Ein Pilzgeflecht aus Klängen und Beziehungen

Vom 18. bis zum 27. März 2022 findet in Berlin das Festival MaerzMusik statt. Ein Schwerpunkt widmet sich dem Werk von Éliane Radigue anlässlich des 90sten Geburtstags der Komponistin. Friederike Kenneweg sprach mit dem französisch-schweizerischen Musiker François J. Bonnet. Er ist als Klangregisseur für die Aufführungen des elektronischen Gesamtwerks von Radigue am Festival verantwortlich.

 

Schwarzweissbild von den abstrakten Verbindungslinien eines Pilzmyzels
Das Art Work zum Programm der Maerzmusik 2022

 

Friederike Kenneweg
Das Kuratoren-Team aus Berno Odo Polzer und Kamila Metwaly nimmt bei der Programmgestaltung des Festivals 2022 die sichtbaren und unsichtbaren Beziehungen in den Blick, die uns alle, in der Musik und darüber hinaus, zusammen halten. Als Metapher dafür dient ihnen ein Phänomen aus der Natur: das Myzel der Pilze. Sichtbar sind vor allem die Fruchtkörper, die wir landläufig Pilze nennen. Doch zum Pilz gehören auch die teils über große Flächen im Untergrund hinweg verlaufenden, vielgestaltigen Verflechtungen des Myzelliums. Der Einfluss, den diese Verbindungen auf ihre Umwelt haben, ist auch der Wissenschaft zu einem großen Teil noch ein Rätsel.

Ein solch unüberschaubares Netz aus Verbindungen bildet auch das Festivalgeschehen selbst, das sich durch Bezirke, Wohnungen, Cafés, Kneipen und Veranstaltungsorte zieht und so unterschiedliche Orte wie die Philharmonie im Tiergarten, das Zeiss-Großplanetarium in Prenzlauer Berg und das Kulturquartier silent green im Wedding miteinander verbindet.

 

Die Komponistin Éliane Radigue wird 2022 90 Jahre alt. Foto: Éleonore Huisse

 

Das Bild des untergründigen Geflechts passt auch zur Musik von Éliane Radigue, deren elektronisches Gesamtwerk live im Rahmen der Maerzmusik präsentiert wird. Denn diese wirkt zunächst wie eine unendliche, geradezu statische Klangfläche, obwohl sich untergründig im musikalischen Geschehen feine Veränderungen vollziehen.

 

Sich auf eine andere Wahrnehmung einlassen

 

Wer zu den Konzerten kommt, sollte sich ganz auf die Wahrnehmung dieser feinen Veränderungen der  Stücke einlassen, empfiehlt der Klangregisseur François J. Bonnet. Dann könne sich für die Zuhörer:innen ein ganz neuer Erfahrungshorizont öffnen. Es sind ganze 17 Veranstaltungen, die Bonnet zu betreuen hat. Sie decken die Werke der Komponistin von 1971 bis zum Jahr 2000 ab. François J. Bonnet, der unter dem Namen Kassel Jaeger auch selbst Musik macht, ist der heutige Direktor des INA GRM (Institut national de l’audiovisuel / Groupe de Recherches Musicales). Damit steht er der heutigen Variante der legendären Institution vor, die Pierre Henry und Pierre Schaeffer, die Gründerväter der „musique concrète“, in den 1940er Jahren ins Leben gerufen haben. Auch Radigue arbeitete lange Zeit mit Schaeffer und Henry zusammen. Heute ist ihr Name vor allem mit ihrer Arbeit mit dem ARP 2500 Synthesizer verbunden, mit dem sie in den 1970er Jahren als eine der ersten arbeiten konnte.

 

François J. Bonnet. Ein bärtiger Mann im blauen Pullover vor einer Mauer aus brüchigem Stein. Foto: Éléanore Huisse
François J. Bonnet ist der Klangregisseur bei der Aufführung des elektronischen Gesamtwerks von Éliane Radigue im Rahmen des Festivals Maerzmusik 2022. © Éléanore Huisse

 

Dass François J. Bonnet sich heute so gut mit den Stücken von Radigue auskennt, liegt daran, dass er mit ihr gemeinsam eine umfangreiche Edition ihrer elektronischen Werke herausgab. Daraus entwickelte sich ein enges Vertrauensverhältnis, und er hat ein genaues Gespür dafür, wie die Komponistin arbeitet und was ihr bei jeder einzelnen Komposition wichtig ist.

