Ein lebendes Archiv – das Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente

Erst sieben Jahre ist es alt, und schon hat es einen der drei Spezialpreise der Schweizer Musikpreise eingeheimst: Das Schweizer Museum und Zentrum elektronischer Musikinstrumente – kurz: SMEM – in Fribourg macht es die Technik, Geschichte und Praxis elektronischen Musikmachens erfahrbar.

Hochregale im Schweizer Museum für Elektronische Musik

Friedemann Dupelius
„Der Preis kam total überraschend für uns“, sagt Victorien Genna, Projektkoordinator am SMEM, „so etwas hätten wir uns frühestens in ein paar Jahren vorgestellt. Es ist wunderbar, dass wir jetzt eine anerkannte Schweizer Institution sind.“ Die längst nicht nur in der Schweiz bekannt ist. Neben Gästen aus Frankreich und Deutschland reisen auch zahlreiche Fans aus England, den USA, Japan, Australien oder Neuseeland nach Fribourg, um die beachtliche Sammlung zu bestaunen. Rund 5000 elektronische Musikinstrumente stellt das SMEM aus, darunter fast alle erdenkliche Arten von Geräten: Sampler, Drummachines, Synthesizer, Mischpulte, Effektgeräte, Verstärker, Aufnahmedevices, Mikrofone – sogar Software wie die erste Version des heute weit verbreiteten Musikprogramms Ableton Live aus dem Jahr 2001 und die entsprechend alten Computer, auf denen diese läuft.

(c) Johnma.ch
Die Hammond Novachord wurde zwischen 1938 und 1942 produziert

Meterhoch ragen die Regale an die Decke einer ehemaligen Brauerei – heute zu einem Areal für Startups und kulturelle Initiativen umfunktioniert. Doch wer nun dicke Staubschichten auf den Keyboards befürchtet, darf beruhigt aufatmen: Das SMEM versteht sich als „lebendiges Archiv“. All diese Geräte werden nicht nur professionell gewartet, sondern können auch gespielt werden. Im “Playroom des Museums steht immer eine breite Auswahl unterschiedlicher Instrumente angeschlossen bereit, darunter Klassiker wie die Drumcomputer TR-808 und TR-909 der Firma Roland. Für wenig Geld kann man sich hier eine Session buchen, die eigenen Jams auch aufnehmen und auf dem Stick mit nach Hause nehmen.

Ein Museum für Kids wie für Nerds

Auf die Frage, ob das SMEM eigentlich eine Unterscheidung zwischen akademisch geprägter, „ernster“ elektronischer Musik und ihren popkulturellen Spielarten macht, fragt Victorien Genna zurück, was ich damit eigentlich meine – und gibt damit schon eine indirekte Antwort. Er ist kein Musikwissenschaftler oder Komponist, sondern stieß als Philosophie-Student, der gerne privat mit Synthies spielt, zum SMEM. „Die FM-Synthese ist ein gutes Beispiel: Sie gelangte von den Laboren der Universitäten auf den Konsummarkt und wurde mit dem Yamaha DX7 in den 80ern weltberühmt. Bei uns kommen die Nerds auf ihre Kosten, man kann hier richtig ins Detail gehen. Aber auch fünfjährige Kinder oder jemand von 100 Jahren soll hier Spaß haben können.“

Auch Kinder haben im SMEM ihren Spass.

Der erste Schaltkreis schließt sich auf einer Zugfahrt

Dass das SMEM überhaupt existiert, war glückliche Fügung: Der Großteil der Sammlung stammt von Klemens Niklaus Trenkle – einem Schauspieler aus Basel, der seit den 70er-Jahren elektronische Instrumente sammelt. So viel, dass es seinem Vermieter irgendwann zu bunt wurde, er solle das Zeug wegschaffen. Auf einer Zugfahrt kam er mit dem Architektur-Professoren Christoph Allenspach aus Fribourg ins Gespräch. Allenspach hatte seit Jahren die Idee, ein Museum mit Musikbezug zu eröffnen und so war die erste Verkabelung unverhofft gelungen. Bald zogen die Instrumente von Basel in die Westschweiz um, ein Verein wurde gegründet und ein Team von Freiwilligen zusammen gestellt. 2017 eröffnete das Museum. Bis heute hat sich nicht viel geändert: Die Menge an Instrumenten ist groß, das Budget gering.


Victorien Genna vom SMEM hat eine Dokumentarfilm-Reihe über Instrumente aus der SMEM-Sammlung produziert.

Das SMEM lebt – neben öffentlicher Förderung und privaten Spenden – durch den Einsatz von Ehrenamtlichen, so wie es auch Victorien Genna einer war, bis er vor kurzem eine der drei festen Stellen am Museum bekam. Die Freiwilligen reparieren die Instrumente, mischen Konzerte ab oder übernehmen Barschichten dort. Der frisch erhaltene Preis ist für das Museum daher natürlich Gold wert, denn die Sammlung wächst stetig. Doch wie soll man aus einer Flut technischer Neuerscheinungen herausfiltern, welches Delay-Modul, welcher Wavetable-Synthie wirklich historisch relevant sein werden? „Manchmal kann man technische Revolutionen schnell erkennen“, sagt Victorien Genna und verweist auf den Elektron Digitakt, 2017 erschienen, „da war es schon mit dem Erscheinen klar, dass das ein wichtiger Sampler für das 21. Jahrhundert sein wird. Oft kann man aber nur spekulieren und weiß es erst nach ein paar Jahren.“ Klemens Niklaus Trenkle kauft immer noch selbst neue Instrumente für das Museum ein. „Er hat einen ziemlich guten Riecher dafür, was relevant ist oder sein wird.“

Das SMEM veranstaltet u.a. Konzerte, Workshops und Vorträge – mindestens einmal im Monat. Mehrmals im Jahr sind auch Residenz-Künstler:innen für eine bis vier Wochen zu Gast in Fribourg, um mit Instrumenten ihrer Wahl zu experimentieren. Ein künstlerisches Ergebnis ist dafür nicht verpflichtend. Doch immer wieder kommt etwas dabei heraus, das dann in der Regel auf dem Fribourger Label oos erscheint. Im Oktober steht ein Release des Wiener Musikers Oliver Thomas Johnson alias Dorian Concept an, der sich am SMEM mit dem Yamaha CS01-Synthesizer beschäftigt hat. Die polyrhythmischen Geflechte aus perkussiven Synthesizern beginnen mit jeder neuen Schichtung mehr zu grooven, die 200 Beats per Minute Geschwindigkeit merkt man dieser leichtfüßigen Musik nicht an. Es ist eben ein lebendiges Archiv, in dem Geschichte nicht nur dokumentiert, sondern auch aktiv mitgestaltet wird.
Friedemann Dupelius


Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente (SMEM)
SMEM auf Instagram
Das Online-Magazin des SMEM
Dorian Concept auf Bandcamp
Klemens Niklaus Trenkle
Das Album Unconditional Contours von Legowelt, das auch am SMEM entstand

Termine
04.09.2024 – Modular-Synthesizer-Workshop mit dem Duo OK EG (Lauren Squire & Matthew Wilson) aus Melbourne
09.09.2024 – 25 Jahre Anyma (Audiovisuelles Kunst-Kollektiv aus Fribourg): SMEM Open Doors und Konzert von Synkie
Oktober 2024 – Veröffentlichung von Dorian Concept auf ous

Klangkunst von „Sonic Architect“ Merlin Modulaw

Merlin Züllig alias Merlin Modulaw bezeichnet sich als „Sonic Architect“. Der in Paris lebende Zürcher hat Komposition und Sound Design in der Schweiz studiert und entdeckt mit seinen Verknüpfungen von Akusmatik, 3D-Klang, Sound Design und Pop-Referenzen neue künstlerische Räume.

Merlin Modulaw © Andreas Lumineau

Friedemann Dupelius
„Einen Tisch dekorieren ist komponieren, ein Blumenstrauß ist eine Komposition. Für mich ist Komposition ein sehr weiter Begriff. Auch Sound Design gehört dazu“. Merlin Züllig alias Merlin Modulaw denkt viel in Verbindungen und Assoziationen. Kaum ein Musikgenre und kaum eine gestalterische Tätigkeit gibt es, die er nicht im Zusammenhang miteinander sieht. Das zeigt sich schon früh in seiner musikalischen Biografie: Merlin Modulaw ist noch keine 30 und gehört zu einer jungen Generation, die in den 2010er-Jahren auf Online-Musikplattformen wie Soundcloud sozialisiert wurde. Hier tummelten sich Musiker:innen, die (oft aus dem Jugendzimmer heraus) ihre Stücke mit der Welt teilten, ohne dass ein Plattenlabel oder ein Vertrieb nachhelfen mussten. Angefixt von HipHop-Produktion und elektronischer Clubmusik vertiefte Modulaw seine Fähigkeiten in Komposition und Klangkunst in Studien in den Musikhochschulen in Basel und Bern. Dort kam er in Kontakt mit zeitgenössischer und akusmatischer Musik, Musik für Lautsprecher ohne sichtbare Instrumente, und vertiefte sich in das Thema 3D-Audio.

