Natur und Kultur sind eng verwoben

String Creatures, Liza Lims neues Stück für das Jack Quartet aus den USA, kommt am Lucerne Festival am 14. August zur Uraufführung. Natur und Kultur in ihrem Verhältnis und das Zusammenspiel verschiedener Kulturen sind zentrale Themen im Werk der australischen Komponistin. Mit ihrem Blick auf die schwindende Schönheit der Natur sensibilisiert sie für ökologische Themen.
Ein Portrait.

 

Portrait Liza Lim ©Ricordi/Harald Hoffmann

 

Gabrielle Weber
Transkulturelle Ideen und Kollaboration, Schönheit der Natur, Wahrnehmung von Zeit, Ritual und ökologische Verbindungen – so beschreibt Liza Lim ihre künstlerischen Anliegen. Ihre Homepage mit eigenen blog zieren Aufnahmen von Natur – immer in Verbindung mit dem Menschen: im neusten post sind das Impressionen von Berliner Naherholungszonen, gerahmte Blicke aus dem Fenster, Ansichten von Häuserfassaden nachts im Grünen.

 

Die Aussicht aus Liza Lims Arbeitszimmer in Berlin ©Liza Lim

 

2021/22 war Liza Lim für ein Jahr lang composer in residence beim Wissenschaftskolleg (WIKO) in Berlin. Nach zwei Jahren pandemiebedingter drastischer Einschnitte ins Konzertleben sei sie vom lebendigen Berliner Konzertleben und den zahlreichen Begegnungen am WIKO euphorisiert gewesen, schreibt Lim. Die Schatten von Covid, der Kriegsausbruch in der Ukraine, die Unterstützung geflüchteter Kulturschaffender aber auch die emotionale Komplexität im Umgang mit Musiker:innen aus der Ukraine und Russland in Berlin hätten sie schwer beeindruckt. Die Stimmung sei in ihre neuen, dort entstandenen Stücke eingeflossen.

Der Blick aus dem Berliner Fenster hat einen inneren Zusammenhang mit ihrem künstlerischen Schaffen. Lim sieht Natur immer in Verbindung zum Menschen. Sie lebt eng auf die Natur bezogen. Und ihre Musik thematisiert Ökologie, Klimaschutz und die Veränderung der Umwelt durch den Menschen im Anthropozän, dem vom Menschen bestimmten Erdenzeitalter.

In Australien in der Grossstadt Perth am Indischen Ozean 1966 geboren, wuchs Lim in Brunei auf der Insel Borneo auf, bevor sie für die Ausbildung wieder nach Australien zurückkehrte. Die frühe Kindheit im Tropenparadies und das Verhältnis von westlicher und indigener Kultur und Natur in Australien prägen ihr Sensorium für Natur und Kultur, aber auch für das Zusammenspiel verschiedener Kulturen. Seit 2017 Professorin am Sydney Conservatorium of Music, schrieb Lim nebst Solo-, Kammermusik und Ensemblewerken u.a. vier Opern, bspw. Tree of Codes (2016), ein Musiktheater über Herkunft und Erinnerung und Zeit. Daneben arbeitet sie auch immer wieder genreübergreifend und installativ, wie 2011 zusammen mit dem Licht-Künstler Carsten Nicolai in Escalier du chant, einer architektonischen Intervention mit Performance, uraufgeführt mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart in der Münchner Pinakothek.

In Berlin entstanden mehrere Werke, in denen sie ihre aufwühlenden Eindrücke verarbeitete. Bspw. das Klavier-Orchesterwerk World as Lover, world as self, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 2021.

 

Liza Lim, World as lover world as self for piano and orchestra, UA Donaueschingen 15.10. 2021, Orchestre philharmonique de Luxembourg, Dirigent Ilan Volkov, Tamara Stefanovich, Klavier.