 

Die unterschätzte Bedeutung der Klangregie

Heute entscheidet Bonnet für jeden Veranstaltungsort neu, wie die Abspielposition aussehen soll, filtert bestimmte Frequenzen heraus oder betont sie während der Aufführung – ganz nach den Erfordernissen des Raumes. Auch wenn die Werke als Aufnahmen fertig gemischt sind, hebt er während der Aufführung bestimmte Stellen noch an oder verleiht ihnen einen gewissen Glanz. Dieses Einwirken kann dazu führen, dass ein und dasselbe Stück an einem anderen Ort ganz anders klingt. Einmal sei sogar Éliane Radigue nach dem Konzert zu ihm gekommen und habe gesagt, so wie heute habe sie ihr Stück selbst zum ersten Mal gehört.

 

Akustische Musik, mündlich überliefert

Nach der langen Periode der Arbeit mit dem Synthesizer wandte sich Éliane Radigue in ihrem Spätwerk ab dem Jahr 2000 der rein akustischen Musik zu, die sie mit ihren jeweiligen „Musiker-Kompliz:innen“ erarbeitete. Occam Océan entstand im Jahr 2015 in Zusammenarbeit mit dem Ensemble ONCEIM (l’Orchestre de Nouvelles Créations, Expérimentations et Improvisation Musicales) aus Paris.

 


Éliane Radigue, Occam Occéan, Uraufführung 26.9.2015, Festival CRAK Paris

 

Das Besondere: es gibt keine Verschriftlichung des Orchesterwerks, sondern das Stück wird nur mündlich und über das Hören überliefert. In einem weiteren gemeinsamen Übertragungsprozess gibt das Ensemble ONCEIM die Komposition an das Klangforum Wien weiter und bringt Occam Océan in einer gemeinsamen Aufführung im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie zu Gehör.

 

Furche, Rille, Spur

Im Rahmen dieses Konzerts wird das Ensemble ONCEIM auch Sillon für 27 improvisierende Musiker*innen von Patricia Bosshard aus dem Jahr 2018 aufführen. Sillon, das bedeutet Furche, Rille, Spur. In dem repetitiven Stück geht es um Bewegungen von der individuellen Stimme hin zum Gesamtklang, und um Verbindungslinien zwischen den Instrumentengruppen durch das musikalische Material, Timbre und Sound.

 

Auch in Patricia Bosshards Foumiliere mit dem Orchestre du Grand Eustache aus dem Jahr 2018 steht eher gemeinsames Praktizieren und Hören als um Verschriftlichung im Zentrum.

 

Musikalische Spuren wie in Sillon werden sich ausgehend vom Festival MaerzMusik auch durch die Menschen ziehen, durch die Stadt, durch die Welt – die Musik als Myzel, das uns alle auf die eine oder andere Art miteinander verbindet.
Friederike Kenneweg

 

Berno Odo Polzer, Kamila MetwalyZeiss-Großplanetarium Berlinsilent green Kulturquartier Berlin, Philharmonie BerlinOccam Océan, Pierre Henry, Pierre Schaefer, INA GRMEnsemble ONCEIM, Klangforum Wien

MaerzMusik 18.3.-27.3. 2022

Ausgewählte / erwähnte Konzerte:
21.3.2022 Zeiss-Grossplanetarium: Éliane Radigue: The Electronic Works 1: Trilogie de la Mort I. Kyema (1988)

22.3.2022 Zeiss-Grossplanetarium: Éliane Radigue: The Electronic Works 4: Adnos (1974)

23.3.2022 Philharmonie Berlin: Occam Océan, Klangforum Wien und Ensemble ONCEIM

 

neo-profiles:
François J. Bonnet, Patricia Bosshard

 

“partage de l’écoute”

Archipel, das Genfer Festival für zeitgenössische Musik, findet statt: live on stream vom 16. bis zum 25.April. Archipel sous surveillance, das Festival-Web-TV, bringt das Festival live ins Zuhause des Publikums.