Klänge für Räume: Der „Sonic Architect“

So entstand die Selbstbezeichnung „Sonic Architect“. Denn: Ob Musiker, Komponist, Produzent, Klangkünstler oder Sound Designer, all diese Begriffe reichten für Merlin Modulaw nicht aus, um den zitierten Blumenstrauß zu beschreiben, aus dem sich seine Aktivitäten komponieren. „Sonic Architect“ bedeutet einerseits, Klänge und Musik für spezifische Räume zu gestalten, wie etwa in der Konzertreihe „Spectres“, die Modulaw gemeinsam mit Axel Kolb in Zürich veranstaltet. Hier erschließen sich Komponist:innen unterschiedlichste Räume mit Lautsprecher-Konstellationen – von großen Industriehallen über Kellergewölbe bis zu Kunstgalerien.


Die akusmatischen Kompositionen von Merlin Modulaw kombinieren Fieldrecordings und Synthesizerklänge und führen an verschiedene imaginäre Orte

Je nach Ort und künstlerischer Intention werden die Boxen im Kreis aufgestellt, frontal aufs Publikum gerichtet oder beschallen auch mal Wände und Winkel des Raumes mit elektronisch-akusmatischen Kompositionen, die speziell für diese Lautsprecher und die Räume mit ihren Eigenfrequenzen und Nachhallzeiten abgemischt und inszeniert werden. Die beteiligten Komponist:innen rotieren von Ausgabe zu Ausgabe. Im Dezember 2023 war die „Spectres“-Reihe Teil des Zürcher Sonic Matter-Festivals. Bei der „Biennale Son“ im Herbst 2023 im Wallis verräumlichte Merlin Modulaw die Klangspuren anderer Künstler:innen in einer Installation von Deborah Joyce-Holman. Er verteilte das Tonmaterial auf fünf in einer Reihe aufgestellte Lautsprecher und auf Subwoofer unter einer Sitzbank für das Publikum. Auch das ist für ihn ein eigener kompositorischer Akt, selbst wenn er die Klänge nicht selbst gestaltet hat.

Kreis aus acht Lautsprechern am Rindermarkt Zürich

„Sonic Architect“ bedeutet für Merlin Modulaw aber noch mehr: Nicht nur, mit Klängen Architektur zu betreiben, sonder auch, Identitäten zu schaffen – aus dem unbestimmten Klangstrom der Gegenwart etwas Spezifisches festzuhalten und zugänglich zu machen. Das lässt sich auf alle Tätigkeitsfelder von Merlin Modulaw übertragen, auch etwa auf seine Arbeit als Mastering-Engineer, wenn er der Musik anderer Künstler:innen den filigranen Schliff gibt, der sowohl ihre als auch seine eigene Identität in Szene setzt – oder als Sound Designer, der mit Klängen für Atmosphäre und Identität in Filmen oder Werbeclips sorgt.

„Oft nerven mich Filme mit einer markanten Filmmusik, die einfach drübergeklatscht ist und dir vorschreibt, welche Emotionen du fühlen musst. Also versuche ich, die musikalische Information bereits auf der Ebene des Sound Designs und diegetisch, also direkt in der Szene einzubringen. So könnte dann ein Wind im Hintergrund einen Moll-Akkord beinhalten, den niemand bewusst als solchen wahrnimmt, der aber die Umgebung subtil einfärbt und eine bestimmte Aura erzeugt.“

Für die Zürcher Design-Marke Casella Meyer gestaltete Merlin Modulaw das Sound Design eines Image-Videos mit der für ihn typischen Klangsprache

Klänge für Stimmen: Der Assoziierer

Die musikalischen Ergebnisse, die aus dieser Denk- und Arbeitsweise resultieren, haben andere Künstler:innen neugierig darauf gemacht, mit Merlin Modulaw zu kooperieren. Oft sind es Vokalist:innen – singend, rappend, mit der Stimme oder mit Effekten wie Autotune experimentierend –, die ihre Stimme in Modulaws Soundgewand kleiden wollen. Neun davon fanden Platz auf dem 2023 veröffentlichten Album Ignition. Auch in der Arbeit mit Vokalist:innen geht es Merlin Modulaw viel um Assoziationen: „Die Stimme ist für mich ein Referenzpunkt, an dem sich Hörer:innen schnell orientieren können. Ich kann dann Stimm-Elemente, die oft mit Popmusik im weitesten Sinne assoziiert sind, mit Referenzen aus zeitgenössischer oder elektroakustischer Musik kombinieren und damit experimentelle Musik einem anderen Publikum näherbringen.“


Das Stück C ist Teil des Modulaw-Albums Ignition und entstand in Kollaboration mit dem kalifornischen Rapper DÆMON.

Diese Kombinationen von Referenzen sind für Merlin Modulaw – neben technischen Neuerungen – die Möglichkeit, mit der Innovation in der Musik stattfinden kann. Als Grenzgänger zwischen dem Noch-Bekannten und dem So-noch-nicht-Dagewesenen hat sich Merlin Modulaw in den letzten Jahren gleich mehrere neue Räume erschlossen.
Friedemann Dupelius

 

Merlin ModulawMerlin Modulaw auf BandcampMerlin Modulaw – Ignition (Album)Konzertreihe Spectres in ZürichDeborah Joyce-Holman, Axel Kolb

neo-Profile:
Merlin ModulawFestival Sonic Matter

Klangkunst und Musik von Martina Lussi

Die Luzernerin Martina Lussi hat Kunst studiert. Über das Hören kam sie dazu, selbst Klangkunst und Musik zu produzieren. Mit Mikrofonen und Audiorekorder bewegt sie sich durch Natur und Alltag und geht mit ihren Eindrücken zurück ins Studio. Dort verdichtet sie ihre Hörerlebnisse in Installationen, Performances und Studioalben, aber auch in Fieldrecordings und Soundwalks.

Friedemann Dupelius
Am Anfang unseres Zoom-Gesprächs gesteht Martina Lussi ein, dass sie sich etwas unsortiert fühlt. Sie arbeitet gerade viel in einer Kunst-Bibliothek, so fehle momentan die Zeit, die für sie so wichtig ist: Zum Hören, sich auf Klänge einzulassen. „Hören ist etwas sehr Langsames. Man kann nicht einfach in etwas hineinhören – man muss von vorne beginnen und sich darin absorbieren, sonst verliert man den Zusammenhang. Wer hat denn heute noch wirklich Zeit zu hören?“

Martina Lussi © Calypso Mahieu

Um sich auf unsere Unterhaltung einzustimmen, hat sie an diesem Morgen ihre Routine-Route am Vierwaldstätter See zu einem Soundwalk gemacht – zu einem Spaziergang also, bei dem man aktiv auf die Umgebung hört. Sie liest mir ihr Hör-Protokoll wie eine Einkaufsliste vor: „Rollkoffer, Gespräche, vorbeirennende Joggerin, meine Jacke, Atmen eines Hundes, Schiffsmasten, ein Mensch ahmt eine Ente nach…“ Wir merken beide, dass wir uns zwar die einzelnen Geräusche vorstellen können, dass solch einer Beschreibung aber eines abgeht: Die Räumlichkeit und Gleichzeitigkeit der Szenerie. „Meine Musik lebt davon, dass sich viele unterschiedliche Geräusche miteinander verbinden und ineinander fließen. Sie ist wie ein Stream, in dem Klänge plötzlich ganz nahe sind, um sich dann wieder in etwas aufzulösen.“

Frösche oder Holz?
Ende 2019 war Martina Lussi auf einer Residency im brasilianischen Regenwald und konnte dort in eine unbekannte Klangwelt eintauchen. „Manche Sounds waren beunruhigend, weil ich sie nicht kannte, vor allem nachts. Und es gab einen Frosch, der wie Holz klingt – das musste mir erst jemand erklären.“ Ihre Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk basiert auf einem Hörspaziergang in dem gleichnamigen Ort.

Hören als gemeinsame Erfahrung: Martina Lussi und ihre Soundwalk-Gruppe im Regenwald von Brasilien, © Karina Duarte

Schritte einer Gruppe von Menschen knirschen auf unebenem Untergrund und geben den Rhythmus vor, über dem die Stimmen verschiedener Vögel zirpen. Allmählich steigt eine Synthesizer-Klangfläche wie Nebelschwaden aus der Geräuschkulisse des Regenwaldes und geht über in sanften tropischen Regen, bis irgendwann die Frösche klappern. Es geht Martina Lussi nicht darum, die Umwelt wiederzugeben, wie sie scheinbar real klingt – sie fügt künstliche Klänge hinzu und erzeugt so neue Klangräume, wie traumhafte Erinnerungen. Auch den Wind, der manchmal in den Audiorekorder pustet, hat sie nicht herausgeschnitten. Manche Fieldrecording-Purist:innen würden das für eine schlechte Aufnahme halten. Martina Lussi nicht.


Die Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk erschien 2020 auf Vinyl beim Label Ōtium, zusammen mit einem Stück von Loïse Bulot.

