Daniel Zea komponiert für Kartonschachteln und Avatare

Der kolumbianisch-schweizerische Komponist Daniel Zea versteht Klang als plastische Materie. Er verbindet in seinem Werk Klänge, Bewegung, Elektronik und Video mit digitalen Setups. Ein Portrait von Jaronas Scheurer.

Jaronas Scheurer
«Ich komponiere Musik eher als Designer denn als Komponist», meint Daniel Zea im Laufe unseres Interviews. «Mich beschäftigen Dinge wie Symmetrie bzw. Asymmetrie, Ergonomie und Balance und ich verstehe Klang als plastische Materie.» Und Industriedesign hat er auch studiert in Kolumbien, bevor er in Bogotá bei Harold Vasquez-Castañeda ein Kompositionsstudium aufnahm, bevor er nach Genf kam, um bei Eric Gaudibert an der haute école de musique (HEM) fertig zu studieren. Bevor er in Den Hague zwei Jahre am Institut für Sonologie studierte, bevor er das Ensemble Vortex mitgründete und bevor er in Genf an der HEM interaktives Design zu unterrichten begann: Daniel Zeas CV ist lange und vielseitig – Industriedesigner, Komponist, Audiodesigner, Medienkünstler, Programmierer.

 

Daniel Zea als Avatar in seinem Stück “Autorretrato”. © Daniel Zea

 

Daniel Zea schreibt meistens Musik für ein komplexes Netzwerk: Interpret:innen, selbst entwickelte und herkömmliche Instrumente, Elektronik, Videoprojektionen und Computerprogramme werden miteinander verbunden. «Wenn ich mit interaktiven Systemen arbeite, ist es eigentlich jeweils ein Design Projekt: Ich entwickle ein Setup, das Hardware, Software und menschliche Interaktion so verbindet, dass Klang, dass Musik entsteht.» Seine Werke verbinden Bewegung und Klang und resultieren in selbst entwickelten Instrumenten oder in sich in Echtzeit generierenden Partituren – wie z.B. im Stück Box Tsunami von 2021.

 

Daniel Zea hat Box Tsunami 2021 während der Corona-Pandemie für die vier Musiker:innen des Concept Store Quartets komponiert.

 

Box Tsunami

Die Unmenge an verschickten Paketen als Symbol für den Konsumwahn war Ausgangspunkt für Zea: «Ein Mensch vor einer leeren Schachtel – das ist schon sehr poetisch. Was bedeutet das? Wieso sitzt der Mensch da? Wieso ist die Schachtel leer?» Und so beginnt Box Tsunami denn auch: Die vier Musiker:innen sitzen mit ihren Instrumenten und einem Laptop vor grossen Kartonschachteln. Diese sind oben offen und weisses Licht scheint heraus. Es klopft, raschelt und knarzt in den Schachteln. Die Musiker:innen schauen konzentriert auf ihre Laptops und legen zarte, filigrane Klänge über das Rumpeln aus den Schachteln – alle für sich, ohne gross aufeinander zu achten.

Zea hat für Box Tsunami zuerst die klingenden Schachteln entwickelt. Er stattete die Schachteln mit kleinen elektrischen Hämmern und sogenannten Transducern aus, die als eine Art Lautsprecher Signale übertragen. So wird die Kartonschachtel zu einem Instrument, das er elektronisch ansteuert. Die Signale sind jedoch eher leise, weshalb auch die vier Musiker:innen nur leise und zart spielen können. Um die Musiker:innen und die Schachteln kompositorisch zu verknüpfen, werden die elektrischen Hämmer von der Perkussionist:in mittels einem Midi-Drumpad angesteuert. Ein interaktiver Loop verknüpft Musiker:innen und Kartonschachteln und die Partitur wird daraus in Echtzeit generiert. Ähnlich wie während den Corona-Lockdowns sitzen alle gebannt vor ihren Bildschirmen. Sie sind von den Handlungen der anderen und vor allem von den technologischen Kommunikationsmitteln abhängig, aber begegnen sich gar nie dabei. Und darum herum türmen sich die Kartonschachteln aus den Online-Käufen – Box Tsunami.

 

In In Daniel Zeas Selbstporträt und der Soloshow Autorretrato von 2023 sieht man ihn vor einer Kamera sitzen und auf der Leinwand einen überlebensgrossen Avatar von ihm.

