Multisensorische Gesamtinszenierungen: Das Duo eventuell.

Entdecken! Aus dem wachsenden Pool an neo-Profilen fischte Julian Kämper das Saxophon-Duo eventuell. Die Besonderheit: ein multisensorischer Ansatz, der immer wieder das eigene Künstlerinnendasein und den eigenen Körper zum Thema macht.

Mit den beiden Saxophonistinnen und Performerinnen Manuela Villiger und Vera Wahl unterhielt er sich zu ihren Beweggründen.

 

eventuell.: Manuela Villiger und Vera Wahl ©zVg eventuell.

Julian Kämper
2015 gründeten die Instrumentalistinnen Manuela Villiger und Vera Wahl das Duo „eventuell.“. Eigentlich als Saxophon-Duett. Doch das Saxophon ist ein verhältnismäßig junges Instrument und die Duo-Besetzung untypisch, das klassische Repertoire also überschaubar. Deshalb kollaboriert eventuell. seit Beginn intensiv mit – meist jungen und internationalen – Komponistinnen und Komponisten wie Yiran Zhao, Loïc Destremau, Mauro Hertig und Victor Alexandru Coltea. Oder es entstehen eigene Kompositionen.

Die Programme von eventuell. sind oft visuell, körperlich und szenisch angelegt: Gesamtinszenierungen, die nicht in erster Linie hörend, sondern multisensorisch wahrgenommen werden sollen. In ihren Projekten binden die beiden Performerinnen, die gemeinsam in Luzern und Zürich studiert haben, außermusikalische Kontexte ein und machen immer wieder ihr Künstlerinnendasein und ihren eigenen Körper zum Thema.


Manuela Villiger Beat for two soprano saxophones, video and electronics, eventuell., UA 2020

Die Konzertformate, die das Duo in Eigenregie entwickelt, sind weit entfernt von den musikalischen Praktiken, wie sie im konventionellen Hochschulstudium gemeinhin vermittelt werden. Was waren die Beweggründe, das eigene künstlerische Profil derart zu schärfen? – fragte ich mich und verabredete mich mit Manuela Villiger und Vera Wahl zum Gespräch.

Ihr Repertoire umfasst Stücke mit Live-Elektronik, Video und performativen Elementen. Sie reizen die Klang- und Spielmöglichkeiten des Saxophons aus und behandeln Ihr Instrument oftmals auf unübliche Weise – zum Beispiel in Julian Sifferts Komposition „Grammars of Crisis“. Wie ist es für Sie, nicht nur das Saxophon, sondern auch Sensoren, Alltagsgegenstände oder den Körper als Instrumente einzusetzen?

VW: Das ist ein Prozess, der automatisch passiert, wenn man sich für diese Art von Musik interessiert. Wir können unsere Musikalität vom Saxophonspiel mitnehmen und auf performative Elemente übertragen. Da ist es nicht wichtig, was man in den Händen hält. Hauptsache, man drückt sich gerne mit dem Körper aus. Es gibt in dem Stück ja auch beides: Passagen mit und ohne Instrument.

Julian Siffert Grammars of Crisis für Sopransaxophon, Altsaxophon, Video und Elektronik, eventuell., UA 2019

In diesem Stück treiben Sie Sport, präparieren Ihre Instrumente. In anderen Fällen bedienen Sie allerlei elektronische Geräte. Begeben Sie sich da nicht in fremdes Metier?

MV: Bei dem Einsatz von Elektronik war und ist es „learning by doing“ und „Trial and Error“. Es ist eine Frage des ästhetischen Mittels. Auf dem Saxophon haben wir Stunden, Tage, Wochen damit verbracht, irgendwelche Techniken zu erlernen. Wenn wir etwas ganz exakt reproduzieren müssen, dann ist das Saxophon unser Mittel. Denn da wissen wir zu 99% sicher, was passiert, wenn wir dies oder jenes machen. Aber in gewissen Stücken ist diese Ästhetik nicht gefragt, sondern da geht es genau darum, eben nicht alles unter Kontrolle zu haben. Diesen Gegensatz setzen wir bewusst ein: wir haben ein Mittel, mit dem wir etwas sehr präzise ausführen können, aber wir wollen dieses Mittel nicht immer einsetzen – sonst verliert es die Aussagekraft.

VW: Im ersten Teil von Grammars of Crisis, wenn das Video mit unseren Sportübungen läuft, spielen wir, was wir hören. Wir doppeln quasi die Tonspur. Das Instrument ist hier das Mittel zum Zweck. Wir könnten das auf einem anderen Instrument nicht so gut nachvollziehen und umsetzen wie auf dem, das wir am besten beherrschen.

Individuen mit Abweichungen auf der Bühne sichtbar machen

Der Kontrollverlust kam zur Sprache: Warum setzen Sie sich in einigen Stücken unvorhersehbaren und körperlich anstrengenden Situationen aus?

MV: Dieser Fokus auf das Individuell-Sein ist für uns sehr wichtig. Wenn ich persönlich ein Konzert besuche, sehe ich erstmal einen Menschen in seiner Rolle als Musiker. Mich fasziniert, jemanden atmen zu hören oder zu beobachten, wie er sich bewegt beim Spielen. Daran merke ich dann: dieser Musiker unterscheidet sich von jenem Musiker. Im klassischen Konzert wird das aber normalerweise möglichst ausgeblendet, denn da geht es um das Klangresultat, das so klingen soll, wie es in den Noten steht. Wir wollen zeigen, dass wir auf der Bühne alle Individuen mit Abweichungen sind.

VW: In unserem Programm „eventuell. limit“ haben wir das zum zentralen Thema gemacht. Da ging es um verschiedene Arten von Grenzen. Es geht uns nicht darum, alles möglichst perfekt zu spielen und alles zu kaschieren, was eben nicht perfekt ist. Alle Performenden sind Menschen und keine Maschinen. Das spannende daran sind auch die Fehler und das Unperfekte.


Manuela Villiger augenBlick for two amplified soprano saxophones, eye-blink sensors, video and electronic sounds, eventuell., UA 2019

In Ihren selbst komponierten Stücken thematisieren Sie oft Ihre eigenen Körper – Körperteile wie Augen oder Füße werden zu visuellem und musikalischem Material. Ist das eine Strategie, um sich als Interpretinnen in den Fokus zu rücken?

MV: Für uns ist das keine Selbstinszenierung. Es geht um eine Auseinandersetzung mit den physischen Voraussetzungen, die wir als Menschen mitbringen. Da sind wir beim Thema Individualität: Was unterscheidet mich von anderen? Es ist offensichtlich der Körper. Für uns ist das schon lange ein Thema und wir möchten das auch in unsere Performances und Konzerte übertragen. Also integrieren wir in einigen Stücken Videosequenzen, die Teile unserer Körper zeigen.


Vera Wahl foot prints for two alto saxophones, video and tape, eventuell., UA 2020

Emotionale Statements – politische Diskurse 

Sie bezeichnen Ihre Konzerte auch als „emotionale Statements“ und „politische Diskurse“. Wie kann man das verstehen?

VW: Wir investieren viel Zeit in unsere Projekte. Dabei diskutieren wir viel und stellen uns Fragen über das, was wir da machen. Diese ganzen – sagen wir – philosophischen Themen und emotionalen Aspekte bringen wir dann auch in die Performances ein. Wir suchen nicht unbedingt irgendein politisches Thema aus und geben dann unsere Meinung preis. Wir stellen eher Fragen: Diese Fragestellungen sind manchmal sehr diffus in den Stücken verborgen. Teilweise arbeiten wir auch mit Textelementen, um das Publikum zur Auseinandersetzung mit bestimmten Themen anzuregen.

MV: Die Überlegung hat sich wohl jeder zeitgenössische Musiker schon gemacht: Wo liegt der Profit der Gesellschaft bei dem, was wir machen? Wenn ich die Gewissheit habe, mich mit Fragestellungen unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen, rechtfertigt das für mich persönlich, dass ich so viel Zeit in diese Projekte investiere. Ich weiß, es gibt Komponistinnen und Musiker, die davon überzeugt sind, dass Musik für sich steht und keine außermusikalischen Kontexte benötigt. Das stimmt für uns so nicht. Nach Konzerten haben wir oft interessante Gespräche mit Leuten, die unsere Fragestellungen ganz anders interpretiert haben als wir. Das ist für uns eine schöne Bestätigung. Denn unsere Performance hat dazu angeregt, sich Gedanken zu machen.
Julian Kämper

 

eventuell.: Manuela Villiger und Vera Wahl ©zVg eventuell.

 

eventuell., Julian SiffertYiran Zhao, Loïc Destremau

Konzerttour:
eventuell. connected2120.05.-01.06.2021 (Zürich, Basel, Olten, Baden und Luzern)Kompositionen von Lara Stanic und Mathieu Corajod

Am 9.Juni 2021, um 20h, tritt das Duo eventuell. mit dem Programm eventuell.fern in der Reihe musica aperta in Winterthur auf, mit Werken von Felix Baumann, Emilio Guim, Mauro Hertig, Simon Steen-Andersen, François Rossé, Matthew Shlomowitz und Alex Mincek.

Sendung:
BR KLASSIK Horizonte, 06.05.2021, 22:05: da sein. Das Saxophon-Duo eventuell., Autor: Julian Kämper, Redaktion: Kristin Amme

Neo-Profiles: eventuell., Manuela Villiger, Vera Wahl, Mauro Hertig, Victor Alexandru Coltea, Lara Stanic, Mathieu CorajodSimon Steen-Andersen, Mauro Hertig

 

Musique de création –  Geheimtipp aus Genf im GdN Basel

Ungewöhnlich ist die Besetzung, und überzeugend : drei Schlagzeuge und zwei Klaviere. Und noch ungewöhnlicher ist die Zusammenarbeit mit dem Cartoon-Kollektiv Hécatombe. In Diĝita verbindet das Genfer Ensemble Batida Musik mit Comics. Zu erleben am 26. November im Gare du Nord, im Saisonschwerpunkt „Romandie“.