Jacke oder Vögel?
Im Gegenteil: Immer wieder lässt sie in ihren Arbeiten ungewollte Nebengeräusche mit in die Kompositionen einfließen. In ihrem Stück The Listener werden diese sogar zum einzigen Klangmaterial. Es besteht ausschließlich aus den Geräuschen von Jacken. Die gerieten in Martina Lussis Fokus, als sie im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Vogelklängen Aufnahmen in der Natur machte: „Man stellt sich das so idyllisch vor, aber frühmorgens ist es oft so kalt, dass ich friere und mich ständig bewegen muss. Und in einer dicken Jacke eingepackt, klingt diese eben mit.“ Ihr fiel auf, dass diese Klänge oft selbst wie die Stimmen oder auch die Flügelschläge von Vögeln anmuteten. Sie nahm vier Jacken, improvisierte mit jeder für zehn Minuten und erstellte daraus eine Vierkanal-Installation und eine Komposition.


Das Stück The Listener ist Teil der Compilation Synthetic Bird Music und 2023 auf dem Label mappa als Kassette erschienen

Die 4-Kanal-Klanginstallation „The Listener“ wurde 2022 im Kunstraum sic! Elephanthouse in Luzern gezeigt, © Andri Stadler

Martina Lussi schärft ihre Ohren nicht bewusst mit Hörübungen, bevor sie sich ins Feld begibt: „Das passiert ganz beiläufig. Wenn ich in den Wald gehe, rieche ich die Öle der Bäume, ich sehe nicht weit, da komme ich automatisch in einen aufmerksamen Zustand, auf den ich mich gar nicht vorbereiten muss.“ So eindringlich, wie sie Jahre später noch vom brasilianischen Regenwald erzählt, wird klar: Hören geht über den Moment hinaus. Es erzeugt Erinnerungen, die lange nachwirken und von denen man auch in unruhigeren Zeiten zehren kann.
Friedemann Dupelius

Portrait Martina Lussi © Johanna Saxen

Martina LussiMartina Lussi auf BandcampSerrinha Do Alambari (Vinyl)Forschungsprojekt „Birdscapes“Kunstraum sic! Elephanthouse in LuzernCompilation: „Synthetic Bird Music“

Kommende Veranstaltungen:
18.05.2024 – Konzert in Tbilisi (Georgien), Left Bank
24.05.2024 – Moa Espa, Genf (Soundwalk)
18.06., 19:30 Uhr – Dampfzentrale Bern (UA Proximity mit dem Ensemble Proton, + Offene Probe am 17.06.)
23.06., 17 Uhr – Postremise Chur

neo-Profil: Martina Lussi

Entschleunigt fliesst der Atem – Pianistin Judith Wegmann

Die Bieler Pianistin Judith Wegmann geht der musikalischen Zeit auf den Grund. So tief, dass sie fast aufhört, zu existieren. Ob in Werken von Morton Feldman, in eigenen Improvisationen oder einer regen Ensemble-Tätigkeit: Für Judith Wegmann sollte man sich Zeit nehmen.

 

Portrait Judith Wegmann © Simone Haug

 

Friedemann Dupelius
„Ich habe früher nie etwas eingespielt, sondern mich immer ganz dem Live-Moment hingegeben“, erzählt die Musikerin, die im Kanton Zug geboren ist und in Biel lebt. „Das veränderte sich 2016, als ich über mehrere Wochen im Krankenhaus war und daher über Monate nicht Klavier spielen konnte. Die Musik als täglicher Lebensinhalt, als meine Sprache fehlte mir sehr.“ Als Musikerin, die sonst täglich die Beziehung zu ihrem Instrument pflegt, muss sich dieses halbe Jahr schier endlos angefühlt haben. „So entwickelte ich eine Strategie, um mich trotzdem mit Musik beschäftigen zu können und meine Gedanken in eine positive Richtung zu leiten und entwarf innerlich Konzepte für mein Album Le souffle du temps. Als ich nach Monaten endlich wieder in mein Atelier gehen konnte, habe ich mich gleich mehrere Wochen zurückgezogen, um das Album zu realisieren. Ohne viel Vorerfahrung habe ich selbst eingespielt und gemischt.“

 


In Ihrer Improvisation Reflexion IV aus dem Jahr 2019 spinnt Judith Wegmann Ihr Projekt Le souffle du temps als Eigenkomposition aus dem Moment weiter.

 

Bereits in den Jahren zuvor hatte sich Judith Wegmann intensiv mit der Zeit in der Musik beschäftigt. Seit über zehn Jahren ist das ein Schwerpunkt ihres Schaffens. Musik ist Zeitkunst, wir wissen das alle. Wegmanns chronopoetische Tiefenbohrung führt sie jedoch auf eine Weise zum Kern dieser einfachen Wahrheit – bis dorthin, wo Zeit aufhört, gemessene Zeit, strenge Taktung zu sein
„Ich habe begonnen, sehr lange Konzerte zu spielen – zwei Stunden im Schnitt. Mir ist es wichtig, einen Kosmos für das Publikum und für mich zu schaffen, in dem man für einen Moment entschleunigen und das Drumherum vergessen kann.“ Das Tempo im Zeitalter der sozialen Medien ist hoch. Konzerte können für Wegmann ein ruhiger Gegenpol dazu sein.

 

Der Atem der Zeit
Judith Wegmann ist ein Nachtmensch. Ab Nachmittag wird sie aktiv und verbringt ganze Abende und Nächte am Flügel spielend im Atelier. „Das ist für mich seelischer Balsam – Erholung und Entschleunigung. Das Studio liegt im 2. Untergeschoss, dort gibt es keinen Empfang, man kann mich nicht erreichen. Wenn ich spiele, denke ich nicht mehr.“

 

 

Portrait Judith Wegmann @ Algis Jakstas

 

Zeitdehnung und Entschleunigung sind das eine prägende Element im Schaffen der Bielerin – zwischenmenschliche Beziehungen das andere, nicht minder wichtige. Mit dem Projekt Réflexion ging Le souffle du temps in die zweite Runde. Sie bat Komponist:innen, die sie persönlich schätzt, auf die Musik zu reagieren. Da ist zum Beispiel Edu Haubensak, den Judith Wegmann hoch schätzt.

 


Edu Haubensak hat mit Manga eine Réflexion (2019) für Judith Wegmann geschrieben. Die Kollaboration der beiden wird 2024 weitergehen.

 

Und es wurde auch ein generationenübergreifendes Projekt. Der 86-jährige Daniel Andres ist nicht nur Wegmanns Nachbar in Biel, „sondern auch ein wunderbarer und inspiererender Komponist. Ich habe ein Bauchgefühl dafür, mit wem ich gut zusammenarbeiten kann. Das täuscht mich fast nie. Es braucht einfach eine gemeinsame Ebene im Grundverständnis vom Leben, so individuell auch alle Menschen sind.“

 


Auch Daniel Andres’ Zyklus: Souvenir d’un instant entstand als Reaktion auf Le souffle du temps von Judith Wegmann.

 

Morton Feldman konnte Judith Wegmann nie kennen lernen. Es ist also eine abstrakte Beziehung, die sich ausschliesslich aus der von Feldman hinterlassenen Musik speist. Auch hier zentral: Die Zeit, und wie man sie aushebeln kann. „Ich habe auch schon mit dem Taschenrechner versucht, die komplexe rhythmische Struktur von Feldmans Musik mathematisch zu analyiseren und verstehen zu lernen, sodass ich sie überhaupt verkörperlichen konnte. Letztendlich kann ich sie aber doch kaum erklären. Es gibt zahlreiche Wiederholungen in dieser Musik mit ihren immensen Dauern. Es ist unglaublich, wie man diese selbst während den Konzerten erlebt und welche körperlichen Veränderungen dabei entstehen.“

Intensiv hat sich Judith Wegmann auch damit beschäftigt hat, einen adäquaten Tasten-Anschlag für Feldmans Werke zu finden, die zwischen feinsten Piano- und Pianissimo-Abstufungen changieren. Obwohl das Klavierpedal stets gedrückt bleibt, braucht es präzise gesetzte Anschläge, um die einzelnen Töne klanglich zu formen.

 


Judith Wegmann hat fast alle Klavierwerke von Morton Feldman gespielt, auch Triadic Memories (1981). Für die Zukunft hat sie sich noch das Trio For Philip Guston (1984) für Flöte, Schlagzeug und Klavier vorgenommen.

 

Ich frage Judith Wegmann, ob sie im Publikum in den letzten krisenhaften Jahren ein verstärktes Interesse für kontemplative Musik feststellt – was zumindest mir so auffällt. „Es war schon immer ein eher kleines Publikum bei experimentelleren Programmen. Das liegt auch daran, dass ich seit Jahren fast alle meine Konzerte selbst veranstalte. Ich spiele vorwiegend in Kunsthäusern, da passen Feldmans Musik und experimentelle Musikprojekte generell meinem Empfinden nach hin. Das Publikum kann sich frei bewegen. Das nehmen die Leute gerne an und tun das immer auch mit einem Feingespür für die Musik.“

 


Canto Ostinato (1976) von Simeon ten Holt spielt Judith Wegmann mit dem Pianisten Simon Bucher (Probenaufnahme, 2023, Ausschnitt).