 

World as lover, world as self ist geprägt vom Motiv der Trauer. Der Titel bezieht sich auf eine Publikation der Umweltaktivistin, Ökologin und Buddhistin Joanna Macy, deren Gedankengut Lim seit langem begleitet. Nach Macy könnten aus Trauer und einem tiefen Mitempfinden ein neuer Bezug zum Leben und umso grössere innige Freude entstehen.

 

Magische Seiltricks

 

Während ihres Berliner Jahres entwickelte Lim auch ihr neues 30minütiges Streichquartett String Creatures für das Jack Quartet. Auch String creatures befasst sich mit der Dualität von Trauer und Freude.

 

Workshop Jack Quartet, WIKO Berlin Januar 2022 ©Liza Lim: Hier setzt der Bratschist John Richards sein Instrument Seiltricks aus.

 

Das Quartett versteht Lim als lebendiges Ganzes, als hybriden mehrköpfigen Organismus. Die Streichersaiten haben für Lim etwas Magisches, sie seien als Material lebendig und beseelt. In einer Eingangssequenz mit Titel «Cats Craddle: 3 diagrams of griev» – Katzennest – drei Diagramme der Trauer befragt Lim die Streichersaiten als natürliches Material, das mittels Verknoten, Flechten oder Weben als Ursprung von Gewebe dienen könnte. An einem Workshop mit dem Quartett im Januar experimentierte sie mit magischen Seiltricks. Und Lim erwähnt im Gespräch als Inspiration auch Finger-Fadenspiele, wie sie Kinder miteinander spielen. Beides fand im übertragenen Sinn Eingang ins Stück, in ein sich immer wieder neu verflechtendes Klanggewebe.

String Creatures endet mit der Metapher des Baus eines Nests, des Inbegriffs von Geborgenheit: A nest is woven from the inside out – ein Nest wird von innen nach aussen gewoben. Der Vogel baut es rund um den eigenen Körper.

 

Nonverbale Kommunikation

 

Streichinstrumente spielen in Lim Oeuvre schon immer eine zentrale Rolle. Der Streicherklang steht für subtile nonverbale Kommunikation.  In ihrem grossen Ensemblewerk Extinction Events and Dawn Chorus (2018), unternimmt eine Geigerin in einer intimen Schlüsselszene den Versuch, einem Perkussionisten auf seinem Tamburin das Geigenspiel beizubringen. Die resultierenden Klänge haben eine eigene Schönheit, voll kratzender Harmonie. Die Kommunikation verläuft auf anderer Ebene als die Musik-sprachliche.

 


Liza Lim: Extinction, Events and Dawn Chorus, Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO),Forward 2021, Dir. Mariano Chaicchiarini, Luzern 2021, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Liza Lim versteht es, Gegensätze in Schönheit zu verweben und dennoch ihr gelebtes Anliegen geltend zu machen. Wir Menschen sind verantwortlich für die Natur und für unser Zusammenleben. Das Schicksal des Planeten liegt in unserer Hand. Damit ist sie wegweisend für eine jüngere Komponist:innengeneration, die sich über Musik hinaus um die Konsequenzen unseres Handelns und die Zukunft unserer Welt sorgt.
Gabrielle Weber
Lucerne Festival, Konzert Sonntag, 14.8., 14:30hString creatures, UA Liza Lim &Jack Quartett,
Liza LimJoanna Macy, Carsten Nicolai, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Wissenschaftskolleg zu Berlin

Lucerne Festival, 8.8.-11.9.2022, widmet diese Ausgabe unter dem Motto Diversity insbesondere dem im Klassikbetrieb nach wie vor vernächlässigten musikalischen Schaffen von people of colour.

String Creatures geht nach Luzern auf Tournee in New York, Berlin, Schwaz und Melbourne.

