Vom Zauber der Zusammenarbeit

Bei den Donaueschinger Musiktagen 2023 bringt das Ensemble Ascolta Dunst – als käme alles zurück von Elnaz Seyedi zur Uraufführung. Es ist als Auftragswerk des Ensembles im Tandem mit der Schriftstellerin Anja Kampmann entstanden.
Elnaz Seyedi im Portrait von Friederike Kenneweg.

 

Die Komponistin Elnaz Seyedi, lächelnd, schwarz gekleidet und vor grauem Hintergrund.
Portrait der Komponistin Elnaz Seyedi. © Roya Noorinezhad

 

Friederike Kenneweg
Komponieren heißt für Elnaz Seyedi immer auch: Zusammenarbeit. Die Komponistin, die 1982 in Teheran geboren wurde und u.a. bei Younghi Pagh-Paan in Deutschland und Caspar Johannes Walter an der Hochschule für Musik Basel studiert hat, zieht viel Energie aus den ganz unterschiedlichen Begegnungen und Konstellationen, die ihre Tätigkeit mit sich bringt. Dunst – als käme alles zurück ist für Elnaz Seyedi die zweite Zusammenarbeit mit dem Ensemble Ascolta.

“Das ist schon ein Vorteil, weil die Musiker wissen, was sie von mir erwarten können, und sich dann anders auf die Arbeit mit mir einlassen können.”

 

Das Glück auf der Suche nach Klängen

Das führte zu besonderen Glücksmomenten bei den Vorproben für Seyedis Donaueschingen-Debüt, als sie mit allen Musikern des Ensembles in Einzelproben nach den richtigen Klängen für das Stück suchte. Zum Beispiel mit dem Schlagzeuger Boris Müller.

“Er holte immer noch mehr Sachen und Muscheln und Steine hervor, und am Ende sah der ganze Raum aus, als hätten da lauter Kinder acht Stunden lang gespielt, und ich bin nach Hause gefahren mit Material für drei Stücke. Das ist einfach das Schönste und gibt mir viel Energie.”

 


Auch Glasfluss von Elnaz Seyedi entstand aus einer engen Zusammenarbeit mit der Perkussionistin Vanessa Porter im Jahr 2022.

 

Wagnis: Gemeinsam komponieren

Eine besondere Form der Zusammenarbeit verbindet Elnaz Seyedi mit dem Komponisten Ehsan Khatibi, der ebenso wie sie aus dem Iran stammt und mit dem sie schon lange befreundet ist. Als sie 2019 beim Besuch des Impuls-Festivals in Graz zufällig im Hotel Zimmernachbarn waren und daraufhin viel Zeit miteinander verbrachten, stellten sie fest, wie ähnlich sie über Musik dachten und wie fruchtbar die Diskussionen über Konzerte und Musik waren. Und so kam die Idee auf, gemeinsam zu komponieren. Bereits das erste Projekt, ein Entwurf für eine Ausschreibung der Neuköllner Oper Berlin für eine Kammeroper, entfaltete einen erstaunlichen Sog. “Erst hatten wir nur eine kleine Idee, aber in drei Wochen hatten wir ein fertiges Konzept, inklusive Licht und Bühnenbild.” Auch wenn ihr Entwurf nicht genommen wurde: ein Anfang war gemacht.

 

Ehrlichkeit als Voraussetzung

Mit dem Entwurf für eine Umsetzung von Der Fremde von Albert Camus, bei dem der Philosoph Johannes Abel ihr Planungsteam ergänzte, erhielten sie schon den zweiten Preis bei einem anderen Kompositionswettbewerb. Und bei den Bludenzer Tagen für zeitgemäße Musik wurde 2021 ihre gemeinsame Komposition ps: and the trees will ask the wind für Kontrabass-Paetzold-Flöte, Violine, Objekte, Audio- und Videozuspielung uraufgeführt, in dem sie zusammen die gesellschaftspolitischen Ereignisse im Iran künstlerisch verarbeiteten.

“Wir haben da inzwischen eine Art gefunden, wie wir gegenseitig miteinander genauso kritisch sein können wie mit uns selbst. Wir sind sehr ehrlich in der gemeinsamen Arbeit, und das macht es manchmal auch schwer, aber wenn wir uns mal nicht einig sind, machen wir so lange weiter, bis wir beide zufrieden sind. Und am Ende kommen wir zusammen auf eine viel bessere Lösung.”

 


In Die Zeiten – Versuch (über das Paradies) für Bariton und Klavier, das im August 2023 beim Lucerne Festival uraufgeführt wurde, vertonte Elnaz Seyedi einen Text des iranischen Dichters Ahmad Shamlou.

 

Arbeiten an neuen Orten

Inspiration zieht Elnaz Seyedi auch aus Ortswechseln, wie sie das Reisen mit sich bringt. Aus diesem Grund mag sie auch Aufenthaltsstipendien besonders. Denn der Abstand vom Alltag, findet die Komponistin, lässt einen plötzlich die Schönheit des Gewohnten erkennen, die einem sonst im Trott verborgen bleibt – ein Gedanke, den sie in Postkarte (Moorlandschaft mit Regenbogen) verarbeitet hat, das sie 2016 für das Ensemble S201 aus Essen komponierte. 2020 führte ein Aufenthaltsstipendium der Bartels Fondation sie in den Kleinen Markgräflerhof in Basel. Und als sie 2021 einige Monate im Künstlerhof Schreyahn in Niedersachsen verbrachte, war sie am Ende dieser Zeit selbst ganz erstaunt, wie produktiv sie dort gewesen war.

 

Das Orchesterstück A Mark of your breath von Elnaz Seyedi wurde vom Aufenhalt im Künstlerhaus Schreyahn inspiriert – vor allem von der Weite des Himmels und der Landschaft im Wendland.

 

‘Dunst’ – Uraufführung in Donaueschingen 2023

Auch in diesem Herbst arbeitet Elnaz Seyedi dank eines Aufenthaltsstipendiums an einem anderen Ort: im Künstlerhaus Otte in Eckernförde, wo sie ihre Arbeit mit Konzerten und Filmabenden dem dortigen Publikum nahe bringen kann. Außerdem hat sie dort gerade die Partitur von Dunst – als käme alles zurück abgeschlossen. Für das Konzertprogramm Echoräume des Ensembles Ascolta bei den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen haben sich zwei künstlerische Tandems aus einer Komponistin und einer Schriftstellerin gebildet und, dabei ganz frei in ihrer Herangehensweise, je ein gemeinsames Werk erarbeitet. In dem Stück von Elnaz Seyedi und der Autorin Anja Kampmann für zwei Stimmen und Ensemble geht es um die Ästhetik des Fragments und den Übergang zwischen Sprache und Musik.

