Tapiwa Svosve fräst Saxofonklänge in die Kanalisation

Der junge Zürcher Jazzsaxofonist Tapiwa Svosve (*1995) gewann dieses Jahr einen der BAK-Musikpreise. Svosve legt sich auf keinen Stil fest: er wechselt agil zwischen Free Jazz, Ambient, Noise und Progressive Rock. Seine musikalische Praxis ist jedoch fest in der Jazztradition verankert. Ein Porträt von Jaronas Scheurer.

 

Der Zürcher Jazzsaxofonist Tapiwa Svosve / Porträt zVg. Tapiwa Svosve.

 

Jaronas Scheurer
Tapiwa Svosve hat schon viel erreicht für seine junge Karriere: Schon kurz nach seinem Studium an der Jazzschule Zürich gewann er mit der Band District Five den ZKB-Jazzpreis, es folgten unter anderem ein Auftritt mit den Jazzlegenden Hamid Drake und William Parker und ein Werkjahr der Stadt Zürich. Als Organisator und Kurator war er für das Zürcher Taktlos-Festival tätig und gründete das transdisziplinäre Kunstkollektiv Gamut mit. Er trat in Produktionen der gefeierten Künstlerin und Filmemacherin Wu Tsang auf, machte Musik für die Louis Vuitton-Fashionshow, veröffentlichte zahlreiche Alben – Solo, mit seinen verschiedenen Bands oder zum Beispiel 2023 das Album The Sport of Love mit der amerikanischen Elektronik-Produzentin Asma Maroof und dem englischen Cellisten Patrick Belaga, die er im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit Wu Tsang kennenlernte. 2024 wurde diese beachtliche Laufbahn mit einer Tour durch Südostasien und einem der begehrten BAK-Musikpreise gekrönt.

 

Tapiwa Svosve klingt im dem Song G Major Kinda Love aus dem Album The Sport of Love zusammen mit Patrick Belaga (Cello) und Asma Maroof (Produktion, Elektronik) von 2023 sehr sanft. Das ist jedoch nur eine Seite von Svosves vielfältigem Schaffen.

 

Finanzielle Knappheit und künstlerische Konsequenz

Trotzdem – finanziell kommt Svosve gerade so knapp durch: «Ich lebe zum Grossteil von meiner Musik. Das geht mal besser und mal weniger gut.» meint er im Interview. «Vielleicht hat man gerade viel gespielt, dann kommt aber wieder eine Dürreperiode und man begrenzt sich: geht nicht mehr aus, isst vielleicht nur noch Reis mit Soyasauce. Ich kann das akzeptieren, wenn es dann auch wieder nach oben geht.» Der BAK-Preis und das damit verbundene Preisgeld kam da genau zum richtigen Zeitpunkt: «Ich machte mir gerade grosse Gedanken, wie ich die nächsten Monate über die Runden kommen soll. Der Preis riss mich von einer Realität in eine ganz andere: Am einten Tag hatte ich minus zwanzig Franken auf dem Konto und am nächsten plötzlich dieses riesige Preisgeld.»

Die finanzielle Knappheit ist wohl auch Svosves künstlerischer Konsequenz geschuldet, der sich wenig bis gar nicht Verkaufsargumenten oder Marktlogiken beugt. «Grundlegend für mich ist ein improvisatorischer Ansatz – sei das jetzt in einem Jazztrio, in einer Noiseband oder wenn ich Ambient mache: Offen sein, für das Potential der Kollaborationen, und schauen, wohin es einen in dieser Konstellation von Menschen treibt.» Svosve versteht sich als Jazzmusiker: «Ich bin durch den Jazz musikalisch sozialisiert worden. Und in welcher anderen westlichen Musiktradition steht sonst diese extreme Offenheit ganz im Zentrum?»

 

Jazz und Gemeinschaft

Die Offenheit und der improvisatorische Ansatz des Jazz gehen bei Svosve über das tatsächliche Musizieren hinaus. Auch seine Arbeit als Organisator und Kurator sind davon geprägt: «Dass ich nicht nur Musik mache, sondern auch proaktiv Räume für Musik schaffe, für die der Mainstream vielleicht noch nicht bereit ist, ist für mich essentieller Bestandteil des Musikerdaseins. Und wenn ich in die Jazzgeschichte schaue, war das schon immer ein wichtiger Bestandteil des Jazz.»