Der Schwerpunkt des Basler Bahnhofs für Neue Musik erstreckt sich gleich über drei Saisons, mit drei mal drei Konzerten. Damit stärkt er längerfristig Brücken zur anderen Schweizer Sprachregion. Und gerade jetzt sind diese wichtig: denn die Ensembles aus der frankophonen Schweiz können aufgrund des Lockdowns in der Romandie dort nicht auftreten.

Der neoblog portraitiert die Gastensembles und neo.mx3 begleitet zusammen mit RTS Livesendungen zu den Konzerten.

Folge eins: Ensemble Batida Genève: Ein Portrait

Gabrielle Weber
Zum Gespräch traf ich Jeanne Larrouturou, Perkussionistin und Co-künstlerische Leiterin, per Zoom, im Genfer Lockdown. Larrouturou stammt aus Frankreich und wuchs in Genf auf. Nach dem Studium an der Haute école de musique Genève (HME) spezialisierte sie sich an der Hochschule für Musik Basel (FHNW) auf zeitgenössische Musik. Seither agiert sie als Brückenbauerin zwischen den Szenen der beiden Regionen.

Ensemble Batida: Concert Le Scorpion © Pierre-William Henry

Zur Besetzung von Batida kam es eher zufällig. Als “klassische Bartok-Formation ” sei Batida ursprünglich entstanden, sagt Larrouturou. Sie bezieht sich damit auf Bartoks  Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug von 1937/38 für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuge. Dazu formierten sich 2010 vier der Ensemblemitglieder für ein Schlusskonzert an der HME. Weitere gemeinsame Auftritte folgten. Als eine Perkussionistin die Gruppe für einen Auslandaufenthalt verliess, sprang Larrouturou ein, und blieb anschliessend gleich dabei. Die Kernformation besteht seither unverändert: die drei Perkussionistinnen Jeanne Larrouturou, Alexandra Bellon und Anne Briset ergänzen Viva Sanchez Reinoso und Raphaël Krajka am Klavier.

Ein Glücksfall, denn für die einmalige Besetzung entstanden viele neue Werke. Einerseits von befreundeten KomponistInnen, andererseits durch kollektives Komponieren der Ensemblemitglieder. Und auch das begann zufällig. In einem Projekt mit einer Tanzkompagnie habe der Choreograph Batida gebeten, etwas zu komponieren. “So kamen wir zum ersten Kompositionsauftrag. Und das gemeinsame Komponieren führten wir anschliessend weiter. Als nächstes komponierten wir für ein Projekt mit einem Marionettentheater”, so Larrouturou.

Ensemble Batida, Haïku, kollektive Komposition 2013

“Die Art wie wir komponieren kommt stark aus dem Experimentieren. Wir haben eine Idee der generellen Struktur, eines Konzepts. Dann ‘machen’ wir: wir spielen, wir hören uns gegenseitig an, nehmen uns auf, hören das Aufgezeichnete gemeinsam. Wir strukturieren, organisieren und notieren “. Eine Art der Kreation also, die Improvisation und Notation verbindet. In der Regel werden auch improvisatorische Elemente beibehalten.

musique de création

In einem musikalischen Genre will sich Batida nicht eindeutig verorten. “Wir sehen uns in der zeitgenössischen Musik. Wir mögen aber nicht so sehr was hinter dem Etikett steht”, meint Larrouturou. In Frankreich gäbe es verschiedene gelungenere Bezeichnungen: ‘Musique de création’ sei für sie am treffendesten: “der Begriff ist genug offen, schliesst aber gleichzeitig die alte „zeitgenössische Musik’ aus”.

Ensemble Batida: Mean E, kollektive Komposition 2013

Batida hatte bislang kaum Auftritte in der Deutschen Schweiz. Nach dem Concours Nicati in Bern 2014 folgten Auftritte beim Festival Zeiträume Basel und in Andermatt. Ganz im Gegenteil zur französischen Schweiz wo das Ensemble an vielen Festivals präsent ist, wie auch zum Ausland. In Frankreich, Russland, Portugal, Zypern waren sie bereits auf Tournee. Eine weitere – mit Diĝita in die USA – ist geplant (und wegen der Pandemie bereits schon  verschoben).

Wie erklärt sich Larrouturou diesen überschaubaren Austausch der Sprachregionen?

“Ich lebe seit zirka vier Jahren in Basel und habe mein Netzwerk in Basel, Genf und Lausanne. Mich erstaunt immer wieder, dass die Szenen sich gegenseitig wenig kennen. An der Hochschule in Basel stellte ich fest, dass es grundsätzliche Unterschiede in der ästhetischen Ausrichtung gab. An gewissen Musikschaffenden kommt man in Basel nicht vorbei, die waren aber in der Romandie kaum präsent. Die französische Schweiz ist stärker mit Frankreich, die deutsche Schweiz stärker mit Deutschland vernetzt”, meint Larrouturou.

Zusammen mit dem Komponisten Kevin Juillerat, Basler Studienkollege und in Lausanne domiziliert, kuratiert Larrouturou die Lausanner Konzertreihe Fracanaüm. Dort versuchen die beiden solche Gräben zu überwinden. ” Die Frage woher jemand kommt stellen wir uns gar nicht. Wir laden unser Netzwerk aus beiden Regionen ein. Aus solchen kleinen Initiativen entstehen Beziehungen auf lange Sicht “, ist Larrouturou überzeugt.

Batida geht es aber auch um Brücken zwischen den Sparten. Die meisten Projekte sind  transdisziplinär angelegt und entstehen in Kollaboration mit weiteren Kunstschaffenden, mit Tanz, Marionettentheater, Architektur, Video oder Comiczeichnern.

Mit dem Genfer Zeichnerkollektiv Hécatombe kollaborieren Batida seit einem ersten gemeinsamen Projekt 2016 laufend.

Ensemble Batida & Hécatombe: Oblikvaj, kollektive Komposition 2016-2018

“Beim ersten gemeinsamen Projekt Oblikvaj (2016-2018 ) stellte sich gleich heraus, dass wir dieselbe Wellenlänge hatten. Jedes der fünf Hécatombe-Mitglieder schuf eine grafische Partitur, je einen 24seitigen schwarz-weiss Comic. Batida reagierte darauf mit kollektiven Kompositionen. Das funktionierte blendend”. Später gab es dann Konzerte mit Live-Begegnungen.

In Diĝita geht es nun erstmals um den gemeinsamen Kreationsprozess. “Im Sommer 2019 vergruben wir uns alle zusammen in einer 14tägigen Retraite in einem alten Hof ‘au milieu de nulle part’. Wir brachten keine Instrumente mit, sondern sammelten vorhandene Klänge und zeichneten diese auf, bspw. von grossen Maschinen, Traktoren und Motoren.”

Diĝita, Trailer ©Gare du Nord, Batida & Hécatombe

Der Titel Diĝita steht einerseits konkret für die ‘Finger’, andererseits für digital vs. analog. Die aufgezeichneten und gesampelten Klänge verweisen auf das Digitale, die Musikerperformer auf die Arbeit mit Fingern. Die Musiker spielen innerhalb eines transparenten Kubus. Die Wände sind Screens, auf die 3D-Videos der Zeichner projiziert werden: lebensgrosse Comicfiguren auf den Videos überlagern und verfremden so die realen Musikerkörper im Kubus.

Diĝita konnte am 31. Oktober noch ein Konzert in Lausanne geben: “Das war ein Erlebnis in extremis. Uns war klar, dass wir sobald nicht mehr live spielen würden und wir haben den Moment noch stärker ausgekostet” meint Larrouturou dazu. Die weitere Diĝita -Tournee mit Folgekonzerten in Genf ist nun durch den Lockdown der Romandie unterbrochen.

En passant stellte sich im Gespräch heraus, dass Batida dieses Jahr gerade sein zehnjähriges Bestehen feiert. Ein Fest mit Partnern und Publikum in Genf sei geplant, aufgrund der Pandemie werde es aber sicherlich erst 2021 stattfinden.
Gabrielle Weber

 

Ensemble Batida Portrait ©Batida

Ensemble Batida: Klaviere: Viva Sanchez Reinoso, Raphaël Krajka
Percussion; Jeanne Larrouturou, Alexandra Bellon, Anne Briset
Diĝita: Video: Giuseppe Greco, Ton: David Poissonnier

Gare du Nord: Batida & Hécatombe: Diĝita, 26.11.20, 20h
(aufgrund des Basler Lockdowns spielten sie 2x für 15 Personen, mit Livestream für alle anderen)

Ensemble Batida, FracanaümKevin Juillerat, haute école de musique genève – neuchâtel, Hochschule Musik Basel, Hécatombe,

Sendung RTS:
l’écho des pavanes, 20.11.20, rédaction Anne Gillot, Gespräch mit Désirée Meiser, Intendantin Gare du Nord
Sendung SRF 2 Kultur:
in: Musik unserer Zeit zu neo.mx3, 21.10.20, Redaktion Florian Hauser / Gabrielle Weber

neo-Profiles: Ensemble Batida, Gare du NordAssociation Amalthea, Kevin Juillerat

 

“Das Universum der Klänge ist unendlich”

Hier sollte zunächst ein rundum strahlendes Geburtstagsportrait zu 10 Jahren ensemble proton bern stehen. Dazu gehörten zahlreiche Veranstaltungshinweise zur Jubiläumssaison.

Mit Martin Bliggenstorfer, dem Managing director, führte Christian Fluri deshalb kurz nach dem Lockdown der ersten Pandemiewelle ein Gespräch. Zu diesem Zeitpunkt äusserte er sich voller Zuversicht und Tatendrang.

Jetzt, kurz vor der ursprünglich geplanten grossen Geburtstagsfeier am 16. November, stecken wir mitten in der zweiten Welle. Und sie trifft uns mit unerwarteter Heftigkeit.

Wie sich die neue Situation aufs ensemble proton bern und seine Jubiläumssaison auswirkt, besprach ich daher mit Bliggenstorfer nochmals. In einem zweiten Gespräch, direkt nach der Bekanntgabe der neuen Vorgaben des Bundesrates vom 18. Oktober. Seither ändern sich die Maßnahmen laufend weiter und die meisten Aufführungen sind faktisch unmöglich geworden.

