Yello – Gesamt-Kunstprojekt erhält Grand Prix Musik 2022

Yello – das legendäre Schweizer Elektropop-Duo erhält den Schweizer Grand Prix Musik 2022. Seit mehr als vierzig Jahren und 14 gemeinsamen Alben strahlt das Duo aus Boris Blank, dem Klangtüftler, und Dieter Meier, dem Frontmann mit sonoriger Stimme, von der Schweiz aus in die Welt.

 

Portrait Yello zVg. Yello ©Helen Sobiralski

 

Gabrielle Weber
Der rhythmisch-groovige Sound und Wortschöpfungen wie «Oh Yeah» oder «Claro que si» prägen eine ganze Generation in den Achtzigern Aufgewachsener. Und noch heute, vierzig Jahre später, nehmen Yellos Rhythmen, ihre Wort- und Bildkreationen ungebrochen ein. Und das, auch wenn sie sich scheinbar fast nicht veränderten – aber eben nur fast.

1981 – im Video zu The evening’s young formen sich tanzende bunte Leuchtstäbchen zum Schriftzug Yello. Ein Gesicht in Nahaufnahme -ein junger Mann: Boris Blank- von vorn, von der Seite, sein Ganzkörper im Schattenspiel, rasche Schnitte, verschiedene Perspektiven, starke Farben, dann Dieter Meier am Mikrofon, wechselnde monochrome Farben im Hintergrund. Alles wird übermalt, verfliesst und beginnt wieder von vorn. Überblendungen, Schnitte, Licht- und Farbspiel. Der Klang rhythmisch vielfältig, dazu Sprechgesang auf einer Tonhöhe. Ein audiovisuelles Kunstprodukt, das die Möglichkeiten des Mediums musikalisch und visuell experimentell ausschöpft aber nicht überfrachtet: einfach, spielerisch leicht, elegant, selbstbewusst und selbstironisch.

 


Yello: The young, Video 1981

 

So präsentiert sich Yello – und bleibt dabei – die Rollenverteilung konstant: Blank kreiert die Klanglandschaften aus Samples und rhythmischen Pattern, und Meier steht fürs Visuelle und die Stimme. Er sei Dilettant, habe nie etwas Artistisches gelernt, alles sei reiner Zufall, sagt Meier gern, und Blank wiederum bezeichnet sich als Klangmaler und versieht seine Samples liebevoll mit individuellen Namen.

Präsentiert sich das Video zu The evenings young noch hausgemacht, so ist das Video zu Bostich von 1984, dem Song, der Yello auf Vinyl-Maxisingle als „natural born hit“ zuoberst in die weltweiten Hitparaden katapultierte, etwas ausgefeilter: Blank und Meier sind wieder die Protagonisten, dazu kommen diesmal rhythmisch tanzende Geräte und Maschinenteile. Ganz leicht kommt es daher, mit einem touch von Underground.

 


Yelllo: Bostich, Video 1984

 

In die Achtziger fällt auch die Gründung von Music Television, MTV, in New York: mit seinen 50 regionalen Ablegern festigt der neue Verbreitungskanal zahlreiche Popkarrieren. Yellos audiovisueller Ausrichtung kommt das neue Medium ganz natürlich entgegen. Das Duo nutzt es zukunftsweisend nicht «nur» für Musikvideos, sondern spinnt dort auch gezielt humorvoll-subversiv skurrile Geschichten, wie bspw. in der Performance Dr. Van Steiner von 1994, wo Blank als Urwaldforscher, interviewt von Meier, seine Sounds vom unter dem Tisch versteckten Keyboard einspielt und mimisch imitiert.

 


Yello Video@MTV: Dr. Van Steiner, 1994

 

Die Videos sind Kult, umso mehr als sich Yello -im Gegensatz zu vielen anderen Bands- gezielt Live-Konzerten entzieht: nach wenigen frühen ersten Auftritten, noch im Trio mit Carlos Perón, Gründungsmitglied, in Zürich, und einem ersten legendären Auftritt 1984 im DJ-Club Roxy in New York, machte sich Yello bis 2016 rar: zum Album toy gab’s dann erst wieder Live-Gross-Auftritte im Berliner Kraftwerk zusammen mit einem Bläserensemble. Sie wurden zum ausverkauften Grosserfolg.