 

Ein Jazzmusiker in ganz unterschiedlichen Echoräumen

Svosve ist im Wesen Jazzmusiker. Er hat sich intensiv mit der Jazzgeschichte auseinandergesetzt und unterrichtet auch Jazzgeschichte am Winterthurer Institut für aktuelle Musik (WIAM). Doch das hört man teilweise kaum in seinen Projekten. Es prägt eher seine Art des Daseins und der Zusammenarbeit, denn die tatsächlichen musikalischen Resultate. Ein gutes Beispiel ist das 2022 erschiene Album «A Lung in a Horn in a Horn». In einer nächtlichen Aktion ist er mit dem Künstler, Labelbetreiber und Sounddesigner Rafal Skoczek in ein grosses, offenes Rohr gestiegen, das unter der Sihl und der Limmat verlegt wurde. Dort ist dann das Album entstanden – nur er, das Saxofon und die psychedelisch hallende Zürcher Kanalisation, aufgenommen von Skoczek. Da wurde nicht gross abgeklärt, was möglich oder legal sei. Es gab keine Proben, keinen Soundcheck: «Das Ziel der Aktion war eher der Weg dorthin als das tatsächliche Resultat. Aber die Platte gefällt mir heute noch. Sie ist so puristisch. Es geht gar nicht so um mein Saxofonspiel, sondern mehr darum, wie dieser Tunnel eigentlich klingt, wenn ich da ein paar Klänge reinfräse.»
Jaronas Scheurer

 

Tapiwa Svosve und sein Saxofon sind hier im Stück A Lung in a Horn in a Horn aufgenommen in der Zürcher Kanalisation zu hören.

 

Tapiwa Svosve spielt mit District Five bis Ende 2024 jeden letzten Sonntag des Monats ein Konzert im Zürcher Helsinki Klub.

Sendung SRF Kultur:
Musikmagazin, SRF 2 Kultur, 28.9.2024: Preisgekrönt: Der Saxophonist Tapiwa Svosve: Tapiwa Svosve im Talk mit Jaronas Scheurer.

Neo-Profile:
Tapiwa Svosve, Swiss Music Prizes

LUFF: Musikpreis für Noise aus Lausanne

LUFF,  Lausanne Underground Film & Music Festival, programmiert seit 2002 in Lausanne experimentelle Musik zu einem ausgesuchten Filmprogramm. Dieses Jahr erhielt das Festival einen der Spezial-Musikpreise des Bundesamts für Kultur (BAK). Ein paar Wochen vor Start der diesjährigen Ausgabe traf ich drei Mitglieder der Leitungsequippe im neuen Lausanner Kulturzentrum Pyxis, dem Arbeitsort des LUFF, direkt neben der Kathedrale in der Lausanner Altstadt. Ein Gespräch mit Thibault Walter und Dimitri Meier, künstlerische Leiter des Musikprogramms, und Marie Klay, Geschäftsführerin.

Marie Klay, Dimitri Meier and Thibault Walter / LUFF Swiss Music Prices 2024 © Gabrielle Weber

 

Gabrielle Weber
Marie Klay, Thibault Walter und Dimitri Meier kommen zu dritt zu unserem Treffen und sie spinnen ihre Gedanken im Gespräch gegenseitig laufend weiter. Das hat seinen Grund: «Das LUFF funktioniert als Kollektiv», sagt mir Marie Klay gleich zum Einstieg. «Die Equipe besteht aus zirka 50 Mitwirkenden und trifft sich übers ganze Jahr regelmässig ein Mal wöchentlich». Es werde gemeinsam entschieden und jeder und jede habe eine Stimme.  Klay ist seit einer Umstrukturierung 2014 als Geschäftsführerin im Team dabei: «Alle Bereiche sind gleich wichtig. Die Programmation zum Beispiel ist kein Elfenbeinturm». Kern des Programms bildeten gemeinsame Hörsitzungen, ergänzt Thibault Walter. Dort hörten und diskutierten sie zusammen Stücke, bevor entschieden werde, wer eingeladen werde. Dabei könnten sich alle einbringen. Thibault Walter ist seit dem Start, 2002, dabei. Dimitri Meier stiess 2015 dazu und baute kontinuierlich die Equipe Musikprogrammation auf.