 

Grosse Publikumsresonanz fanden Wegmanns Konzerte mit Musik von Philip Glass, klassische Programme – oder auch Konzerte mit Canto Ostinato für Duo-Klavier von Simeon ten Holt. Das 1976 fertiggestellte Stück ist in der niederländischen Heimat des Komponisten eine Art Hit. „Ich bin darauf über die Beschäftigung mit den Etüden von Glass gekommen. Ich finde Canto Ostinato ein sehr schönes Stück, es hat mich in seiner melodischen Einfachheit sehr berührt. Ohnehin gehe ich an so viele unterschiedliche Konzerte – Punk, Garage Rock, Psychedelic, Klassik, ich kann überall etwas herausziehen. Canto Ostinato besteht aus über 100 Zellen, die man in sich so oft wiederholen kann, wie man möchte. Eine Aufführung könnte sechs Stunden gehen, gemeinsam mit meinem Duo-Partner Simon Bucher erreichen wir ungefähr zwei Stunden. Es ist eine sehr intime Spiel-Situation. Der Blickkontakt mit dem Duo-Partner entscheidet, wann das nächste Pattern beginnt. Das Stück erfordert hohe Konzentration beim Spielen und ist dennoch sehr ruhig zum Zuhören.“ Angesprochen auf Simon Bucher, mit dem sie ten Holt spielt, gerät Wegmann ins Schwärmen: „Er hat so einen schönen Klang! Die Zusammenarbeit mit ihm ist musikalisch und menschlich sehr bereichernd.“

 

Judith Wegmann & Simon Bucher © Judith Wegmann (Screenshot aus Video)

 

Auf demselben Ton gelandet
Nicht weniger warme Worte findet sie für ihre Kölner Kollaborationspartnerin, die Pianistin Marlies Debacker. Ein Veranstalter hielt es für eine gute Idee, die beiden unbekannterweise für eine Duo-Improvisation an zwei Flügel zu setzen.

 


Judith Wegmann und Marlies Debacker auf dem gemeinsamen Album things in between, aufgenommen 2021 in Biel.

 

Und die Idee war hervorragend: „Am Ende landeten wir beide auf demselben Ton. Es brauchte keine Worte, das kam erst hinterher. Marlies ist wie ich musikalisch vielseitig. Sie macht Klassik, Jazz, neue Musik. Sie hat ein gutes Gespür für Bögen. Für mich war es von Beginn an wie eine Symbiose. Als wir eine gemeinsame Aufnahme anhörten, konnte ich gar nicht immer sagen, wer gerade was gespielt hat.“
Friedemann Dupelius

 

Judith Wegmann & Marlies Debacker

 

Canto Ostinato (1976) von Simeon ten Holt, interpretiert von Judith Wegmann, in voller Länge.
Judith WegmannSimon BucherMarlies DebackerDaniel AndresPhilip GlassEdu HaubensakMorton FeldmanSimeon ten HoltHat Hut Records, Bruno Duplant, New3Art.

Kommende Veranstaltungen:
15.12.2023 – Simeon ten Holt: Canto Ostinato im Duo mit Simon Bucher, in der Sala Perriera – im Kulturzentrum Cantieri Culturali alla Zisa, Palermo (IT)
17.2.2024 Duo mit Marlies Debacker, Raum für Musik Zoglau (D)
28.2.2024 Zu Gast bei Ensemble 5 (4+1), WIM Zürich

Kommende Veröffentlichungen:
2024 erscheinen drei neue CDs von Judith Wegmann:
Kont.Takte mit dem Ensemble New3Art enthält Karlheinz Stockhausens Kontakte, ein Auftragswerk von Antoine Chessex (Geschichten der Gewalt) und einer Improvisation, Koproduktion SRF2Kultur.
Hinzu kommt eine Einspielung der Etudes von Philip Glass und die CD univers paralleles II mit dem Sound Designer und Komponisten Bruno Duplant. Alle erscheinen beim Label Hat Hut (ezz-thetics).

Neo-Profile:
Judith Wegmann, Daniel Andres, Edu HaubensakAntoine Chessex

Neue Energien: Klangkunst im Wallis

Die Biennale Son findet im Herbst 2023 zum ersten Mal statt. Mit Sion, Martigny und Sierre (und ein paar kleineren Spielorten etwas außerhalb) bespielt sie den französischsprachigen Teil des Wallis entlang der Rhône über sechs Wochen mit Klanginstallationen, Konzerten und Performances.

 

Friedemann Dupelius
Eisblau liegt auf 2.364 Metern Höhe der Lac des Dix. Seine Staumauer gilt mit 285 Metern als das höchste Bauwerk der Schweiz. Über Druckleitungen ist der Damm unter anderem mit dem Chandoline-Kraftwerk in Sion verbunden. Seit Juli 2013 fließt darin kein Wasser mehr hinab ins Rhône-Tal, die Rohre sind stillgelegt. Und doch knistert es weiter in dem modernistischen Bau, seiner Aura wegen. So stark, dass er ins Visier dreier Kuratoren geriet. Seit Mitte September ist das Kraftwerk nun die Zentrale der neuen Biennale Son. Hier erzeugen internationale Künstler:innen durch den Dialog ihrer Arbeiten mit der industriellen Architektur neue Energie. Und von hier aus versorgt die Biennale Son verschiedene Orte entlang der Rhône mit künstlerischem Strom.

 

(c) Olivier Lovey
Der Tessiner Architekt Daniele Buzzi entwarf 1934 das Kraftwerk “Chandoline”, das die Hauptausstellung der Biennale Son beherbergt.

 

Die Biennale Son präsentiert Kunstformen, die in der Romandie für gewöhnlich eher in Genf oder Lausanne stattfinden. Und doch gibt es auch hier eine Tradition und eine kleine Szene für experimentelle Musik. Seit den 90er-Jahren ist die Vereinigung Dolmen in der Region aktiv, daneben ist das etwas mehr am Pop orientierte Palp-Festival für Experimente bekannt.

 


Christian Marclay, Screenplay part 2, gespielt vom Ensemble Babel

 

Auch der klangaffine Bildende Künstler Christian Marclay kommt aus dem Wallis – genauso wie Luc Meier, Co-Kurator der Biennale Son, der sich darüber freut, dass er Marclay für die Erstausgabe des Festivals in der gemeinsamen Heimat gewinnen konnte. Der Exil-Schweizer ist mit zwei Arbeiten Teil der Hauptausstellung im Kraftwerk. Künstler:innen wie Christian Marclay sind Gründe dafür, warum die Biennale Son ins Leben gerufen wurde: „Seit langem befruchten sich Klang und Bildende Kunst gegenseitig“, sagt Luc Meier, „doch gerade in den letzten Jahren hat das nochmal deutlich zugenommen. Die Grenzen zwischen den Disziplinen werden durchlässiger. Das zeigt sich auch in Begriffen, die neuerdings in den Kunstdiskurs geschwappt sind: Man spricht etwa davon, sich auf andere, nicht-menschliche Lebensformen einzuschwingen oder mit der Umwelt zu resonieren.“

 

Die Basilique Valère auf dem südlichen Burghügel von Sion

 

Himmelblaue Rhône, spätgotische Orgel

Die Auseinandersetzung mit der Landschaft und ihres Wandels ist bei einem Kunstfestival in solch einer Umgebung unvermeidbar. In Sion ist die Rhône noch himmelblau, wirkt frisch und gesund, malerisch eingebettet in die kantigen Gebirgszüge am Horizont. Doch machen sich klimatische Veränderungen auch hier bemerkbar. Der Rhône-Gletscher ist seit vielen Jahren im Rückgang begriffen. So mikrofonierte die kanadische Klangkünstlerin Crys Cole den Grande Dixence-Staudamm und brachte den tönenden Geist des Wassers wieder in das ansonsten spukend leere Kraftwerk zurück. Und auf organisatorischer Ebene versucht die Biennale Son, ihren eigenen ökologischen Fußabdruck in den Alpen möglichst gering zu halten. Sie hält Flugzeugreisen minimal und achtet auf möglichst geringen Stromverbrauch und Materialverschleiß.

Neben Stauseen und Bergen mit Gipfelkreuzen prägen Kirchen das Landschaftsbild im Wallis. „Es ist ein traditionell katholischer Kanton und religiöser als andere Orte in der Romandie“, weiß Luc Meier. In einigen der Kapellen und Basiliken fand die Biennale Son ihre Spielorte. Meier vergleicht sie mit dem Kraftwerk in Sion: „Ohne esoterisch klingen zu wollen, aber auch in diesen Kirchen gibt es eine Art von Energie, die sich transformieren lässt. So wie wir das Kraftwerk in Schwingung versetzen können, können wir auch diese Kirchen neu resonieren lassen.“ In der Sioner Basilique de Valère findet sich eine der ältesten Orgeln der Welt, fast 600 Jahre alt. Wenn das queere Duo Judith Hamann und James Rushford dieses Instrument spielen darf, wird die Floskel von der Transformation dringlich und greifbar. „Wer durfte hier bislang eintreten? Wer durfte hier Musik machen?“, fragt Luc Meier. „Welches Echo werden solche Performances haben? In den Bergen um uns, aber auch in den sozialen Räumen, die wir dabei schaffen?“

 

Die Schwalbennestorgel der Basilique de Valère wurde 1435 gebaut

 

Begegnungen im Rhône-Tal

Diese Orte der Begegnung sind tatsächlich erst im Entstehen begriffen. Das Team der Biennale Son verlässt sich auf ein allgemein kunst- und musikinteressiertes Schweizer Publikum, das den Weg in die Alpen nicht scheut. Zugleich sieht Luc Meier aber auch das Potenzial, ein lokales Publikum neugierig zu machen. Außerdem habe das kuratorische Team darauf geachtet, dass die Live-Performances an Freitagen und Samstagen stattfinden. In Locations wie Jazzclubs und Theatern treten nahmafte Künstler:innen wie Saâdane Afif, Félicia Atkinson, Alvin Curran, David Toop oder Kassel Jaeger auf. Und wer sich eingehender mit der Geschichte klangbasierter Kunst beschäftigen möchte, kann die Ausstellung der Sammlung FRAC Franche-Comté aus dem französischen Besançon in der Médiathèque Martigny besuchen.