Und wer weiß, welche kompositorischen Ideen der Aufenthalt in der Hafenstadt an der Ostsee für Elnaz Seyedi noch so mit sich bringt.
Friederike Kenneweg

 

Uraufführung Donaueschinger Musiktage: Samstag, 21. Oktober 2023, 11:00, Mozart-Saal Donaueschingen, Konzert Echoräume mit dem Ensemble Ascolta: Elnaz Seyedi und Anja Kampmann Dunst – als käme alles zurück; Iris ter Schiphorst und Felicitas Hoppe: Was wird hier eigentlich gespielt?

Elnaz SeyediDonaueschinger Musiktage 2023, Ensemble Ascolta, Younghi Pagh-Paan, Caspar Johannes Walter, Hochschule für Musik BaselAnja Kampmann, Ehsan Khatebi, Vanessa Porter, Ensemble S201, Neuköllner Oper, Künstlerhaus Otte Eckernförde, Künstlerhof Schreyahn, Bludenzer Tage für zeitgemäße Musik, Lucerne Festival, Impulsfestival Graz, Bartels Fondation

 

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 2.6.2021: Nach neuen Meeren – die Komponistin Elnaz Seyedi, Redaktion Cécile Olshausen

neo-profiles:
Elnaz SeyediDonaueschinger MusiktageLucerne Festival Contemporary Orchestra

 

 

 

Enno Poppe: Composer in Residence @Lucerne Festival 2023

Enno Poppe gilt als einer der originellsten Komponisten unserer Zeit. Die Musik des 55-Jährigen ist hochkomplex und dennoch äusserst attraktiv für die Ohren und oft spannend wie ein Krimi. Enno Poppe ist diesjähriger composer-in-residence am Lucerne Festival. Dort wird u.a. sein Werk Fett zu hören sein und das Orchesterstück Prozession. Annelis Berger hat den Komponisten getroffen.

Annelis Berger
Er ist ein Stadtmensch durch und durch: «Das Leben auf dem Land wäre mir zu kompliziert. Ich wohne sehr gerne in der Stadt, wo ich jederzeit einen Liter Milch kaufen kann, ohne viel überlegen zu müssen. Was nicht heisst, dass ich nicht auch gerne mal auf einen Berg steige oder in einen See springe». Dafür wird er in Luzern leider keine Zeit haben: «Man schafft es nicht, das weiss ich vom letzten Mal, als ich mit der Academy gearbeitet habe. Ich betreue dort rund 100 junge Menschen, die alle gierig und hungrig nach Wissen sind; die wollen von morgens bis abends arbeiten und Dinge erleben, da kann ich hinterher nicht noch auf einen Berg steigen».

 

Portrait Enno Poppe © Ricordi: Harald-Hoffmann

 

Poppe selber hat in Berlin Komposition und Dirigieren studiert, lebt bis heute in der deutschen Hauptstadt und arbeitet in ganz Europa mit den wichtigsten Ensembles für zeitgenössische Musik. Ich treffe den Komponisten in Zürich, wo er eben mit dem Ensemble Collegium Novum Zürich geprobt hat. Ein hochsommerlicher Spätnachmittag, Poppe konnte gerade noch ein Bier trinken vor dem Interview. Wir reden zuerst darüber, was seine Musik ausmacht.

«Ich mag intensive Musik, ich mag es, wenn ich die Hörer*innen mitnehme. Und ich mag expressive Musik. Aber ich muss eine neue Form von Expressivität suchen, Expressivität darf nicht nur behauptet sein, nicht aufgestülpt oder sentimental. ich kann nicht die Expressivität einer Bruckner-Sinfonie nehmen, ich muss eine finden, die mit der heutigen Zeit etwas zu tun hat, und mit den Mitteln, die heute da sind. Es ist nicht einfach ein Suchen nach neuen Klängen, sondern die Suche nach einer neuen Expressivität. Das ist etwas, was mich permanent beschäftigt.»

Exemplarisch dafür steht das Stück Prozession. «Das Werk ist eigentlich ein einziger Wachstumsprozess», meint Poppe. «Es beginnt mit einzelnen Tönen, daraus entstehen Melodien, daraus Akkorde, die ballen sich zusammen zu choralartigen Stellen, und das Stück schaukelt sich immer weiter auf, wird immer intensiver. Formal sind es neun grosse Steigerungswellen, die sechste ist die grösste, dann baut es langsam wieder ab. Jeder einzelne Musiker im Ensemble hat hier eine Solostimme und führt dann jeweils einen Teil an, bis dann der nächste Teil mit dem nächsten Soloinstrument kommt.»

 

Enno Poppe, Prozession, 2015/20, Ensemble Musikfabrik Köln, Dirigent Enno Poppe, Ensemblefestival for Contemporary Music 2020, Leipzig Kölner Philharmonie Nov. 22nd, 2020

 

Eine wichtige Inspirationsquelle für dieses Werk war für Poppe die katholische Prozession «Semana Santa» in Sevilla, die jedes Jahr in der Karwoche stattfindet. «Die laufen sieben Tage lang durch die Stadt, 24 Stunden am Stück mit Blaskapellen und Trommeln, da ist die Basler Fasnacht ein Klacks dagegen. Diese spanische Prozessionsmusik hat mit dem Stück einen tiefen Zusammenhang, ohne dass ich sie direkt zitiere.»

 

Prozession ist ein Werk, das beim Hören einen Sog entwickelt, da es tatsächlich immer dichter und dichter wird. Und dem kann man sich kaum entziehen, es vermittelt auch das Gefühl von Hartnäckigkeit: vor dieser Musik gibt’s kein Entrinnen, ihre Expressivität ist sehr direkt.

Ein kompositorisches Mittel für die Expressivität findet Enno Popp im Glissando und im Vibrato. Das zeigt sich sehr schön in Wald von 2010 für vier Streichquartette. Seit vielen Jahren beschäftige sich Enno Poppe mit dem «bewegten» Ton, u.a. auch inspiriert von der asiatischen Tradition von Tönen, die immer in Bewegung sind, das heisst, man hört nie zweimal den gleichen Ton, der Musiker, die Musikerin intoniert ihn jedes Mal anders. Damit hat Enno Poppe oft gearbeitet. «Bei Wald rutscht jeder Ton ständig, bewegt sich nach oben und unten, hin und her. In den verschiedensten Geschwindigkeiten. Das ist wiederum ungemein expressiv. Weil jeder einzelne Ton beseelt wird.»

