Natur: das Myzel der Pilze. Sichtbar sind vor allem die Fruchtkörper, die wir landläufig Pilze nennen. Doch zum Pilz gehören auch die teils über große Flächen im Untergrund hinweg verlaufenden, vielgestaltigen Verflechtungen des Myzelliums. Der Einfluss, den diese Verbindungen auf ihre Umwelt haben, ist auch der Wissenschaft zu einem großen Teil noch ein Rätsel.

Ein solch unüberschaubares Netz aus Verbindungen bildet auch das Festivalgeschehen selbst, das sich durch Bezirke, Wohnungen, Cafés, Kneipen und Veranstaltungsorte zieht und so unterschiedliche Orte wie die Philharmonie im Tiergarten, das Zeiss-Großplanetarium in Prenzlauer Berg und das Kulturquartier silent green im Wedding miteinander verbindet.

 

Die Komponistin Éliane Radigue wird 2022 90 Jahre alt. Foto: Éleonore Huisse

 

Das Bild des untergründigen Geflechts passt auch zur Musik von Éliane Radigue, deren elektronisches Gesamtwerk live im Rahmen der Maerzmusik präsentiert wird. Denn diese wirkt zunächst wie eine unendliche, geradezu statische Klangfläche, obwohl sich untergründig im musikalischen Geschehen feine Veränderungen vollziehen.

 

Sich auf eine andere Wahrnehmung einlassen

 

Wer zu den Konzerten kommt, sollte sich ganz auf die Wahrnehmung dieser feinen Veränderungen der  Stücke einlassen, empfiehlt der Klangregisseur François J. Bonnet. Dann könne sich für die Zuhörer:innen ein ganz neuer Erfahrungshorizont öffnen. Es sind ganze 17 Veranstaltungen, die Bonnet zu betreuen hat. Sie decken die Werke der Komponistin von 1971 bis zum Jahr 2000 ab. François J. Bonnet, der unter dem Namen Kassel Jaeger auch selbst Musik macht, ist der heutige Direktor des INA GRM (Institut national de l’audiovisuel / Groupe de Recherches Musicales). Damit steht er der heutigen Variante der legendären Institution vor, die Pierre Henry und Pierre Schaeffer, die Gründerväter der „musique concrète“, in den 1940er Jahren ins Leben gerufen haben. Auch Radigue arbeitete lange Zeit mit Schaeffer und Henry zusammen. Heute ist ihr Name vor allem mit ihrer Arbeit mit dem ARP 2500 Synthesizer verbunden, mit dem sie in den 1970er Jahren als eine der ersten arbeiten konnte.

 

François J. Bonnet. Ein bärtiger Mann im blauen Pullover vor einer Mauer aus brüchigem Stein. Foto: Éléanore Huisse
François J. Bonnet ist der Klangregisseur bei der Aufführung des elektronischen Gesamtwerks von Éliane Radigue im Rahmen des Festivals Maerzmusik 2022. © Éléanore Huisse

 

Dass François J. Bonnet sich heute so gut mit den Stücken von Radigue auskennt, liegt daran, dass er mit ihr gemeinsam eine umfangreiche Edition ihrer elektronischen Werke herausgab. Daraus entwickelte sich ein enges Vertrauensverhältnis, und er hat ein genaues Gespür dafür, wie die Komponistin arbeitet und was ihr bei jeder einzelnen Komposition wichtig ist.

 

Die unterschätzte Bedeutung der Klangregie

Heute entscheidet Bonnet für jeden Veranstaltungsort neu, wie die Abspielposition aussehen soll, filtert bestimmte Frequenzen heraus oder betont sie während der Aufführung – ganz nach den Erfordernissen des Raumes. Auch wenn die Werke als Aufnahmen fertig gemischt sind, hebt er während der Aufführung bestimmte Stellen noch an oder verleiht ihnen einen gewissen Glanz. Dieses Einwirken kann dazu führen, dass ein und dasselbe Stück an einem anderen Ort ganz anders klingt. Einmal sei sogar Éliane Radigue nach dem Konzert zu ihm gekommen und habe gesagt, so wie heute habe sie ihr Stück selbst zum ersten Mal gehört.

 

Akustische Musik, mündlich überliefert

Nach der langen Periode der Arbeit mit dem Synthesizer wandte sich Éliane Radigue in ihrem Spätwerk ab dem Jahr 2000 der rein akustischen Musik zu, die sie mit ihren jeweiligen „Musiker-Kompliz:innen“ erarbeitete. Occam Océan entstand im Jahr 2015 in Zusammenarbeit mit dem Ensemble ONCEIM (l’Orchestre de Nouvelles Créations, Expérimentations et Improvisation Musicales) aus Paris.

 


Éliane Radigue, Occam Occéan, Uraufführung 26.9.2015, Festival CRAK Paris

 

Das Besondere: es gibt keine Verschriftlichung des Orchesterwerks, sondern das Stück wird nur mündlich und über das Hören überliefert. In einem weiteren gemeinsamen Übertragungsprozess gibt das Ensemble ONCEIM die Komposition an das Klangforum Wien weiter und bringt Occam Océan in einer gemeinsamen Aufführung im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie zu Gehör.

 

Furche, Rille, Spur

Im Rahmen dieses Konzerts wird das Ensemble ONCEIM auch Sillon für 27 improvisierende Musiker*innen von Patricia Bosshard aus dem Jahr 2018 aufführen. Sillon, das bedeutet Furche, Rille, Spur. In dem repetitiven Stück geht es um Bewegungen von der individuellen Stimme hin zum Gesamtklang, und um Verbindungslinien zwischen den Instrumentengruppen durch das musikalische Material, Timbre und Sound.

 

Auch in Patricia Bosshards Foumiliere mit dem Orchestre du Grand Eustache aus dem Jahr 2018 steht eher gemeinsames Praktizieren und Hören als um Verschriftlichung im Zentrum.

 

Musikalische Spuren wie in Sillon werden sich ausgehend vom Festival MaerzMusik auch durch die Menschen ziehen, durch die Stadt, durch die Welt – die Musik als Myzel, das uns alle auf die eine oder andere Art miteinander verbindet.
Friederike Kenneweg

 

Berno Odo Polzer, Kamila MetwalyZeiss-Großplanetarium Berlinsilent green Kulturquartier Berlin, Philharmonie BerlinOccam Océan, Pierre Henry, Pierre Schaefer, INA GRMEnsemble ONCEIM, Klangforum Wien

MaerzMusik 18.3.-27.3. 2022

Ausgewählte / erwähnte Konzerte:
21.3.2022 Zeiss-Grossplanetarium: Éliane Radigue: The Electronic Works 1: Trilogie de la Mort I. Kyema (1988)

22.3.2022 Zeiss-Grossplanetarium: Éliane Radigue: The Electronic Works 4: Adnos (1974)

23.3.2022 Philharmonie Berlin: Occam Océan, Klangforum Wien und Ensemble ONCEIM

 

neo-profiles:
François J. Bonnet, Patricia Bosshard