 


Das Eklekto Geneva Percussion Center spielt Choeur Mixte für 15 snare drums (2018) von Alexandre Babel. Beide sind zu Gast bei der Biennale Son.

 

Und dann ist da noch die Hochschule Édhéa (École de design et haute école d’art du Valais). Im beschaulichen Sierre kann man mittlerweile einen künstlerischen Bachelor explizit im Bereich Klang studieren. Studierende und Alumni der Édhéa sind aktiv an der Biennale Son beteiligt, hinter den Kulissen und als Ausführende: Claire Frachebourg hat quer durch den Keller des Kraftwerks eine Skulptur gezogen, die an ein Boot oder eine Mumie erinnert. Den Soundtrack zum Objekt hat Frachebourg während einer Künstlerinnen-Residenz auf einem Boot aufgenommen, das von Island nach Grönland fuhr. Noch mehr klingendes Wasser, noch mehr Power fürs Kraftwerk, das endlich wieder tun darf, wofür es einst gebaut wurde: Energie erzeugen und verteilen.
Friedemann Dupelius

Biennale Son, 16.9.-29.10., Wallis
Der Podcast der Biennale Son führt ins Programm ein
Podcast bei Spotify

École de design et haute école d’art du Valais (Édhéa)Klangkunst-Sammlung; FRAC Franche ComtéWalliser Musik-Initiative DolmenFestival PalpClaire Frachebourg

neo-Profile:
Alexandre BabelEklektoFrançois BonnetEnsemble Babel

Sonic Matter: Auf den Klang kommt es an

Sonic Matter – Festival für experimentelle Musik findet dieses Jahr vom 1. bis zum 4. Dezember in Zürich zum zweiten Mal statt. Unter dem vieldeutigen Motto Rise weist das Festival über das Festival hinaus. Ein Schwerpunkt ist dabei das Musikschaffen in Subsahara-Afrika.

Friedemann Dupelius
„It matters what matters we use to think other matters with“, schreibt die Philosphin Donna Haraway. Sinngemäss übersetzt kommt es also darauf an, mit welchen Mitteln wir über etwas anderes nachdenken. Das Zürcher Festival Sonic Matter versteht Klang als so etwas, auf das es ankommt. Mit Klang und Musik können wir über Dinge nachdenken, die wiederum darüber hinausgehen. Sound kann ein Tor zur Welt sein, Zuhören eine Art der Reflexion und Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. In der zweiten Ausgabe des Festivals, das 2021 die Nachfolge der Zürcher Tage für Neue Musik angetreten hat, wird diese Perspektive deutlich.

Aufnahmen für “Play the Village” mit Manon Fantini, Léo Collin und Menschen aus Horgen bei Zürich

Mit Rise gibt nun das Mittelwort der Motto-Trias Turn – Rise – Leap den leitenden Gedankenimpuls: „Das kann im Sinne von Wachsen oder Entstehen begriffen werden – oder auch als etwas Widerständiges, Aufbegehrendes, als etwas, das Grenzen erweitern will“, erläutert Lisa Nolte. Auch sie ist Teil einer Trias. Neben der Kulturmacherin gehören die Komponistin Katharina Rosenberger und die Künstlerin und Kuratorin Julie Beauvais zu dem Kernteam, das Sonic Matter seit 2021 konzipiert. Zweierlei verdeutlicht der Untertitel „Plattform für Experimentelle Musik“: Sonic Matter denkt über die Grenzen eines Festivals hinaus. Es ist nicht nach vier dichten Veranstaltungstagen vorbei, sondern begreift sich als ein Prozess, der kontinuierlich andauert. Ausserdem signalisiert der Begriff des Experimentellen eine ästhetische Breite. Es gehe darum, „möglichst viel Spielraum für klangbasierte aktuelle Kunstformen zu haben“, so Lisa Nolte. Einerseits gibt es Formate mit zeitgenössischer Musik, wie sie sich in Europa etabliert hat – zum Beispiel im Konzert des Tonhalle-Orchesters mit Musik von Peter Ruzicka und George Enescu, oder wenn das Collegium Novum Zürich Iannis Xenakis’ Φλέγρα (Phlegra) neben einer Uraufführung von Laure M. Hiendl spielt. Doch sagt Lisa Nolte auch: „Oft geht es bei der Neuen Musik um eine ganz bestimmte Vorstellung von Qualität, die man aber nicht überall teilt. Andere Ansätze können sehr bereichernd sein.“


Iannis Xenakis – Φλέγρα (Phlegra) (1975), gespielt vom Ensemble Phoenix Basel

Hören, Denken und Träumen mit Archiven

Diese Ansätze können aus anderen Musik- und Kunstformen kommen, oder auch aus lange zu wenig beachteten Orten auf der Welt. Das Duo Listening at Pungwe aus Südafrika und Simbabwe etwa hat eine ganz eigene künstlerische Umgangsweise mit Klang. Memory Biwa und Robert Machiri sammeln Musik und Fieldrecordings aus ihren Heimatregionen. Dieses Material begreifen sie als klingendes Archiv, dessen Inhalte sie in Performances und Listening Sessions neu kontextualisieren. Der namensgebende Begriff „Pungwe“ erinnert an das Ritual einer Totenwache, während der die Anwesenden in einem besonders wachsamen Zustand sind – ein Zustand, der es auch ermöglicht, von einer besseren Zukunft zu träumen oder sich für die Revolte zu motivieren.

 

Eine Live-Session von Listening at Pungwe in Kapstadt 2017

Klang- und Musik-Archive sind so ein „Matter“ (Mittel), mit dem über andere „Matters“ (Dinge, Themen) nachgedacht werden kann. In gesammelten Tonaufnahmen stecken Informationen über Geschichte, soziale und politische Umstände und vieles mehr. Und: Sie bieten Möglichkeit zur Imagination, zum Träumen davon, wie die Welt auch sein könnte. In diesem Sinne haben die Schüler:innen im Projekt Once Upon A Sound mit Roman Bruderer, Peter Nussbaumer und Iva Sanjek eigene Klangarchive angelegt, die sie beim Festival in Listening Sessions und DJ-Sets präsentieren.

Auch die Menschen aller Altersgruppen, die mit den Künstler:innen Léo Collin und Manon Fantini arbeiteten, schärften ihre Ohren auf die Klänge ihrer Umgebungen. Daraus entstand die Installation Play The Village. In den gemeinsamen Listening Sessions mit dem lauschigen Titel Weiche Kissen – heisse Ohren steht ebenso das gemeinsame Hören im Fokus. Eine ganze Symphony Of Archives lässt der marokkanische Künstler Abdellah M. Hassak im Kunstraum Walcheturm erschallen. Sonic Matter ist also auch eine riesige Ansammlung von archivierten Klängen, die in verschiedenen Veranstaltungsformaten für die offenen Ohren des Publikums zugänglich gemacht werden.


Noémi Büchi spielt am 3.12. “live from the Listening Lounge” im Kunstraum Walcheturm

Ein weiterer Schwerpunkt von Sonic Matter 2022 ist die Region Subsahara-Afrika. Neben Pungwe sind insbesondere Künstler:innen des ugandischen Musikfestivals und Labels Nyege Nyege in Zürich dabei. So steht Labelgründer Rey Sapienz hinter den Decks bei der Party in der Gessnerallee, wenn klar wird, was Lisa Nolte schon weiss: „Hören ist etwas Aktives. Das zeigt sich auch, wenn man von Musik direkt in körperliche Bewegung versetzt wird.“ Auch Tanzen ist Sonic Matter – ein klangliches Matter („Angelegenheit“) und der Moment, in dem Klang selbst als Matter („Materie“) ganz körperlich wird. Von Träumen und Sehnsüchten nach der verlorenen afrikanischen Heimat erzählen Latefa Wiersch, Rhoda Davids Abel und Dandara Modesto in ihrer interdisziplinären Performance Neon Bush Girl Society. Dabei greifen sie Legenden der geflohenen Volksgruppen Nama und Damara aus dem südlichen Afrika auf.