Das ensemble proton bern steht damit im Beitrag auch stellvertretend für viele Ensembles, Musikschaffende und Veranstalter, die plötzlich mit Absagen, Verschiebungen und einer unplanbaren Zukunft konfrontiert sind.

ensemble proton bern: Gruppenportrait © Oliver Oettli


Christian Fluri
Das ensemble proton bern forscht mit grosser Passion seit zehn Jahren nach neuen Klängen, neuen Stücken und neuen Komponisten wie Komponistinnen. Es gehört international zu den gefragtesten Ensembles und wird oft an Festivals und zu Konzerten in- und ausserhalb Europas eingeladen.

Seit seiner Gründung 2010 hat das in der Dampfzentrale Bern domizilierte Ensemble in 128 Konzerten 273 Werke von 180 Komponist*innen gespielt, 175 davon waren Uraufführungen. Es trat vor grossem Publikum in der Mariinsky Concert Hall in St. Petersburg auf und tourte nebst weiteren Highlights an der Westküste der USA.

Während der ersten Coronawelle hat das Ensemble noch einigermaßen Glück gehabt, wie Managing Director, Oboist und Lupophonspieler Martin Bliggenstorfer im Gespräch sagt: “Gerade vor dem Lockdown konnten wir in der Dampfzentrale noch das Konzert protonwerk no. 9 spielen. Die Wiederholung im Gare du Nord Basel mussten wir aber bereits absagen.”

protonwerk, das ist ein Förderprogramm für junge Komponist*innen, denen das Ensemble Kompositionen in Auftrag gibt.


Adrian Nagel, Netzwerk, UA: protonwerk no.7 / ensemble proton bern 2017

“Unser auf Mai geplantes Programm terrible ten, ein Konzert mit Uraufführungen von Thomas Kessler (My lady soul) sowie Michael Pelzel und Stefan Wirth, konnten wir kurzfristig verschieben und bereits im September spielen. So ging zumindest nichts von unseren geplanten Programmen ganz verloren“ freut sich Bliggenstorfer.

Gemeinsames Musizieren vermisst

Den Wiedereinstieg ins Konzertleben nach dem Lockdown konnte das Ensemble kaum erwarten. terrible ten war dann auch etwas ganz Besonderes: erstmals wieder gemeinsam zu musizieren und das Musikmachen mit dem Publikum live zu teilen, sei für alle Beteiligten ein Erlebnis gewesen, meint Bliggentorfer.


Thomas Kessler, My lady soul, UA ensemble proton bern 2019

Auch wenn die Musiker*innen des Ensembles die Zeit des Lockdowns produktiv nutzen konnten. “Was uns gefehlt hat, war das gemeinsame Musizieren, der direkte Kontakt miteinander, die Proben mit den Konzerten vor Augen. Zugleich hatte es aber auch etwas Gutes, für ein paar Wochen Kopf und Körper etwas ausruhen zu lassen.”

Existenzangst musste das Ensemble bis zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise keine haben. “Wir mussten für ausgefallene Konzerte keine Subventionen und Unterstützungsbeiträge zurückgeben. So konnten wir unsere Honorare und die unserer Gäste auszahlen.” Bliggenstorfer ist sehr dankbar für die grosszügige Haltung der Geldgeber in der Schweiz.

“Das Universum der Klänge ist unendlich..”

Das ensemble proton bern  ist also  nach wie vor bestens aufgestellt und will sich stetig weiter entwickeln. Dies jedoch ohne seinen langjährigen Dirigenten Matthias Kuhn, der seit der Gründung dabei war. “Er will sich künstlerisch neu ausrichten.” Das versteht Bliggenstorfer, so wichtig Kuhn für den Aufbau des jungen Ensembles gewesen ist. Künftig arbeitet das Ensemble mit achtköpfiger Stammbesetzung und ohne festen Dirigenten. Kammermusikalische Projekte sollen so vorangetrieben werden, wie auch Konzerte und Auftritte mit grösseren Besetzungen und Gastdirigenten.

Ungebrochen ist die Leidenschaft für die Neue Musik in ihren unterschiedlichen Stilen und Ausrichtungen. Denn Scheuklappen hat das ensemble proton bern keine. Es zeigt mit seiner Spielfreude, wie lustvoll, lebendig und vital zeitgenössiche Musik ist. “Das Universum der Klänge und deren Kombinationsmöglichkeiten ist unendlich”, weiss Bliggenstorfer: “Es gibt ein Leben lang Neues zu entdecken”.


Verschiedene Komponisten click & faun, ensemble proton bern 2019

Auch seien die Klangmöglichkeiten der neuen Instrumente noch lange nicht ausgeschöpft: so die von Richard Haynes wiederentdeckte Klarinette d’amore, die von Martin Bliggenstorfer und Elise Jacoberger gespielten Doppelrohrblattinstrumente Lupophon und Kontraforte, auch Maximilian Hafts Strohgeige – oder die Vielfalt im Bereich der elektronischen Klangerzeugung. Das ensemble proton bern wird weiter forschen.
Christian Fluri

2. Gespräch am 21. Oktober 2020:
Gabrielle Weber
Trotz der wachsenden Unsicherheit und drohender Einschränkungen war Bliggenstorfer am 21. Oktober noch zuversichtlich, Konzerte so lange als möglich durchzuführen: “Kulturelle Veranstaltungen sollten nicht abgesagt werden, solange sie nicht verboten sind. Natürlich muss das Schutzkonzept perfekt umgesetzt sein. Das funktionierte bislang auch gut.”

Fest standen noch Auftritte als main act im Jubiläumsprogramm „5 Jahre Kultur-Kino Rex“ zusammen mit zwei Visual Artists. Da sollte der Komponist Ennio Morricone von einer unbekannten Seite beleuchtet werden. „Morricone kennt man ja landläufig als Filmmusikkomponisten – er war aber auch in der ‘Kunstmusik’ aktiv, u.a. als Trompeter der Gruppo di improvisazzione Nuova Consonanza, in den 60er/70er Jahren”.

Mit den neuen Berner Auflagen vom 23. Oktober – Kinos und Museen waren per sofort zu schliessen – mussten die Konzerte aber wenig später abgesagt werden.

“fette fête” – das Konzert zum 10 Jährigen Bestehen des Ensembles

Die “fette fête” war für den 16. November in Bern geplant: eine grosse Geburtstagsfeier mit Uraufführungen und Werken von Louis Andriessen, Christian Henking und Annette Schmucki. Ausserdem vergab das Ensemble einen Kompositionsauftrag an den jungen Schweizer Komponisten Tobias Krebs. “Wir freuen uns ausserordentlich darüber – er ist ein hervorragender junger Komponist, den wir von protonwerk kennen”.


Tobias Krebs, ambra, UA Duo Vers 2018

An einer Durchführung hielt Bliggenstorfer beim Gespräch noch fest, denn “solange es möglich ist, Kunst live erlebbar zu machen, wollen wir die Möglichkeit zu Konzertieren nicht aufgeben. Wir wollen verantwortungsvoll mit der Situation umgehen, indem wir das Schutzkonzept einhalten”.

Auf das Konzert muss nun leider – seit den neuesten Auflagen – doch ganz verzichtet werden (Stand 30.10.20). Es soll im Februar 2021 nachgeholt werden (tbc.)..

Eine weitere Planungsunsicherheit kommt für zukünftige Projekte mit Gästen aus dem Ausland hinzu: “Wenn sie nicht einreisen können, müssen wir nach Ersatz suchen.” Und geplante Auslandengagements fallen vorläufig aus. Für die Jubiläumssaison hatte das Ensemble Einladungen bspw. nach New York und Salzburg.

Was das alles finanziell bedeutet,  ist noch nicht abzuschätzen: “Momentan stehen wir finanziell immer noch gut da. Aber ungewiss sind die mittel- bis langfristigen Auswirkung der Krise auf die Förderlandschaft.”

Das ensemble proton bern zeigt sich weiterhin voller Tatendrang. Forscher- und Innovationsgeist sind ungebrochen, Spiel- und Entdeckungslust ebenso. Wie aber die langfristigen Folgen für Konzerte, und insbesondere die weitere internationale Positionierung, ist gerade nicht abzusehen.
Gabrielle Weber

 

ensemble proton bern Gruppenportrait © Oliver Oettli

 

Konzerte Jubiläumssaison 20/21 &aktuelle updates

30.Oktober: The dark side of Ennio Morricone, Kino Rex Bern: ABGESAGT

16. November: “fette fête” – 10Jahre proton, Dampfzentrale Bern: ABGESAGT: VERSCHIEBEDATUM 2. Februar 2021 (tbc)**
17. November, 20h, Konzert Gare du Nord Basel: protonwerk nr.9 (Wiederaufnahme)

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 28.10.20: Redaktion Florian Hauser, Gespräch zu My lady soul, mit Thomas Kessler, Martin Bliggenstorfer, Bettina Berger, Vera Schnider
Neue Musik im Konzert
, 28.10.20: My lady soul mit terrible ten, Konzertaufzeichnung vom 15.9.20, Dampfzentrale Bern, Redaktion Florian Hauser.
Musikmagazin, 25.7.20: u.a. Richard Haynes, Redaktion Florian Hauser

**DATUM OFFEN: Neue Musik im Konzert: “fette fête”, Konzertaufzeichnung, Dampfzentrale Bern, Redaktion Florian Hauser.

ensemble proton bern, Martin Bliggenstorfer, Matthias Kuhn, Richard HaynesHanspeter Kyburz, Louis Andriessen

neo-profiles: ensemble proton bern, Thomas Kessler, Michael Pelzel, Stefan Wirth, Christian Henking, Annette SchmuckiTobias KrebsTobias Krebs

“der grösste Beethoven-Fan aller Zeiten..”

Michael Wertmüller schreibt Beethovens Fragment der 10. Sinfonie weiter. Zu hören ist das Resultat in der Kölner Philharmonie am 14. Oktober. An den Donaueschinger Musiktagen* kommt gleich danach ein neues Werk zu Uraufführung: Ein regelrechter Sprint fürs SWR Sinfonieorchester, das sich in reduzierter Grösse den Bedingungen erhöhter Hygiene-Ansprüche zu stellen hat.