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 14.9.2022: Liza Lim – Verwebung von Natur und Kultur, Redaktion Gabrielle Weber

Musik unserer Zeit, 1.12.2021: Lucerne Festival Forward – neue Hörsituationen für neue Musik, Redaktion Gabrielle Weber


Neo-Profiles:
Liza Lim, Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)

Stilles Beben – Der Komponist Charles Uzor

Mit sieben Jahren hat er seine Muttersprache Igbo vergessen und eine neue Sprache gelernt: Schweizerdeutsch. Der Komponist Charles Uzor macht sich in seiner Musik auf den Weg zurück in seine nigerianische Kindheit, in die «pochende und bebende Natur» der afrikanischen Tropen, zur fernen Stimme seiner Mutter. Cécile Olshausen hat Charles Uzor besucht.

Charles Uzor Portrait ©zVg Charles Uzor

Cécile Olshausen
Es regnet, als ich in St. Gallen aus dem Zug steige. Mein Smartphone zeigt mir den Weg zu Charles Uzors Wohnung. Er lebt mitten in der St. Galler Innenstadt, nur zwei Minuten zu Fuss. Trotzdem schaffe ich es, mich zu verlaufen.

Umwege haben mich zu Charles Uzor geführt. Vor vielen Jahren sassen wir einmal zufällig nebeneinander in einem Konzert, haben uns unterhalten. Seither habe ich seinen Namen, seine Musik immer wieder gehört. Persönlich aber sind wir uns nie mehr begegnet.

Jetzt öffnet er mir die Türe und ich schüttle ein paar Regentropfen ab, bevor ich eintrete. Charles Uzor empfängt mich in seiner grosszügigen Stadtwohnung. Mein Blick fällt auf einen Flügel, auf Wände voller Bücher und CDs, in der Küche plätschert der Heizkörper wie ein Springbrunnen. Ein Sonnenschirm lehnt in einer Ecke des Wohnzimmers und erinnert an den Sommer, während draussen über dem kleinen Balkon ein riesiger Weihnachtsstern hängt.

Am Stubentisch nehmen wir Platz. Und von der städtischen Adventsbeleuchtung direkt vor seinem Fenster führt uns unser Gespräch langsam hinein in die Lebens- und Klangwelten von Charles Uzor. In eine Biografie, in der sich so viele Wege kreuzen.

In Nigeria ist Charles Uzor 1961 zur Welt gekommen. Wenige Jahre später entbrannte in seiner Heimatregion Biafra ein grausamer Kampf um Unabhängigkeit. Mit sieben Jahren entkam er den Kriegs-Gräueln. In St. Gallen fand Charles Uzor eine neue Familie. Hier ging er zur Schule, machte seine Matura. Studien – zuerst Oboe, dann Komposition – führten ihn nach Rom, Bern, Zürich und London. Seine Dissertation schliesslich schrieb er über Melodie und innerliches Zeitbewusstsein. Charles Uzors Werke sind vielseitig: Opern, Tanz-, Orchester- und Chorkompositionen, aber auch viele Stücke für Ensemble-Besetzungen.

Über seine Musik verbindet sich Charles Uzor mit seiner Vergangenheit, mit seiner Kindheit in Nigeria.

Unsere Unterhaltung verläuft ruhig, es ist ein Gespräch, das Stille zulässt. Ein Stille, die ich auch in manchen Stücken von Charles Uzor wiederfinde. Zum Beispiel in    Nri/ mimicri (2015/2016) für Ondes Martenot, Schlagzeugensemble und Tonband. Das ist keine linear sich entwickelnde Komposition, vielmehr ein Klangraum, durch den man sich aufmerksam hörend tastet. Als betrete man ein Tropenhaus und befinde sich – kaum ist man über die Schwelle getreten – in einer völlig anderen Welt. Nri/ mimicri ist für Charles Uzor eine Annäherung an seinen «afrikanischen Ursprung», wie er es selbst formuliert, ein Stück, in dem man «das Pochen und Beben der Natur» wahrnehmen könne. Und es ist eine Referenz an seine Urahnen, die Nri, ein sagenumwobenes nigerianisches Volk.