 

Autorretrato

Das Setting für Zeas Komposition Autorretrato (Selbstporträt) ist simpler: Zea selbst sitzt vor einer Kamera und auf der Leinwand hinter ihm sieht man einen Avatar, der dieselben Gesichtsbewegungen ausführt. Ein digitaler Doppelgänger. Mit seinen Gesichtsbewegungen kann Zea Klänge ansteuern und manipulieren. Mit der Zeit wird die Leinwand von unterschiedlichen Objekten wie einer Cola-Dose, High Heels, einer Handgranate oder einem Kruzifix bevölkert. Gemacht ist das mittels einer App für Facetracking, die Zea mit dem Audioprogramm verknüpft. Für Autorretrato ist Zea Komponist, Audiodesigner, Softwareentwickler und Interpret in eins. «Das Schwierigste daran war sicherlich das Performen», meinte Zea. «Ich bin es nicht gewohnt, alleine in der Mitte der Bühne zu stehen, und vor der Premiere war ich dementsprechend nervös. Es ist auch ein sehr persönliches Stück. Das ist einerseits riskant, aber es erlaubt mir auch Dinge zu sagen und zu tun, die ich sonst nicht machen würde.»

Autorretrato ist neu und Zea bezeichnet es als «Work in progress»: «Ich würde das Stück gerne noch ausarbeiten und einige Teile ausbauen. Wir arbeiten jeden Tag irgendwie an unserem Selbstporträt weiter», so Daniel Zea. Und so baut Zea weiter: Verbindet Klang und Bewegung, untersucht kompositorisch die subtilsten Regungen des Gesichts, entwickelt Instrumente und bettet dies alles in seinen gesellschaftspolitischen Überlegungen ein.
Jaronas Scheurer

 

Portrait Daniel Zea © Vincent Capes

 

Vom 30. April bis am 5. Mai 2024 widmet sich das Festival les Amplitudes in La Chaux-de-Fonds dem Werk von Daniel Zea. Unter anderem spielt das von Zea mitgegründete Ensemble Vortex Werke von ihm, es wird sein neues Werk für Orchester uraufgeführt und während der ganzen Zeit findet eine Klanginstallation von Daniel Zea und Alexandre Joly statt.

Nejc Grm, Alicja Pilarczyk, Pablo González Balaguer

Sendungen SRF Kultur:
neoblog, 14.10.2020: la ville – une composition géante, auteur Anya Leveillé
neoblog, 23.01.2022 : Portrait unserer Zeit, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile: Daniel Zea, Concept Store Quartet, Ensemble Vortex, Eric Gaudibert, Jeanne Larrouturou

 

Stimme – Schweigen – Persona

Die junge Komponistin Anda Kryeziu bringt den Kultfilm «Persona» von Ingmar Bergman für das Theater Basel als Musiktheater auf die Bühne. Eine musikalische Reflexion über die Themen Stimme, Schweigen und Identität.

 

Die Komponistin Anda Kryeziu, ©Jetmid Idrizi

 

Jaronas Scheurer
Ich treffe Anda Kryeziu an einem regnerischen Februarabend in der Basler Innenstadt zum Interview. Die letzte Probephase für ihr Musiktheater «Persona», basierend auf dem gleichnamigen Film des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, hat gerade begonnen und ihr steht ein stressiger Endprobe-Monat bevor. Für sie bedeutet das, von Montag bis Samstag jeweils den ganzen Tag Proben und in der Nacht Revisionsarbeiten. Gleichzeitig lastet eine gehörige Portion Druck auf der knapp 30-jährigen Komponistin – ein abendfüllendes Musiktheater für das renommierte Theater Basel zu schreiben, ist nicht allen vergönnt. So könnte man auf jeden Fall meinen. Doch Anda Kryeziu wirkt beim Interview erstaunlich entspannt und gelöst.