Der Wahlberliner vermischt meisterhaft Musik-Stile, Genres, Formate und Formationen. Er ist zugleich als Jazzschlagzeuger wie auch als Komponist international unterwegs. Und seine Stücke sind stets schrill, schnell, und hochkomplex. Damit rüttelt er permanent an Neue Musik-Clichés und lässt sich nirgends verorten.

Wertmüller und Beethoven oder Wertmüller und die Pandemieauflagen: geht das?

Ob und wie, verrät Wertmüller im Interview per Zoom nach Frankfurt, wo er sich gerade für Besprechungen zu einer kommenden Musiktheaterproduktion aufhielt.

Full blast, Peter Broetzmann sax, cl Marino Pliakas e-b Michael Wertmueller dr

Gabrielle Weber
Sie sind in Frankfurt, Sie arbeiten wieder mit Leuten zusammen, reisen.. Hat sich Ihr Arbeiten seit der Pandemie verändert?  Mehr online, weniger Reisen..?

Mein Arbeiten als Komponist hat sich nicht verändert – ich war schon vor Corona auch mal wochenlang allein zu Hause und habe niemanden gesehen. Natürlich gibt es weniger Treffen, arbeite ich mehr per Zoom – wie alle. Bis auf das Wegbrechen von Live-Auftritten hat sich wenig verändert.

Ist an Live Konzerten Vieles ausgefallen?

In den letzten fünfzehn Jahren machte ich quasi ein Cross-Fade durch: das Verhältnis kippte von vielen Tourneen und temporärem Komponieren ins Gegenteil. Deshalb war es für mich nicht so einschneidend: Nur eine grosse USA-Tournee mit meinem Trio wurde abgesagt.

Ihr Trio: Full Blast?

Ja genau, meine Jazzband mit Peter Brötzmann und Marino Pliakas. Es war eine grosse USA-Tournee geplant, quer durchs Land, von Ost nach West. Diese Absage schmerzt. Zumal wir in der Vergangenheit einige erfolgreiche Tourneen in den Staaten hatten. Wir wurden an diverse Festivals eingeladen und waren oft ohne staatliche Unterstützung, quasi selbsttragend unterwegs.


Michael Wertmüller, Full blast, Suzy, 2008

Sie stecken mitten in den Vorbereitungen zu Ihrer 10. Sinfonie in Köln.. Ihr Stück ist in eine Trilogie** eingebunden.. Teil eins wurde aufgrund der Pandemie auf später verschoben, Teil zwei anders konzipiert: gab’s auch bei Ihrem Projekt unsichere Momente?

Interessanterweise nicht. Es spielt ja in der Philharmonie. Die ist riesengross, hat 2100 Plätze. Und das Projekt war immer kammermusikalisch angelegt. Ob noch was kommt, weiss ich nicht…Es werden aber auch nur 200 Personen reingelassen.

Es sind ja noch drei Wochen bis dahin… wie sieht ihr Projekt aus?

Mein Stück, die 10. Sinfonie, findet im grossen Saal statt. Es ist ein konzertantes Musiktheater. Ich vertonte einzelne Passagen aus einem Text von Gesine Danckwart, einer jüngeren Berliner Autorin. Es interpretieren drei Sängerinnen, zwei Streichquartette und zwei Ensembles. Insgesamt sind es um die 25 Musikerinnen und Musiker.

Daneben gibt’s ein anderes, getrenntes Projekt, eine Klanginstallation. Die ist an vier Tagen zu erleben, im ganzen Haus verteilt.

Sie komponierten Beethovens 10. weiter?

Das war eher ein Arbeitstitel. Es gibt ja nur kleinste Fragmente, nicht mehr als vier-fünf-taktige Skizzen. Ich verwendete nur ein klitzekleines Thema. Beethoven ist in diesem Projekt relativ irrelevant für die Töne an sich. Novoflot, die fürs Projekt verantwortliche Opernkompanie, stellte sich und mir die (grosse) Frage: wie würde Beethoven heute klingen?

Relevant ist für mich, dass ich überhaupt zu Beethoven gefragt wurde. Denn ich wäre fast beleidigt gewesen, wenn ich zum grossen Beethoven-Jubiläum nichts hätte machen können. Ich bin der grösste Beethoven-Fan aller Zeiten.

“..ich bin der grösste Beethoven-Fan aller Zeiten..”

Wie kam es zu dieser Begeisterung?

Ich war schon als Kind Fan von seiner Musik. Wie auch von Miles Davis und John Coltrane.. Ich bin eigentlich ein einfacher, recht romantisch veranlagter Typ. Ich kann mich begeistern..

Portrait Michael Wertmüller

Äussert sich die Begeisterung in Ihrem Komponieren?

Beethoven ist dauernd im Unterbewusstsein präsent. Die Musik, die ich liebe, die begleitet mich immer und überall, auch im Alltag. Auch Coltrane, Miles, oder Bruckner und Shostakovich. Das fliesst automatisch in meine eigene Musik ein, sei es, dass ich spiele oder dass ich komponiere.

Wird’s in Köln konkreter oder bleibt’s beim Unterbewussten?

Es bleibt beim Unterbewussten. Die Frage wie Beethoven heute komponieren würde, beantwortet unsere Besetzung: Johnny La Marama, eine angesagte Berliner Jazzband, dazu das Ensemble of Nomades, das bringt die Neue Musik ein, und drei Sängerinnen mit klassisch-romantischen Background. Das sind die drei Welten, die für mich heutzutage gültig sind. Und das zu verbinden, könnte sicherlich etwas sein, was Beethoven heute gewollt hätte.

Es heisst oft, die Musiker seien restlos überfordert, wenn Sie Ihre Stücke zu interpretieren haben, und das Publikum auch.. wird das diesmal so sein?

Die Musik wird relativ verträglich, sogar gefällig  sein. Sehr harmonisch und auch tänzerisch. Wehtun könnte höchstens die Intensität. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich dem Publikum viel zutrauen kann – ich unterschätze es nicht.


Michael Wertmüller: Musikfabrik Köln, Antagonisme contrôlé, 2014

In Donaueschingen gibt es gleich danach ein neues Stück von Ihnen in der Baarsporthalle zu hören…

Donaueschingen ist jedes Mal eine grosse Herausforderung. Diese ganze Tradition, immer wieder. Auch wenn ich schon öfters eingeladen wurde, überlege ich mir dafür immer extra etwas dazu.

..ein “grössenwahnsinniges Stück..”

Das Stück hatte sich den Bedingungen erhöhter Hygiene-Ansprüche zu stellen.. eine Kammermusikminiatur..

Es ist absolut keine Miniatur. Ganz im Gegenteil: es ist “grössenwahnsinnig” geworden. Und zwar absichtlich. Wegen dieser Corona-Betroffenheit. Die ist überall und die habe auch ich.

“Grössenwahnsinnig”? Dann waren die pandemiebedingten neuen Vorgaben inspirierend, nicht ärgerlich?

Die Besetzung wurde reduziert, das normale Sinfonieorchester quasi halbiert. Damit hatte ich keine Probleme. Ich habe das Stück solistisch besetzt und extra virtuos geschrieben. Es wird eindringlich, pathetisch, schrill und sehr virtuos. Ich habe keine Mühe damit, zu antizipieren. Als Musiker, als Künstler müssen wir antizipieren können, sonst sind wir verloren.

..antizipieren..?

Ich nehme die Situation ernst und habe vollstes Vertrauen in die Regierung, in die Experten. Jetzt gilt es aber durchzuhalten und konsequent zu bleiben.

Und die Dinge, die ich jetzt machen darf – wir können ja momentan froh sein, wenn überhaupt Kultur stattfindet-, möchte ich richtig machen: wenn schon, denn schon. Ich möchte jetzt aufschreien, richtig laut und richtig wild – das tue ich mit meinem Stück. Es wird ein Schrei, ein Aufschrei.
Interview: Gabrielle Weber


Michael Wertmüller, Zeitschrei für Piano, Bass, Schlagzeug, Steamboat Switzerland, 2015

———————————————————–

**im Rahmen des Berliner Projekts Labor Beethoven 2020 – Festival zeitgenössischer Musik zum Beethoven-Jubiläum, in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste Berlin


#3 Die 10. Sinfonie, 14.10.2020, 20h: Philharmonie Köln: Novoflot Opernkompanie, Ludwig van Beethoven, Michael Wertmüller.
Weitere Vorstellungen sind im Dezember in Berlin geplant (Daten&Ort folgen später)

Neues Werk Donaueschinger Musiktage, 16.10.2020, 18h / 21h*:
SWR Symphonieorchester, Eröffnungskonzert, Dirigent Titus Engel: Paul Hindemith, Kammermusik Nr.1 (1922), Michael Wertmüller, Neues Werk / UA; Oliver Schneller, The New City / UA, Lula Romero, displaced / UA, Klaus Lang, Neues Werk / UA, Cathy Milliken, Neues Werk / UA

*DONAUESCHINGER MUSIKTAGE kurzfristig ABGESAGT (12.10.20):
Am Freitag, 16. Oktober um 20 Uhr, sendet SWR2
einen Probenmitschnitt des Eröffnungskonzerts.

Michael Wertmüller, SWR Symphonieorchester, Titus Engel,  Novoflot Opernkompanie Berlin, Steamboat SwitzerlandPeter BrötzmannDonaueschinger Musiktage, Kölner Philharmonie, Gesine Danckwart, Johnny La Marama, Ensemble of Nomades

Neo-Profiles: Michael Wertmüller, Steamboat Switzerland, Donaueschinger Musiktage

Ein Prost auf die Neue Musik!

RTR feiert den Launch von neo.mx3 mit einem Extrakonzert am 11. Oktober in Chur – zusammen mit dem Bündner Ensemble ö!. Dabei werden zahlreiche Werke von Schweizer Musikschaffenden aufgeführt. RTR zeichnet sie per Video auf und stellt sie anschliessend umgehend auf neo.mx3 und rtr.ch/musica zur Verfügung.