Charles Uzor, Nri/mimicri, Percussion Art Ensemble Bern, UA 2016, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzor ist Igbo und im Südosten von Nigeria aufgewachsen, im Nigerdelta, einer Region mit tropischem Regenwald und vielen Flüssen. Mit seiner Familie hat er sich auf Igbo unterhalten. Als er dann mit sieben Jahren in die Schweiz kam, hat sich diese Sprache innerhalb kürzester Zeit verflüchtigt. Und blieb verschwunden. Bis heute treibt es Charles Uzor um, dass er seine Muttersprache einfach vergessen konnte.

.. traditionelle Igbo-Sprichwörter auf Band gesprochen..

Glückliche Umstände haben dazu geführt, dass er nach dem Biafrakrieg seine Familie wiederfand. Mittlerweile Teenager und fest verankert in seiner Schweizer Lebenswelt, entschied sich Charles Uzor, bei seiner St. Galler Familie zu bleiben. Mit seiner nigerianischen Mutter, die heute in den USA lebt, steht er seither aber im Kontakt. Und in seinem Zyklus Mothertongue (2018) hört man ihre Stimme. Sie hat traditionelle Igbo-Sprichwörter auf Band gesprochen.


Charles Uzor, Mothertongue Fire / mimicri for tape, Maria Christina Uzor, 2018

Uzor verarbeitet diese Aufnahmen zu einer Komposition und verbindet sich so klanglich mit einer Sprache, die er nicht mehr versteht. Mit seiner Muttersprache.


Charles Uzor, Mothertongue für Mezzosopran, Ensemble und Tonband, Ensemble Mothertongue, UA Musikfestival Bern 2020, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzors kompositorische Wege führen ihn nicht nur zurück in die Vergangenheit seiner afrikanischen Kindheit, sondern auch in weit entfernte Jahrhunderte. Während einer kurzen Gesprächspause, in der wir die Fenster öffnen und frische Luft hereinlassen, werfe ich einen Blick auf Charles Uzors überbordendes, buntes CD-Regal – und mir fällt auf: viel Musik von Pérotin, Guillaume de Machaut, Johannes Ockeghem oder Costanzo Festa. Woher diese Liebe zur Alten Musik komme, möchte ich von Charles Uzor wissen, als wir den Gesprächsfaden wieder aufnehmen.

In dieser vorbarocken Musik öffne sich, so Uzor, eine Weite und Wildheit, eine Ordnung und Struktur, die ihn magisch anziehe: «Ich habe oft das Gefühl, ich war da dabei; da kommen mir Bilder von mir als Renaissancemenschen, so nah empfinde ich das.» Und diese Musik mit ihren Reigen, Rhythmen und Repetitionen hat für Charles Uzor auch etwas Afrikanisches. So finden in seinen Kompositionen Alte Musik und afrikanische Sprach-Klänge zusammen. Wege, die sich treffen, Momente der Begegnung.

Was sich in seiner Musik mühelos verbindet, das Alte und das Neue, das Afrikanische und das Schweizerische, erfährt in seinem Alltag Risse. Denn als Schwarzer ist Charles Uzor von Rassismus betroffen – auch hier in der Schweiz. Und das, wie er mir erzählt, jeden Tag. Alltäglicher Rassismus.

8’46” – solange dauerte der Todeskampf des George Floyd

Charles Uzor hat auch nicht geschwiegen, als George Floyd ermordet wurde. Der schwarze US-Bürger, der im Mai 2020 durch Polizeigewalt zu Tode kam und dessen Mord weltweit Proteste ausgelöst hat, – zusammen mit der Bewegung «Black Lives Matter». Charles Uzor hat damals das Stück 8’46’’ Sekunden komponiert – solange dauerte der Todeskampf von George Floyd, dem der Atem abgedrückt wurde. Die Komposition besteht nur aus Atemgeräuschen. Für Charles Uzor war es eine Notwendigkeit, dieses Stück zu schreiben, um seine eigene tiefe Erschütterung zu verarbeiten und nach aussen zu tragen.