 


Auch im Ensemblewerk Scherben beschäftigt sich Enno Poppe mit dem “bewegten” Ton, in der Aufnahme mit dem Collegium Novum Zürich, Dirigent: Enno Poppe, 2008, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Enno Poppe redet bereitwillig über seine Musik. Selten gibt es Komponisten, die dies so unverkrampft und entspannt tun. Das macht ein Treffen mit ihm sehr angenehm.

Und natürlich möchte ich mit Enno Poppe auch noch über das Werk Fett reden, einer der Höhepunkte am Lucerne Festival, dirigiert von Susanna Mälkki im grossen Saal des KKL: «Das Stück IST tatsächlich fett! Sonst dürfte es nicht so heissen», meint er schmunzelnd. In dieser Komposition verzichtet Poppe komplett auf Melodien und Themen und alles andere, was klassischerweise Sinfonik auszeichnet. Akkordballungen haben ihn hier interessiert – zunächst nur viertönige Akkorde, die immer grösser werden. «Gegen Ende haben wir 40-50-tönige Akkorde! Und zwar nicht nur Oktaven, sondern das sind mikrotonale Ballungen.»

 


Enno Poppe, Fett (2018/19): Helsinki Philharmonic Orchestra, Dirigentin Susanne Mälkki, UA 10.5.2019, Helsinki Music Center

 

Zum Schluss geht’s im Gespräch um die Arbeitsweise des Komponisten.  Das Arbeiten, sprich komponieren und dirigieren, mache ihm eigentlich immer Spass. Sonst würde er es gar nicht machen. Und manchmal, wenn er für ein neues Werk eine Tür aufstosse in eine neue klangliche Welt – so wie bei Fett die mikrotonalen Ballungen – dann sei es für ihn sehr einfach, weil er sich sehr schnell in der neuen Welt zurechtfinde. «Fett ging unheimlich schnell. Ich war so richtig in Schwung. Es war unberührtes Gelände, und das belebt mich immer, ich kann dann manchmal sehr rasch arbeiten. Für Fett habe ich zirka zehn Wochen gebraucht, mir ist es eigentlich ein Rätsel, warum es so schnell ging, weil da ja unglaublich viele Töne drin sind in diesem Werk.» Eine Leichtigkeit ist da zu spüren – und gerade das zeichnet Enno Poppes Musik auch aus: sie ist komplex und vielschichtig, aber nie sperrig. Und sie nimmt den Hörer mit auf eine Reise durch eine Welt, die nie stillsteht.
Annelis Berger

 

LUCERNE FESTIVAL, Sommerfestival 2023: Das Ensemble Intercontemporain interpretiert Werke des Composer in Residence, Enno Poppe; mit Enno Poppe als Dirigent. Luzern, 13.08.2023 © LUCERNE FESTIVAL / Priska Ketterer

 

Enno Poppe am Lucerne Festival 2023

Susanna Mälkki, Ensemble Musikfabrik

Sendungen SRF 2 Kultur:
Künste im Gespräch, 3.8.2023, Enno Poppe, Composer in Residence am Lucerne Festival, Redaktion Annelis Berger.

Musik unserer Zeit, 13.9.2023, Enno Poppe im Portrait, Redaktion Annelis Berger.

Neo-Profile:
Enno PoppeLucerne Festival Contemporary, Collegium Novum Zürich

 

 

Das Lucerne Festival Forward nimmt “ein sauberes Ende”

Jaronas Scheurer
Vom 18. bis 20. November 2022 findet in Luzern das Lucerne Festival Forward statt. Neben grosse Namen der internationalen zeitgenössischen Musik-Szene wie Anna Thorvaldsdottir, Patricia Kopatchinskaja und Tito Muñoz steht auch die kollektive Intervention Ein sauberes Ende zum Schluss des Festivals auf dem Programm.

 

Der Luzerner Komponist, Musiker und Experte für Reinigungsmaschinen Urban Mäder, zVg. von Urban Mäder.

 

Der Luzerner Komponist und Musiker Urban Mäder bezeichnete sich im Interview als Experte für die verschiedensten Reinigungsmaschinen – und das hat gute Gründe. Denn für den Schlusspunkt des diesjährigen Lucerne Festival Forward (LFF) stehen für einmal nicht die Musiker:innen des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LCFO) im Rampenlicht, sondern unter anderem das Reinigungspersonal des KKL mitsamt ihren verschiedenen Staubsaugertypen, Nasswischern und Reinigungsmaschinen.

 


Urban Mäder und Peter Allamand: Klanginstallation ‘Balgerei’ im Rahmen des Festivals Alpentöne, Altdorf 2015.

 

Recherchearbeit um 6 Uhr morgens

Nach der ersten Ausgabe des LFF letztes Jahr und der in diesem Rahmen stattfindenden Aufführung des Stücks Ricefall von Michael Pisaro durch 49 Lai:innen aus der Bevölkerung, findet auch dieses Jahr am LFF eine partizipative Aktion statt: Ein sauberes Ende. Eine kollektive Intervention nennt sich die Aktion und dahinter stecken Urban Mäder, Nora Vetter, Pia Matthes und Peter Allamand. Und diese kollektive Intervention findet als Schlusspunkt des letzten Konzerts des vom 18. bis am 20. November stattfindenden LFF statt. Nun, was gibt es am Ende eines Festivals oder eines Konzertes zu tun: Putzen, damit das Ganze auch ein sauberes Ende nimmt. Von dieser Prämisse gingen die vier Künstler:innen aus und beschäftigten sich intensiv mit dem ganzen Putzequipment, das dafür zum Einsatz kommt. Denn, nach jedem Konzert im Kultur- und Kongresszentrum Luzern trabt am nächsten Morgen um 6 Uhr das fünfzehnköpfige Reinigungspersonal der Firma Vebego an und bringt den Konzertsaal, das Foyer, die Toiletten und alle Räumlichkeiten wieder auf Hochglanz. Die Mitarbeitenden benutzen dafür jedoch nicht Eimer und Besen, sondern etliche topmoderne Reinigungsmaschinen. Das Team hinter der Intervention Ein sauberes Ende habe sich intensiv mit den verschiedenen Maschinen beschäftigt und genau untersucht, was für Klänge aus all dem unterschiedlichen Reinigungsequipment herauszuholen seien, wie Urban Mäder berichtete. Sie hätten sich auch um 6 Uhr morgens mal ins KKL begeben, um dem Vebego-Team bei der Arbeit zuzuschauen. Aus dieser Recherchearbeit entstand dann eine Art Komposition für eine Gruppe von Lai:innen, die sich auf einen Aufruf des LFF hin als Performer:innen gemeldet haben.

