Verzerrte Erinnerungen, konkrete Missionen

Soyuz21, fünfköpfiges Ensemble aus Zürich, experimentiert seit seiner Gründung 2011 an der Schnittstelle von Instrumentalklang mit Elektronik und spartenübergreifenden Konzertformaten. Das neue Projekt mit Stücken von Martin Jaggi und Bernhard Lang richtet sich gleichermassen an Musikfans und Cinéasten. Mit Mats Scheidegger, E-Gitarrist und Ensembleleiter, und Martin Jaggi sprach Friedemann Dupelius.

Friedemann Dupelius
Am 6. Juli 1976 starte die sowjetische Mission Sojus 21 ihre Reise zur Raumstation Saljut 5. Mit der Crew stiegen gleich mehrere Forschungsvorhaben an Bord: Guppys (wie würden sie sich im All verhalten?), diverse Pflanzen (können sie dort draußen keimen?) und Kristalle (warum auch nicht?). Außerdem sollte Sojus 21 die Erde mit Infrarot-Teleskop, Handspektrograf, Farb- sowie Schwarzweiß-Film aus der Distanz aufzeichnen – und zugleich die Sonne beobachten. Die Nachrichtenverbindung über Satelliten wurde genauso untersucht wie die selbstständige Navigation der Station. Und vielleicht könnte sie ja sogar von militärischem Nutzen sein? Nach nur 49 Tagen ging es zurück Richtung Erde, man munkelte von Heimweh seitens der Crew.

Die Hauptbesatzung von Sojus 21 auf einer sowjetischen Briefmarke (1976) – Public domain via Wikimedia Commons, Uploader: Aklyuch at wikipedia.ru

Auch wenn das Zürcher Ensemble Soyuz 21 weder mit Guppys, Pflanzen oder Kristallen operiert, noch Interesse an kriegerischen Kontexten hat, finden sich doch Parallelen zur Namenscousine: Beiden geht es um Autonomie und Kommunikation, um Beobachtung und Experimente. Den Stolz jedoch, die Ideen hinter der Namensgebung entschlüsselt zu haben, trübt Mats Scheidegger schnell: Sein 2011 gegründetes Ensemble habe mit dieser speziellen Mission nichts zu tun. Es gehe zunächst mal um den russischen Begriff „Sojus“, der Gefährte bedeutet. Der Raumfahrt-Bezug fungiere ganz allgemein als Symbol für die Neugier darauf, künstlerische Entdeckungen zu machen. Und die 21? „Die steht für das 21. Jahrhundert! Wie originell!“, lacht Mats Scheidegger selbstironisch.

 


Yulan Yu: In den Dünen (2022), uraufgeführt von Soyuz 21 am 26.11.2022 im Ackermannshof Basel


Die Raumsonde dokumentiert Vielfalt

Aber Recht hat er. Mit seinem künstlerischen Ansatz verortet sich Soyuz 21 fest in diesem Jahrhundert. Das fünfköpfige Ensemble – gefunden hat es sich „aus musikalischen Gründen, aus dem Spielen heraus“ – bringt regelmäßig neue Kompositionen zur Uraufführung. Enge Verbindungen pflegt es u.a. zu den österreichischen Komponisten Klaus Lang und Bernhard Lang, aber auch zur jungen Generation Schweizer Komponistinnen und Komponisten. Drei Jahre lang bestand eine Kooperation mit dem Institute for Computer Music and Sound Technology (ICST) an der Zürcher Hochschule der Künste, dessen Studierende Stücke für Soyuz entwickelten. Ästhetisch herrscht bei Soyuz 21 die Vielfalt, die auch eine fotografisch ausgestattete Raumsonde dokumentieren würde. Für Improvisation ist genauso Platz wie für Elektronik, den Plattenspieler als Instrument oder die Kinoleinwand als künstlerisches Element. „Bei den Tasteninstrumenten haben wir uns weg vom Klavier, hin zu elektronischen Klängen bewegt“, erzählt Mats Scheidegger. „Da hast du einfach viel mehr Möglichkeiten. Ein Klavier ist halt immer ein Klavier, auch wenn es immer noch tolle Stücke dafür gibt.“ Auch sein eigenes Instrument erweitert der Gitarrist mit allen Regeln und Reglern der Technologie.