Thomas Meyer im Gespräch mit dem Geiger und Komponisten David Sontòn Caflisch, künstlerischer Leiter des Ensemble ö!.


Asia Ahmetjanova, La voix, UA ensemble ö!, Chur 2020

Seit 2002 existiert das Ensemble ö! Es entstand damals aus einem ebenfalls von Ihnen 1991 gegründeten Streicherensemble (Musicuria). Sie waren damals noch im Gymnasium… Was war Ihr Anliegen?

Schon bei Musicuria integrierten wir in jedem Programm ein Stück Neue Musik, ja manchmal auch eine Uraufführung. Das Interesse verlagerte sich dann immer mehr in diese Richtung, und schliesslich entstand daraus mit einigen Streichern von Musicuria sowie Bläsern, Klavier und Schlagzeug das neue Ensemble ö!.

David Sontòn-Caflisch & Ensemble ö!

Was bedeutet der ungewöhnliche Name?

Als ich das Ensemble präsentierte und dabei sagte, man solle den Unterschied zwischen E und U nicht mehr machen, hat die Bündner Presse das eigenwillig interpretiert: e und u ergäben zusammen eu und das werde, französisch ausgesprochen, zum ö. Ursprünglich jedoch dachte ich an das ö!, mit dem man sich im Bündnerland zuprostet. Es ist schlicht ein Prost auf die Neue Musik.

In der Programmation nehmen Sie sich jeweils bestimmte Themen vor.

Wir setzen uns pro Saison ein Thema, das wir mit sechs Programmen im Detail beleuchten. Es geht mir als künstlerischem Leiter nicht nur darum, gute Stücke auszuwählen, sondern auch gescheite Programme zu machen, die eine Geschichte erzählen und so aufgebaut sind, als gäbe es pro Abend ein grosses Stück, an dem verschiedene Komponisten beteiligt sind.


Stephanie Hänsler, Im Begriffe, ensemble ö! 2017

Die Weite des Alls und die Einzigartigkeit der Kunst..

Die laufende Saison steht unter dem Motto „Sonnen“.

…ein weites Feld. Wenn man in den Sternenhimmel schaut, vergisst man ja häufig, dass fast alle diese leuchtenden Punkt Sonnen sind. Jede von ihnen hat ihre eigene Welt, und diese Welten sind unglaublich weit voneinander entfernt. Unser nächster Nachbar schon ist über vier Lichtjahre weit weg. Das zeigt einerseits, wie klein, andererseits, wie einzigartig wir sind. Wir sind in der Lage, die Welt über Kunst bzw. über Musik zu reflektieren! Die Weite des Alls steht also neben der Einzigartigkeit der Kunst.

Diese Aspekte beleuchten Sie auf unterschiedliche Weise: Die Konzerte heissen „Lichtjahre“, „Unzugänglichkeit“, „Energie“, „Opium“… Wie gestalten Sie die Programme?

Beim Programm „Lichtjahre“ jetzt im September standen einander beispielsweise Masse und Leere gegenüber: Die Masse von einer Milliarde Sternen kann man sich gar nicht vorstellen; zwischen den Sternen aber ist eine grosse Leere. Zwei Werke des Konzerts (von Vladimir Tarnopolski und Gwyn Pritchard) sind unglaublich dicht komponiert, so dicht, dass man nicht jeder Note folgen kann, sondern nur einer Gesamtidee. Die Stücke von Luciano Berio und von Roland Moser arbeiten hingegen mit der Leere und sind sehr leise. Jenes von Marc-André Dalbavie schliesslich kombiniert beide Elemente.


Jannis Xenakis, Dikhthas, Ensemble ö! 2017

Neu ist, dass Sie für diese Programme mit einem Kuratorium zusammenarbeiten.

Bisher hatte ich mich jeweils intensiv in die Materie eingelesen. Dafür wollte ich nun Fachleute beiziehen. Dieses Jahr sind das ein Philosoph/Psychologe, ein Journalist, eine Schriftstellerin und ein Astrophysiker. Dadurch kommt viel Fachwissen zusammen, um die Themen, die ich wähle, zu vertiefen. In unserer ersten Sitzung gingen wir zusammen jedes Programm im Detail durch und liessen Aspekte aus allen Disziplinen einfliessen. Daraus entstehen dann kurze literarische Texte, die im Konzert eingeflochten werden. Ich möchte dem Publikum nichts rein Theoretisches zumuten; deshalb setzt die Schriftstellerin die Gedanken literarisch um. Die Texte regen aber auch dazu an, das nächste Stück intensiver zu erleben. Sie bilden einen roten Faden zur Musik, die immer noch im Vordergrund steht. Weiterhin gibt es vor dem Konzert Einführungen, in denen ich stärker auf die Musik eingehe.

Die Diskussionen gehen also den Konzerten voraus.

In diesem Jahr schon, es ist ein Pilotprojekt. Später wollen wir diese Sitzungstage auch für die Musiker und fürs Publikum öffnen. Das könnte mit der Zeit eine Begleitung zu den Konzerten werden.

Es handelt sich also um ein vermittelndes und interdisziplinäres Projekt…

Vielleicht eher „transdisziplinär“. Es sind mehrere Disziplinen, die die Musik vertiefen sollen. Es ist ja immer noch etwas in Mode, dass man Konzerte interdisziplinär mit Videoelementen oder Lichtevents anreichert. Das ist berechtigt, aber man muss aufpassen, dass es nicht nur eine äusserliche Ablenkung bleibt. Unsere Musik braucht eine ziemliche Konzentration und soll intelligent kombiniert werden. Da kann man nicht bloss Unterhaltungselemente hinzufügen.

Drei Komponisten tauchen mehrmals auf: der Franzose Tristan Murail, der Österreicher Klaus Lang und der 2017 verstorbene Schweizer Klaus Huber.

Murail schreibt eine sehr sinnliche Musik. Es ist mir wichtig, diesen Aspekt zu betonen, weil gern behauptet wird, dass Neue Musik zu abstrakt sei. Bei Lang fasziniert mich, wie er auf ganz eigene Weise musikalische Weiten schafft. Und bei Huber erinnern wir an einen grossen Schweizer Komponisten, der zurzeit nicht so häufig gespielt wird. Zeitlebens hat er sich mit der Rolle des kleinen Menschen im Universum auseinandergesetzt. Bei seinem Flötensolostück „Ein Hauch von Unzeit“ hat er übrigens einst die Interpreten aufgefordert, neue Versionen herzustellen. Wir stellen gleich zwei neue Ensemblefassungen davon vor.


Klaus Huber, Ein Hauch von Unzeit IV (Fassung für Sopran, Klavier, Flöte, Klarinette und Orgel), Ensemble Neue Horizonte Bern, 1976

Mit den Uraufführungen von Duri Collenberg und Martin Derungs verweisen Sie auch auf Ihre Bündner Ursprünge…

Die beiden stehen für die jüngste und die älteste Generation von Bündner Komponisten, dies innerhalb der „Tuns contemporans“ (Zeitgenössische Töne), unserer Biennale, die wir vor zwei Jahren zusammen mit der Kammerphilharmonie Graubünden gegründet haben. Wir fanden es nötig, dass sich die beiden professionellen Klangkörper des Kantons zusammenschliessen. Es soll die Schwellenangst gegenüber Neuer Musik nehmen. Der Finne Magnus Lindberg wird nächstes Mal als Composer-in-residence dabei sein.

Ladies only!

Für das Festival lancierten Sie auch einen Call for Scores… An wen richtete er sich?

An Komponistinnen jeden Alters aus aller Welt. Das Motto lautet: “Ladies only!”. Es sind 126 Partituren eingetroffen, von denen wir drei bei der Biennale aufführen. Aus diesem Riesenfundus werde ich aber sicher noch das eine oder andere in einer künftigen Saison berücksichtigen.
Interview: Thomas Meyer 

Ensemble ö!-Verbeugung

Concert spezial launch neo.mx3 &Ensemble ö!. 11. Oktober 2020:
Stephanie Hänsler: Im Begriffe, Alfred Knüsel: Mischzonen, Asia Ahmetjanova: La voix, David Sontòn Caflisch: aqua micans (danach als Video auf neo.mx3 und rtr.ch/musica).

Ensemble ö!: Saison 20/21
Tuns contemporans, Biennale für Neue Musik Chur: 9.-11. April 2021

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 11.11.20.: ö! Ensemble für neue musik, Redaktion Florian Hauser

Stephanie Haensler, Asia AhmetjanovaMagnus Lindberg, Tristan MurailVladimir Tarnopolski, Gwyn Pritchard, Klaus LangMarc-André DalbavieAsia Ahmetjanova

Neo-profiles: Ensemble ö!, David Sontòn CaflischKlaus Huber, Stephanie Hänsler, Martin Derungs, Roland Moser, Alfred Knüsel

«neuen Stimmen Gehör verschaffen…»

Folge 3 der Neoblog-Portraits zum Schweizer Musikpreis 2020:

Swiss Chamber Concerts (SCC), so heisst die erste und einzige die ganze Schweiz umspannende Konzertserie mit viel Neuer Musik. Seit Beginn im Jahr 1999 präsentiert sie laufend Uraufführungen aus allen Landesteilen – insgesamt sind es bereits gegen 200. Nun erhielten die SCC den Schweizer Musikpreis 2020.

Swiss Chamber Concerts live © Miguel Bueno

Gabrielle Weber
Den Ausschlag zum Start der Konzertreihe Swiss Chamber Concerts gab die enge musikalische Freundschaft der drei Gründungsmitglieder.

Den Genfer Cellisten Daniel Haefliger, den Basler Flötisten Felix Renggli und Jürg Dähler, Geiger und Bratschist in Zürich, verband die Vision, ihre eigenen, in den drei Städten bestehenden Kammermusikreihen miteinander zu vernetzen. Im Herbst 1999 fand dann die erste nationale Konzertserie statt, unter Mitwirkung von Heinz Holliger, Wegbegleiter bis heute.