Neon Bush Girl Society

Sonic Matter ist immer

Auch im Sonic Matter Open Lab ist Subsahara-Afrika 2022 schwerpunktmässssig vertreten. Mit diesem dauerhaften Format unterstreicht Sonic Matter, dass es an 365 Tagen im Jahr stattfindet. Beim Open Lab arbeiten Expert:innen aus Kunst, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam an dringenden Fragen ihrer jeweiligen Region auf der Welt. Die Einzelprojekte beschäftigen sich u.a. mit indigenen Völkern in Uganda und Mosambik, mit dem kulturellen und politischen Leben südsudanesischer Flüchtlinge in Kenia oder historischen Sounds in Johannesburg. Fortlaufend wird die Online-Plattform upgedatet. Und auch das Sonic Matter Radio hält die Klang- und Denkprozesse rund um die Uhr am Laufen. Sonic Matter, das sind also nicht nur vier spannende Tage voller Musik, Klang und Kunst in Zürich – es ist auch ein Dauerzustand des Hinhörens, Nachdenkens und Erzählens rund um den Globus. Ganz nach Donna Haraway, denn Erzählungen erschaffen die Welt: „It matters what stories make worlds, what worlds make stories“.
Friedemann Dupelius

Sonic Matter: 1.-4.12.2022 in Zürich
Sonic Matter RadioSonic Matter Open Lab

Partner-Festival 2022:
Nyege Nyege (Uganda)

SRF 2 Kultur:
Sonic Matter 2021 auf dem neoblog @neo.mx3
SRF-Bericht über Sonic Matter 2021

Donna Haraway, Roman BrudererLaure M. Hiendl, Latéfa Wiersch, Manon Fantini, Rey Sapienz, Listening at Pungwe

neo-Profile:
Sonic MatterKatharina RosenbergerIannis XenakisLéo CollinCollegium NovumTonhalle-Orchester ZürichOlga KokcharovaNoémi Büchi

 

Geteilte Aufmerksamkeit – Leo Hofmann und seine Hörräume

Friedemann Dupelius
„Mit welcher Maschine würdest du gerne mal essen gehen (Smartphones zählen nicht)?“ – Leo Hofmann überlegt und entscheidet sich für ein rollendes, selbstspielendes Klavier, auf dem er auch selbst mal spielen kann.
Die Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen, oder hipper formuliert: zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur:innen, sind derzeit ein beliebtes Thema in Kunst und Diskurs, nicht zuletzt ausgelöst durch die neueste Hype-Welle um Künstliche Intelligenz. In ihrem Musiktheater-Stück All watched over by machines of loving grace behandeln der Komponist Leo Hofmann und der Regisseur Benjamin van Bebber diese Relationen in intimen Bühnen-Situationen. 1967 schrieb Richard Brautigan in seinem gleichnamigen Gedicht von einer „cybernetic meadow / where mammals and computers / live together in mutually / programming harmony“, also einer „kybernetische(n) Wiese, auf der Säugetiere und Computer in programmierter Harmonie zusammenleben“.

 

Leo Hofmann im Kunsthaus Langenthal

 

Die Utopie, die Brautigan beschreibt, entspringt der Hippie-Ära. Die Gegenbewegungen der 1960er-Jahre sahen in der aufkommenden Computertechnologie ein revolutionäres, humanistisches Potenzial für eine bessere Welt. Sogar die Gründungen der ersten Firmen im Silicon Valley lassen sich darauf zurückführen. Lang ist’s her.

Nach einer coronabedingten Film-Premiere von All watched over… im Jahr 2021 feierte das Stück im Mai seine Premiere in physischer Ko-Präsenz im Roxy Birsfelden. Im Juni findet sich der gemischte Chor nochmals für zwei Aufführungen im Berliner Ballhaus Ost zusammen.

 


Film: All watched over by machines of loving grace

 

Menschliche und nichtmenschliche Klangkörper

Wie die Technologien des 21. Jahrhunderts unser Zusammenleben verändern, davon handelt das Musiktheater All watched over…. Dabei geht es insbesondere um Klang. Wie lässt sich inmitten der omnipräsenten Dauerbeschallung verantwortungsvoll handeln? Wo entsteht Raum für Intimität? Und was ist das mit den Maschinen und uns? Der „extrem gemischte Chor“, den Hofmann und van Bebber für ein anderes Projekt gegründet hatten, stellt den menschlichen Part der Akteur:innen auf der Bühne. Extrem gemischt heißt, dass hier Profis und sogenannte Laien mit unterschiedlichsten Hintergründen singen. Hinzu kommen nichtmenschliche Klangkörper, etwa Lautsprecher. Hier zeigt sich ein Spezifikum der Arbeit Hofmanns und van Bebbers. „Ich bin elektronischer Komponist und denke vom Hörspiel und vom Lautsprecher aus“, sagt Leo Hofmann. „Wenn man mit fertiger Musik arbeitet, schafft das eine neue Freiheit auf der Bühne. Es stellt sich die Frage nach einer Ko-Präsenz in der Inszenierung.“

Dafür haben Hofmann und van Bebber für sich den Begriff der „Ergänzungshandlung“ gefunden. Was machen befreite Körper, wenn die Musik aus dem Lautsprecher kommt und nicht erst performt werden muss? Die Performer:innen werden zu ko-präsenten Vermittler:innen der Musik und können durch kleine Handlungen und Gesten die Aufmerksamkeit auf bestimmte musikalische Details lenken. Einen anderen Begriff finden die Musiktheatermacher beim Prinzip des „Ritournelle“ von den Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Demnach eröffnet sich die Option, einen eigenen akustischen Handlungsraum zu schaffen, etwa indem der oder die Performer:in durch leises Summen oder Murmeln ein inneres Sicherheitgefühl etabliert, aus dem heraus der Chor in All watched over… improvisatorisch agieren kann. Leo Hofmann spricht gern von einem Hörraum, in den Performer:innen und Publikum gemeinsam eintreten und in dem dadurch eine „geteilte Aufmerksamkeit“ entstehe.

 


Leo Hofmann: Ritournelle

 

Gastfreundschaft im Musik-Haushalt

Einen solchen Hörraum richtet das Duo auch im Juli bei den Musikinstallationen in in Nürnberg ein. Das Festival findet erstmals statt und möchte den Raum als zentrales Erfahrungsmoment von Musik erforschen – in bewusster Abgrenzung zu Formen wie Klanginstallation, Musiktheater oder Konzert. Leo Hofmann interpretiert die Vorgabe so: „Darin liegt für mich ein Versprechen, dass durchgehend Musik von agierenden Körpern produziert wird, die aber instabil sind.“ Wobei, könnte nicht schon eine Bar mit Hintergrundbeschallung, mit dem richtigen Framing als Musikinstallation bezeichnet werden? Anyway, bei Hofmann und van Bebber erklingt die Musik live. Für die vier Festivaltage nisten sie sich in den kollektiven Räumlichkeiten der Nürnberger Band Borgo ein und haben verschiedene Musiker:innen zu Gast. „Wir möchten Gastfreundschaft auf verschiedenen Ebenen verhandeln. Es wird kein Werk, kein Totalraum, sondern wir leben, schlafen und essen für vier Tage in diesem Raum, machen ein Tagesprogramm und unsere Gast-Musiker:innen bringen mit, was sie schon haben“, erzählt Leo Hofmann. Die Composer-Performerin Francesca Fargion etwa komponiert Schlafsongs und arbeitet mit ästhetisierten Tagebüchern. Ein Besuch bei Hofmann/van Bebber soll wie ein Hausbesuch funktionieren. Im Gegensatz zu oft autark laufenden Klanginstallationen wird dieser musikalische Haushalt erst durch seine Bewohner:innen und Gäste klanglich aktiviert. Das Publikum ist selbstverständlich ebenso in diesen Raum geteilter Aufmerksamkeit eingeladen.

 


Leo Hofmann: Kapriole, erschienen 2022 bei Präsens Editionen

 

Intime Kapriolen

Eine andere Art inszenierter Hörräume verewigte Leo Hofmann im Frühjahr 2022 auf Vinyl-Platte. Zwar ist der Absolvent der Hochschule der Künste Bern in den letzten Jahren vor allem mit seinen Musiktheater-Produktionen in Erscheinung getreten, doch schon viel früher hatte er Hörspiele und Musik produziert. Kapriole ist dennoch sein erstes „richtiges“ Musik-Album und erscheint beim umtriebigen Luzerner Label Präsens Editionen. Verteilt auf acht Tracks zeigt Leo Hofmann seine Interpretation zeitgenössischer Soundpraktiken. In seinen Live-Stücken setzt er sich häufig mit haptischen Audiotechnologien aus dem Consumerbereich, also beispielsweise Bluetooth-Boxen, auseinander. Vor allem interessiert ihn deren ästhetische und soziale Bedeutung – welche Hör-, Schutz- und Privaträume eröffnet zeitgenössische Audiotechnologie?