 

Soyuz 21 beim Projekt “Spielhölle” im Flipperclub Regio Basel © Guillaume Musset

 

Neben Scheidegger gehören derzeit Philipp Meier (Tasten), Sascha Armbruster (Saxofon), Isaï Angst (Sound Design & Elektronik) und João Pacheco (Percussion) zu Soyuz 21, immer wieder stoßen auch Gastmusiker*innen hinzu, zum Beispiel Sound-Designer Nicolas Buzzi. Viele seiner Projekte setzt das Ensemble in seiner eigenen Konzertreihe um, die zumeist Halt in Basel und Zürich macht. „Wir machen uns viele Gedanken über neue Konzertformate“, sagt Mats Scheidegger. „Es gibt einen gewissen Publikumsverlust seit der Wiederöffnung der Kulturstätten. Manchmal hilft schon ein Konzerttitel oder ein Plakat, das die Leute anspringt – wie beim Konzert Schwimmkörper.“

 

Konzertplakat “Schwimmkörper” (Foto: Mats Scheidegger)

 

Das Reisen kompensiert Zeitvergeudung

Und manchmal lockt das Format selbst. Am 13. Mai soll das Publikum ins Kino strömen, egal ob Musikfan oder Cineastin. Im Zürcher Filmpodium bringt das Projekt „Constructed Memories“ zeitgenössische Musik und Film gleichberechtigt zusammen. Und da sind wir wieder zurück bei Sojus 21, der Sonde von 1976. Auch für „Constructed Memories“ haben sich zwei Gefährten zusammengetan. Auch sie haben die Welt beobachtet und mit der Kamera festgehalten, in Farbe und in Schwarzweiß. Und auch hier müssen die alten Aufnahmen aus der Distanz interpretiert werden – aus räumlicher, aber auch zeitlicher. 1999 reisten der Komponist Martin Jaggi und der Videokünstler Adrian Kelterborn durch Malawi. Damit wollten sie die Zeitvergeudung durch den Pflichtdienst beim Schweizer Militär kompensieren. 2004 folgte eine Reise durch Westafrika, genauer: Ghana, Togo und Benin. Während Kelterborn den zweiten Trip mit seiner Digitalkamera festhielt, speicherte Jaggi viele musikalische Erinnerungen: „Auf beiden Reisen sind wir an viele Konzerte gegangen. In Accra haben wir mit einem Orchester Musik gemacht, da wurde Händel gespielt.“ Auch das in Ghana entstandene Genre Highlife, ein Vorgänger des Afrobeat, spielt eine Rolle in Martin Jaggis Reisegedächtnis.

 

Martin Jaggi und Adrian Kelterborn produzierten „Constructed Memories“ bereits als Video, online erschienen auf der Webseite von Soyuz 21.

 

Aus diesem Mix aus technisch und neurologisch festgehaltenem Erinnerungen erarbeiteten Jaggi und Kelterborn die zwei Teile des audiovisuellen Stücks „Constructed Memories“. Rund 20 Jahre nach den beiden Reisen stellten die Schulfreunde fest, wie unterschiedlich und wie verzerrt ihre Erinnerungen an die gemeinsame Zeit waren. „Das war eine richtig archäologische Ausgrabung“, erinnert sich Jaggi. „Es ging uns aber weniger darum, spezifische Erinnerungen zu vertonen. Vielmehr rekonstruieren wir gewisse Daseinszustände, die wir mit den unterschiedlichen Orten verbinden.“

Dass ein Lockdown in die Produktionsphase fiel, verstärkte das Moment der Verfremdung und Re-Konstruktion der Gedächtnisschnipsel noch mehr. „Wir konnten nicht direkt zusammen arbeiten. Ich saß in Singapur fest, Adrian war in der Schweiz. Also habe ich zuerst die Musik komponiert und Adrian die Stimmungsmomente genau beschrieben. Er hat die Musik dann bebildert, ohne dass sie zuvor von Instrumenten gespielt werden konnte.“ Das Ergebnis ist ein dynamisches Mit- und In- und manchmal auch Gegeneinander von Musik und Film. Die Bilder sind körnig und pixelig, sie wabern und fließen. Die Töne zerren und schleifen, verschmelzen und überblenden mit der visuellen Ebene, um sich dann wieder von ihr zu lösen. Dabei floss sicher auch der Bewusstseinszustand der pandemischen Zeit mit ein. „Eine Reise nimmt in der Erinnerung ja einen viel größeren Platz ein als dieselbe Zeitspanne, wenn man sie zu Hause verbringt. Noch extremer ist das mit der Covid-Zeit. Wenn zwei Jahre lang jeder Tag dem andern gleicht, werden auch keine Erinnerungen gespeichert – oder nur eine“, lacht Martin Jaggi.