Daniel Haefliger sprach mit mir per Zoom aus Genf über Einzigartigkeit und Herausforderungen der SCC. Das Gespräch führten wir auf Französisch. Haefliger ist nicht nur als Cellist ständig unterwegs; zum Gespräch fand er sich nach einer kleinen Schweiz-Rundreise im Zug, den er als seine zweite Heimat und Arbeitsort bezeichnet: zunächst Bern, zur Koordinierung der Saison der SCC, dann Sion, zur Festlegung des Streichquartettunterrichts der Haute Ecole de Musique, und zurück in Genf zur Arbeit an der Homepage der SCC.

Herzliche Gratulation zum Musikpreis! Waren Sie überrascht? Was bedeutet für Sie dieser Preis ?

Wir waren sehr überrascht. Denn für unsere Arbeit erhalten wir in der Regel wenig Anerkennung durch die Institutionen, obwohl unser Publikum zahlreich und begeistert ist. Wir kreieren mit unserer Reihe übers ganze Jahr eine Verbindung zwischen den verschiedenen Sprachregionen und verschaffen regelmässig neuen Stimmen Gehör. Das ist eine komplexe Herausforderung, bei der wir vielfältigen Widerständen begegnen. Denn die Schweizer Musikszene ist in viele lokale Einheiten unterteilt, die kaum zusammenarbeiten. Unser Ideal ist: die gesamte Schweiz in einem gemeinsamen musikalischen Projekt zu verbinden.

Was inspiriert Sie?

Zweierlei: Zum einen als Cellist der musikalische Dialog mit aussergewöhnlichen Solisten und Solistinnen – auf der Bühne und persönlich ausserhalb; zum andern als Inhaber des Lehrstuhls für Kammermusik an der Musikhochschule Lausanne (site de Sion) meine Arbeit mit jungen Musikern und Musikerinnen. In beiden Bereichen versuche ich zu kommunizieren, zu vermitteln und zu vernetzen über Alter, Sprachen und Kulturen hinaus.

“La jeunesse m’inspire et me passionne..”

Brachte die Pandemie Auswirkungen auf die SCC mit sich?

Es ging uns ähnlich wie allen. Wir mussten alle Konzerte gegen Ende der Saison absagen. Direkt nach den Lockerungen spielten wir zusammen mit Heinz Holliger und Thomas Zehetmair ein Konzert mit freiem Eintritt, am 30. Juni in Genf. Es war ein grosser Erfolg und gab uns allen Antrieb für die nächste Saison.

Die SCC sind ein Brückenbauer zwischen den einzelnen Landesteilen: wie kommt die Zusammenarbeit zwischen Städten zu Stande?

Wir bauen auf der Basis unserer persönlichen Beziehungen auf.  Nur so gelingt es, starre kantonale, städtische und institutionelle Vorgaben zu umgehen, die ein Zusammenarbeiten über die Region sonst kaum fördern.


Bettina Skrzypcak, ..e subito parlando, Swiss Chamber Soloists UA 2012

 

„Wir hinterfragen permanent den eigenen Standpunkt.“

Programmieren Sie gemeinsam – Sie sind ja drei künstlerische Leiter?

Was in welchen Städten gespielt wird und an wen wir Kompositionsaufträge verleihen, entscheiden wir in der Regel gemeinsam. Dabei berücksichtigen wir die Nähe der einzelnen Regionen zu den Szenen im nahen Ausland: Genf zu Frankreich, Basel zu Deutschland, Lugano zu Italien.

Andererseits hinterfragen wir permanent den eigenen Standpunkt und passen uns in gewissem Rahmen dem jeweiligen Aufführungsort und Kulturraum an.


Nadir Vassena, archeologie future

Wie gestalten Sie Ihre Programme?

Unsere Konzertprogramme enthalten einen hohen Anteil an Uraufführungen von Komponierenden aus allen Landesteilen. Die neuen Werke zeigen wir immer im Dialog mit grossen Werken des Repertoires, um die Kontinuität in der Musik zu unterstreichen. Unsere Reihe spricht ein offenes breites Publikum an, vor dem sich die neuen Werke bewähren können und müssen.

Wie kommt die Kombination von Klassikern mit zeitgenössischen Werken und Uraufführungen beim Publikum an? Hat sich das über die Jahre verändert?

Wir verbinden nicht nur die neuen Werke inhaltlich mit dem bestehenden Repertoire, sondern tauschen uns mit den Komponierenden laufend zum gesamten Programm aus. Jedes Konzert ist ein in sich stimmiges Ganzes mit eigener Dramaturgie. Dadurch wird die Einzigartigkeit jedes Stücks unterstrichen und es entsteht eine Intensität des Gesamtprogramms. Wir gehen so auf das vermehrte Bedürfnis des Publikums ein, eine Geschichte zu hören.

Gibt es Unterschiede bei den Publikumsreaktionen in den verschiedenen Landesteilen?

Die Städte in den verschiedenen Landesteilen haben ein recht unterschiedliches „kulturelles Tempo“. Die Schweiz ist genau aufgrund dieser heterogenen kulturellen Identitäten so reich. Wir wollen dieser Diversität einen Wert verleihen, indem wir neue Stücke aus der ganzen Schweiz in der ganzen Schweiz zirkulieren lassen. Das ist gleichzeitig eine der Herausforderungen.

Gibt es in der nächsten Saison Uraufführungen, auf die Sie sich speziell freuen?

Kommende Saison haben wir 12 Uraufführungen, u.a. von Nadir Vassena aus dem Tessin, von Heinz Holliger aus Basel, von David Philip Hefti aus Zürich, Xavier Dayer aus Genf. Die verschiedensten Besetzungen sind zu hören, unter anderem Bläsersextett, Cellosolo, Streichtrio, Streiquartett, Stimme und kleines Ensemble. Mir vorzustellen wie diese diversen Stücke klingen werden, darauf freue ich mich immer besonders.

Die Saison beginnt in Bern, im Yehudi Menuhin Forum, am 24. September mit einem Konzert mit Heinz Holliger und Thomas Zehetmair – die Replik des Konzerts vom 30.6. in Genf.


Heinz Holliger, Aleh stavi for Cello solo: Solist Daniel Haefliger

Haben Sie eine Vision, die sich noch nicht verwirklichen konnten? Hat der Preis vielleicht gerade jetzt – rund um die Pandemie – eine besondere Bedeutung?

Visionen haben wir bereits zahlreiche verwirklicht, so die internationale Swiss Chamber Academy und die Swiss Chamber Camerata, die junge professionelle Musiker und MusikerInnen aus dem In- und Ausland zusammenführen. Aber Visionen und Ideale zu verwirklichen kostet Geld. Vielleicht (oder hoffentlich) wird uns dieser Preis dazu verhelfen, etwas höhere finanzielle Beiträge zu erhalten, um langfristigere Verbindungen zwischen den Regionen zu stärken. Aktuell planen wir ja quasi “auf Armeslänge”. Seit Bestehen der SCC ist unsere Arbeit nur mit einem enormen persönlichen Aufwand und viel ehrenamtlicher Arbeit möglich geworden: Wir denken oft an den Gott Shiva mit seinen vielen Armen …
Interview: Gabrielle Weber

 

Daniel Haefliger © Nicolas Schöpfer

 

Die Swiss Chamber Concerts wurden 1999 gegründet von Daniel Haefliger, Felix Renggli und Jürg Dähler. Es folgte die Gründung der Swiss Chamber Soloists, ein fester Pool aus international gefeierten InstrumentalsolistInnen, der die Reihe bespielt, später der Swiss Chamber Academy in Genf, einer national-internationalen Streichquartett-Akademie und der Swiss Chamber Camerata ebenfalls in Genf.
Alle Konzerte der SCC sind in Lugano, Genf, Basel, Zürich und ab dieser Saison auch in Bern zu hören.

Swiss Chamber Concerts, Liste Ur- & Erstaufführungen 1999-2020

Konzert 18.9.20: Festival Label Suisse, 18.9.20.: 21.15h, Werke von: Rudolf Kelterborn, Xavier Dayer, Mozart, Villa-Lobos

Konzert 24.9.20: Yehudi Menuhin Forum Bern:
Heinz Holliger, Thomas Zehetmair, Ruth Killius, Daniel Haefliger

Sendung SRG/RSI: RSI-Neo, 25.8.2020:
Incontro con Daniel Haefliger, Redaktion Valentina Bensi

Neo-Profiles: Swiss Chamber Soloists, Jürg Dähler, Heinz Holliger, Nadir Vassena, David Philip Hefti, Xavier DayerRudolf Kelterborn, Bettina Skrzypczak, Swiss Music Prize

Bassistin zum Glück

Folge 2 der Neoblog-Portraits zum Schweizer Musikpreis 2020:

Martina Berther – vielfältige Bassistin aus Chur

Martina Berther @ Ester Poly © J. Dubois

Jodok Hess
Martina Berther hat mit Hip-Hop-Bands dem Teufel ein Ohr abgegroovt, macht feministischen Punk-Rock zusammen mit der Schlagzeugerin Beatrice Graf, begleitet hinter Sophie Hunger feinste Pop-Musik oder spielt für Daniela Sarda Elektro-Pop. Und als Frida Stroom experimentiert sie solo auf dem Bass und bewegt sich völlig frei im Bereich Noise.
Eine typische Bassistin also? Ja – nur dass sie die Schnellfinger unter den Bassisten nie so richtig interessiert haben.

Zum Gespräch treffe ich Martina Berther in ihrem Übungsraum in Zürich Affoltern – ein schöner, grosser Raum, mit viel Licht und noch viel mehr Gitarren, Bässen, Effektgeräten, Schlagzeug-Sets überall.

Dass sie sich den Raum mit mehreren anderen Musikern teilt, stresst sie zwar manchmal, weil es eng werden kann. Auf der anderen Seite findet sie es auch gut, weil es automatisch eine gewisse Disziplin erfordert, und weil man sich gegenseitig aushilft.