Der Preis

Das LUFF entwickelte sich sukzessive von einem kleinen Insider-event in Vevey zum grossen Festival in Lausanne. Dennoch verortet es sich weiterhin im Underground. «Als wir den Anruf vom BAK erhielten, dachten wir zuerst, es sei ein Scherz, oder ein Phishing-Telefon: wir erwarteten nie einen Musikpreis zu erhalten», so Dimitri Meier. «Dass wir diesen Preis für die Musik erhalten, stellt uns profund in Frage. Aber es bedeutet gleichzeitig eine Anerkennung unserer existenziellen Arbeit und unserer Programmwahl, in all den Jahren“, meint Thibault Walter dazu.    

     

LUFF / Dimitri Meier and Thibault Walter @ Award Ceremony Swiss Music Prices 2024 © Sébastien Agnetti

        

Noise!

Sein Musikprogramm labelt das LUFF gerne mit «Noise». Unter dem Musikgenre, das seinen Ursprung im London der Siebziger Jahre hat, wird gängig verstanden: Geräusch, Rauschen, volle Lautstärke, ohne Melodie und Rhythmus. Was für die einen nur ‘Lärm’ ist, ist für die andere Musik – White noise, weisses Rauschen, findet sich mittlerweile auch im Mainstream. Das LUFF sieht Noise aber anders. «Noise ist für uns alles, was sich gegen gängige Musik-Praktiken richtet. Wir sprachen gewisse Jahre auch schon von ‘Nicht-Musik’ oder ‘Antimusik’», meint Dimitri Meier.

Für Thibault Walter ist Noise ein relativer Begriff: «Noise hat meist eine negative Bedeutung, das LUFF verwendet ihn aber immer positiv. Wir fragen uns weshalb gewisse Klänge unerwünscht und ausgeschlossen sind. Und genau für diese interessieren wir uns.»

Beim LUFF kann Noise auch humorvoll und melodiös oder leise und subtil sein. Regelmässig präsent sind Künstler:innen aus Japan, wo Noise seit den achtziger Jahren Fuss fasste und nebst England eine der grössten Noise-Communities existiert.


Jon the dog live @LUFF 2023

 

Die japanische Performerin Jon the Dog zum Beispiel trat bereits 2023 am LUFF auf und ist auch dieses Jahr wieder zu Gast in Lausanne: sie singt Lieder mit einer Art von Kinderstimme, die sie selbst auf dem Harmonium begleitet: melodiös, harmonisch, rhythmisch, und voller Humor: sie erinnern an japanische Animationsfilme. Ihr Name kommt daher, dass sie im Hundekostüm auftritt, in Japan manchmal auch überraschend in ‘harten’ Noise-Konzerten. Für Thibaut Walter ist sie eine fast mythische Figur. Er vermutet, dass sie mit dieser «positiven Unreifheit» der Szene einen Spiegel vorhalten wolle und meint, es sei eine Umkehrung, die viel über die Szene aussage.

«Noise heisst für uns nicht: immer mit voller Lautstärke, aggressiv und auch ausschliessend.. ein Klang kann auch ganz fein und nuancenreich geformt werden», so Thibault Walter weiter.


Lise Barkas live @ LUFF 2023

Ein weiteres Beispiel für das Noise-Verständnis des LUFF verkörpert Lise Barkas aus Strasbourg: sie tritt solo an der Drehleier auf. Barkas wurde früh vom LUFF nach Lausanne geholt und ist mittlerweile international gefragte Noise-Künstlerin. Ihre Musik changiert zwischen Klängen, die wie Alte Musik anmuten und kratziger, aber höchst differenzierter, Geräuschhaftigkeit. Für Dimitri Meier sind ihre Konzerte auch als Kritik an der Überverstärkung in der klassischen Noise-Szene zu lesen: diese sei komplett idiotisch.