Die kosovarische Komponistin studierte in Bern Klavier und Komposition bei Dieter Ammann, danach in Basel und Berlin bei Caspar Johannes Walter und Daniel Ott Komposition und elektroakustische Musik und intermediale Komposition bei Wolfgang Heiniger. Inzwischen hat sich schon eine erstaunlich umfangreiche Werkliste angehäuft: Musiktheatrale Werke, Performances, Orchesterkompositionen, Werke für Instrumentalbesetzungen mit oder ohne Elektronik, multimediale Kompositionen, Installationen und akusmatische Stücke. Kryeziu wechselt mühelos zwischen verschiedenen Formaten und Besetzungen und präsentierte ihre Werke schon an renommierten Festivals wie Impuls Festival Graz, Neue Musik Rümlingen oder der Münchener Biennale. Ihr reiches und diverses Portfolio ist vielleicht der Grund für ihre Gelassenheit angesichts des renommierten Auftrags vom Theater Basel.

 


Anda Kryeziu: «Infuse: Playtime» (2021), Ensemble Recherche.

 

«Persona» von Bergman

Für das Theater Basel vertont sie den Film «Persona» von Ingmar Bergman als «ambivalentes musiktheatrales Format, oszillierend zwischen Oper, Theater und Performance», wie sie das Werk selbst bezeichnet, für eine Sopranistin, eine Performerin, vier Instrumente und Elektronik. Der Kultfilm von Bergman aus dem Jahre 1966 dreht sich um zwei Frauen, die Schauspielerin Elisabeth Vogler und die Krankenpflegerin Alma. Elisabeth hat plötzlich aufgehört zu sprechen und wird daher in Begleitung von Alma zur Kur in eine Villa am Meer geschickt. Durch das Schweigen von Elisabeth übernimmt Alma das Sprechen und erzählt Elisabeth von ihren innersten Wünschen, Träumen und von gutgehüteten Geheimnissen aus ihre Vergangenheit. Es entwickelt sich eine komplexe Beziehung zwischen den zwei Frauen und das Schweigen von Elisabeth nimmt dabei ganz unterschiedliche Facetten an, von überheblicher Distanz über empathische Teilnahme bis hin zu passiver Aggressivität. Mehr und mehr verschwimmen die Grenzen zwischen den zwei Protagonistinnen. Der Film von Bergman ist einerseits ein exaktes Psychogramm dieser ungewöhnlichen Beziehung, andererseits eine Reflexion darüber, was eine Person eigentlich ausmacht und ob wir nicht nur aus unterschiedlichen Masken bestehen.

Inwiefern macht die Stimme unsere Identität aus und was geschieht mit einer Identität, wenn der Faktor Stimme plötzlich wegfällt? Anda Kryeziu, die Regisseurin Caterina Cianfarini und die Dramaturgin Meret Kündig interessierten sich also vor allem für «Persona», weil darin Stimme, Schweigen und Identität in enger Verknüpfung verhandelt werden.

 

Anda Kryeziu: «co-» (2016-2017), gespielt von Theo Nabicht (Kontrabassklarinette), Seth Josel (E-Gitarre) und Gabriella Strümpel (Cello) vom Ensemble KNM Berlin.


Wie komponiert man Schweigen?

Das Schweigen der Hauptfigur Elisabeth ist ein zentraler Aspekt in «Persona». Doch, wie komponiert man eigentlich Schweigen? Musik besteht ja aus Klängen und Schweigen gerade nicht. Wobei, wie Anda Kryeziu betont, «Schweigen nicht dasselbe ist wie Stille. Schweigen ist die Entscheidung, nicht zu sprechen, und Stille ist die Absenz von Klängen.»

Das Schweigen musste Kryeziu jedoch gar nicht aktiv komponieren: «Das Schweigen war schon konzeptuell da und war eigentlich Auslöser für alle anderen musikalischen Ideen im Stück. Dieses Schweigen ist für mich das stärkste und krasseste Stilmittel, das mir in diesem Projekt zur Verfügung steht. Mit dem Schweigen von Elisabeth versuche ich die ganze Dynamik und Energie des Werks zu gestalten und es dient uns in vielen musikalischen und dramatischen Situationen als zündender Funke.»

Anda Kryeziu sieht im Schweigen der einen Hauptfigur eine willkommene Herausforderung und komponierte es als wichtigen Faktor mit. Ähnlich sieht es mit der Stimme der anderen Hauptfigur aus. Die Krankenpflegerin Alma übernimmt in Anbetracht der schweigenden Elisabeth das Sprechen für beide. Für Kryeziu ist die Stimme der Sopranistin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, die die Rolle der Alma übernimmt, Ausgangspunkt ihrer Komposition. «Die menschliche Stimme ist ein komplexes Kommunikationsmittel, ein ganzes Paket an Informationen, ein semiotisches System, über das man ganz viel über Identität erfahren kann.» so Kryeziu.

