Marc Kilchenmann: Der Vielseitige

Marc Kilchenmann mag es nicht, sich zu wiederholen. Aber der Komponist schätzt es, sich zu vertiefen, wenn er sich einer Thematik annimmt. Für sein Stück Murhabala hat er sich mit dem Iran und mit dem Freiheitskampf der Frauen dort auseinander gesetzt. In der musikalischen Form treffen Ober- und Untertonstrukturen teils harmonisch, teils in dissonanter Reibung aufeinander.
Ein Portrait von Friederike Kenneweg

 

Der Komponist Marc Kilchenmann. Portrait mit einem Hut. Foto von Paul Wyss
Der Komponist Marc Kilchenmann. © Paul Wyss

 

Friederike Kenneweg
“Ich weiß nicht genau, wo das herkommt, aber Persien, der Iran – das hat mich als Kind schon sehr fasziniert”, erzählt Marc Kilchenmann. “Es war dann auch später sehr präsent in meinem Leben. Ich habe ein bisschen persisch gelernt, viele iranische Filme geschaut und iranische Gedichte gelesen. Was mir ganz besonders gefällt, ist die Sprache. Es heißt, es sei die metaphernreichste Sprache der Welt.”

Wenn Kilchenmann etwas findet, womit er sich noch gar nicht auskennt, freut ihn das. So war es auch bei der Analyse der Streichquartette des US-amerikanischen Komponisten Ben Johnston, über die er seine Promotion geschrieben hat. “Bei Johnston habe ich mal fünfzehn verschiedene Terzen gezählt. Das war ein Gefühl, als ob es mir den Boden unter den Füßen wegzieht. Das ist toll. Ich habe mir gesagt: ich weiß nichts. Super!”

 

Mathematik und Musik, Iran und Ben Johnston

In seiner Komposition Murhabala für das mikrotonale Tasteninstrument Rhesutron und Streichquartett kommen diese beiden Interessensgebiete zusammen. Bei dem persischen Universalgelehrten Omar Chayyām aus dem 11. Jahrhundert entdeckte Marc Kilchenmann eine mathematische Abhandlung über Binomialkoeffizienten. Diese nutzt er ebenso wie das harmonische Konzept von Utonalität und Otonalität des Komponisten Harry Partch, der Ben Johnston maßgeblich beeinflusst hat, um seine musikalische Strukur zu finden. Als “otonal” werden Intervalle bezeichnet, die sich mit der Obertonreihe bilden lassen. Solche. Diejenigen die mit der Untertonreihe gebildet werden, heißen “utonal”.

 

Marc Kilchenmann, Dominik Blum und das Quatuor Bozzini nach der Uraufführung von Murhabala im Kunsthaus Walcheturm, Zürich. © Doris Kessler
Das Stück ‘Murhabala’ entstand im Auftrag von Dominik Blum zum Anlass seines 60sten Geburtstags. Dominik Blum und Marc Kilchenmann zusammen mit dem Quatuor Bozzini nach der Uraufführung von ‘Murhabala’ im Kunsthaus Walcheturm September 2024. © Doris Kessler

 

Das persische Wort Murhabala bedeutet ‚Gegenüberstellen‘. Marc Kilchenmann stellt in seinem Stück utonale und otonale Intervallstrukturen einander gegenüber. Das Streichquartett, das vor allem Liegetöne spielt, bewegt sich nur im otonalen harmonischen Raum. Das Rhesutron spielt ornamentale Linien und nutzt dabei sowohl otonale als auch utonale Intervalle. Im Verlauf des Stückes wird die harmonische Struktur immer komplexer. Wenn die Oberton- mit der Untertonreihe kombiniert wird, entstehen einerseits vollkommen rein klingende Intervalle. Meistens treffen aber Töne in einem Abstand aufeinander, der ausserhalb des tradierten Tonsystems liegt.