Ein besetztes Haus in Vevey

Ursprung des LUFF bildete ein besetztes Haus in Vevey, wo ein kleiner Kleis Cinéphiler Filme vom New York Underground Film Festival zeigte, sagt Thibault Walter. Der Initiant habe die Schweiz verlassen und sie mit der Cinémathèque Suisse in Lausanne zusammengebracht. Im  Casino de Montbenon, dem Gebäude der Cinémathèque suisse in Lausanne, seien sie im Keller auf einen riesigen ungenutzten Raum gestossen, der sich ideal für Konzerte geeignet habe. Gemeinsam wurde eine Art amerikanischen New Wave-Kinos entwickelt: ausgesuchte Filme, eingerahmt von Konzerten Und so sei aus einem Filmfestival ein Film- UND Musikfestival entstanden. „Das ist ein weiteres Paradox. Einen Musikpreis zu erhalten für ein Musikfestival in einem Filmfestival“.

 

Lausanner Szene reich an experimentellen Formaten

Die Lausanner Szene sei schon davor reich an experimentellen Formaten gewesen. „Das Festival ermöglicht, Dinge sichtbar zu machen, die bereits vorhanden waren: in Wohnungen, Kellern oder Restaurants. Dass sich dann viele zusammentaten, war ein starker, fast magischer Moment. Wir realisierten, dass wir nicht allein sind, wenn wir etwas in unserer Ecke tun, und das ermutigte uns weiterzumachen“, meint Thibault Walter zum Festivalstart.

Bis heute finden alle Veranstaltungen im Casino de Montbenon, dem Sitz der Cinémathèque Suisse, statt. Durch die Konzentration an einem Ort will das Team auch die verschiedenen Publika in Kontakt bringen. Auch die Mitwirkenden im Kollektiv kommen aus unterschiedlichen Ecken, Marie Klay zum Beispiel aus der Filmszene. Die Equipe sei offen und achtsam, es herrsche ein freundschaftlicher, fast familiärer Umgang: sie alle glaubten an das Gute in der Welt und  kämpften dafür, meint Klay. «Wenn man sich zusammentut, kann man etwas Positives bewirken», und Thibault Walter ergänzt: «das LUFF ist ein Ort, der Hoffnung gibt», und  Dimitri Meier: «immer wenn eine Ausgabe vorbei ist freuen wir uns auf die nächste!».
Gabrielle Weber

 

Links tags
Das LUFF findet vom 16. Bis zum 20. Oktober zum 23igsten Mal statt.

New York Underground Film Festival, Pyxis – maison de la culture et de l’exploration numériqueCinémathèque suisse Lausanne.

Sendungen SRF Kultur
Musik unserer Zeit, SRF Kultur, 25.09.2024: LUFF – Lausanne Underground Film and Music Festival taucht auf, Redaktion Gabrielle Weber.
Musikmagazin, SRF Kultur, 5.10.24: Noise aus Lausanne: Das LUFF erhält Schweizer Musikspezialpreis, talk (min 10:30): Marie Klay, Dimitri Meier und Thibault Walter im Gespräch mit Gabrielle Weber.

 

Neo-profile
Lausanne Underground Film&Music Festival (LUFF), Swiss Music Prizes

 

Kunstraum Walcheturm – der unmögliche Musikraum mitten in Zürich

Sommerserie zum Schweizer Musikpreis No. 3 :  Spezialpreis an den Kunstraum Walcheturm – der Konzertort nehme «eine herausragende Stellung für die Weiterentwicklung der experimentellen Musik und Kunst in der Schweiz ein», so die Begründung der Jury.
Jaronas Scheurer sprach mit dem künstlerischen Leiter Patrick Huber.

 

Der Kunstraum Walcheturm im Zeughaushof Zürich ©Lorenzo Pusterla

 

Jaronas Scheurer
Patrick Huber treffe ich, als er gerade den Aufbau einer Party überwacht, die am selben Abend stattfindet. Die Party hat sich eingemietet und es gibt viel zu erklären und zu verhandeln. Zudem steht Huber kurz vor seinen Ferien: Zwischen Diskussionen mit den Tontechniker:innen, Einweisungen für das Barpersonal und letzten Ferienvorbereitungen findet er trotzdem Zeit für das Interview. Das Dazwischen-Sein, zwischen verschiedenen Projekten, zwischen Partys, experimenteller Musik, zeitgenössischer Kunst, Experimentalfilm. Dieses Dazwischen-Sein scheint Modus Operandi für Patrick Huber und den Kunstraum Walcheturm: «Diesen Ort sollte es eigentlich gar nicht geben.» meint er im Laufe des Interviews.