Dass Yello, auch durchs neue Medium, das Label Schweizer Export-Pop-Band erhält, wird dem Duo kaum gerecht. Denn Yello ist genauso sehr Kunstprojekt, das sich allen gängigen Kategorisierungen entzieht. Blank und Meier bewegen sich davor einzeln in experimentelleren Szenen. Meier in der Performancekunst: Mit absurden Aktionen zieht er in den siebziger Jahren in Zürich und New York oder 1972 an der Documenta in Kassel Aufmerksamkeit auf sich und vertritt die Schweiz 1971 im New Yorker Museum of Modern art an der Show Swiss Avantgarde. Die Subversion nimmt er ins Musikprojekt Yello mit. Blank, Elektronikpionier und Samplevirtuose, bewegt sich vor Yello im experimentellen Zürcher und Londoner Elektro-Underground und orientiert sich an Jazz-und Neue Musiklegenden wie John Coltrane, Pierre Boulez und György Ligeti. Den Innovationsgeist transportiert er in seine Yello-Klanggemälde, in die Meier sich mit seiner tiefen Stimme einklinkt.

 

Preise aus unterschiedlichen Ecken

Die Preise, die das Duo über die Jahre erhält, kommen folgerichtig aus unterschiedlichen Ecken, 1997 der Kunstpreis der Stadt Zürich, 2010 der Swiss music award für das Album touch yello, 2014 der Echopreis zu 35Jahren Yello, um nur ein paar zu nennen. Und im dicken Jubliäums-Printband „Oh Yeah!“, herausgegeben 2021 mit einfachem schwarz-weissen Cover in der Edition Patrick Frey, blickt Yello kunstvoll auf die gemeinsame 40jährige, musikalisch wie visuell durchkonzipierte Geschichte zurück.

In den Musikprojekten, die Blank und Meier parallel zu Yello verfolgen, leben die beiden weitere Seiten von sich aus. Meier setzt die Stimme in seiner 2012 gegründeten Band Out of chaos anders ein und entwickelt Stücke auch selbst, Blank integriert in seine eigenen Projekte weitere Stimmen und gräbt mit anderem Fokus in seiner reichen Soundlibrary. 2014 bspw. arbeitete er fürs Album Convergence eng mit der Sängerin Malia zusammen. Oder für Electrified im selben Jahr rezyklierte und digitalisierte er alte analoge Stücke aus der Prä-Yello-Ära für eine limitierte Special edition mit allen über die Jahre bespielten Formaten – Vinyl, DVD, CD, Kassette, in Kombination mit z.T. eigenen Videos. Mit den heutigen digitalen Tools experimentiert er genauso gern optisch wie auch akustisch.

Ausgeklügelte, eingängige Rhythmen und Soundscapes, verbunden mit knackigem Text und farbenfrohen, unaufwändig daherkommenden Visuals, zusammengemischt mit subversiver Ironie und leichter Eleganz. Diesen Ton, dieses Bild behalten Yello während 14 gemeinsamen Alben bei. Und sukzessive macht sich das Duo neue technische tools zu eigen und spielt mit den Mitteln der Digitalisierung.

 


Yello, Wabaduba, point, Video 2020

 

2020: In Wabaduba auf dem bislang letzten, dem 14. Album point, tanzen Meier und Blank synchron: nunmehr beide um die siebzig Jahre alt, in einfacher computeranimierter, an ihnen vorbeiziehender schwarz-weisser Sci-Fi-Grossstadtkulisse, Meier im Anzug und Blank im James Bond-schwarzen Rollkragenlook mit Sonnenbrille. Die Welt zieht vorbei – Meier und Blank bleiben – und überraschen uns immer wieder.

Zu der von Blank selbst entwickelten und erst vor ein paar Jahren lancierten App, Yellofire, mit der jeder und jede Yello-ähnliche Sounds generieren kann, meint Meier: «Damit gibt’s nun vielleicht Liveauftritte – wir haben ja noch zirka weitere 30 Jahre vor uns».