 


Murhabala für Rhesutron und Streichquartett, Aufnahme vom 23.9.2024 in der Kantonsschule Küsnacht. Dominik Blum und Quatuor Bozzini

 

Wellen wie Revolutionsbewegungen

“Du kannst mein Stück sehr linear hören, du kannst aber auch sehr auf die Harmonie achten, du kannst mal nur die Streichinstrumente verfolgen oder auch einfach die Gedanken schweifen lassen”, sagt Marc Kilchenmann. Ein Gedanke, der ihn selbst beim Komponieren beschäftigt hat, galt den Frauen im Iran, die dort in immer wieder neuen Anläufen gegen Unterdrückung und um ihre Freiheit kämpfen. Die harmonischen Zusammenhänge, die sich aus der Struktur von Murhabala ergeben, gleichen Wellenstrukturen, die an das Auf und Ab aus Niederschlagen und Wiedererstarken des Protests erinnern. Diesen Aspekt möchte Marc Kilchenmann in einer nächsten Fassung aber noch deutlicher betonen. “Die Wellen, die ich mir eigentlich vorgestellt habe, dieses Dranbleiben, dieses Immer-Wiederkommen, das ist etwas, was ich noch zu wenig höre in dem Stück. Die werde ich noch stärker herausarbeiten.”

 

Aufs Neue fremd sein

So intensiv sich Marc Kilchenmann jetzt mit Obertönen und Untertönen beschäftigt hat – in seiner nächsten Komposition wird es wahrscheinlich um etwas völlig anderes gehen. Denn das Unbekannte ist es, das ihn immer wieder aufs Neue reizt. “Ich würde gerne noch mal etwas ganz anderes studieren. Das tue ich jetzt wahrscheinlich nicht, weil die Zeit auch endlich ist. Aber ich mag es, mich mit ganz anderen Dingen zu beschäftigen, und auch wieder dieses Fremdsein zu erleben: Das ist ein schönerer Zustand, als alles schon zu wissen. Was willst du dann noch vom Leben?
Friederike Kenneweg

Omar Chayyām, Ben Johnston, Harry Partch, Quatuor Bozzini

neo-profile
Marc Kilchenmann, Dominik Blum, Kunstraum Walcheturm

 

20 Jahre Konus Quartett

Dem Saxophon jeden möglichen Ton entlocken – das ist das Metier des Konus Quartetts. Die vier Musiker sind spezialisiert auf zeitgenössische und experimentelle Musik und zeigen im Ensemble einen grossen Reichtum an neuen Saxophon-Klangwelten. Dieses Jahr feiert das Konus Quartett sein 20. Jubiläum mit einer Festivalwoche voller Kollaborationen – zum Beispiel mit dem Gori Frauenchor aus Georgien.

Florence Baeriswyl
Viele Saxophonquartetts wollen möglichst virtuos und voll klingen, am ehesten wie eine Orgel. Nicht das Konus Quartett: es spielt präzis und minimalistisch und erforscht dabei die Grenzen der Saxophonmusik. Christian Kobi, Fabio Oehrli, Stefan Rolli und Jonas Tschanz: das sind die Namen hinter dem Konus Quartett, welches dieses Jahr sein 20. Jubiläum feiert. Die vier Musiker sind breit gefächert und haben Hintergründe, die von freier Improvisation, über Tonmischung und Label-Führung bis zur Big Band- und Festivalleitung reichen. Alle vier teilen die Leidenschaft für das Saxophon und eine musikalische Experimentierfreudigkeit.

 

Konus Quartett: Von links nach rechts: Christian Kobi, Fabio Oehrli, Stefan Rolli, Jonas Tschanz © Livio Baumgartner

 

Minimalismus und Präzision

Christian Kobi beispielsweise hat auch schon mit der Stille des Saxophons Musik erzeugt. Dafür montierte er Mikrophone ganz dicht am Blasrohr und nahm die Resonanz im Inneren des Instruments auf, ohne hineinzublasen. Die so aufgenommene Stille verstärkte er, bis es zu einer Rückkopplung kam. Das Ergebnis ist ein anhaltender, unscheinbarer Ton, der sich einfach überhören lässt, wenn man sich nicht darauf achtet.