 

„Eigentlich höre ich privat nur Renaissance-Musik und Shoegaze-Bands.“ (Foto © Robin Hinsch)

 

Die Musik auf Kapriole klingt intim und nah, auch durch den behutsamen Einsatz von Stimme, die mitunter so wirkt, als sänge oder spräche sie nur für die Hörer:in selbst. Hofmann erzählt, dass die größte Herausforderung für ihn war, Platz im Hörraum zu schaffen. „Ich höre oft, dass meine Musik sehr dicht ist und viel Aufmerksamkeit erfordert. Bei der Arbeit an dem Album habe ich immer wieder entdichtet, weggenommen und Klänge im Hintergrund gelassen. Aber man soll auch jederzeit hinhören und etwas entdecken können.“ Ob in geteilter Aufmerksamkeit vor der Musiktheaterbühne oder auf der inneren Bühne zwischen zwei Ohrstöpseln: In den Hörräumen von Leo Hofmann kann man sich aufgehoben fühlen.
Friedemann Dupelius

 

11.+12. Juni, Ballhaus Ost, Berlin: Leo Hofmann & Benjamin van Bebber: All watched over by machines of loving grace

Hofmann/van Bebber im Interview über All watched over…

7.-10. Juli: Musikinstallationen Nürnberg – Festival for Space Time Body Musics 

Leo HofmannBenjamin van BebberPräsens Editionen, Richard Brautigan, Gilles Deleuze, Félix Guattari

neo-Profil: Leo Hofmann

Poetischer Norden, Elektronische Nacht

Friedemann Dupelius
„Man muss schon eine Poetin sein, um im Norden zu leben“, sagt Cosima Weiter und lacht laut. Die Frankoschweizerin muss wissen, wovon sie spricht, hat sie doch mehrmals den hohen Norden Europas bereist – und sich dabei ziemlich wohl gefühlt. Kein Wunder, sie ist ja auch Poetin, Soundpoetin, um genau zu sein. „Ich will das aber nicht idealisieren“, räumt sie ein. Eine besondere Mentalität hat sie jedoch ausmachen können, als sie die nördlichen Regionen Finnlands und Norwegens bereiste, um den szenischen Kaija Saariaho-Abend Nord mit dem Ensemble Contrechamps vorzubereiten. Gemeinsam mit dem Video-Künstler Alexandre Simon fing Cosima Weiter nicht nur Bilder und Klänge, sondern auch Eindrücke von den Menschen ein, die dort leben, wo Nord spielen wird. „Wenn du in der Großstadt lebst und jemanden Neues triffst, den du nicht magst, gehst du einfach weiter. Dort aber, wo so wenige Menschen leben, strengst du dich an, die andere Person zu verstehen. Weit weg von allem zu sein heißt, offen zu sein“, erzählt Weiter.

 

Vier Stücke von Kaija Saariaho sind Teil der Inszenierung “Nord” von Cosima Weiter & Alexandre Simon © Andrew Campbell

 

In Nord bricht eine Frau in Finnland auf, um eben dort hin zu wandern, wo man weit weg von allem ist: in den Norden. Während dieses durch und durch romantischen Unterfangens begegnet sie unterschiedlichen Menschen, die verschieden auf sie reagieren. Die einen lässt sie neidisch, andere voller Bewunderung, und einen sogar mit Liebes-kummer zurück. „Ich wollte die Geschichte eigentlich feministisch erzählen“, sagt Cosima Weiter, „und dass es als Frau nicht einfach ist, alleine ins Nirgendwo zu wandern. Aber als ich im Norden war, musste ich das verwerfen – dort sind alle gleich. Das kennen wir hier in Mitteleuropa so nicht. Es kümmert keinen, ob du eine Frau bist, du kannst tun und lassen, was du willst.“

 

Zeit, Raum, Klang

Eine Frau, die seit Jahrzehnten tut und komponiert, was sie möchte ist die Finnin Kaija Saariaho. Ihre Musik steht im Zentrum der szenischen Erzählung, die von drei Schauspieler:innen vor einer großen Film-Leinwand verkörpert wird. „Es war uns sehr wichtig, dass Saariahos Musik in dem Stück respektiert und nicht gekürzt wird, dass sie einen großen Raum erhält.“ Mit Nocturne (1994) in der Fassung für Solo-Viola, Aure (2011) für Cello und Viola, Petals (1988) für Cello und Elektronik sowie Fleurs de neige (1998) in der Fassung für Streichquartett bilden vier Saariaho-Kompositionen die musikalische Basis für die Erzählung. (So schwer deren Reminiszenz an das Winterreisen-Topos zu ignorieren ist: Ironischerweise gibt Cosima Weiter zu, erst mit dem Interview für neo.mx3 daran zu denken.) Um die langsame, behutsame Musik herum tut sich eine Klanglandschaft auf, die Weiter und Simon gemeinsam mit Lau Nau und Bertrand Siffert aus eigenen Aufnahmen und Einsprengseln anderer Musik gestaltet haben. „Es gibt drei Dinge, die mich in der Musik und der Poesie interessieren: Zeit, Raum und Klang“, sagt Cosima Weiter, „und in Saariahos Musik finde ich das alles.“ In Nord leiht die Soundpoetin der Protagonistin ihre Stimme, entkörperlicht wiedergegeben über Lautsprecher.
Man muss schon eine Poetin sein, um vom Norden zu erzählen.

 


Kaija Saariaho, Graal Théâtre, Contrechamps, Eigenproduktion SRG/SSR 2009

 

Nuit de l’électroacoustique

Eine ganz andere Erzählung spinnt Contrechamps am 19.3., wenn das Ensemble zu seiner ersten Nuit de l’électroacoustique lädt. Fast wäre sie ausgefallen: Aufgrund von Lieferengpässen konnte die Renovierung der postindustriellen Räumlichkeiten, die Contrechamps künftig als Arbeits- und Begegnungsort beziehen wird, nicht rechtzeitig abgeschlossen werden. Eigentlich hätte das Les 6 Toits auf dem Genfer ZIC-Gelände mit der Nuit eingeweiht werden sollen. Dankbarerweise fand man kurzfristig Exil im Pavillon ADC, einem Zentrum für zeitgenössischen Tanz in Genf. Von Beginn an in die Kuration und Organisation mit eingebunden war auch der Genfer Subkultur-Club Cave 12, der gemeinsam mit Contrechamps die Nuit de l’électroacoustique präsentiert. Dass nun auch noch der Pavillon ADC mit von der Partie ist, sollte einer gesunden Durchmischung des Publikums nur zuträglich sein.

 


Heinz Holliger, Cardiophonie, Contrechamps, Oboe: Béatrice Laplante, Eigenproduktion SRG/SSR 2018

 

„Teile unseres Stammpublikums werden sicher mit Heinz Holliger vertrauter sein“, vermutet Serge Vuille, der künstlerische Leiter von Contrechamps. Holliger ist mit Cardiophonie für Oboe und Elektronik vertreten. „Andere Leute, die aus der elektronischen Musikszene kommen, können wir bspw. mit Phill Niblock, Jessica Ekomane oder Beatriz Ferreyra locken.“ Bereits mit den zwei letztgenannten Namen spannt sich ein großer Bogen: Hier die junge Künstlerin, die seit wenigen Jahren mit scharfsinnigen Performances auf sich aufmerksam macht, etwa neulich beim Festival MaerzMusik Berlin – da die 84-jährige Pionierin, die schon in den 1960ern mit Pierre Schaeffer gearbeitet hat. „Wir möchten Verbindungen herstellen“, sagt Vuille, „etwa zwischen rein elektronischer Musik und akustischen Instrumenten in Verbindung mit Elektronik, oder zwischen neuen und alten Tools – wer weiß, vielleicht bringt Beatriz Ferreyra alte Bandmaschinen mit?“

 

Jessica Ekomane spielt bei der Nuit de l’électroacoustique © Camille Blake

 

Lockerheit und Fokus

Für das Kurator:innen-Kollektiv von Contrechamps und Cave 12 war eine Mischung nicht nur aus alt und jung, sondern auch aus internationalen Headlinern und lokalen Akteur:innen der freien Genfer Szene wichtig. Letztere ist mit Performances von Salômé Guillemin und d’incise vertreten. Hinzu kommen drei neue Auftragsstücke für kleine Contrechamps-Besetzungen plus Live-Elektronik – eine Reminiszenz an die IRCAM-Schule, wie Serge Vuille findet.

 


d’incise, Le désir certain, 2019 (Insub.records & Moving Furniture Records)

 

Die Nuit de l’électroacoustique soll aus der Lockerheit heraus zu einem fokussierten Hören verlocken. Das Publikum kann umherwandern. „Wir möchten mit der Veranstaltung zeigen, dass man elektronische Musik auch auf eine konzentrierte Weise hören kann – ob man dabei sitzt oder sich bewegt.“ Und wer möchte, kann sich eine Auszeit vom fünfstündigen Programm an der Bar nehmen. Oder die Virtual Reality-Installation von Raphaël Raccuia und Nicolas Carrel begehen: sie lädt zum Entdecken der Zukunft, denn von der hat elektronische Musik seit ihren Anfängen erzählt.
Friedemann Dupelius

Contrechamps im Frühjahr 2022:
Nord: 7.-20.2., Le Grütli, Genf
Nuit de l’électroacoustique: 19.3., 19-24 Uhr, Pavillon ADC, Genf

ContrechampsCosima Weiter & Alexandre SimonKaija SaariahoBeatriz FerreyraJessica EkomanePhill NiblockLe GrütliPavillon ADCCave 12

Radio-Features SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 9.10.2019: Johannes Knapp und Serge Vuille – zwei junge Querdenker am Ruder, Redaktion Theresa Beyer / Moritz Weber
neoblog, 19.6.19: Ensemble Contrechamps Genève, expérimentation et héritage, Interview mit Serge Vuille von Gabrielle Weber

neo-Profile:
Contrechamps, Heinz Holliger, d’incise, Serge Vuille

Welle um Welle

Friedemann Dupelius
„Ein Orchester ist kein Kammerensemble. Es hat so eine gewisse Trägheit, die man erstmal überwinden muss, um all seine Instrumente, all seine Klänge zu aktivieren“, sagt Kevin Juillerat. Zwar ist der franko-schweizer Komponist kein Physiker, doch mit den Eigenschaften und Behandlungsmöglichkeiten von Schallwellen kennt er sich ganz gut aus. Davon zeugen die grauen Akustik-Dämmer an den Wänden seiner aktuellen Residenz im Pariser Elektronik-Paradies IRCAM, von wo aus er über sein Stück Waves spricht. Es ist seine erste Komposition für die große Orchester-Besetzung und wird am 16.1.2022 beim 3. Abo-Konzert der Jubiläums-Saison der Basel Sinfonietta uraufgeführt.