Überhaupt scheint Martina Berther jemand zu sein, der Limonade macht, wenn das Leben Zitronen offeriert. Schön zum Beispiel die Geschichte, wie sie überhaupt zum E-Bass gekommen ist. Nur wiederwillig überlässt ihr der damalige Dirigent der Jugendmusikschule Chur den Posten:
“In der Jugendmusik in Chur habe ich Trompete gespielt. Was aber nicht so richtig mein Instrument war, zum Glück – denn so blieb ich offen und habe gesucht, welches mein Instrument sein könnte. Und in dieser Jugendmusik gab es einen E-Bassisten, was schon ziemlich revolutionär war, die Jugendmusik war damals noch eher konservativ. Dieser E-Bassist war über 20jährig und musste aufhören, weshalb ein Nachfolger gesucht wurde. Ausdrücklich: Ein Nachfolger. Und als ich mich trotzdem gemeldet habe, da meinte der Leiter: ‘Ouuh, ja da müssen wir eine Sitzung machen, ob das geht, eine Frau am Bass’.”

Andere hätten sich da vielleicht schon beleidigt zurückgezogen. Nicht aber Martina Berther. Sie wartete geduldig das Ergebnis der Sitzung ab.

Dank einer Querdenkerin im Vorstand, die sich sehr stark gemacht hat für mich, wurde ich dann zugelassen. So bin ich also durch einen Glücksfall zum Bass gekommen.

Ein Glücksfall in der Tat! Immerhin ist die Schweizer Musikszene so auch zu einer E-Bassistin als Preisträgerin gekommen. Und genau dieser Preis steht natürlich am Anfang unseres Gesprächs.

25000 Franken in Coronazeiten, da sagt man nicht nein, oder?

Nein! (lacht) – da sagt man nicht nein. Da sagt man auch in Nicht-Corona-Zeiten nicht nein.

Waren Sie überrascht?

Schon, ja! Letztes Jahr war ich an der Verleihung, da hat ihn meine Band-Partnerin Beatrice Graf bekommen (die Schlagzeugerin im Duo Ester Poly), und da habe ich gedacht: Wenn ich weiterhin gut arbeite, vielleicht bekomme ich den dann auch mal. Jetzt ist er einfach viel früher gekommen… (lacht). Aber ich hätte auch noch 50 Jahre weiter gemacht ohne Preis.


Martina Berther / Beatrice Graf @ Ester Poly – FieldsessionB-Sides Festival 2018

Das breite Profil ist also kein Business-Plan?

Nein, definitiv nicht! Das ist aus einer Neugierde heraus entstanden.

Was für Vorbilder haben eine Rolle gespielt?

Orientiert habe ich mich weniger an Musikerinnen oder Musikern, sondern eher an Klängen. Wenn ich irgendeinen Sound gehört habe, von einem Cello, von einem Schlagzeug, da habe ich mir überlegt: Was gefällt mir daran, was davon könnte ich auf den Bass übernehmen?

Also über den Sound?

Über den Sound, oder die Energie – manchmal fällt es mir schwer zu sagen, was mir genau gefällt an einem Musiker, einer Musikerin. Häufig ist es eine Präsenz oder Attitüde. Und das habe ich dann eher versucht als Vorbild zu nehmen. Handkehrum höre ich ziemlich oft: Ich habe wegen dir angefangen Bass zu spielen. Was natürlich schön ist.

Wenn ich mir das Frida Stroom Projekt anhöre, kommt mir Hermeto Pascoal in den Sinn – wegen dem Konzept, dass alles Musik ist. Seine Barthaare sind Musik für ihn, oder eine Banknote, die er zupft. Da habe ich mich gefragt: Ist es diese Neugierde, dass sie über das Geräusch gehen und über die Energie und so etwas Neues suchen?

Ja, das geht mehr über Sound. Das können auch Sachen sein, die beim Spielen passieren. Manchmal merke ich: Das Surren vom Strom, das war eigentlich der schönste Moment von diesen 30 Minuten Improvisation. Und dann interessiert mich das am meisten. Und das ist dann etwas, was ich weiterentwickeln möchte.

“Das Surren vom Strom.. der schönste Moment der Improvisation..”

Wie verhindern Sie, dass ich mich als Zuhörerin, als Zuhörer ausgeschlossen fühle?

Eigentlich, theoretisch gesehen, ist es ziemlich einfach. Indem ich mich auf den Moment einlasse, auf den Raum, auf das Publikum, indem ich mich dabei verletzlich mache und von diesem Punkt aus mit Spielen anfange, wird das Publikum sehr schnell involviert. Schwieriger wird es, wenn ich eine Unsicherheit habe in mir und versuche, die Improvisation nicht zuzulassen. Wenn ich denke: Ich beginne mit diesem Sound.

Das ist dann schon zu viel?

Manchmal schon. Oder wenn ich improvisierend anfange und dann denke ich während dem Spiel: Als nächstes könnte ich das machen. Dann habe ich das Gefühl, ich bin zu sehr bei meiner Arbeit und nehme nicht mehr ganz wahr, was eigentlich passieren würde, im Raum, oder bei meinem Instrument. Denn eigentlich ist ja alles schon da. Man kann mit sehr wenig extrem viel machen. Man muss nur den Mut haben, sich darauf einzulassen. Und wenn ich dagegen ankämpft, aus einer Unsicherheit, dann ist es mehr ich im Kampf gegen irgendetwas.

“Man muss nur den Mut haben, sich darauf einzulassen”


Martina Berther mit Frida Stroom, live am Gamut Festival 2017

Ist dann Improvisation auch so etwas wie ein Sich-Ausliefern? Ein Loslassen?

Für mich schon, ja. Das funktioniert manchmal sehr gut, manchmal weniger gut. Ein sicheres Rezept habe ich da noch nicht gefunden.

Haben Sie nie den Drang in einem solchen Moment einfach mal groovemässig konventionell abzugehen?

(lacht) Ich war ja jahrelang extrem grooveorientiert. Die ersten Bands waren HipHop-Bands, Breitbild zum Beispiel, und auch die Soul-Musik hat mir extrem gefallen. Jetzt im Moment interessiert mich diese eher normale Art Bass zu spielen nicht mehr so sehr.

Frida Stroom © Stefan Berther

Ihr «heart of hearts» ist also momentan eher beim Experimentellen und weniger bei einem Projekt wie Sophie Hunger?

Am Bass schon. Wobei ich gar nicht sage, dass mich Groove-Musik nicht interessiert. Ich habe es einfach schon sehr viel gemacht. Und bei Sophie Hunger wird man durchaus aufgefordert, auch die eigenen Ideen einzubringen. Da muss ich wirklich aus meiner Komfort-Zone raus. Sophie bringt dazu die nötige Energie mit und die Unterstützung. Da habe ich mich auf eine sehr gute Art aufgefordert gefühlt, mich zu zeigen.

Tönt fast ein bisschen nach Jazz?

Ja total! (lacht) Für mich war das eigentlich die grösste Jazz-Band, bei der ich in den letzten Jahren gespielt habe.»
Interview: Jodok Hess

Martina Berther, Beatrice GrafSophie Hunger, Hermeto Pascoal, Frida Stroom, Ester Poly

Sendung SRF 2 KulturJazz&World Aktuell, 15.9.20, Beitrag von Jodok Hess

Neo-Profiles: Martina Berther, Swiss Music Prize

“Kunst ist eine soziale Tätigkeit”

Das Geheimnis ist gelüftet: der diesjährige Schweizer Grand Prix Musique geht an Erika Stucky, Sängerin, Musikerin und Performerin im Bereich der neuen Volksmusik.

14 weitere Preisträgerinnen und Preisträger gibt es, davon mehrere im weit gefassten Genre der zeitgenössischen experimentellen Musik.
Der Neo-Blog portraitiert einzelne in loser Folge. Den Auftakt macht Antoine Chessex, Saxophonist, Komponist, Klangkünstler und Klangtheoretiker.

Portrait Antoine Chessex ©Pierre Chinellato

Antoine Chessex, 1980 in Vevey geboren, gehört zu den innovativsten jungen Musikschaffenden der Schweiz. Nach Aufenthalten in New York, London und Berlin lebt er nun in Zürich. Chessex kennt keine Scheu vor Genregrenzen. Er bewegt sich fliessend zwischen komponierter und improvisierter Musik, Noise und Klangkunst. Zudem ist er als Autor, Dozent und Kurator international tätig und sensibilisiert für gesellschaftspolitische Themen wie Ungleichheitsverhältnisse oder das Prekariat im Kunstschaffen. Mit Gabrielle Weber spricht er über Klang und Hören.

Ich gratuliere zum Erhalt des Musikpreises! Waren Sie überrascht?

Ich freue mich sehr und war auch überrascht. Insbesondere, da meine Arbeit sich eher am Rand der kommerziellen Musikszene abspielt und sich keinem Genre zuordnen lässt.

Was bedeutet für Sie dieser Preis?

Der Preis ist ein Zeichen der Anerkennung, dass meine berufliche Praxis, die sich nun schon über zwanzig Jahre erstreckt, wahrgenommen wird. Meinen Beruf erlernte ich nicht in einer Institution, sondern auf dem Feld, im Tun. Dass ich als Einzelkünstler den Preis bekomme, hat aber auch etwas Ambivalentes: Meine Musik entwickelt sich immer wieder in einer kollektiven Praxis, da sind oft Mehrere beteiligt.


Antoine Chessex / Eklekto: écho/cide, Ausschnitt

Hat der Preis gerade jetzt eine besondere Bedeutung? In Zeiten der Coronapandemie ist das Thema Prekariat im Musikschaffen für viele zentral. Sie machen darauf in Ihrer Zeitschrift “Multiple” aufmerksam…

Die Situation zeigt, wie fragil das ganze System ist und wie prekär viele freischaffende Künstler*innen in der Schweiz arbeiten. Viele Musikschaffende leben beruflich in einem Zustand der Bricolage. Sie kommen nur durch die Kombination verschiedener (Kultur-)Arbeiten über die Runden. Fällt ein Teilchen weg, kollabiert rasch das Ganze. Die Situation ist ausserdem deswegen komplex, weil Kunstschaffende viel Zeit brauchen, um zu experimentieren und zu recherchieren. Der Imperativ, immer „produktiv“ sein zu müssen, ist deshalb problematisch. Kunst ist meines Erachtens keine Dienstleistung, sondern vor allem eine soziale Tätigkeit. Im Grossen und Ganzen stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Kunst- und Musikschaffen als Beruf heute noch existieren kann.