 


Christian Kobi lässt in rawlines 1 durch Rückkopplung von Resonanzen im Saxophoninneren Stille zu Klang werden.

 

Modular und zukunftsgewandt

Während ein traditionelles Saxophonquartett aus den vier Hauptinstrumenten der Saxophonfamilie besteht – Bariton, Tenor, Alt und Sopran – setzt sich das Konus Quartett modular zusammen und bleibt in der Besetzung flexibel. Je nach Stück spielen sie in der traditionellen Besetzung, aber manchmal auch mit zwei Altsaxophonen, einem Tenor- und einem Baritonsaxophon, oder sogar mit zwei Tenor- und zwei Baritonsaxophonen.

Diese Flexibilität suchen die vier Saxophonisten auch, wenn sie Kompositionen in Auftrag geben. Sie arbeiten vor allem mit Komponist:innen zusammen, die sich vertieft mit Klang auseinandersetzten und sich nicht von traditionellen Erwartungen an Saxophonquartette einschränken lassen. Unter den Stücken, die sie aufführen, finden sich Kompositionen von wichtigen Namen der internationalen Szene der zeitgenössischen Musik wie Chiyoko Szlavnics, Jürg Frey, Barry Guy, Makiko Nishikaze, Phill Niblock, Urs Peter Schneider, Martin Brandlmayr oder Klaus Lang.

 

FORWARD & REWIND: Ein Fest für neue Musik

Zur Feier seines 20. Jubiläums veranstaltet das Konus Quartett mit Titel Foward & Rewind in Bern ein Festivalwochenende. Forward & Rewind ist wörtlich gemeint: die vier Saxophonisten nehmen vergangene Kollaborationen erneut auf und streben neue an, sie zeigen sich zugleich reflektiert und zukunftsgewandt.

Eine dieser bereits vorhandenen Kollaborationen ist beispielsweise die mit dem Streichquartett Quatuor Bozzini. Im Jahr 2021 brachte das Konus Quartett mit ihnen das Stück Continuité, fragilité, resonance vom Schweizer Komponisten Jürg Frey zur Uraufführung. Am Eröffnungskonzert greifen die Musiker:innen des Konus Quartetts und des Quatuor Bozzini dieses Stück nochmal auf, zusammen mit einem Stück der Komponistin Chiyoko Szlavnics. Dabei lassen sich die Musiker:innen viel Zeit und Raum – und entfalten geduldig und präzise die verschiedenen Klangflächen, die in den Kompositionen verborgen sind.


During a Lifetime (Ausschnitt): Das Konus Quartett interpretiert ein Stück der kanadischen Komponistin Chiyoko Szlavnics.

 

Kraftvolle Stimmen aus Georgien

Eine neue Kollaboration erfolgt mit dem renommierten georgischen Gori Frauenchor, welcher seit 1970 den traditionellen georgischen Chorgesang auf Bühnen bringt. Diese polyphone Gesangstechnik ist hunderte von Jahren alt und entfernt verwandt mit dem uns bekannten Jodeln. Sie zeichnet sich besonders durch die fast physisch spürbare Kraft in der Stimme aus. Die Frauen singen teilweise einstimmig, teilweise mikrotonal aufgefächert, und vermischen dabei Harmonie und Dissonanz.

Seit 2013 wird der Chor von Teona Tsiramuna geleitet und hat sich gewissermassen neu erfunden. Der Leiterin ist es sehr wichtig, stets Neues zu entdecken und die gesangliche Tradition mit modernen und internationalen Musiken zu kombinieren. «1970 sang der Chor für eine bestimmte, ziemlich homogene Hörerschaft. Es wurde vor allem schwermütige und getragene georgische Musik aufgeführt. Jetzt hat sich das ausgeweitet. Wir singen auch mexikanische, türkische oder afrikanische Volksmusik», so Tsiramuna im Interview für SRF 2 Kultur.