 

Die Bratschistin, Komponistin und Performerin Nora Vetter, zVg. von Nora Vetter.

 

Das Team hinter Ein sauberes Ende

Hinter Ein sauberes Ende stecken neben dem Luzerner Komponist und Dozent für Improvisation Urban Mäder die Bratschistin, Komponistin und Performerin Nora Vetter, die Künstlerin und Szenografin Pia Matthes, die eine starken Affinität zur Klangkunst besitzt, und der langjährige Kollaborateur von Urban Mäder, Peter Allamand. Jede:r der vier Künstler:innen bringt eine andere Sichtweise mit hinein, so Nora Vetter im Gespräch. Urban Mäder besitze eine ganz eigene Klangsprache und einen unglaublichen Erfahrungsschatz in diesem Bereich, Pia Matthes habe ein sehr gutes Gefühl für Dramaturgie und, als ausgebildete Produktdesignerin, ein Auge für das Visuelle, Peter Allamand wisse wahnsinnig viel über das Funktionieren der Dinge und habe eine grosse Lust und Freude am Ausprobieren und Rumtüfteln. So habe er beispielsweise zu einer Sitzung der Vier einen Laubbläser mitgebracht, damit sie im Café, wo sie sich trafen, direkt ausprobieren konnten, wie so ein Ding klingt und funktioniert. Und für sie selbst, sagt Nora Vetter, sei, neben dem Fokus auf den klanglich-kompositorischen Aspekt, den sie mit Urban Mäder teile, die politische Dimension in dieser Arbeit von grosser Bedeutung. So sei es für sie wichtig gewesen, dass auch das tatsächliche Reinigungspersonal auftritt. Es haben sich daraufhin vierzehn der fünfzehn angestellten Reinigungskräfte gemeldet.

Während die Musiker:innen auf der Bühne aus aller Welt kommen und zu Recht für ihre Leistungen kräftig gefeiert werden, bleibt das häufig migrantisierte Reinigungspersonal im Verborgenen. Des Weiteren haftet dieser Tätigkeit das Klischee an, dass den Putzenden leider nichts anderes übrigbleibe. “Doch” so Nora Vetter “am Ende des Tages ist sowohl Musik machen als auch Putzen einfach Arbeit und beides ist gleichermassen notwendig dafür, damit ein Festival wie das LFF überhaupt durchgeführt werden kann.”

 


Nora Vetter: ‘Dream Paralysis’, latenz ensemble, Zürich 2021.

 

Ernst nehmen

Ernst nehmen – unter diesem Stichwort lassen sich vielleicht die verschiedenen Anliegen hinter der kollektiven Intervention Ein sauberes Ende versammeln: Ernst nehmen der Menschen, die die so wichtige, aber unsichtbare Arbeit des Putzens und Aufräumens übernehmen. Und ernst nehmen des klanglichen, ja gar musikalischen Potentials des Putzequipments.

 

Der Konzertsaal des Kultur- und Kongresszentrums Luzern, der am 20. November beim “sauberen Ende” gereinigt wird. ©KKL Luzern

 

Das Ziel der Aktion sei nicht, eine lustige Show abzuziehen, sondern die klanglichen Möglichkeiten der Reinigungstätigkeit und der Putzgeräte ernst zu nehmen, so Urban Mäder. Ihre Intervention basiere auf einer klaren musikalischen Vorstellung, das sei vergleichbar mit klassischen Kompositionen. “Wenn man ein Orchesterstück schreibt, kennt man sich mit der Zeit aus bei den Holzbläsern, den Blechbläsern, den Perkussionsinstrumenten usw. Wir kennen uns jetzt halt aus bei all den Putzmaschinen und wie die klingen.” Und vor allem – sieht das Publikum auch endlich mal die Menschen, die dafür sorgen, dass sich das KKL bei jedem Konzert von Neuem sauber, aufgeräumt und in tadellosem Zustand präsentiert, und kann sich dafür bei diesen meistens unsichtbaren Personen mit dem gebührenden Applaus bedanken.
Jaronas Scheurer

 

Trailer zur Intervention “Ein sauberes Ende” von Urban Mäder, Nora Vetter, Peter Allamand und Pia Matthes. Lucerne Festival Forward, 20. November 2022, KKL Luzern.

 

Das Lucerne Festival Forward fand vom 18. bis am 20. November in Luzern statt.
Die kollektive Intervention Ein sauberes Ende wurde im Rahmen des Abschlusskonzerts am 20. November im Konzertsaal des KKL uraufgeführt.
Neben Urban Mäder und Nora Vetter gehörten auch Pia Matthes und Peter Allamand zum Team hinter Ein sauberes Ende.

Neo-Profile:
Urban Mäder, Nora Vetter, Patricia Kopatchinskaja, Lucerne Festival Contemporary Orchestra

Natur und Kultur sind eng verwoben

String Creatures, Liza Lims neues Stück für das Jack Quartet aus den USA, kommt am Lucerne Festival am 14. August zur Uraufführung. Natur und Kultur in ihrem Verhältnis und das Zusammenspiel verschiedener Kulturen sind zentrale Themen im Werk der australischen Komponistin. Mit ihrem Blick auf die schwindende Schönheit der Natur sensibilisiert sie für ökologische Themen.
Ein Portrait.

 

Portrait Liza Lim ©Ricordi/Harald Hoffmann

 

Gabrielle Weber
Transkulturelle Ideen und Kollaboration, Schönheit der Natur, Wahrnehmung von Zeit, Ritual und ökologische Verbindungen – so beschreibt Liza Lim ihre künstlerischen Anliegen. Ihre Homepage mit eigenen blog zieren Aufnahmen von Natur – immer in Verbindung mit dem Menschen: im neusten post sind das Impressionen von Berliner Naherholungszonen, gerahmte Blicke aus dem Fenster, Ansichten von Häuserfassaden nachts im Grünen.

 

Die Aussicht aus Liza Lims Arbeitszimmer in Berlin ©Liza Lim

 

2021/22 war Liza Lim für ein Jahr lang composer in residence beim Wissenschaftskolleg (WIKO) in Berlin. Nach zwei Jahren pandemiebedingter drastischer Einschnitte ins Konzertleben sei sie vom lebendigen Berliner Konzertleben und den zahlreichen Begegnungen am WIKO euphorisiert gewesen, schreibt Lim. Die Schatten von Covid, der Kriegsausbruch in der Ukraine, die Unterstützung geflüchteter Kulturschaffender aber auch die emotionale Komplexität im Umgang mit Musiker:innen aus der Ukraine und Russland in Berlin hätten sie schwer beeindruckt. Die Stimmung sei in ihre neuen, dort entstandenen Stücke eingeflossen.