Sie sind cool und sie bleiben sich treu, die beiden Herren. Eine Marke, die sich sanft mit der Zeit verändert, alle medialen Entwicklungen gekonnt ausschöpft und dennoch immer unverkennbar bleibt: das macht Yello gegen alle Zeitströmungen bis heute zum Trendsetter und zum Gesamt-Kunstprojekt.
Gabrielle Weber

 

Portrait Yello zVg. Yello ©Helen Sobiralski

 

Auf den neo-Profilen von Yello und Boris Blank findet sich z.T. noch unveröffentlichtes Videomaterial, u.a. das Video The pick up zu Boris Blank: da wird Autobiografisches mit Sound- und Bildexperiment zur persönlichen Erzählung verwoben.

40Jahre Yello – Oh Yeah!: Ed. Patrick Frey; Boris Blank: Electrified 2014; Boris Blank&Malia: Convergence 2014; Malia; Dieter Meier: Out of chaos; Label Suisse, Carlos Perón

Grand Prix Musik: Yello
Weitere Schweizer Musikpreise:
L’Orchestre Tout Puissant Marcel Duchamp
Fritz Hauser; Arthur Hnatek; Simone Keller; Daniel Ott; Ripperton; Marina Viotti
Spezialpreise Musik:
AMR Genève; Daniel “Duex” Fontana; Volksmusiksammlung Hanny Christen

Die Preisverleihung findet am 16. September in Lausanne im Rahmen des Festivals Label Suisse statt.

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 27.7.22., 20h: Yello – Gesamt-Kunstprojekt erhält Grand Prix Musik 2022, Redaktion Gabrielle Weber / Wiederholung: Passage 28.8.22, 15h.
MusikMagazin, 14./15.5.22: Yello – Das Schweizer Elektropop-Duo bekommt den Grand Prix Musik, Redaktion Annelis Berger

Neo-Profile:

Yello, Boris Blank, Swiss Music Prize

Wien Modern spielt ohne Publikum

17 Neuproduktionen als Stream im Lockdown: 6.-29.11.20

Gabrielle Weber
Die Stadt Wien traf es hart. Zuerst frühzeitig zur Quarantäneregion erklärt, dann der kurzfristig ausgerufene Lockdown für den Monat November. Kurz darauf die unfassbare Terrorattacke. Das einzigartige Musikfestival Wien Modern ist zeitlich und geographisch mittendrin. Es bespielt die Wiener Innenstadt normalerweise jeweils während des ganzen Monats an diversen Orten.

Saal Konzerthaus ohne Publikum ©Markus Sepperer 

Unter dem Motto “Stimmung” spürt das Festival vielschichtig und vieldeutig der aktuellen Stimmungslage im Jahr 2020 nach. 44 neue Produktionen und 85 neue Stücke hätten zur Aufführung kommen sollen, verteilt auf 32 Tage. Nur das Eröffnungswochenende fand mit Publikum statt. Gezeigt wurden sechs Produktionen und damit gerade mal 14% des Gesamtprogramms.

Am dritten und zugleich zweitletzten Abend konnte noch die Uraufführung von Edu Haubensaks Grosser Stimmung gespielt werden. Wien Modern scheut keinen Aufwand – fast vorausahnend wurde der Zuschauerraum des Wiener Konzerthauses für die elf verschieden gestimmte Konzertflügel leergeräumt. Das Publikum war freilich noch präsent – auf den Rängen.

So konnte Haubensaks Grosse Stimmung erstmals als Ganzes live erlebt werden. Denn nach Teilaufführungen wurde die geplante integrale Uraufführung im Sommer an der Ruhrtriennale bereits Pandemiebedingt abgesagt. Angereist waren trotz Quarantäne die drei Schweizer Pianistinnen Simone Keller, Tomas Bächli und Stefan Wirth.

Edu Haubensak, Grosse Stimmung © Markus Sepperer

Dann kam der Lockdown mit Veranstaltungsverbot und Ausgangsbeschränkung. Rasch fiel der Entscheid: Insgesamt 24 Veranstaltungen und damit über die Hälfte der Konzerte werden nun ohne Publikum aufgeführt und per Stream kostenlos öffentlich zugänglich gemacht.

Bereits fünf Tage nach dem Lockdown fand das erste Konzert vor leerem Saal für den Stream statt: die Uraufführung von Sofia Gubaidulinas lange erwartetem neuem Orchesterwerk Der Zorn Gottes im Musikverein am Freitag, 6. November. Unter dem Dirigat von Oksana Lyniv spielt das Radiosinfonieorchester Wien (RSO). Die geplante Uraufführung bei den Salzburger Osterfestspielen mit der Staatskapelle Dresden und Christian Thielemann erlebte nach mehrmaligem Verschieben bereits eine coronabedingte Absage.