 


Teil 2 von „Constructed Memories“. Das Video-Material entstammt der Speicherkarte von Adrian Kelterborns Digitalkamera anno 2004.

 

Die beiden Videomusiken (oder Musikvideos) ergänzt ein Stück aus Bernhard Langs „DW“-Reihe (die Nummer 16), in der er seine popmusikalische Sozialisation musikalisch verarbeitet. Auch dabei geht es um Erinnerung und ihre verschobene Wahrnehmung im Heute. Musikalisch lassen sich diese Einflüsse wiederum in der Zeit verorten, in der Sojus 21 ins Weltall schwirrte – wir erinnern uns.
Friedemann Dupelius

Konzerte:
Martin Jaggi & Adrian Kelterborn (“Constructed Memories”) + Bernhard Lang (“DW 16”)
Sa, 13.5., 20:45: Konzertpodium im Filmpodium Zürich
So, 14.5., 20:00: Kulturmühle Horw (Luzern)


Soyuz 21Martin Jaggi, Adrian Kelterborn, Bernhard Lang, Klaus Lang, Isaï Angst, João Pacheco, Nicolas Buzzi

neo-Profile:
Soyuz 21, Martin Jaggi, Sarah Maria Sun, Mats Scheidegger, Philipp Meier, Julien Mégroz, Nicolas BuzziMusikpodium der Stadt Zürich, Forum Neue Musik Luzern

Vogel, flieg!

Der Synthesizer und ich – das könnte der Titel sein über Nicolas Buzzis Leben. Seit seiner Kindheit spielt der Schweizer Künstler elektronische Musikinstrumente. Heute erfindet er Klänge, die es – vielleicht – zuvor noch nicht gegeben hat.

 

Nicolas Buzzi im Klang-Rohr, Portrait ©zVg Nicolas Buzzi

 

Benjamin Herzog
Es gibt nicht einmal ein Wort dafür. Synthesizerist, Synthesizeristin? Elektromusiker*in? Nein. Aber es gibt Menschen, die ihr Leben dem Synthesizer widmen. Und mit ihm der elektronischen Musik. Bei Nicolas Buzzi hat diese Passion früh angefangen. An ungewöhnlichem Ort. Auf dem Dachstock eines Bauernhauses nämlich. Dort fand der Zwölfjährige einen alten Yamaha-Synthesizer. «Ein Glücksfall», sagt Buzzi. Für sein Leben, denn er ist heute ein viel gesuchter Musiker.

 

Nicolas Buzzi: US VII/VIII/IX, unison in seven parts, 2.12.2020:

 

Autodidaktisch habe er sich das Spiel beigebracht. Eine ganze Jugend lang. War’s Liebe auf den ersten Blick? Schon, aber im engen Sinne ist Nicolas Buzzi nicht treu. Der Yamaha ist Vergangenheit, verflossen. «Die Geräte sind gekommen und gegangen», sagt er, «nur die Art des Umgangs mit ihnen, das Musikdenken, das ist stets geblieben.» Das mit dem Musikdenken allerdings, das ist etwas verwickelter, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Holen wir also etwas aus.

 

Donald “Don” Buchla – neue Klänge erfinden

 

San Francisco, die 1960er Jahre. Wenn man sich Donald Buchla, eine Hauptfigur in der Entwicklung des Synthesizers, dort mit Blumenhemd, langem Haar und blau getönter Nickelbrille vorstellt, dürfte das nicht ganz falsch sein. Diesen Look jedenfalls hat «Don» Buchla bis zu seinem Tod kultiviert. Etwas Guruhaftes. Und bis zu seinem Tod hat Buchla zahlreiche Modellreihen von elektronischen Musikinstrumenten vorgestellt: die Buchla-Synthesizer.