Die Stimme von Guðmundsdóttir wird von Kryeziu mittels elektronischen Mitteln verfremdet, verzerrt und vervielfacht. «Mit den Veränderungen des Stimmklangs kann ich auch die Wahrnehmung der sprechenden Person verändern. Sie kann plötzlich männlich, kindlich oder total zerstört klingen.»

 


Anda Kryeziu: “Kreiswanderung im Raum”, aus der Produktion “Grosse Reise in entgegengesetzter Richtung” an der Münchener Biennale 2022. Jens Ruland (Perkussion) und Ensemble Hand Werk.

 

Die Stimme aus den Instrumenten heraus

Zudem setzt Kryeziu die Stimme mit unterschiedlichen Gegenübern in Beziehung: Durch Loops spricht die Stimme von Guðmundsdóttir mit sich selbst, durch das raumfüllende Abspielen und Wiederaufnehmen tritt sie auch in einen Dialog mit dem Raum und mithilfe sogenannter Transduktoren kann Kryeziu den Stimmklang oder einzelne Schnipsel der Stimme auf die vier Instrumente projizieren. Die Stimme spricht dann sozusagen aus den Instrumenten heraus. Eine stimmige Metapher dafür, dass eine Identität in enger Verbindung und in stetiger Wechselwirkung mit der Aussenwelt interagiert.

Eine Stimme, die aus vielen Instrumenten heraus spricht – das ist vielleicht auch ein passendes Bild für das Schaffen von Kryeziu. Immer wieder taucht das Thema Identität in ihrem vielfältigen Schaffen auf. «Das Thema Identität kommt für mich nie alleine, weil es für mich nicht aus dem soziopolitischen Kontext ausgekoppelt werden kann. Wir existieren nicht als abstrakte Entitäten. Wir sind so, wie wir sind, wegen unserer Umgebung, wegen unserer Geschichte und Biografie.», so Kryeziu. Ihre Werke seien zwar nie autobiografisch, aber vielleicht liege dennoch in ihrer migrantischen Biografie ein Grund, wieso das Thema Identität immer wieder auftauche.
Jaronas Scheurer

 

Das Musiktheater «Persona» ist eine Produktion des Theater Basel und wird am 4., 6., 7., 15., 16. und 17. März 2023 im Gare du Nord gezeigt, mit: Álfheiður Erla Guðmundsdóttir: Sopran, Alice Gartenschläger: Performance, Jeanne Larrouturou: Perkussion, Chris Moy: Gitarre, Maria Emmi Franz: Cello und Aleksander Gabrýs: Kontrabass.

Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Ensemble Hand Werk, Jens Ruland, Wolfgang Heiniger, Caspar Johannes Walter, Theo Nabicht, Seth Josel, Gabriella Strümpel, Ensemble KNM Berlin, Ensemble Recherche

Neo-Profile:
Anda Kryeziu, Aleksander Gabrýs, Jeanne Larrouturou, Concept Store Quartet, Daniel Ott, Gare du Nord, Dieter Ammann

Unendliche Spielwelten

Zeiträume Basel, die Basler Biennale für Neue Musik und Architektur, findet dieses Jahr bereits zum vierten Mal statt. Das Festival verschreibt sich der Verwebung von Musik und Raum und bespielt dabei immer wieder neue und ungewöhnliche Orte in der Stadt. Im Flipperclub Basel bringt nun der Luzerner Komponist Michel Roth sein neues Werk Spiel Hölle zur Uraufführung. Jaronas Scheurer unterhielt sich mit Michel Roth über das Stück und die Leidenschaft der Clubmitglieder für ihre klingenden Kästen.