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

Gabrielle Weber
2020 war in mancher Hinsicht ein besonderes Jahr für das legendäre Genfer Festival. Nach langjähriger Intendanz des Musikwissenschaftler Marc Texier trat ein neues Intendantenduo an. Marie Jeanson -sie stammt aus der experimentellen und improvisierten Musik- und Denis Schuler -er ist Komponist und künstlerischer Leiter des Genfer Ensemble Vide- wollen das Festival umkrempeln.

Das neue Intendantenduo erklärte mir im letzten Frühjahr, kurz vor dem geplanten Start, seine Vision des idealen Festivals. In einer eintägigen Carte Blanche sollte diese Vision exemplarisch umgesetzt werden.

Das Festival fiel als eines der ersten dem ersten Lockdown zum Opfer.
Dieses Jahr findet es online statt.

 

 So präsentierten Marie Jeanson und Denis Schuler sich und ihre eintägige Carte blanche, geplant für ihre erste Festivalausgabe 2020. Video Genf März 2020 ©neo.mx3

 

Die Vision von Jeanson und Schuler hörte sich an wie ein Fünf-Punkte-Plan: wie steht es nun damit? Was wurde -trotz Pandemie und Streaming- umgesetzt? Ich nahm unser Gespräch nochmals hervor… Ein Abgleich zeigt die Schnittmenge:

 

Der fünf-Punkte-Plan von 2020 – das Festival 2021: ein Vergleich

La musique c’est fait pour être vécue ensemble

2020: Alles ist eine Einheit – Musik und Leben gehören zusammen. Die Carte Blanche sollte einen ganzen Tag dauern, alles an einem Ort stattfinden -in der maison communale de Plainpalais-, und Gastfreundschaft mit gemeinsamen Mahlzeiten und Gelegenheiten zum Austausch im Zentrum stehen. Denn: “Musik ist da, um zusammen gelebt zu werden”, sagt Schuler.

2021: Umgesetzt ist die Einheit von Leben und Musik in Archipel sous surveillance’. Das experimentelle Festival-Web-TV begleitet on- &backstage hautnah vor Ort und bringt das Festival ins Wohnzimmer des Publikums, täglich von 12h-00h. Das Publikum lebt -wenn es möchte- mit dem Festival.. 

  

Archipel sous surveillance ©zVg Festival Archipel

 

‘cohérence poétique’

2020: Das Festival will sich in Zukunft weniger auf die Musikschaffenden als auf das Publikum ausrichten. “Wir möchten einen Rahmen schaffen, wo man berührt wird durch eine poetische Kohärenz. Wir erzählen Geschichten und möchten in den Menschen ein Begehren wecken, wiederzukommen”, sagt Jeanson.

2021: Vier Klanginstallationen bespielen vier Räume der Maison communale de Plainpalais. Sie sind während des ganzen Festivals online begehbar. Das charakteristische, historische Festivalstammhaus ersteht online neu und bildet einen durchgängigen poetischen Raum zwischen Fiktion und Realität.. 

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

‘faire exister la création’

2020: Am Festival-Wettbewerb um die meisten und besten Uraufführungen will Archipel nicht (mehr) mitmischen. “Vielen geht es ja nur darum, die ersten zu sein, die irgendetwas tun oder zeigen”, sagt Schuler. Dem Intendantenduo geht es aber darum, “die Kreation lebendig zu erhalten”. “Uns interessiert die Mischung von Komposition mit dem was direkt im Moment entsteht.

2021: Komposition und Improvisation begegnen sich an vielen Konzerten. Bspw. die Improvisatorin Shuyue Zhao und das Basler Ensemble neuverBand. Zhao hinterfragt in ihren Performances die Rolle der Interpretin und arbeitet mit Live-Elektronik, noise und Improvisation. Werke u.a. von Sofia Gubaidulina oder Junghae Lee, interpretiert vom Ensemble neuverBand, bilden zusammen mit Zhaos Improvisationen ein neues Ganzes.