Dass es nun online doch zur Uraufführung kam, ist gerade jetzt, in der vom Terror versehrten Stadt Wien, wichtig. Die Aufführung versteht Gubaidulina als Zeichen des Friedens in einer Zeit des zunehmenden Hasses und «einer allgemeinen Überanspannung der Zivilisation“.

Klaus Lang: tönendes Licht

Klaus Lang, tönendes Licht, Livestream aus dem Stephansdom, 19.11.20

Wichtige weitere Highlights sind am 18. November im Wiener Konzerthaus ein Konzert mit drei Uraufführungen. Nebst neuen Werken von Friedrich Cerha und Johannes Kalitze wird auch ein Stück von Matthias Kranebitter, dem Preisträger des Erste Bank Kompositionspreises uraufgeführt – eine neue Enzyklopädie der Tonhöhe und Abweichung. Aufgeführt durch das Klangforum Wien und dirigiert von Kalitzke selbst. Oder live aus dem Wiener Stephansdom am 19. November die Uraufführung tönendes licht von Klaus Lang, ein “Riesenorgelkonzert” (Zit. Wien Modern) für die weit auseinandersitzenden Wiener Symphoniker unter Leitung von Peter Rundel.

20 Jahre Ensemble Mondrian – Jubiläumskonzert in Wien: Die Produktion musste am 16.11.2020 aufgrund einer Schweizer Quarantänevorschrift leider auf 2021 verschoben werden.

 

Portrait Mondrian Ensemble & Thomas Wally © Markus Sepperer

Auch aus der Schweiz gibt es etwas zu hören: Am 21. November präsentiert das Mondrian Ensemble zu seinem 20Jahr-Jubiläum in Wien Werke von Martin Jaggi und Thomas Wally, beides langjährige Weggefährten des Basler Ensembles.


Ensemble Mondrian, Thomas Wally, Podcast

Uraufführungen von Andres Bosshard mit Zahra Mani und Mia Zabelka mussten hingegen auf November 2021 verschoben werden. Ebenso das Konzert des Basler Ensembles Nikel mit Werken von Thomas Kessler und Hugues Dufourt.

Bernhard Günther, der künstlerische Leiter von Wien Modern, äusserte sich in einem längeren Statement zum Lockdown und zur kulturellen Stimmung in Österreich folgendermassen: ” Die Stimmungslage in diesem Bereich ist derzeit so, dass es dringend ganz deutliche Signale braucht, damit Kultur nicht als Opfer des Gesundheitswesens, des Wintertourismus in den Bergen und des Weihnachtsgeschäfts empfunden wird. Es ist klar, dass ein Kapitän versuchen muss, einem Eisberg auszuweichen, aber er muss jetzt alles dafür tun, damit das Schiff nicht an der anderen Seite auf Grund läuft.”  (Zit. Günther)

Durch die Streams versucht nun Wien Modern, einen Teil des Wiener kulturellen Lebens aufrecht zu erhalten und zugänglich zu machen. Vielleicht kann damit immerhin -gemäss dem Festivalmotto- die aktuelle Stimmungslage etwas verbessert werden, auch wenn die existenzbedrohende Lage für das Kulturschaffen dadurch nicht geschmälert wird.

Als Zeichen der Solidarität seitens SRF 2 Kultur und neo.mx3 freuen wir uns, an dieser Stelle auf die Streams hinzuweisen.
Gabrielle Weber

Portrait Bernhard Günther © Wien Modern

 

Der Zorn Gottes ist ab 6. November 7 Tage lang per Stream nachzuhören auf: www.wienmodern.at

Alle Streams sind zu finden auf: Wien Modern
sowie teilweise auf den Homepages von Musikverein und ORF RSO 

Sendungen SRF 2 Kultur

Kultur kompakt Podcast9.11.20: Theresa Beyer, “Der Zorn Gottes” entlädt sich im Stream zur UA Wien Modern, Sofia Gubaidulina:

Neoblog, Corinne Holtz: Wenn aus Leidenschaft Subversion wird – Portrait Simone Keller

Kontext, 21.10.20, Corinne Holtz: Zehn neu gestimmte Klaviere

In Musik unserer Zeit21.10.20: Florian Hauser / Gabrielle Weber:  zu neo.mx3: Simone Keller & Edu Haubensak