Der Blick aus dem Berliner Fenster hat einen inneren Zusammenhang mit ihrem künstlerischen Schaffen. Lim sieht Natur immer in Verbindung zum Menschen. Sie lebt eng auf die Natur bezogen. Und ihre Musik thematisiert Ökologie, Klimaschutz und die Veränderung der Umwelt durch den Menschen im Anthropozän, dem vom Menschen bestimmten Erdenzeitalter.

In Australien in der Grossstadt Perth am Indischen Ozean 1966 geboren, wuchs Lim in Brunei auf der Insel Borneo auf, bevor sie für die Ausbildung wieder nach Australien zurückkehrte. Die frühe Kindheit im Tropenparadies und das Verhältnis von westlicher und indigener Kultur und Natur in Australien prägen ihr Sensorium für Natur und Kultur, aber auch für das Zusammenspiel verschiedener Kulturen. Seit 2017 Professorin am Sydney Conservatorium of Music, schrieb Lim nebst Solo-, Kammermusik und Ensemblewerken u.a. vier Opern, bspw. Tree of Codes (2016), ein Musiktheater über Herkunft und Erinnerung und Zeit. Daneben arbeitet sie auch immer wieder genreübergreifend und installativ, wie 2011 zusammen mit dem Licht-Künstler Carsten Nicolai in Escalier du chant, einer architektonischen Intervention mit Performance, uraufgeführt mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart in der Münchner Pinakothek.

In Berlin entstanden mehrere Werke, in denen sie ihre aufwühlenden Eindrücke verarbeitete. Bspw. das Klavier-Orchesterwerk World as Lover, world as self, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 2021.

 

Liza Lim, World as lover world as self for piano and orchestra, UA Donaueschingen 15.10. 2021, Orchestre philharmonique de Luxembourg, Dirigent Ilan Volkov, Tamara Stefanovich, Klavier.

 

World as lover, world as self ist geprägt vom Motiv der Trauer. Der Titel bezieht sich auf eine Publikation der Umweltaktivistin, Ökologin und Buddhistin Joanna Macy, deren Gedankengut Lim seit langem begleitet. Nach Macy könnten aus Trauer und einem tiefen Mitempfinden ein neuer Bezug zum Leben und umso grössere innige Freude entstehen.

 

Magische Seiltricks

 

Während ihres Berliner Jahres entwickelte Lim auch ihr neues 30minütiges Streichquartett String Creatures für das Jack Quartet. Auch String creatures befasst sich mit der Dualität von Trauer und Freude.

 

Workshop Jack Quartet, WIKO Berlin Januar 2022 ©Liza Lim: Hier setzt der Bratschist John Richards sein Instrument Seiltricks aus.

 

Das Quartett versteht Lim als lebendiges Ganzes, als hybriden mehrköpfigen Organismus. Die Streichersaiten haben für Lim etwas Magisches, sie seien als Material lebendig und beseelt. In einer Eingangssequenz mit Titel «Cats Craddle: 3 diagrams of griev» – Katzennest – drei Diagramme der Trauer befragt Lim die Streichersaiten als natürliches Material, das mittels Verknoten, Flechten oder Weben als Ursprung von Gewebe dienen könnte. An einem Workshop mit dem Quartett im Januar experimentierte sie mit magischen Seiltricks. Und Lim erwähnt im Gespräch als Inspiration auch Finger-Fadenspiele, wie sie Kinder miteinander spielen. Beides fand im übertragenen Sinn Eingang ins Stück, in ein sich immer wieder neu verflechtendes Klanggewebe.

String Creatures endet mit der Metapher des Baus eines Nests, des Inbegriffs von Geborgenheit: A nest is woven from the inside out – ein Nest wird von innen nach aussen gewoben. Der Vogel baut es rund um den eigenen Körper.

 

Nonverbale Kommunikation

 

Streichinstrumente spielen in Lim Oeuvre schon immer eine zentrale Rolle. Der Streicherklang steht für subtile nonverbale Kommunikation.  In ihrem grossen Ensemblewerk Extinction Events and Dawn Chorus (2018), unternimmt eine Geigerin in einer intimen Schlüsselszene den Versuch, einem Perkussionisten auf seinem Tamburin das Geigenspiel beizubringen. Die resultierenden Klänge haben eine eigene Schönheit, voll kratzender Harmonie. Die Kommunikation verläuft auf anderer Ebene als die Musik-sprachliche.

 


Liza Lim: Extinction, Events and Dawn Chorus, Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO),Forward 2021, Dir. Mariano Chaicchiarini, Luzern 2021, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Liza Lim versteht es, Gegensätze in Schönheit zu verweben und dennoch ihr gelebtes Anliegen geltend zu machen. Wir Menschen sind verantwortlich für die Natur und für unser Zusammenleben. Das Schicksal des Planeten liegt in unserer Hand. Damit ist sie wegweisend für eine jüngere Komponist:innengeneration, die sich über Musik hinaus um die Konsequenzen unseres Handelns und die Zukunft unserer Welt sorgt.
Gabrielle Weber
Lucerne Festival, Konzert Sonntag, 14.8., 14:30hString creatures, UA Liza Lim &Jack Quartett,
Liza LimJoanna Macy, Carsten Nicolai, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Wissenschaftskolleg zu Berlin

Lucerne Festival, 8.8.-11.9.2022, widmet diese Ausgabe unter dem Motto Diversity insbesondere dem im Klassikbetrieb nach wie vor vernächlässigten musikalischen Schaffen von people of colour.

String Creatures geht nach Luzern auf Tournee in New York, Berlin, Schwaz und Melbourne.

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 14.9.2022: Liza Lim – Verwebung von Natur und Kultur, Redaktion Gabrielle Weber

Musik unserer Zeit, 1.12.2021: Lucerne Festival Forward – neue Hörsituationen für neue Musik, Redaktion Gabrielle Weber


Neo-Profiles:
Liza Lim, Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)

Eine Seele – viele Seelen: Dieter Ammann 60

Dieter Ammann, Komponist grosser Orchesterwerke und bekennender Langsamschreiber feiert seinen 60igsten Geburtstag, u.a. mit Konzerten der Basel Sinfonietta und des Luzerner Sinfonieorchesters.