 

Spiel Hölle-Portrait Michel Roth © Prismago zVG ZeitRäume Basel 2021

 

Jaronas Scheurer
Das Basler Festival Zeiträume bringt Neue Musik an ungewohnte Orte und ermöglicht dem Publikum sowohl musikalische als auch architektonische Neuentdeckungen. Dieses Jahr finden unter dem Motto «Verwandlung» circa 20 Produktionen unter anderem auf einem ausgedienten Feuerschiff im Basler Hafenareal und in einer ehemaligen Wasserfilteranlage auf dem Bruderholz statt; aber auch in der Kaserne Basel oder im Flipperclub Regio Basel. Letzterer befindet sich in einem schmucklosen Gewerbegebäude in Münchenstein. Betritt man die Räumlichkeiten des Flipperclubs, wird man von über 50 blinkenden und tönenden Flipperkästen aus den letzten 60 Jahren empfangen. Für diesen Flipperclub komponierte der Luzerner Komponist Michel Roth das Werk «Spiel Hölle», das vom Ensemble Soyuz21 am Zeiträume-Festival uraufgeführt wird.

Michel Roth interessiert sich primär dafür, wie dieser Raum von der Leidenschaft der Clubmitglieder und ihren klingenden Kästen belebt wird und nicht für die Architektur des Raumes. Was ihn fasziniert, ist der soziale Raum. Tritt man nun an einen der vielen Flipperkästen heran, eröffnet sich laut Michel Roth nochmals ein weiterer Raum: «Ein Raum hinter Glas, der mit wahnsinnig aufwendigen Konstruktionen auch dreidimensional angelegt ist. Ein narrativer Raum, in dem einem auch erzählt wird, was da nun bei Star Wars oder Star Trek gerade passiert. Und man tritt in einen Dialog, nicht nur mechanisch, sondern auch ganz konkret, da die neueren Flipperkästen auch tatsächlich zur Spieler*in sprechen und das Spielgeschehen kommentieren.»

 


Michel Roth: pod for two ensembles and live-electronics (2017), Ensemble Vortex und ensemble proton bern. In pod geht es um eine musikalische Anwendung von Spieltheorie.

 

Overkill Flipperkasten

Michel Roth erzählt im Interview hörbar begeistert von den Flipperkästen: Wie sie scheppern und blinken und tönen und einem lautstark aufs Neue zum Spiel auffordern. Die akustische Dimension dieser Spielmaschinen ist für seine Faszination massgeblich. Doch ist ein Raum, vollgestopft mit über 50 solcher Kästen, nicht schon so eine akustische Reizüberflutung? Klar, daher komme auch der Titel «Spiel Hölle», so Michel Roth. Denn der «Overkill», die Reizüberflutung sei sowohl ein Aspekt in den «echten» Spielhöllen, als auch Thema der Komposition. Und genau diese komplexe akustische Umgebung der Flipperkästen ist Ausgangspunkt des Stückes.

Es beginnt wie ein ganz normaler Flipperclub-Abend. Nach einer Begrüssung durch die Clubmitglieder darf das Publikum die Flipperkästen ausprobieren. Unmerklich beginnt sich die Musik von Michel Roth in diesen Spielabend «hineinzuschmuggeln» und fügt sich in die Klangatmosphäre ein. Die ganze Komposition ist von diesen Flipperkästen abgeleitet. Die Instrumente sind beispielsweise mit Bauteilen aus den Flipperkästen manipuliert: Das Rohr des Saxofons ist mit Flipperkugeln gefüllt, die Schlagzeugerin spielt auf Federn, die benutzt werden, um die Kugeln in den Flipperkasten hinein zu katapultieren. Auch spielen die Musiker*innen nicht streng nach einer fixen Partitur, sondern müssen auf das restliche Geschehen reagieren. Wie die Kugel im Flipperkasten kann die Komposition die eine oder andere Richtung einschlagen.

 

Kommentar und Konfrontation

Michel Roths «Spiel Hölle» ist also ganz von der «echten» Spielhölle im Flipperclub abgeleitet. Doch mit der Zeit emanzipiert sich das musikalische Geschehen immer mehr vom Klingen und Bimmeln der Flipperkästen, beginnt ironisch zu kommentieren und geht auf Konfrontationskurs.

 


Michel Roth, Die Zunge des Gletschers für Stimme mit Kontrabass (UA 2017), Aleksander Gabrys : auch in diesem Stück befasst sich Michel Roth bereits mit dem Einfluss von Spiel und Zufall auf musikalisches Geschehen.