Dieser Ort – der Kunstraum Walcheturm auf dem alten Zeughaushof circa 10 Minuten Gehdistanz vom Zürcher Hauptbahnhof – ist der wichtigste Veranstaltungsort für zeitgenössische und experimentelle Musik in Zürich und hat dieses Jahr einen der Spezialpreise Musik des Bundesamts für Kultur (BAK) erhalten.

Galerie Walcheturm

Wie kam es dazu, dass der Walcheturm heute vor allem für spannende Konzerte und weniger für aufregende Kunst bekannt ist? Immerhin wurde der Walcheturm in den 1950er als Verein zur Förderung von junger Schweizer Kunst und Künstlern gegründet. Und in den 1980er-Jahren formten die heute international renommierten Kunsthändler:innen Eva Presenhuber und Iwan Wirth die Galerie Walcheturm, wie der Kunstraum, benannt nach dem ersten Standort an der Walchestrasse, damals hiess, zu einem der wichtigsten Akteure der Zürcher Kunstszene. «Irgendwann wurde klar», meint Patrick Huber, «dass ein Verein nicht das richtige Vehikel ist für ein derart kommerzielles Unterfangen wie eine international agierende Galerie.» Es kam Mitte der 1990er zu einer Abspaltung, aus der dann u.a. die Galerien Eva Presenhuber sowie Hauser&Wirth entsprangen. Der Verein Walcheturm durchlebte danach eine schwierige Phase, bevor 1999 die Leitung des Vereins Patrick Huber übergeben wurde. Huber bewarb sich mit der Vision, die Galerie zu einem Kunstraum zu machen: «Ein Bruch – keine Galerie, kein Kunstmarkt – ein Kunstraum.» wie Huber seine damalige Idee skizzierte.

 

Marc Zeier: ‘Daphnia Heart Beat’, Flügel, Bassboxe and Daphnia magna Modell, Kunstraum Walcheturm 2017 ©Lorenzo Pusterla

 


Luigi Archetti: LAVA – Part 01, Label Karluk 2021

 

Die Galerie wird zum Kunstraum

Patrick Huber selbst hatte damals schon vielfältige Erfahrung im Organisieren von Ausstellungen, Partys und Festivals. Seit den 1980er Jahren organisierte er Partys: Techno, Hiphop, Drum’n’Bass, kuratierte Ausstellungen in Offspaces und seit 1998 das Experimentalfilmfestival VideoEx.

«Als ich die Leitung des Vereins übernommen habe, gab es sozusagen keine Mitglieder und in der Galerie nicht einmal einen Hammer, um Nägel für die Kunstwerke einzuschlagen.» Das brachte jedoch auch Vorteile mit sich, denn so konnte er von Grund auf Neues schaffen. Dies gelang ihm einerseits dank einem grossen Netzwerk an Freund:innen und andererseits dank seiner Erfahrung als Partyorganisator. «Die ersten paar Jahre haben Partys, oft Techno-Partys, den Kunstraum finanziert.» Die Einnahmen der grossen Partys am Abend wurden in den Kunstraum und in die Ausstellungen am Tag gesteckt. «Ich wusste damals gar nicht, dass man Gesuche für finanzielle Unterstützung stellen kann.» meint Huber lachend. Doch schon bald musste der Kunstraum Walcheturm umziehen. Glücklicherweise bekamen sie eine Zusage für den jetzigen Ort im alten Zeughaushof. «Den Schlüssel haben wir im Januar 2002 bekommen. Den Schlüssel für einen staubigen Raum. Draussen waren es 5 Grad und drinnen auch. Kies am Boden, sonst nichts. Es war nicht viel Geld da, aber ganz viel Hilfe, eine ganze Gruppe von Menschen: Jemand konnte einen Bagger fahren und hat ein paar Kubik Kies rausgebaggert. Jemand konnte stromern, jemand Heizungen montieren usw.» beschreibt Huber den Umzug. «Und im Mai war der Boden drin und das Experimentalfilmfestival VideoEx fand das erste Mal hier statt. Im August gab es dann noch eine offizielle Eröffnung mit einem Projekt mit 12 Schlagzeugern. Eine Performance, die immer noch unter Kunst lief, aber da spielten halt zwölf Schlagzeuger.»