 

Nicolas Buzzi am Buchla, Portrait ©zVg Nicolas Buzzi

 

Auf einem solchen spielt auch Nicola Buzzi hauptsächlich. Dem «Buchla 200e». Synthesizer zu sagen, ist vielleicht nicht korrekt. Denn Klänge, die es schon gibt, zu «synthetisieren», nachzuahmen, das war nicht Buchlas Anliegen.

Ihm ging es darum, neue Klänge zu erfinden. Eine neue Musik, passend zur Aufbruchsstimmung jener Jahre. John Cage etwa experimentierte in San Francisco am selben Institut mit verschiedenen Zufallstechniken. Für Musik allerdings, die von Menschen auf herkömmlichen Instrumenten gespielt wird. (Mehr oder weniger: Cage schrieb auch Musik für klingenden Kaktus.)

 

Don Buchla nun erfand einen entsprechenden Generator, einen Zufallsgenerator, für seine Geräte. Und damit können sie, die Buchla-Synthesizer, vom Menschen nicht vorhergesehene, nicht programmierte Abläufe generieren.

Der Synthesizer also «macht» Musik, richtig? Nicolas Buzzi relativiert. Er sagt, zwar bekomme er Impulse von seinem Instrument, das so konstruiert ist, dass es selbstständig Prozesse durchläuft. Zufällige, aber meist doch gesteuerte. Also das, was er will, wozu er dem Instrument die Bahn vorgibt. Aber das heisst wiederum auch: «Die meisten Instrumente und wir Spieler orientieren sich / uns an bestehender Musik.» Fraglich also, ob so etwas wirklich Neues entstehen kann.

 


Nicolas Buzzi, Negotiating the space between rhythm and timber, 2020

 

«Wenn ich als Nicolas Buzzi spiele, habe ich ja doch immer mein kulturelles Gedächtnis, das ich nicht so einfach auslöschen kann», sagt Buzzi. «Mein Körper, der Puls, der Atem – auch das spielt beim Musikmachen eine Rolle.»

Es menschelt also im Reich der künstlichen Töne. Und dazu gehören auch wir, die Hörer*innen, die wir sofort einordnen, was wir hören. Vergleichen, Bekanntes herbeiziehen, Schubladen aufreissen, um das Unbekannte ordentlich zu verstauen.

 

Eigentlich müsste man das Ganze Maschinen überlassen…

Eigentlich müsste man das Ganze Maschinen überlassen.Tatsächlich gibt es Forschungsprojekte dazu mit selbstlernenden Computern, die eine nicht-menschliche, nicht an Erinnerungen geknüpfte Musik erschaffen sollen. «Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass das klingt», meint Buzzi skeptisch. Zu Recht. Jedenfalls ist so etwas schwer vorstellbar. Aber eben: unsere Vorstellungen … Wenn Musik nicht in Beziehung zu unserer Welt steht, woran soll sie sich denn orientieren? «Vielleicht an der Wahrnehmung», sagt Buzzi. «An der Wahrnehmung von Zeit, von Klang, von Figuren.» Einer anderen Wahrnehmung somit, ist zu vermuten. Nur, kann ich wahrnehmen, was ich gar nicht kenne? Hier wird’s dunstig.

 

Eine Musik, die sich an der an der Wahrnehmung von Zeit, von Klang, von Figuren orientiert

 

Das Musikdenken, das Buzzi fast sein ganzes Leben lang mit seinen Synthesizern beschäftigt, könnte in Abgründe führen. Vielleicht ist es ganz gut, dass man da handfeste Partnerschaften eingeht. Mit anderen Musiker*innen. Mit seiner Ehefrau, der Künstlerin und Musikerin Martina Buzzi, und mit der Architektin und Musikerin Li Tavor spielt Buzzi im Trio. Drei Synthesizer verbinden sich hierbei in einem Projekt. «Pain» heisst es. Nicht unpassend, denn das Schmerzenskind ist im Coronajahr 2020 entstanden. «Da alle Orte, an denen wir hätten auftreten können, geschlossen waren, haben wir den gemeinsamen Klangraum ins Digitale verlegt», erklärt Buzzi.

 

Kopfhörermusik ist so entstanden. In und mit einem, beziehungsweise bis zu drei verschiedenen, digitalen Klangräumen. Da reagiere man ganz anders auf seine Partner, sagt Buzzi. Man sei unabhängiger, freier, das Hören sei unverbrauchter. Ideale Voraussetzungen eigentlich für Neues aus dem magischen Buchla-Apparat.