Musikredaktor Florian Hauser traf ihn zum persönlichen Portraitgespräch:

 

Dieter Ammann Portrait © Dieter Ammann

 

Eine Seele

… von Mensch. Der, wenn er sich Zeit nimmt, viel davon hat. Der fragt, erzählt, lacht und lebt, bei einem Interview zum Beispiel, bei Kaffee und Ostereiern und Tabak, und ganz langsam, unmerklich geht es zur Sache, geht es hinein in die verschiedenen Schichten der Konzentration. Oder – auch das kann sein – die Assoziationen springen nur so und die Themen jagen sich. Ein Treffen mit Dieter Ammann ist ein direkter Ausdruck dessen, wie es in seinem Inneren zugeht. Da wo sie wohnen: die …

 

Zwei Seelen

 

… in seiner Brust. Aus denen er Energie saugt: Da ist die improvisierende, vorwärts stürmende Seele, und da ist die komponierende, reflektierende. Sie befeuern sich gegenseitig, und die eine erscheint wie das Reversbild der anderen. Treffen sie aufeinander, entsteht ein Netz von Kräften, die in verschiedene Richtungen zerren und die Musik bis zum Zerreissen spannen. Beim Improvisieren zwingt einen der Auftritt, die Mitmusiker, der Groove dazu, im Fluss zu bleiben und immer weiterzumachen. Wenn er eine Idee hat, dann spielt er sie. Wenn er dagegen als Komponist eine Idee hat, dann zerlegt er sie, legt sie auf den Prüfstein. Da wird dieses Unbewusste angehalten. Die Zeit wird angehalten. Dann probiert er, experimentiert, klopft die Ideen ab, ob sie etwas taugen und wie viel sie taugen. So ist die Musik, die Ammann komponiert, wie eine eingefrorene Improvisation. „Wenn ich mit einem Stück fertig bin“, sagt der ausgesprochene Langsamschreiber Ammann, „ist es für mich wie ein Schmuckstück, ein Kleinod, das ich poliert habe. Ich lege es dann weg, schaue in die nächste Schachtel – und die ist wieder vollkommen leer. Dann beginne ich wieder von neuem.“

 

Von 2014 bis 2016 komponierte der Langsamschreiber Dieter Ammann sein Orchesterstück glut für Orchester, hier in der Aufnahme mit dem Lucerne Festival Academy Orchestra, Dir. George Benjamin, 1. September 2019, KKL Lucerne Festival, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Viele Seelen

 

Mit Altrocker Udo Lindenberg oder Jazzlegende Eddie Harris hat Dieter Ammann gejammt, sich als Trompeter, Saxofonist und Bassist bei den Donkey Kongs und in Steven’s Nude Club ausgetobt, an den Jazzfestivals Köln, Willisau, Antwerpen und Lugano ist er aufgetreten.

Komposition und Theorie hat er studiert, bei Roland Moser und Detlev Müller-Siemens, bei Witold Lutoslawski und Wolfgang Rihm. Dann, Anfang der 90er, stellte ihn das Ensemble für Neue Musik Zürich in einem Konzert mit komponierenden Jazzern vor. Das war eine Initialzündung mit Folgen: erste CD, erste Auszeichnungen – er wird bekannt. Als composer-in-residence in Davos und anschliessend beim renommierten Lucerne Festival. Es regnet Preise: Schweizer Musikpreis, Hauptpreis der IBLA-Foundation New York, Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung (den Siemens-Hauptpreis, den ‘Nobelpreis’ der Musik bekommt er irgendwann auch noch…)

 

Was ist so besonders an Ammans schneller, vitalen Musik? Dass sie keinen Leerlauf kennt. Die ständige Bewegung und das Unerwartete kennt sie, und ständig kann sie implodieren oder explodieren.

Mit dem Ergebnis, dass sich die Energie seiner Musik unmittelbar mitteilt: Es ist nicht eine Musik, bei der man das Gefühl hat, man müsse sich erst durch eine dicke Schale beissen, bevor man an den Kern herankommt. Nein, die Kontaktaufnahme funktioniert schnell: Da wird man nicht nur eingeladen, sondern geradezu mitgezogen, mitgerissen.

 

Noch mehr Seelen

 

Das spüren und davon profitieren auch seine Student*innen. Seit über 30 Jahren unterrichtet Ammann an der Hochschule Luzern die Fächer Komposition Klassik, Komposition und Arrangement Jazz sowie Theorie Klassik. Er fördert und fordert die jungen Kolleg*innen, denn er ist beileibe keiner, der Nachfolger züchten will. „Ich will die Studierenden nicht in eine vornherein definierte ästhetische Richtung zwingen, sondern sie vielmehr dazu bewegen, ihren eigenen Weg zu gehen und die musikalische Sprache zu entwickeln, die in jedem Einzelnen von ihnen angelegt ist.“

 


Am Geburtstagskonzert der Basel Sinfonietta kommen auch zwei Orchesterwerke von Dieter Ammanns Student:innen zur Uraufführung, u.a. von der jungen, aus Armenien stammenden Komponistin Aregnaz Martirosyan (*1993), hier ihr Orchesterstück Dreilinden: UA durch das Armenien national Philharmonic Orchestra, am 14. Mai 2021

 

Wohin ihn seine eigene, in ihm angelegte Sprache noch führt? Wohin sie sich entwickelt? Keine Ahnung. Und das ist auch gut so. „Vielleicht ist es eben genau das: dieses Unsicher-Sein und dieses permanente Suchen, was mich am Komponieren wirklich reizt. Das Spannende am Komponieren ist eben dieses es-ist-so-noch-nicht-da und ich muss das jetzt irgendwie mir erarbeiten.“

 

Ammann ist nicht einer, der dem Selbstgelingen der Arbeit als Beobachter zuschauen kann. Aus der Vogelperspektive sozusagen. „Ich bin nicht der Vogel, ich bin eher der Frosch. Wenn ich zwei gekreuzte Grashalme vor mir sehe, muss ich mir überlegen, ob ich rechts oder links herum gehe, mittendurch schlüpfe oder darüber springe. Von oben betrachten kann ich die Grashalme aber nicht. Ein Beispiel: ich habe in der Vertikalen, also im Harmonischen, den Anspruch, dass jeder gesetzte Ton zu jedem anderen in einer sinnvollen Beziehung steht. Dass dies, gerade in einer Textur für Orchester, zu äusserst langwierigen Entscheidungsprozessen führt, liegt auf der Hand. Als intuitiv vortastender Komponist kann ich ja keinerlei Verantwortung an die Prädisposition des musikalischen Materials abschieben, da diese Vorformungen gar nicht existieren. Nebst der Tonhöhe gilt dasselbe natürlich auch für alle anderen musikalischen Aspekte, inklusive der nicht planbaren Gestaltwerdung der Gesamtform: ich bin in allen Belangen die einzige, immer ungesicherte (und unsichere) Beurteilungsinstanz.“