 

 

Michel Roths Hoffnung ist, durch seine kompositorische Manipulation, «die oft sehr düstere Narration der einzelnen Kästen und das kollektive Vibrieren dieser Spielhölle aufzukochen.» Auch wenn bei der Komposition von «Spiel Hölle» das diesjährige Festivalthema «Verwandlung» für Michel Roth nicht so sehr im Fokus stand, so hofft er auf eine Transformation beim Publikum, so dass der Effekt entstehen könne, dass «wir uns alle eigentlich im Inneren eines grossen Flipperkasten befinden.»

In «Spiel Hölle» macht sich Michel Roth mit seinen Musiker*innen Sascha Armbruster (Saxofon), Mats Scheidegger (E-Gitarre), Philipp Meier (Keyboard und Synthesizer), Jeanne Larrouturou (Schlagzeug) und Isaï Angst (Elektronik) auf eine humorvolle und faszinierende Erkundung dessen, was sich im schmucklosen Gewerberaum am Rande von Basel versteckt: jeder der über 50 blinkenden, tönenden und scheppernden Kästen beinhaltet nämlich eine eigene Spielwelt voller unendlicher Möglichkeiten. Michel Roths «Spiel Hölle» passt also sehr gut zum Festival Zeiträume: Sie eröffnet ein komplexes Netzwerk akustischer und narrativer Räume, in denen sich das Publikum verlieren kann, bis es heisst «Game over».
Jaronas Scheurer

 

 

ZeitRäume Basel – Biennale für Neue Musik und Architektur, findet vom  9. Bis 19. September 2021 an diversen Orten und im öffentlichen Raum in der Stadt Basel statt, mit zahlreichen Uraufführungen u.a. von Barblina Meierhans Skript im Lesesaal der Basler Universitätsbibliothek (17.9.), Niemandsland, ein Immersionsraum von Dimitri de Perrot in der Kaserne Basel (10.-12.9.), oder die Oper Poppaea von Michael Hersch und Stephanie Fleischmann im Don Bosco (Kooperation mit WienModern 10./12.9.).

Michel Roths „Spiel Hölle“ wird am 18. und am 19. September im Flipperclub Basel vier Mal aufgeführt, Premiere ist am 18.9. um 16h.

Im ZeitRäume Basel Festivalpavillon an der Mittleren Brücke gibt es bereits ab dem 4. September Liveperformances, Klanginstallationen, Coctails und SUISA-Talks oder Mitmachaktionen zur Einstimmung aufs Festival.

Drei Installationen öffnen ihre Tore bereits vor Festivalstart: 7.9., 18h, Jannik Giger Blind audition, 8.9., 19h, Cathy van Eck Der Klang von Birsfelden und auf dem Feuerschiff Gannet, am 9.9. um 11h Phase 4, ein multidisziplinär-kollektiv entwickelter begehbarer Klangraum im Schiffsbauch.

 

Dimitri de Perrot, Stephanie FleischmannMichael HerschSascha ArmbrusterIsaï Angst

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 29.9.2021, Reportage Barblina Meierhans: Skript, Redaktion Benjamin Herzog

Neo-profiles: Michel Roth, soyuz21, Zeiträume Basel, Barblina Meierhans, Cathy van Eck, , Philipp MeierJeanne LarrouturouMats Scheidegger, Aleksander Gabrys, Ensemble Vortex, ensemble proton bern

Musique de création –  Geheimtipp aus Genf im GdN Basel

Ungewöhnlich ist die Besetzung, und überzeugend : drei Schlagzeuge und zwei Klaviere. Und noch ungewöhnlicher ist die Zusammenarbeit mit dem Cartoon-Kollektiv Hécatombe. In Diĝita verbindet das Genfer Ensemble Batida Musik mit Comics. Zu erleben am 26. November im Gare du Nord, im Saisonschwerpunkt „Romandie“.

Der Schwerpunkt des Basler Bahnhofs für Neue Musik erstreckt sich gleich über drei Saisons, mit drei mal drei Konzerten. Damit stärkt er längerfristig Brücken zur anderen Schweizer Sprachregion. Und gerade jetzt sind diese wichtig: denn die Ensembles aus der frankophonen Schweiz können aufgrund des Lockdowns in der Romandie dort nicht auftreten.

Der neoblog portraitiert die Gastensembles und neo.mx3 begleitet zusammen mit RTS Livesendungen zu den Konzerten.