Charles Uzor, 8’46” – Floyd in memoriam, UA Musikfestival Bern 2020, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzors Hommage an George Floyd wurde am 4. September 2020 in Bern uraufgeführt. Ich habe diesen Konzertmoment in eindrücklicher Erinnerung. Eine konzentrierte Aufführung des Ensembles Mothertongue mit dem Dirigenten Rupert Huber. In keinem Moment pathetisch. Und am Ende der 8’46’’ kein Applaus – sondern Betroffenheit, Schweigen und einfach nur Stille.

Der Regen hat aufgehört und es ist dunkel geworden. Lange haben wir uns unterhalten. In der Küche kocht Charles Uzor einen Kaffee und das beruhigende Plätschern des Heizkörpers holt uns aus den Tiefen der Gesprächswelt zurück in die Gegenwart. Dann breche ich auf Richtung Bahnhof. Jetzt kenne ich den Weg.
Cécile Olshausen

 

Charles Uzor Portrait ©zVg Charles Uzor

Musikfestival Bern – Mothertongue, Rupert HuberPercussion Art Ensemble Bern

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 16.12.20, 22h: Pochen und Beben – der Komponist Charles Uzor, Redaktion Cécile Olshausen.

Neo-Profile: Charles Uzor, Musikfestival BernPercussion Art Ensemble Bern

“Ich bin einer der langsamsten Komponisten Europas..”

Dieter Ammann startet weiter durch: mit seinem an den BBC Proms London uraufgeführten und danach weltweit gespielten Klavierkonzert  „The Piano Concerto – Gran Toccata“ erklimmt der in Luzern und Bern lehrende Aargauer Komponist eine neue Karrieresprosse. Nun strahlt das Schweizer Fernsehen SRF in der Sternstunde Musik ein vielschichtiges Portrait aus (auch zu sehen: Ende blogpost). Der Filmemacher Daniel von Aarburg begleitete Ammann in den drei Jahren der Entstehungszeit des Klavierkonzerts: es entstand ein dichtes, subtiles und humorvolles Portrait über einen nicht immer einfachen Prozess, mit Einblicken in Proben, Konzerte und auch private Situationen. Auch Ammanns Jugend und sein Werdegang werden beleuchtet. Im Gespräch mit Gabrielle Weber äussert er sich zum making of von Film und Konzert.

Dieter Ammann beim Komponieren

Für die Komposition von Gran Toccata nahmen Sie sich drei Jahre Zeit, Sie bezeichnen das Komponieren eines neuen Werks als eine Reise.. War das Filmprojekt auch eine Reise?

Es war eine wechselvolle Reise: Ich steckte bereits in einem freien Filmprojekt, initiiert vom Regisseur Arthur Spirk, einem grossen Musikkenner und -liebhaber. Dann wollte SRF selbst ein Filmportrait produzieren. Im Einvernehmen aller wurden die Dreharbeiten komplett neu aufgegleist. Die Regie übernahm Daniel von Aarburg. Bereits beim ersten Treffen sprang sofort der Funke über und daraus entwickelte sich eine unglaublich schöne Zusammenarbeit.

Wie entwickelte sich die Geschichte..?

Ich begab mich mit grossem Vertrauen in die Hände des Filmteams. Der Regisseur schlug jeweils vor, was er filmen wollte. Es entstand enorm viel gutes Material. Gemäss dem Motto “kill your darlings” musste reichlich geschnitten werden. So fehlen etwa meine Unterrichtstätigkeit an der Hochschule Luzern und einige private Szenen, was ich schade finde, bin ich doch unheimlich stark verwurzelt in meiner Familie und der nächsten Umgebung.

Sie leben und arbeiten mehrheitlich in der Nacht.. wie war das kompatibel, wie verlief die Zusammenarbeit mit der Filmcrew?