 


Nicolas Buzzi / pain mit Martina Buzzi und Li Tavor: places 2
Hören wir hin. Streckenweise sind in den «Pain»-Klängen gegenseitig sich zuschnarrende, zugrunzende Wesen zu hören. Es bellt, es zittert, es faucht. Unabhängiges Klangbestiarium. Und daran halte ich mich fest. Was würde passieren, wenn ich mich in diesen doch recht unbekannten Kosmos hineinfallen liesse?

 

Nicolas Buzzi am Buchla von hinten ©zVg Nicolas Buzzi

 

Loslassen – da funkt mir mein Hirn dazwischen, das bei dieser Musik offenbar lieber einen imaginären Zoo durchwandert. Die neue Musik auf Buzzis Buchla 200e, das «Musikdenken» dazu, das betrifft eben auch mich, den Hörer, der sich offenbar gerne an seinem Ast festklammert, wie ein Vogel im Baume. Flieg!
Benjamin Herzog

 

Im Projekt I sing the body electric traf Nicolas Buzzi auf das Ensemble Thélème. Es entstand die Verbindung von Synthesizer und Renaissancemusik:


Nicolas Buzzi und thélème: I sing the body electric, Buchla Synthesizer trifft Chansons von Josquin, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Vom 21. bis zum 23 September ist das Projekt Rohrwerk – Fabrique sonore nach Basel, Lausanne (SMC) und Zürich, nochmals in Lausanne zu hören. Diesmal im Rolex Learning Center der EPFL. Darin gibt es Klanginstallationen von Nicolas Buzzi, Germán Toro Pérez, Marianthi Papalexandri Alexandri etc.

 

Don Buchla, Li Tavor

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 3.3.21, Nicolas Buzzi und sein Synthesizer, Redaktion Benjamin Herzog / verlinken:

Neue Musik im Konzert, 31.3.21, 21h, I sing the body electric, Redaktion Florian Hauser

Neoblogpost, 2.9.2019Reibung erzeugt Wärme: Marianthi Papalexandri Alexandri @ Rohrwerk – Fabrique sonore/Zeiträume Basel, Text Theresa Beyer

 

Neo-profiles:
Nicolas Buzzi, thélème, Germán Toro Pérez, Marianthi Papalexandri Alexandri,  Musikpodium der Stadt Zürich, Beat Gysin, Société de musique contemporaine – SMC Lausanne

 

“Wir verstehen Raum und Klang als Einheit”

Am 4. Und 5. Juli wird die stillgelegte Chemische Fabrik in Uetikon am See Schauplatz des Al(t)chemiefestivals. Das kleine liebevoll programmierte Musikfestival zeigt ein musikalisches Spektrum von Klassik über zeitgenössische Musik, zu Performance und Klangkunst. Das brachliegende Fabrikareal hat dabei eine ganz besondere Bedeutung.

Die Chemische @Uetikon am See

“Die Chemische” wurde sie liebevoll genannt. Die 200 Jahre alte chemische Fabrik in Uetikon am See – heute ist sie Monument und zugleich Ruine der Industriekultur, direkt an bester Lage am Zürichsee gelegen.

Bis 2028 soll dort ein neues Viertel entstehen, mit einem Schulkomplex, Büros, Wohnungen und Gewerberäumen. Das grosse Areal wird bis zum Umbau kulturell zwischengenutzt. Kunst- und Musikschaffende haben sich mit Ateliers und Werkstätten eingenistet.

Bereits seit einiger Zeit betreiben Marcel Babazadeh, Tonmeister, und Sophie Krayer, Bühnenbildnerin, in der “Chemischen”, das Atelier Klang und Raum. Dort bieten die beiden Klang-Beratungen für öffentliche Räume an. Oder sie hecken künstlerische Projekte aus, die Musik und Raum verbinden. Während des Lockdowns machte das Atelier mit seinen Digital Concerts, die live gestreamt wurde Furore. Und dabei  fand sich jeden Montagabend eine begeisterte Social Media Community von weit über 1000 Personen ein.

Daraus entstand dann auch die Idee des Al(t)chemiefestivals.