Folge eins: Ensemble Batida Genève: Ein Portrait

Gabrielle Weber
Zum Gespräch traf ich Jeanne Larrouturou, Perkussionistin und Co-künstlerische Leiterin, per Zoom, im Genfer Lockdown. Larrouturou stammt aus Frankreich und wuchs in Genf auf. Nach dem Studium an der Haute école de musique Genève (HME) spezialisierte sie sich an der Hochschule für Musik Basel (FHNW) auf zeitgenössische Musik. Seither agiert sie als Brückenbauerin zwischen den Szenen der beiden Regionen.

Ensemble Batida: Concert Le Scorpion © Pierre-William Henry

Zur Besetzung von Batida kam es eher zufällig. Als “klassische Bartok-Formation ” sei Batida ursprünglich entstanden, sagt Larrouturou. Sie bezieht sich damit auf Bartoks  Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug von 1937/38 für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuge. Dazu formierten sich 2010 vier der Ensemblemitglieder für ein Schlusskonzert an der HME. Weitere gemeinsame Auftritte folgten. Als eine Perkussionistin die Gruppe für einen Auslandaufenthalt verliess, sprang Larrouturou ein, und blieb anschliessend gleich dabei. Die Kernformation besteht seither unverändert: die drei Perkussionistinnen Jeanne Larrouturou, Alexandra Bellon und Anne Briset ergänzen Viva Sanchez Reinoso und Raphaël Krajka am Klavier.

Ein Glücksfall, denn für die einmalige Besetzung entstanden viele neue Werke. Einerseits von befreundeten KomponistInnen, andererseits durch kollektives Komponieren der Ensemblemitglieder. Und auch das begann zufällig. In einem Projekt mit einer Tanzkompagnie habe der Choreograph Batida gebeten, etwas zu komponieren. “So kamen wir zum ersten Kompositionsauftrag. Und das gemeinsame Komponieren führten wir anschliessend weiter. Als nächstes komponierten wir für ein Projekt mit einem Marionettentheater”, so Larrouturou.

Ensemble Batida, Haïku, kollektive Komposition 2013

“Die Art wie wir komponieren kommt stark aus dem Experimentieren. Wir haben eine Idee der generellen Struktur, eines Konzepts. Dann ‘machen’ wir: wir spielen, wir hören uns gegenseitig an, nehmen uns auf, hören das Aufgezeichnete gemeinsam. Wir strukturieren, organisieren und notieren “. Eine Art der Kreation also, die Improvisation und Notation verbindet. In der Regel werden auch improvisatorische Elemente beibehalten.

musique de création

In einem musikalischen Genre will sich Batida nicht eindeutig verorten. “Wir sehen uns in der zeitgenössischen Musik. Wir mögen aber nicht so sehr was hinter dem Etikett steht”, meint Larrouturou. In Frankreich gäbe es verschiedene gelungenere Bezeichnungen: ‘Musique de création’ sei für sie am treffendesten: “der Begriff ist genug offen, schliesst aber gleichzeitig die alte „zeitgenössische Musik’ aus”.

Ensemble Batida: Mean E, kollektive Komposition 2013

Batida hatte bislang kaum Auftritte in der Deutschen Schweiz. Nach dem Concours Nicati in Bern 2014 folgten Auftritte beim Festival Zeiträume Basel und in Andermatt. Ganz im Gegenteil zur französischen Schweiz wo das Ensemble an vielen Festivals präsent ist, wie auch zum Ausland. In Frankreich, Russland, Portugal, Zypern waren sie bereits auf Tournee. Eine weitere – mit Diĝita in die USA – ist geplant (und wegen der Pandemie bereits schon  verschoben).

Wie erklärt sich Larrouturou diesen überschaubaren Austausch der Sprachregionen?

“Ich lebe seit zirka vier Jahren in Basel und habe mein Netzwerk in Basel, Genf und Lausanne. Mich erstaunt immer wieder, dass die Szenen sich gegenseitig wenig kennen. An der Hochschule in Basel stellte ich fest, dass es grundsätzliche Unterschiede in der ästhetischen Ausrichtung gab. An gewissen Musikschaffenden kommt man in Basel nicht vorbei, die waren aber in der Romandie kaum präsent. Die französische Schweiz ist stärker mit Frankreich, die deutsche Schweiz stärker mit Deutschland vernetzt”, meint Larrouturou.