Ad multos annos, lieber Frosch!
Florian Hauser


Udo Lindenberg, Eddie Harris, Detlev Müller-Siemens, Witold Lutoslawski, IBLA-Foundation – New York, Ernst von Siemens MusikstiftungJazzfestival WillisauEstival Jazz Lugano
Basel Sinfonetta «Musik am Puls der Zeit», 23.5.22: Dieter Ammann – Sechzig Jahre im Groove, Gespräch mit Robin Keller und Baldur Brönnimann

 

Konzerte zum Geburtstag:
Basel Sinfonietta:
Donnerstag, 26. Mai, 19h, Stadtcasino Basel : 5. Abo-Konzert «60 Jahre im Groove», Dieter Ammann: «Unbalanced instability» für Violine und Kammerorchester (2013), «Core» (2002), «Turn» (2010), «Boost» (2000/01) für Orchester, Dirigent Principal Conductor Baldur Brönnimann, Solistin Simone Zgraggen (Violine)
18h Pre-Concerttalk Dieter Amman & Uli Fussenegger (Leiter Zeitgenössische Musik Hochschule für Musik FHNW) / Vorkonzert Studierende FHNW

Sonntag, 22. Mai,19h, Club auf dem Jazzcampus Basel: Dieter Ammann live in concert im intimen Rahmen als Improvisator auf Keyboards, an der Trompete und am Bass, mit Jean-Paul Brodbeck (Piano), Christy Doran (Guitar) und Lucas Niggli (Drums, Percussion)

Luzerner Sinfonieorchester:
Dieter Ammann zum 60. Geburtstag: “Glut”, 31. 5. 2022, KKL, 19:30h, Dir. Michael Sanderling

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 18.5.2022, 20h / Samstag, 21.5.2022, 21h: Durchwachte Nacht. Mit und zu Dieter Ammann, Redaktion Florian Hauser.

Musik unserer Zeit, Neue Musik auf dem Sofa, Mittwoch, 23.2.2022: u.a. über glut von Dieter Ammann, mit Doris Lanz und Marcus Weiss, Redaktion Benjamin Herzog
neoblog, 21.8.2020: Ich bin einer der langsamsten Komponisten Europas, Dieter Ammann im Gespräch zum Film Gran Toccata, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile:
Dieter Ammann, Basel Sinfonietta, Wolfgang Rihm, Roland Moser, ensemble für neue musik zürich, Aregnaz Martirosyan, Davos Festival young artists in concert, Lucerne Festival ContemporarySwiss Music Prices, Luzerner Sinfonieorchester

Exzellenzorchester für neue Musik

Benjamin Herzog
Lucerne Festival Contemporary Orchestra heisst ein neu geschaffener Klangkörper des am 13. August angelaufenen Lucerne Festival. Das neue Orchester ist stark eingebunden in die ebenfalls neu geschaffene Sparte „Contemporary“, mit der das Lucerne Festival über eine einzigartige Struktur für die Ausübung neuer Musik verfügt.

Felix Heri, Leiter der Sparte “Contemporary“ erklärt, was so einzigartig ist daran.
Sie sind zwischen 30 und 35 Jahren alt, sind aktuelle und ehemalige TeilnehmerInnen der Lucerne Festival Academy und sie spielen neu seit diesem Jahr in einem Orchester, das, so Felix Heri, ein „Exzellenzorchester für neue Musik“ werden soll. Es hat also einen ähnlichen Anspruch wie das vor bald zwanzig Jahren gegründeten Lucerne Festival Orchestra (LFO). Jenem Klangkörper, dem unter der Leitung seines ersten Dirigenten Claudio Abbado geradezu magische Qualitäten nachgesagt wurden.

 

Portrait Felix Heri ©Gregor Brändli / zVg Lucerne Festival

 

 

Der 35-jährige Solothurner Felix Heri ist der Kopf der neuen Sparte „Contemporary“ des Lucerne Festival. Er hat in Luzern Klarinette und in Basel Kulturmanagement studiert, und war anschliessend sechs Jahre lang Geschäftsführer beim Orchester basel sinfonietta. Seit letztem Jahr nun ist Heri Leiter von Lucerne Festival Contemporary.

Lucerne Festival Contemporary: das ist ein Dach, unter dem sich eine dreiteilige, organisch gewachsene und laufend weiterentwickelnde Struktur befindet. Akademie, Orchester und ein (statt dem gestrichenen Piano-Festival) im November stattfindendes, neues Festival, genannt Lucerne Festival Forward. „Wir haben ein einzigartiges Netzwerk von 1300 Leuten auf der ganzen Welt“, erklärt Heri: „Musikerinnen und Musiker, die irgendeinmal die Festival Academy besucht haben, und im damaligen Orchester der Academy oder im Alumni-Orchester mitgespielt haben, in- und ausserhalb des Festivals.“ Es seien die „Besten und Interessiertesten“, die nun im Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) mitspielen.

 

Gründer Boulez

Seine Kenntnisse vertiefen, wie neue Musik im Orchester gespielt werde. Das ist Ziel der 2003 noch vom 2016 verstorbenen Pierre Boulez gegründeten Festival Academy. Einer Art Meisterklasse für neue Musik, seit fünf Jahren von Wolfgang Rihm geleitet. Die Resultate dieser Arbeit konnten FestivalbesucherInnen bislang in den Konzerten des zur Akademie gehörenden Orchesters hören. “Einem Orchester, dem -wenn auch nur ganz leicht- doch der Duft eines Studentenorchesters anhaftete”, wie Heri heute sagt.

 

Magische Anziehung

2013 bildeten die ehemaligen AkademistInnen sodann ein “Alumni-Orchester”, also die nächste, schon professionellere Stufe. Offenbar funktioniert der Luzerner Magnet. Wer hier unter Grössen wie Pierre Boulez oder Wolfgang Rihm gelernt hat, will wiederkommen. Dieses Alumni-Orchester spielte auch ausserhalb des Festivals. Und ausserhalb Luzerns. Uraufführungen in New York, London, Peking, Zürich und auch Luzern zeugen von Netzwerkcharakter und Ausstrahlung.