Die Pianistin Tamriko Kordzaia arbeitet schon lange mit dem Duo zusammen und glänzte in den Digital Concerts mit einem zeitgenössischen Solo-Recital. Sie ergänzt als Dritte im Bund das Kuratoren-IntendantInnenteam.


Tamriko Kordzaia, Karolina Öhman, Iannis Xenakis (Artarea 2020)

Schon länger hätte die Idee bestanden, den Ort mit seinem Musikschaffen durch ein Festival breiter bekannt zu machen, so Kordzaia. Corona habe den Plan zunächst zunichte gemacht. Als aber die Lockerungen konkreter wurden, seien diese eine Inspiration gewesen, die Idee spontan wieder aufzunehmen. Und -insbesondere durch zahlreiche Mitmach-anfragen « ausgehungerter » Künstler – habe das Projekt voll Fahrt aufgenommen und sich zum zweitägigen Festival ausgeweitet.

Portrait Tamriko Kordzaia

Und für die Umsetzung der Coronavorgaben bietet das Areal den perfekten Spielraum. Denn so Kordzaia: “man kann verschiedene Räume bespielen, und die Orte wechseln, drinnen und draussen Musik machen, aber auch zwischendrin am See spazieren gehen und einfach verweilen”. Ein Konzert findet zum Beispiel in einer Vintage-Möbelhalle statt, anderes wiederum spielt sich im Freien ab.

“wir möchten die künstlerischen Synergien des ganzen Areals nutzen” (Kordzaia)

Der Ort bilde nicht blosse Kulisse für das Festival, sondern werde vereinnahmt. “Wir führen einen Dialog mit den Räumlichkeiten, mit dem Ort und auch mit der Geschichte”, meint Babazadeh.

Mit dem Al(t)chemiefestival will das Intendantentrio ein Zeichen setzen. “Durch Corona und die Lahmlegung aller künstlerischer Aktivitäten ist es uns wichtig, möglichst viele Musiker aus der Gegend einzubinden und ihnen eine Möglichkeit zu geben, zu spielen”, so Kordzaia.

Der musikalische Leitgedanke des Festivals ist ein Persönlicher – Musikschaffende zeigen selbstgewählte Stücke die sie während des Lockdowns intensiv beschäftigten, frisch entstandene Kompositionen oder Projekte, die durch die Pause verschoben wurden. Posaunist Nils Wogram zum Beispiel stellt neue Stücke vor, die im Herbst auf CD erscheinen.


Nils Wogram: Sneak Preview, Soloprogramm 2020

Neben Neuem steht auch Bewährtes im Line-up: Da tritt der Komponist Stefan Wirth selbst an den Tasten auf, mit Eigenem aber auch mit Beethoven, oder da ist Dominique Girod im Freien am Kontrabass zu hören.

Daneben gibt’s auch Elektroakustik, bspw. von Nicolas Buzzi. Oder es ist eine Klanginstallation, eine Klangkugel, von Krayer und Babazadeh zu sehen.


Nicolas Buzzi: ssssscccccaaaaallllleeeee, 2019

«Al(t)chemie» oder «Alchemie» – das (t) steht im Titel in Klammer: Der mehrdeutige Titel verweist auf  die musikalische Spannweite und gleichzeitig auf einen magischen Ort. “Das Areal ist der Hammer – und wenn sich das mit Klang und Liveperformance vermischt, dann ist das einzigartig”, meint Babazadeh.
Gabrielle Weber

Die Chemische

Das Al(t)chemiefestival findet am 4. und 5.Juli in der stillgelegten chemischen Fabrik in Uetikon am See statt.

An beiden Tagen gibt es je drei Konzertblöcke ab jeweils 15h. Eine Anmeldung ist Coronabedingt erwünscht.

Die Digital Concerts finden aufgrund der grossen Nachfrage bis sicherlich Ende August weiterhin statt.

Al(t)chemiefestival, Digital ConcertsStefan Wirth, Dominique Girod, Nils Wogram, Kappeler-Zumthor, Karolina Öhman, Isa Wiss, Sophie Krayer, Tobias Gerber/Ensemble Werktag, Philipp Schaufelberger

Neo-Profiles: Al(t)chemiefestival, Tamriko Kordzaia, Stefan WirthNicolas Buzzi, Karolina Öhman, Peter Conradin Zumthor