Zusammen mit dem Komponisten Kevin Juillerat, Basler Studienkollege und in Lausanne domiziliert, kuratiert Larrouturou die Lausanner Konzertreihe Fracanaüm. Dort versuchen die beiden solche Gräben zu überwinden. ” Die Frage woher jemand kommt stellen wir uns gar nicht. Wir laden unser Netzwerk aus beiden Regionen ein. Aus solchen kleinen Initiativen entstehen Beziehungen auf lange Sicht “, ist Larrouturou überzeugt.

Batida geht es aber auch um Brücken zwischen den Sparten. Die meisten Projekte sind  transdisziplinär angelegt und entstehen in Kollaboration mit weiteren Kunstschaffenden, mit Tanz, Marionettentheater, Architektur, Video oder Comiczeichnern.

Mit dem Genfer Zeichnerkollektiv Hécatombe kollaborieren Batida seit einem ersten gemeinsamen Projekt 2016 laufend.

Ensemble Batida & Hécatombe: Oblikvaj, kollektive Komposition 2016-2018

“Beim ersten gemeinsamen Projekt Oblikvaj (2016-2018 ) stellte sich gleich heraus, dass wir dieselbe Wellenlänge hatten. Jedes der fünf Hécatombe-Mitglieder schuf eine grafische Partitur, je einen 24seitigen schwarz-weiss Comic. Batida reagierte darauf mit kollektiven Kompositionen. Das funktionierte blendend”. Später gab es dann Konzerte mit Live-Begegnungen.

In Diĝita geht es nun erstmals um den gemeinsamen Kreationsprozess. “Im Sommer 2019 vergruben wir uns alle zusammen in einer 14tägigen Retraite in einem alten Hof ‘au milieu de nulle part’. Wir brachten keine Instrumente mit, sondern sammelten vorhandene Klänge und zeichneten diese auf, bspw. von grossen Maschinen, Traktoren und Motoren.”

Diĝita, Trailer ©Gare du Nord, Batida & Hécatombe

Der Titel Diĝita steht einerseits konkret für die ‘Finger’, andererseits für digital vs. analog. Die aufgezeichneten und gesampelten Klänge verweisen auf das Digitale, die Musikerperformer auf die Arbeit mit Fingern. Die Musiker spielen innerhalb eines transparenten Kubus. Die Wände sind Screens, auf die 3D-Videos der Zeichner projiziert werden: lebensgrosse Comicfiguren auf den Videos überlagern und verfremden so die realen Musikerkörper im Kubus.

Diĝita konnte am 31. Oktober noch ein Konzert in Lausanne geben: “Das war ein Erlebnis in extremis. Uns war klar, dass wir sobald nicht mehr live spielen würden und wir haben den Moment noch stärker ausgekostet” meint Larrouturou dazu. Die weitere Diĝita -Tournee mit Folgekonzerten in Genf ist nun durch den Lockdown der Romandie unterbrochen.

En passant stellte sich im Gespräch heraus, dass Batida dieses Jahr gerade sein zehnjähriges Bestehen feiert. Ein Fest mit Partnern und Publikum in Genf sei geplant, aufgrund der Pandemie werde es aber sicherlich erst 2021 stattfinden.
Gabrielle Weber

 

Ensemble Batida Portrait ©Batida

Ensemble Batida: Klaviere: Viva Sanchez Reinoso, Raphaël Krajka
Percussion; Jeanne Larrouturou, Alexandra Bellon, Anne Briset
Diĝita: Video: Giuseppe Greco, Ton: David Poissonnier

Gare du Nord: Batida & Hécatombe: Diĝita, 26.11.20, 20h
(aufgrund des Basler Lockdowns spielten sie 2x für 15 Personen, mit Livestream für alle anderen)

Ensemble Batida, FracanaümKevin Juillerat, haute école de musique genève – neuchâtel, Hochschule Musik Basel, Hécatombe,

Sendung RTS:
l’écho des pavanes, 20.11.20, rédaction Anne Gillot, Gespräch mit Désirée Meiser, Intendantin Gare du Nord
Sendung SRF 2 Kultur:
in: Musik unserer Zeit zu neo.mx3, 21.10.20, Redaktion Florian Hauser / Gabrielle Weber

neo-Profiles: Ensemble Batida, Gare du NordAssociation Amalthea, Kevin Juillerat