 


Wolfgang Rihm, Dis-Kontur für grosses Orchester (1974/84): Lucerne Festival Alumni, Leitung Ricardo Chailly, 8.9.2019 KKL Lucerne Festival, Eigenproduktion SRG SSR

 

Logische Weiterentwicklung

Das nun neu gegründete LFCO ist die logische Weiterentwicklung dieser Struktur. Es ist die Zusammenführung der beiden ehemaligen Orchester, die personell ohnehin nie ganz getrennt waren. „Alle Mitglieder des LFCO haben mindestens einmal die Festival Academy besucht“, sagt Heri. „Hier spielen die Besten und Talentiertesten dieser Jahrgänge mit.“  Darüber hinaus gibt es pro Stimmgruppe je einen „Leader“, fünfzehn an der Zahl. Diese StimmführerInnen wählen ihrerseits die weiteren Mitglieder ihrer Gruppe, ihres Registers aus, die dann für maximal zwei Jahre im Orchester mitspielen können. Durch diese Mitbestimmung ist ein organisches Zusammenwachsen möglich.

 

Alumni der Lucerne Festival Academy im “Gedenkkonzert für Pierre Boulez”, Leitung
Matthias Pintscher (Luzern, 20.03.2016) © Priska Ketterer / zVg Lucerne Festival

 

Exzellenz trifft aus Exzellenz

StimmführerInnen sind zurzeit bspw. die vier Mitglieder des Arditti Quartetts, sowie für die Trompeten der Niederländer Marco Blaauw oder der Pianist Nicolas Hodges für die Tasteninstrumente. Dass das LFCO seine Mitglieder nicht danach beurteilt, auf welcher Sprosse der Karriereleiter sie stehen, sondern nach deren persönlicher Hingabe, zeigt sich darin, dass es keine Altersgrenze gibt und weder Akademisten noch bereits arrivierte MusikerInnen ausgeschlossen sind. So spielen im LFCO und unter der sommerlichen Luzerner Festivalsonne auch MusikerInnen des Klangforum Wien, des Ensemble Intercontemporain oder des Frankfurter Ensemble Moderne mit. 

Darin gleicht der neue Luzerner Moderne-Klangkörper sehr seinem älteren Bruder, dem Lucerne Festival Orchestra. Hier wie dort spielen Profis aus den führenden Orchestern ihres Genres mit. Für das Festival sollen künftig beide Orchester gleich starke Aussenwirkung haben.

 

Mit oder ohne Chef? – Mitsprache des Orchesters

Das neue Orchester hat aber, anders als das LFO mit zurzeit Riccardo Chailly, keinen Chefdirigenten, keine Chefdirigentin. „Wir diskutieren, ob es das braucht“, sagt Felix Heri. Eine solche Position habe Vor- und Nachteile. „Die Vorteile sind klar: mehr Ausstrahlung, Renommee, eine andere Art von Netzwerk. Aber es ist auch gut, die DirigentInnen zu den Projekten jeweils ganz gezielt auszuwählen.“ Und auch bei dieser Wahl setzt das LFCO auf Mitbestimmung aller Mitglieder. Mitsprache wird auch bei der Programmwahl grossgeschrieben. So verantwortet das Sommerprogramm zwar nach wie vor der künstlerische Leiter des Orchesters, Wolfgang Rihm. Das Programm des neuen Herbstfestivals „Forward“ wird aber von den Führungsfiguren des Orchesters selbst beeinflusst. Sie fungieren kollektiv als Co-KuratorInnen.

 

Barblina Meierhans, Auf Distanz, für Bassflöte und kleines Ensemble (UA 2020), Lucerne Festival Alumni, Leitung Baldur Brönnimann, Lucerne Festival KKL 23.8.2020, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ein Showcase der neuen Musik

Dieses Jahr wird das LFCO bereits an den renommierten Donaueschinger Musiktagen oder an den Berliner Festspielen auftreten und für 2022 ist eine internationale Orchestertournee geplant. Gerade das Herbstfestival in Luzern aber soll, so Heri, zu einem „Showcase der neuen Musik“ werden und dabei aktuelle Strömungen aus Europa, den USA und Asien aufzeigen. Ermöglicht wird das durch die globale Vernetzung der Mitglieder des Orchesters, deren Leader und deren eigener Netzwerke.

 

Kollektives Mastermind

Von seiner früheren Arbeit bei der “basel sinfonietta” kennt Heri basisdemokratische Strukturen im Orchester. So weit geht das LFCO aber nicht. Aber: „Die Mitbestimmung bringt eine starke Identifikation mit sich “ betont Heri. Diese brauche es in einem auf neue Musik spezialisierten Orchester viel mehr als in einem klassischen Sinfonieorchester. „Wir nehmen die Leute ernst mit ihren Ideen.“ Das sei eine einzigartige Ausgangslage. „Wir sind ein kollektives Mastermind.“

Und er wiederholt: „Für mich soll das Orchester Massstäbe setzen. Wir wollen mutig sein und auch neue Konzertformate ausführen. Dabei ist die Einbindung in das Lucerne Festival natürlich ein Vorteil. Gleichzeitig aber wollen wir uns die nötigen Freiheiten nehmen, um davon losgelöst ein Pendant zum Festival Orchester zu werden. Das ist unser Ziel, daran messen wir uns.“
Benjamin Herzog

 

Probe Lucerne Festival Academy, Leitung Heinz Holliger © Stefan Deuber / zVg Lucerne Festival

 

Das LFCO bestreitet auch die diesjährige Opernproduktion des Luzerner Theaters in Koproduktion mit dem Lucerne Festival, Mauricio Kagels „Staatstheater“, 5.9. (Premiere)-19.9.21

Konzerte LFCO am Lucerne Festival 2021

Das Herbstfestival Lucerne Festival Forward findet vom 19. bis 21. November 2021 statt.

 

Klangforum Wien, Ensemble Intercontemporain, Ensemble Modern, Donaueschinger Musiktage, Riccardo Chailly, Felix Heri, Pierre Boulez, Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel, Claudio Abbado, Arditti Quartet, Marco Blaauw, Nicolas Hodges

Sendungen SRF 2 Kultur:
neoblog, 1.8.21: Engagement für neue und neuste Musik – Rebecca Saunders composer in residence @ Lucerne Festival 1, Text Gabrielle Weber

Kontext – Künste im Gespräch 26.8.2021: Rebecca Saunders: composer-in-residence Lucerne Festival, Redaktion Annelis Berger

Kultur kompakt Podcast, 30.8.2021 (ab 4:59min): Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Redaktion Florian Hauser

Musik unserer Zeit, 22.9.2021, 20h: Rebecca Saunders, Redaktion Annelis Berger

Neue Musik im Konzert, 22.9.2021, 21h: Portraitkonzert Rebecca Saunders 2, u.a. the mouth & skin

neo-profiles:
Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Wolfgang Rihm, Lucerne Festival Academy, Lucerne Festival ContemporaryBasel Sinfonietta