 


Shuyue Zhao: noise fragments, 2019

 

‘partage de l’écoute’

2020: Auch Transdisziplinarität steht nicht im Zentrum des künftigen Festivals. Vielmehr geht es um das ‘reine Hören’. “Wir möchten einen besonderen Rahmen schaffen, in dem das konzentrierte Hören im Zentrum steht”, so Jeanson. Konzentration schaffe eine besondere Präsenz, die paradoxerweise der Stille nahekomme. “An der Carte Blanche gibt es bspw. ‘Salons d’écoute‘, Räume für das reine Hören also, mit Klangdiffusionssystem (Acousmonium) und Soundingenieur. Wer will bringt eine eigene CDs zum gemeinsamen Hören und Besprechen mit”.

2021: die salons d’écoute finden etwas anders statt: CDs können zwar nicht mitgebracht werden. Aber jeden Mittag um 12h gibt es sogenannte ‘partages d’écoute’ an denen ein*e Komponist*in seine/ihre Hörschätze (mit)teilt. Bspw. lassen sich da gemeinsam mit dem Komponisten Jürg Frey oder der Komponistin-Sängerin Cassandra Miller ihre Trouvaillen entdecken.

 

Rencontres à l’improviste – Unverhoffte Begegnungen

2020: Musikschaffende, die sich vorher nicht kannten, werden von den Kuratoren zusammengeführt. “Wir provozieren Begegnungen und schaffen den Rahmen: die Musiker*innen können in einem gegebenen Zeitrahmen spielen, was und wo sie wollen. Sie entscheiden kurzfristig, so dass das Publikum überrascht wird”, meint Schuler.

2021:  Insub.distances#1-8  verlinkt remote Musikschaffende. Cyril Bondy, der Leiter des Genfer Insub Meta Orchestra und d’Incise, Träger eines Schweizer Musikpreises 2019, initiierte das Projekt für Archipel’21. Dabei komponierten vier Genfer und vier internationale Komponierende je ein Stück für ein Duo: im harten Genfer Lockdown, von September bis Dezember 2020. Alle haben Nähe und Distanz zum Thema. Die Stücke wurden remote geprobt, eingespielt und online gestellt. Nun sind sie alle verteilt übers ganze Festival zu hören.


Insub Meta-Orchestra / Cyril Bondi & d’incise: 27times, 2016

 

Erstaunlich, wie passgenau sich Marie Jeansons und Denis Schulers im Kleinen angelegte Festivalvision nun im Grossen wiederfindet. Und das trotz Pandemie und Streaming.
Gabrielle Weber

 

Festival Archipel Teaser 2021

 

Das Genfer Festival Archipel findet vom Freitag, 16. bis zum Sonntag, 25. April statt. An zehn Tagen treten internationale Interpret*Innen und Ensembles wie Ensemble Ictus, Collegium Novum Zürich, ensemble Contrechamps, Eva Reiter mit Werken von u.a. Clara Iannotta, Alvin Lucier, Jürg Frey, Helmuth Lachenmann, Eliane Radigue, Cassandra Miller, Morton Feldman, John Cage oder Kanako Abe auf. Alle Konzerte sind per Stream kostenlos zugänglich.

Archipel sous surveillance sendet täglich von 12h-24h durchgehend von allen Austragungsorten, back- und onstage. Beteiligt sind die Genfer Filmcrew Dav tv und das alternative Fernsehen neokinok.tv.

 

Sendungen:
RTS:
Le festival Archipel met à l’honneur les musiques experimentales
SRF 2 Kultur:

neoblog, 12.3.2020Ma rencontre avec le future – ANNULÉ, Gabrielle Weber im Gespräch mit dem Intendantenduo Jeanson/Schuler.

Neo-Profiles: Festival Archipel, Shuyue Zhao, Jürg Frey, Insub Metha Orchestra, Ensemble Batida, Ensemble Contrechamps, Patricia Bosshard, d’Incise