Für die Filmcrew war es nicht einfach nur ein Job. Sie hat sich komplett reingekniet. So wurde es auch erst möglich, persönliche Dinge aus dem Privatleben zu filmen. Sie nahm auch wie selbstverständlich auf meinen Rhythmus Rücksicht, legte die Dreharbeiten auf den Nachmittag oder drehte auch mal tief in der Nacht. Da war grosser Idealismus dabei.

..und mit dem Solisten, dem Pianisten Andreas Haefliger?

Die Zusammenarbeit klappte sehr gut, war aber nicht immer problemlos.. Gewisse Dinge mussten wir regelrecht ausfechten. Es war spannend, den Weg zusammen zu gehen, und es ist eine Beziehung fürs Leben entstanden.

„The Piano Concerto – Gran Toccata” war und ist ein Riesenerfolg, weltweit: Bekannt ist, dass Sie sich zuerst lange gegen das Schreiben eines Klavierkonzerts sträubten und nur unter der Bedingung akzeptierten, dass eines der US-“Big five”-Orchester* dabei sei… War die Zusage aus Boston ein Schock? War sie inspririerend..?

Ich wollte mich damit eigentlich dieser riesigen Aufgabe entziehen. Ich sage generell bei Aufträgen nur zu, wenn ich voll und ganz hinter den Bedingungen stehen kann. Bei einer früheren Anfrage für eine Oper stellte ich beispielsweise die Bedingung von acht Jahren Entstehungszeit. Diese konnte mir nicht garantiert werden und somit hatten sich die Sondierungsgespräche für mich erledigt.

Fürs Klavierkonzert hatte ich durch die sehr frühe Anfrage schon vor Kompositionsbeginn ein paar Jahre Vorlaufszeit, verfiel also nicht in Schockstarre…

Was stand musikalisch am Anfang des Klavierkonzerts?

Anfangs hörte ich während etwa sechs Monaten eine Unmenge von Klavierliteratur an und legte eine umfangreiche Beispielsammlung von Texturen an.  Mich interessierte, was an Komplexität am Klavier möglich ist – nicht im Sinne bspw. von New Complexity-, sondern intrinsisch, aus dem Instrument heraus entwickelt. Diese Sammlung mit allen Notaten und verbalen Skizzen wurde mir dann während einer Zugfahrt gestohlen. Ich stand quasi vor dem Nichts. Das war ein wahrhaftiger Schock.

Sie sagten einmal: “Die Freiheit steht für mich im Zentrum beim Komponieren von zeitgenössischer Musik”: Gerade bei Aufträgen für grosse Orchester gibt es Rahmenbedingungen, manchmal Widerstände, die einengend sein können. Sie kommen ursprünglich aus der nicht primär komponierten Musik mit Improvisationsanteil, da ist die Freiheit vermeintlich grösser..

Für mich bedeutet es keine Einengung, für 70 MusikerInnen zu schreiben, sondern eine Restriktion, die auch gegeben ist, wenn ich mit einem Algorithmusprogramm am Computer arbeite oder wenn ich für Klaviertrio schreibe. Gerade die Reibung an der Restriktion, das Ausloten der Grenzen entzündet die Fantasie.


Dieter Ammann, Après le silence. Für Klaviertrio, Mondrian Ensemble, 2004/05

Restriktion macht den Stachel der Fantasie aus.

..beim Arbeiten mit Orchestern ist ein strenger Arbeitsrhythmus, meist knappe Zeit für Proben und wenig Freiheit gegeben..

Ich habe nicht bloss hohe Ansprüche an mich, sondern auch an die Interpretierenden meiner Musik. Glücklicherweise setzen sich vornehmlich künstlerisch herausragende Solisten und Ensembles mit meinen Werken auseinander. Wenn also ein Top-Orchester vier Proben ansetzt, dann klappt es tatsächlich an der Uraufführung. Eine Uraufführung entspricht allerdings selten dem interpretatorischen Ideal. Dazu braucht es mehrmalige Aufführungen. M.E. müsste auch die Musikförderung dem nachkommen: weg vom Hype um Uraufführungen, hin zur Verpflichtung von mehrfachem Aufführen neuer Stücke.