Mit Trägheit hat deren Geschichte jedoch wenig zu tun. 1980 gründeten enthusiastische Musiker:innen ein Orchester, das mit seinem ausschließlichen Fokus auf zeitgenössische Musik bis heute einzigartig geblieben ist. Ebenfalls bis heute ist die Basel Sinfonietta selbstverwaltet und basisdemokratisch organisiert. Den Vorstand bilden aus dem Ensemble heraus gewählte Orchestermitglieder, und auch die Programmkommission setzt sich aus solchen zusammen. Mit dazu gehört Daniela Martin, seit September 2020 Geschäftsführerin der Basel Sinfonietta, die konstatiert: „Von seinem freien Spirit ausgehend, ist das Orchester in der professionellen Musikszene inzwischen fest verankert.“

 

Basel Sinfonietta ©Archiv Basel Sinfonietta: Die Basel Sinfonietta präsentiert Musik gern in thematischen Konzerten. Legendär war das Programm „Sport und Musik“ unter der Leitung von Mark Fitz-Gerald im September 1989.

 

Zweifelsohne war das 40. Jahr zugleich das Schwierigste im Bestehen der Basel Sinfonietta. Anstatt einer großen Jubiläumsfeier herrschten Unsicherheit, Distanz zum Publikum und zwischen den Musiker:innen. Plötzlich mussten Abstände zwischen den Pulten eingehalten werden, was auch akustische Folgen hatte – das viel zitierte Distancing bekommt eine hörbare Qualität, wenn die Musiker:innen im Raum auseinander gerissen werden. Mit der nicht minder schwierigen Rückkehr zur normalen Aufstellung ist auch das Publikum in die Konzerte der Basel Sinfonietta zurückgekehrt, und das mit einer erfreulichen Nachricht: Die Zahl der Abonnent:innen hat sich über die Zeiten von Lockdown und Streaming-Konzerten vergrößert. So kann das leicht verspätete Jubiläum „40+1“ in dieser Saison vor einer angewachsenen Gemeinde an Fans und Neugierigen zelebriert werden. Daniela Martin ist begeistert vom Basler Publikum: „Die Leute lassen sich auf die Musik ein. In den Konzerten herrscht eine dichte Atmosphäre, eine spürbare Begeisterung. Man ist nicht zum Kritisieren da, sondern um mit offenen Ohren der neuen und neuesten Musik zu begegnen.“

 


Isabel Klaus, Dried – Für Orchester, UA Basel Sinfonietta 2007, Eigenproduktion SRG/SSR: Zum Kernverständnis der Basel Sinfonietta gehört es, junge Schweizer Komponist*innen eine Plattform zu bieten. Vor Kevin Juillerat haben schon viele andere davon profitiert, etwa Isabel Klaus mit ihrem Stück Dried.
Schaut ein Orchester für zeitgenössische Musik bei einem Jubiläum eher zurück oder nach vorne? Daniela Martin sagt: „Beides. Vor allem aber blicken wir ins Heute und in die Zukunft. Welche gesellschaftlichen Perspektiven und Utopien können wir in unseren Programmen beleuchten?“ In dieser besonderen Spielzeit setzt sich die Basel Sinfonietta unter anderem mit Fragen der Migration und dem Verhältnis westlicher zu non-europäischer Musik auseinander. Im Oktober war bspw. das bolivianische Orquestra Experimental de Instrumentos Nativos zu Gast, um mit der Basel Sinfonietta ein interkontinentales Programm mit Musik südamerikanischer und Schweizer Komponist:innen zu spielen.

 

Roberto Gerhard, Sinfonie Nr. 4 „New York“ (UA 1967), Basel Sinfonietta 2003, Eigenproduktion SRG/SSR: Migration prägte das Leben des aus Olten stammenden Komponisten Roberto Gerhard. Bereits 2003 spielte die Basel Sinfonietta mit Johannes Kalitzke seine 4. Sinfonie ein, die Erste erklingt im Konzert am 16. Januar.

 

 

Das Konzert am 16.1.2022 im Stadtcasino Basel läuft unter dem Motto „Schwerkraft Migration“. Sowohl äußerliche als auch innere Migrationsbewegungen sind dabei impliziert – erstere etwa bei Roberto Gerhard. Der 1970 verstorbene Komponist wurde in Katalonien geboren, hat familiäre Wurzeln in Olten und schrieb seine Musik vom britischen Exil aus. Er ist mit seiner 1. Sinfonie von 1952/53 vertreten. Bei Hèctor Parra geht die Reise nach innen und ins all-umfassende Außen zugleich – sein Stück InFALL von 2011 handelt von Schwerkraft und kosmologischen Meditationen über die menschliche Existenz.

 

Mit dem Stück Waves, einem Kompositionsauftrag an Kevin Juillerat, setzt die Basel Sinfonietta ihre Mission fort, jungen Schweizer Komponist:innen eine Plattform zu bieten – gerade auch solche, die wie Juillerat, noch nie für Orchester geschrieben haben. Ob dieser sich mit der Aufgabe unter Druck gesetzt fühlt? „Ich würde es eher als Herausforderung beschreiben. Auch wenn ich viel mit Einflüssen der elektronischen oder Rockmusik arbeite, so habe ich mich auch immer der sinfonischen Tradition verbunden gefühlt. Mich erschreckt das nicht. Das Orchester ist ein großartiges Instrument.“

 

 

Portrait Kevin Juillerat © Didier Jordan / Archiv Basel Sinfonietta

 

Damit verrät der Komponist und Saxofonist mit Jahrgang 1987 zugleich seinen Zugriff auf den sinfonischen Klangkörper. Er betrachtet ihn als ein großes Meta-Instrument, mit dem sich durch Kombination und langsame Prozesse neue Klangfarben erzeugen lassen. Dabei bezieht er auch Techniken aus der elektronischen Musik mit ein, etwa die Ringmodulation – eine simple Form der Klangsynthese, bei der sich zwei Klangsignale manipulieren und ein drittes, neues erzeugen lassen.

 

Kevin Juillerat, Le vent d’orages lointains – for piano and strings, Camerata Ataremac / Gilles Grimaitre 2018, Eigenproduktion SRG/SSR: Klangfarben-Schichtungen und sich langsam verändernde Texturen finden sich auch in Kevin Juillerats Stück „Le vent d’orages lointains“ für Klavier und Streicher von 2018.

 

„In meinen letzten elektroakustischen Stücken habe ich viel mit Texturen gearbeitet, die sich langsam verändern. Das wollte ich auch mit dem Orchester umsetzen. So gibt es gegen Ende des Stücks einen Drone, also einen sehr lang gehaltenen Ton, der mit den Mitteln der Ringmodulation in seinem Spektrum verändert wird.“ Konkret setzt Juillerat zu dieser Modulation Töne auf den Drone, die sich aus der Kernzelle seines Stücks ergeben: Sechs Tönen, die sich aus den Buchstaben B-A-S-E-L und SI für Sinfonietta ergeben. „Ich habe viel an Klangfarben gearbeitet, die immer in Veränderung begriffen sind. Dabei habe ich versucht, die einzelnen Instrumente in ihrer Wiedererkennbarkeit zu verschleiern. Es geht ganz um die Farben“, betont Juillerat.

 

Diese Eigenschaft seiner Musik war es auch, die Baldur Brönnimann beeindruckte, als er ein Stück Juillerats mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne aufführte. So schlug ihn der Principal Conductor der Basel Sinfonietta für das Auftragswerk vor, das am 16. Januar seine ersten Wellen vor dem Basler Publikum schlagen wird. So träge, wie es ein Orchester braucht, um so richtig in Wallung zu geraten – und, wenn es dann so weit ist, so behende, wie die Basel Sinfonietta auch die nächsten 40+1 Jahre angehen möchte.
Friedemann Dupelius

 

Die Basel Sinfonietta stellt auf ihrem neo.mx3-Profil eine grosse Auswahl aus ihrem Audio- und Videoarchiv zur Verfügung.

Basel Sinfonietta: Saison 40+1:
die kommenden Konzerte

 

IRCAM, Roberto Gerhard, Daniela Martin, Hèctor Parra, Baldur Brönnimann, Orquestra Experimental de Instrumentos NativosOrchestre de Chambre de Lausanne

 

neo-profiles:
Kevin Juillerat, Basel Sinfonietta, Isabel Klaus, Gilles Grimaitre