Besonders nach einer Kollaboration mit der georgisch-britischen Pop- und Blues-Sängerin Katie Melua gewann der Gori Frauenchor über die Grenzen Georgiens hinaus an Bekanntheit und tritt nun auf europäischen Bühnen in verschiedenen Konstellationen an. Die Experimentierfreudigkeit zieht die Dirigentin auch zu Kollaborationen mit zeitgenössischen Musiker:innen, bspw. an den Stanser Musiktagen.

 

An den Stanser Musiktagen 2022 traten die Frauen zusammen mit vier jungen elektronischen Künstler:innen auf und verschmolzen Stimme mit Synthesizer-Klängen.

 

«Air Vibrations»

Air vibrations, die Kollaboration des Konus Quartetts mit dem Gori Frauenchor lässt sich einerseits als «Luftschwingungen» übersetzen, andererseits auch als «Liedschwingungen», vom italienischen «aria». Zum Schwingen bringt der Gori Frauenchor seine Stimmen zusammen mit zwei weiteren grossen Namen der zeitgenössischen Musik: die georgisch-schweizerische Pianistin Tamriko Kordzaia und der österreichische Komponist und Konzertorganist Klaus Lang.

 

Die neue Kollaboration knüpft an die erste Zusammenarbeit zwischen Klaus Lang und dem Konus Quartett, dem Stück Drei Allmenden, an.

 

Lang hat das Konzert konzipiert und komponiert und spielt auch an der Orgel mit. Seine Werke zeichnen sich durch die Weise aus, wie der den Klang erforscht. Musik ist «hörbar gemachte Zeit», so Lang. Auf seinem Instrument, der Konzertorgel, lässt sich diese Seite des Klangs besonders gut erkunden, da man die Töne beliebig lange halten kann.

Im Konzert Air Vibrations verwebt Lang dieses Orgelspiel mit den Saxophonen des Konus Quartetts und den Klaviertönen von Tamriko Kordzaia. Zusammen legen sie den Boden für den traditionelle Gesang des Gori Frauenchors. Dadurch entsteht Musik, die Altes und Neues vermischt, und somit voll und ganz im Sinne des Festivals steht: Forward & Rewind.
Florence Baeriswyl

 

Konus Quartett © Livio Baumgartner

 

FORWARD & REWIND Bern
3.5.23, 18:30: Konzert «Continuité, fragilité, resonance» von Jürg Frey, mit Quator Bozzini, les Concerts de musique Contemporaine (CMC) La Chaux-de-Fonds
5.5.-7.5.23: Fest für neue Musik , Bern
5.5. 19:30: Interlaced Resonances, Aula PROGR Bern
6.5. 19:30: Voltage Cracklings, Aula PROGR Bern
7.5. 19:30: Air Vibrations, Kirche St Peter & Paul Bern

Weiteres Konzert: Moods Zürich
8.5.23, 20:30:  «Air Vibrations»

Fabio Oehrli, Jonas TschanzChiyoko Szlavnics, Barry Guy, Makiko Nishikaze, Phill Niblock, Martin Brandlmayr, Klaus Lang, Quatuor Bozzini

Sendung SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert, 19.7.2023: Konzert Konus Quartett und Gori Women’s Choir, Bern: Air vibrations
Neue Musik im Konzert, 12.1.22: Jürg Frey: Stehende Schwärme
Musik unserer Zeit
, 13.11.13: «zoom in» – der Saxophonist und Veranstalter Christian Kobi
Online-Artikel, 13.11.13: Das Rauschen des Nichts: Der Saxophonist Christian Kobi
Musik unserer Zeit, 17.07.2019: Saxophonzauber mit dem Konus Quartett
Musikmagazin, 21.5.22: Chorleiterin Teona Tsiramua: «Wir singen nicht nur Wiegenlieder»


Neo-profile:
Konus Quartett, Tamriko Kordzaia, Christian Kobi, Jürg FreyUrs Peter Schneider, Jonas Tschanz