Neo-profiles
Simone Keller, Stefan Wirth, Wien Modern, Edu Haubensak, Mondrian Ensemble, Martin Jaggi, Thomas Kessler

Wenn aus Leidenschaft Subversion wird

Portrait Simone Keller – Pianistin, Kuratorin, Performerin und Musikvermittlerin

Corinne Holtz
Das Jahr 2020 beginnt dicht getaktet mit Konzerten. Für Laptop4, ein instrumentales Theaterstück von Lara Stanić, schaltet das Kukuruz Quartett auch Kamera und Mikrofon ein. Für die Produktion des Ensemble Tzara und Uraufführungen von Patrick Frank und Trond Reinholdtsen sitzt Simone Keller am Klavier. Am Tag vor der Ankündigung des Lockdown, am 12. März, präsentiert sie zusammen mit dem Ensemble thélème ein launiges Programm mit Vokalmusik von Guillaume de Machaut bis Francis Poulenc.

Portrait Simone Keller © Lothar Opilik

Dann gehen die Lichter aus. Auch die Uraufführung Grosse Stimmung  von Edu Habensak für verschieden gestimmte Klaviere ist betroffen. Die Ruhrtriennale wird abgesagt, das Festival Wien Modern jedoch soll Ende Oktober stattfinden. Die Parkettsessel im grossen Saal des Wiener Konzerthaus müssen weichen. Es wird Platz geschaffen für insgesamt zehn unterschiedlich gestimmte Konzertflügel.

Simone Keller, Tomas Bächli und Stefan Wirth haben fest vor, am 31. Oktober den über drei Stunden dauernden Zyklus zu spielen. Das Finale ist ein neu beauftragtes Tutti, bei dem Studierende der Universität für Musik und darstellende Kunst mitwirken.
«Ja, wir reisen nach Wien, ausser es gäbe wirklich ein Einreise-Verbot. Auch die Quarantäne würden wir in Kauf nehmen. Ich habe Anfang September bei den Wiener Festwochen gespielt. Die Veranstalter haben unendlich sorgfältig Regeln und Massnahmen eingehalten, damit die Vorstellungen stattfinden konnten.»


Rat einer Frau: “weniger Emotionen zeigen und die Frisur vorgängig mit einem Mann absprechen..”

Simone Keller spricht auch offen über die finanziellen Folgen der Pandemie. 80% der Verdienstausfälle konnte sie in den letzten Monaten durch die staatlichen Unterstützungsmassnahmen decken. Das neue Covid-Gesetz, seit September in Kraft, sichert den Erwerbsersatz bis Juni 2021. Berechtigt ist aber nur, wer gegenüber den Einnahmen von 2015-2019 eine Umsatzeinbusse von mindestens 55% belegen kann. “Das ist natürlich ein Hohn, wenn man wie ich im Jahr nur 40’000 Franken verdient, also auch mit 100% nur knapp durchkommt.”

 

Simone Keller in Lara Stanic, Fantasia für Klavier-Solo und Elektronik, 2020

Die Krise ist existenziell. Trifft sie Frauen härter als Männer? «Als freischaffende Künstlerin bin ich sowieso zuunterst in der Nahrungskette. Dort wird wahrscheinlich nicht mehr nach Geschlecht abgestuft.» Anders sieht es aus, wenn Frauen auf die Bühne kommen und Signale senden, die das Publikum bewertet. «Für mich war die Rückmeldung einer Frau in einer hohen Leitungsfunktion ein Schlüsselerlebnis. Sie riet mir, weniger Emotionen beim Musizieren zu zeigen und meine Frisur immer vorgängig mit einem Mann abzusprechen. Sie selber würde immer ihren Ehemann fragen, wie er ihr Äusseres bewerte, bevor sie zu einem wichtigen Termin gehe.» Seither schaut sich Simone Keller «auch den Sexismus unter Frauen genauer» an.