«Das ist wie eine Sonic Fiction, die Imaginationen entfalten lässt»

Sie hinterfragen das romantisierende Klangbild der Natur in der Musik. Einige Ihrer Werke wurde auch schon mit “Urgewalt”, mit Erdbeben, Tsunami oder Vulkanausbrüchen verglichen.

In meiner Musik geht es vielleicht eher metaphorisch um Natur. Ich möchte Klischees der Repräsentation von Natur als schön, ruhig und harmonisch dekonstruieren. Natur ist auch chaotisch, gewaltvoll und laut. In Stücken wie The experience of limit klingt das Klavier wie ein Sturm im Meer. Das ist wie eine Sonic Fiction, die Imaginationen entfalten lässt. Phänomene wie seismische Aktivitäten, Tornados, Schneelawinen oder Starkregen interessieren mich klanglich.


Antoine Chessex / Tamriko Kordzaia, The experience of limit

‘Klang und Hören’ konnotieren Sie mit Macht und plädieren für ein ‘kritisches Hören’: Worum geht es dabei?

Musik ist kulturell konstruiert und eingebettet in verschiedene historische Traditionen. Im Grunde geht es mir aber meistens um die Verhältnisse von Klang und Hören. Hören ist nie neutral, sondern immer situiert. Da sind komplexe Mechanismen im Spiel und es geht um Machtverhältnisse: Die Tradition der europäischen Avantgarde schloss beispielweise viele Stimmen aus. Es braucht Diskurse, um aufzudecken, wo die Grenzen des Hörbaren sind. Der Begriff “kritisches Hören” fordert dazu auf, Machtverhältnisse und soziale Dimensionen mit zu hören und zu hinterfragen.

“Die Musikszenen und -institutionen agieren oft homogen, während die Realität der musikalischen Welt stark heterogen ist.”

Ihre Stücke siedeln sich zwischen improvisierter und notierter Musik, Noise und Klangkunst an – sie haben keine Berührungsängste zwischen musikalischen Genres: Wie funktioniert das in der Praxis der Institutionen?

Wenn es um Klang und Hören geht, werden Musikgenres obsolet. Kulturinstitutionen sind aber meist nach diesen organisiert. In der freien Szene funktioniert die Musik anders als im institutionellen zeitgenössischen Rahmen und Klangkunst braucht wiederum andere Räume. Die Musikszenen und -institutionen agieren oft homogen, während die Realität der musikalischen Welt stark heterogen ist. Je mehr sich Kunstschaffende zwischen den verschiedenen Szenen bewegen, desto mehr strukturelle Veränderungen können auch stattfinden.

Sie sind nicht “nur” als Komponist und Musiker, sondern auch als Kurator tätig, z.B. kuratieren Sie das Festival “Textures” im legendären Café OTO in London: Beeinflussen sich Komponieren und Kuratieren gegenseitig?

Beim Kuratieren geht es mir vor allem um andere Künstler*innen und Künstlerpersönlichkeiten und darum, Menschen zusammenzubringen. Komponieren, Kuratieren, aber auch Improvisieren und künstlerische Forschung sind mannigfaltig miteinander verbunden und repräsentieren verschiedene Aspekte meiner Praxis.

Portrait Antoine Chessex @Londres © A.Lukoszevieze

Ein neues Stück von Antoine Chessex kommt am Festival Label Suisse im September zur Uraufführung, interpretiert von Simone Keller an der Kirchenorgel und Dominik Blum an der Hammondorgel.
Interview: Gabrielle Weber

Antoine Chessex / Schweizer Kulturpreise BAK / Festival Label Suisse / Café OTO London

Sendung SRG: RSI/NEO, Redaktion Valentina Bensi, 28.7.20, 20h: incontro con Antoine Chessex

Neo-Profiles: Antoine Chessex, Swiss Music Prize, Simone Keller, Dominik Blum, Tamriko Kordzaia, Eklekto Geneva Percussion Center

Leidenschaft für Klang in der Natur

“A l’ur da l’En” – INNLAND – AUsLAND

Interview mit Daniel Ott, Co-Initiator und Mitglied des künstlerischen Komitees Festival Neue Musik Rümlingen

Neue Musik Rümlingen 2016 © Schulthess Foto

Gabrielle Weber
Das kleine Basellandschaftliche Festival Neue Musik Rümlingen ist dieses Jahr zu Gast im Unterengadin. Pionier der Inszenierung von Klang in der Natur ist es seit bald dreissig Jahren ein begehrter Geheimtipp. Das Gespräch mit Daniel Ott, Co-Initiator und Mitglied des künstlerischen Komitees, dreht sich um die Inszenierung von Musik im öffentlichen Raum, um den Umgang mit Unvorhersehbarem und um individuellen Zugang zu Musik.

Daniel Ott, mit der kommenden Festival tragen Sie den Rümlinger Gedanken vom Baselbiet ins Engadin: Wie kommt es zu diesem Besuch?

Rümlinger “Ausflüge” haben eine gewisse Tradition; wir besuchten bereits früh Basel oder angrenzende Gemeinden. 2013 führten wir dann das Festival ganz an einem anderen Ort durch. Wir wanderten zu Fuss von Chiasso nach Basel, spielten unterwegs mit lokalen Bandas und kooperierten mit befreundeten Festivals wie dem nahe am Unterengadin gelegenen Festival Klangspuren Schwaz im Tirol. Damals entstand die Idee einer grösseren Zusammenarbeit mit Schwaz die wir dieses Jahr verwirklichen. Gemeinsam bieten wir zwei Klangwege an, die jeder an einem Tag begangen werden können, einen im Unterengadin, kuratiert von Rümlingen, einen zweiten vom Tirol ins Engadin, kuratiert von Schwaz. Als Partner gewannen wir ausserdem die Fundaziun Nairs in Scuol, die visuelle Installationen beisteuert, sowie das Theater Chur, das seine Saisoneröffnung diesmal im Engadin abhält. Als Höhepunkt der beiden Klangwege treffen wir uns in der Mitte am Abend zum gemeinsamen Konzert und Fest in Scuol.

Neue Musik Rümlingen 2016, Daniel Ott: “CLOPOT – ZAMPUOGN”

2016 übernahmen sie zusammen mit Manos Tsangaris die künstlerische Leitung der Biennale für Neues Musiktheater München und überführten damit ihren Ansatz ins städtische Umfeld: Woher stammt Ihre Leidenschaft für die Verbindung von Klang und Natur oder öffentlichem Raum?

Dazu gibt es eine kleine Vorgeschichte: Vor 20 Jahren lud mich Peter Zumthor ein, Musik für seinen „Klangkörper Schweiz“, den Schweizer Pavillon bei der Expo 2000 in Hannover zu entwickeln, und reagierte seinereits architektonisch auf die Resultate unserer gemeinsamen Klangversuche.  Es ist aber weder realistisch noch nachhaltig, für jede musikalische Idee einen neuen Raum bauen zu lassen. Deshalb begann ich mich mit Klang in vorgegebenen Situationen zu beschäftigen, wo ich nicht alle Parametern beeinflussen kann. Die entstehenden Unwägbarkeiten lernte ich als Bereicherung zu schätzen. Ich beziehe mich damit unter anderen auf John Cage, der Zufälle in sein kompositorisches Denken mit aufgenommen hat, um eine grössere Klang- und Musikvielfalt zu ermöglichen.


Festival Neue Musik Rümlingen, excerpts 2017

Wo befindet sich das Publikum im Kontext Klang und öffentlicher Raum?

Musik wird immer von einem einzelnen Menschen rezipiert. Ich möchte individuelle Zugänge ermöglichen und orientiere mich eher an der Bildenden Kunst, wo das Publikum seit jeher selber entscheidet in welchem Rhythmus Werke rezipiert werden. Jeder gehörte Teil ist repräsentativ, jeder Blickwinkel ist gültig.

“Ein Stück ist vollständig, auch wenn nicht alles gehört oder gesehen wird.”

Landschaften tragen Geschichten in sich, Menschen geben Geschichten über Generationen weiter. Jedes einzelne Leben ist ein Roman. Dies in Kunst umzusetzen ist wichtig. Kunst ist Kommunikation.

Daniel Ott © Manu Theobald

Worauf dürfen wir im Engadin speziell gespannt sein?

Als grosses Eingangsfenster in Lavin hüllt Peter Conradin Zumthor in Con Sordino, ein Remake einer Rümlinger Arbeit, die Glocken der Laviner Kirche in Schaffell ein. Es entsteht ein verfremdeter Klang, der eher an elektronische Musik als an Kirchglocken erinnert. Wir konnten Beat Furrer gewinnen, einen Gedichtzyklus von Leta Semadeni, Schriftstellerin aus Lavin, die seit Jahrzehnten in Valader, dem Unterengadiner Romanisch, schreibt, zu vertonen. Die Uraufführung findet in einer wunderschönen schmucklosen kleinen Kapelle in Sur En d’Ardez statt. Peter Conradin Zumthor taucht die alte Holzbrücke von Lavin in Nebel ein – die Holzbrücke wird zur Nebelbrücke.


Peter Conradin Zumthor, Grünschall7 (Rüttler) Solo Drums, 2019

Am Inn wird Christian Wolff in seinem legendären Stück Stones aus dem Jahr 1968 in einer neuen Engadiner Version mit Steinen aus dem Inn zu erleben sein. Daneben tritt Jürg Kienberger in Innehalten, einem theatralen Stück, selbst auf. Viele Stationen werden mehrfach für jeweils eine kleine Gruppe von Zuhörern aufgeführt. Es entstehen sehr persönliche und unterschiedliche Darbietungen.
Interview Gabrielle Weber

Neue Musik Rümlingen, Klangspuren Schwaz, Fundaziun NairsTheater Chur

Festival Neue Musik Rümlingen:
14./15. September 2019 Unterengadin; 16. November 2019, Epilog Kirche Rümlingen:

neo-profiles:
Neue Musik Rümlingen, Daniel Ott, Beat Furrer, Peter Conradin Zumthor