Auch beim Klavierkonzert waren interpretatorische Unterschiede festzustellen. Jedes Orchester, jede/r DirigentIn brachte seine/ihre eigene Klanglichkeit ein. Gerade zeitgenössische Orchesterwerke werden  selten wiederaufgeführt. Ich habe aber den qualitativen Anspruch, dem Repertoire Gültiges hinzuzufügen, sodass durch Nachspielungen eine stete Auseinandersetzung mit der Musik möglich wird, wie das etwa bei „glut“ für Orchester der Fall ist.


Dieter Ammann, glut. Für Orchester, Lucerne Festival Academy, Dirigent George Benjamin, 2019

Sie bezeichnen sich selbst als Langsam-Komponierer – es gibt nur alle paar Jahre ein neues Werk von Ihnen… What’s next?

2022 werde ich – huch!- sechzig. Ich freue mich beispielsweise auf eine Residenz beim Sinfonieorchester Basel oder auch auf ein Geburtstagskonzert der Basel Sinfonietta. Vielleicht kommt im sinfonischen Bereich noch das eine oder andere dazu. Auch die verschobene CH-Premiere des Klavierkonzerts findet nun 2022 statt, am Lucerne Festival.

Kürzlich habe ich die Arbeit an einem Konzert für Viola und Orchester aufgenommen, für den Solisten Nils Mönkemeyer, eine Co-Kommission des SOB mit dem Münchner Kammerorchester.  Danach folgt ein Stück für einen der weltbesten Klangkörper, gefolgt von einem Cellokonzert. Wenn ich noch so lange lebe….;-)
Gabrielle Weber

SRF-Filmportrait Dieter Ammann / Gran Toccata, Sternstunde Musik 2020: Regie Daniel von Aarburg / Produzent SRF: Markus Wicker:

 

The Piano Concerto – Gran Toccata, UA-Tournee seit August 2019, Solist Andreas Haefliger, u.a.:
BBC-Proms / London, Taipeh Symphony Orchestra / Taiwan, Boston Symphony Orchestra / USA, Münchner Philharmoniker / Münchner Gasteig, Helsinki Philharmonic / Helsinki.
Die Schweizer Erstaufführung im Rahmen des Lucerne Festival wurde aufgrund der Pandemie auf 2022 verschoben.

Die CD-Einspielung von Gran Toccata mit dem Helsinki Philharmonic unter der Leitung von Chefdirigentin Susanna Mälkki (Label BIS Records) wird umgehend nach Erscheinen auf neo.mx3 zur Verfügung gestellt.
Auf Dieter Ammanns neo-Profil finden sich Kurzvideos des ursprünglichen Materials von Arthur Spirk.

*Big Five: New York Philharmonic, Boston Symphony Orchestra, Chicago Symphony Orchestra, Philadelphia Orchestra und Cleveland Orchestra

Dieter Ammann, Andreas HaefligerLucerne Festival, Sinfonieorchester Basel, Mondrian Ensemble, Nils Mönkemeyer, Basel Sinfonietta

Ausstrahlung: SRF1
Dieter Ammann – Gran Toccata, Sternstunde Musik, So, 23.8., 11:55h; Di, 25.8., 13:00h; Sa, 29.8., 9:40h (Dauer 1Std)

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musikmagazin, 22./23.8.20, Redaktion Benjamin Herzog / Beitrag Silvan Moosmüller.
Musik unserer Zeit, 29.7.2020. (Erstausstrahlung 12.2.2020), Unspielbarkeit, Redaktion Theresa Beyer

Neo-Profiles: Dieter Ammann, Lucerne Festival Academy, Sinfonieorchester Basel, Mondrian Ensemble, Basel Sinfonietta