 

Katharina Rosenberger: Ausstellung “quartet”, Kunstraum Walcheturm 2018 ©Lorenzo Pusterla

 


Katharina Rosenberger: REIN, Basel Sinfonietta unter Baldur Brönnimann, UA 2019 in Basel

 

Von der zeitgenössischen Kunst zur experimentellen Musik

Der Wandel vom Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst hin zum Veranstaltungsort für experimentelle Musik schien sich also schon bei der Eröffnung abzuzeichnen. «Mich hat die zeitgenössische, experimentelle Musik interessiert. Ich fand das spannend. Aber es schien auch eine Notwendigkeit für einen solchen Raum in Zürich zu gebe. Denn Raum für zeitgenössische Kunst gab es in Zürich schon immer.» erläutert Patrick Huber diesen Wandel.

 

Julian Sartorius: Locked Grooves Record Release, Kunstraum Walcheturm 2021 ©Lorenzo Pusterla

 


Julian Sartorius: Locked Groove 093, Label OUS 2021

 

Heute finden vor allem Konzerte im Walcheturm statt. Neben einigen wichtigen Festivals wie das VideoEx, das Sonic Matter, das Taktlos Zürich oder das FemaleClassics, spielen im Walcheturm Musiker:innen und Ensembles irgendwo zwischen Noise, Freier Improvisation, Neuer Musik, Klangkunst und Free Jazz. Und die Konzertanfragen trudeln zahlreich bei Patrick Huber ein. Doch das Problem bei der Programmierung ist die Finanzierung. Der Kunstraum Walcheturm wird vom Kanton Zürich unterstützt, was knapp für die Miete des Raums reicht. Darüber hinaus, haben sie sozusagen kein Budget. «Das Erstaunliche am Walcheturm ist die musikalische Diversität trotz den engen finanziellen Leitplanken.» so Huber. Damit das funktioniert, ist eine ordentliche Portion Pragmatismus und gesunder Menschenverstand gefragt. Konkret funktioniert es so, dass die Gruppen, die im Walcheturm spielen, den Walcheturm je nach Höhe der eigenen Finanzierung bezahlen. «Wenn die andere Seite eine Yacht hat, dann soll bitte auf unserer Seite auch ein bisschen Geld ankommen. Aber wenn die in einem kleinen Ruderboot sitzen, dann können wir auch rumrudern. Das haben wir ja schon immer gemacht.» meint Huber lachend. «Auf dem Papier geht unsere Rechnung eigentlich nicht auf. Aber irgendwie geht es dann doch.»

Und so machen sie weiter – dieser unmögliche Raum mitten in Zürich: Zwei bis vier Konzerte pro Woche, mit der Hilfe von Freund:innen, mit einer gesunden Portion Pragmatismus und vor allem mit viel Liebe und Engagement für die Musik.
Jaronas Scheurer

 

Die Saison 2023/2024 des Kunstraum Walcheturm begann am 2. September mit einem Jubiläumskonzert des Collegium Novum Zürich.
Weitere Anlässe im September:
7. September – CD Release «The Five»,
9. September – Guy Mintus Songbook,
14. September – IGNM Konzert: Tomoko Sauvage und Christoph Rüttimann mit «Kakteenmusik / Wasserschalen»,
16. September – Zapparoli, Hofmann und Lorenz,
21. September – Insub Meta Orchestra,
22. September – Under the Olive Tree,
29. September – News3Art plays Stockhausens «Kontakte».

 

Sendungen SRF Kultur:
SRF Kultur online, 11.5.23: Trompeter Erik Truffaz erhält den Grand Prix Musik, Redaktion Jodok Hess.
Musikmagazin, 22.7.23Carlo Balmelli: Ein Leben für die Blasmusik, Redaktion Annelis Berger, Musiktalk mit Carlo Balmelli (ab Min 9:40).
Musikmagazin, 17.6.23, Inspirationen mit offenem Ende: Die Vokalkünstlerin Saadet Türköz, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Saadet Türköz (ab Min 8:38).
Musikmagazin, 13.5.23, Schweizer Musikpreise 2023, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Katharina Rosenberger (ab Min 4:55)

 

Neo-profiles:
Kunstraum Walcheturm, Luigi Archetti, Katharina Rosenberger, Julian Sartorius, Collegium Novum Zürich, Martin Lorenz, Sebastian Hofmann, Insub Meta Orchestra, Sonic Matter.