Simone Keller spielt Julia Amanda Perry © Wiener Festwochen 2020 reframed

“möglich machen, was unmöglich ist”

Die Musikerin erforscht sich selbst, wenn sie wenig bekanntes Repertoire erschliesst und erfrischende Formen der Programmierung wagt. Zum Beispiel im Rahmen der Carte blanche, die ihr der Jazzclub Moods in Zürich gewährt hat. «Möglich machen, was unmöglich ist», sagt die Pianistin und Kuratorin am ausverkauften Eröffnungsabend des Festivals ‘Breaking Boundaries’. Ihr Treiber scheint Leidenschaft und Subversion in einem zu sein, getragen vom Feuer, endlich wieder vor Publikum spielen zu dürfen.

Drei Spielorte hat sich Simone Keller für die drei Programmpunkte ausgedacht: vier Konzertflügel in jeweils eigener Stimmung für einen Querschnitt aus Edu Haubensaks Klavierzyklus Grosse Stimmung, sechs Klaviere für Musik von Julius Eastman -interpretiert auch von drei Asylsuchenden als MitmusikerInnen-, sowie den Flügel aus dem Moods für die Improvisation von Vera Kappeler und Peter Conradin Zumthor am Schlagzeug. «Der Aufwand war enorm, die Realisierung verdanken wir dem Einsatz des Klavierbauers Urs Bachmann und seinem Team.»


Einladung zum Farbenhören – eine einzige Taste wird zum Mikrocluster

Simone Keller versprüht Funken wenn sie loslegt. Jeder Ton bekommt jene Zufuhr an Energie, die er braucht. Präzise platziert in Raum und Zeit, geformt aus pianistischem Feinsinn. Patterns werden zu nachvollziehbaren Phrasen. Schockmomente sind ebenso überlegen ausgearbeitet wie lyrische Gesten. Die extrem physische Musik Haubensaks wird plastisch. Als “Geräuschkuben” bezeichnet Haubensak die resultierenden Klänge: sie springen die Zuhörerin regelrecht an. Das Schwirren der sich überlagernden Schwingungen etwa in Collection II  setzt nie gehörte Farben frei. Es wetterleuchtet im Ohr. Haubensak hat für die Skordatur von Collection II eine eigene Mischstimmung kreiert. Jede Lage des Klaviers bekommt dadurch einen besonderen Charakter. Werden alle drei Saiten (bzw. Töne) einer Taste unterschiedlich gestimmt, weitet sich der Horizont. Eine einzige Taste wird zum Mikrocluster. Das Klavier entgrenzt sich, wenn alle 241 Saiten anders gestimmt sind. Und der Angriff auf das Herrschaftsinstrument wird zur Einladung zum Farbenhören.


Simone Keller spielt Edu Haubensak Pur, für Klavier in Skordatur (2004/05, rev. 2012)

Simone Keller formuliert über die Kunst hinaus «kühne Wünsche»: Soziale Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern, ein Grundeinkommen bei gleichzeitiger Selbstverantwortung des Risikos, Einbindung von Aussenseitern in die kulturelle Praxis. Dort wird es vermehrt zu tun geben, denn die Krise hat eben erst angefangen. Die Pianistin leitet seit 2014 zusammen mit dem Regisseur Philipp Bartels das Künstlerkollektiv ‘ox+öl’. Es führt Kompositions- und Improvisationswerkstätten durch: für und mit Kindern mit Migrations­hintergrund. Es gibt partizipative Konzerte: mit jugendlichen Gewalt­verbrechern im Gefängnis.

Simone Keller wappnet sich für die unwägbare Zukunft. Im Sommer hat sie sich auf ein weiteres Feld eingelassen: eine «Intensiv-Weiterbildung in Gebärdensprache, ausgelöst von einem Musiktheaterprojekt mit Gehörlosen». Vielleicht macht sie eine Ausbildung und wird Gebärdensprache-Dolmetscherin, «ein sehr gesuchter Beruf». Es kann sein, «dass ich meine soziokulturelle Arbeit im Gefängnis und im Asylbereich vertiefen werde und weniger selber konzertiere.»
Corinne Holtz

Portrait Simone Keller

Festival Wien Modern, Edu Haubensak: Grosse Stimmung, 31.10.20

Simone Keller, Wien Modernox&öl – Breaking Boundaries Festival, Philipp Bartels, Edu Haubensak, Tomas Bächli, Stefan Wirth, Ensemble Tzara, Lara Stanic, Patrick Frank, Ensemble thélème, Duo Kappeler Zumthor, Urs Bachmann, Trond ReinholdtsenMoods Club, Kukuruz Quartett

Sendungen SRF 2 Kultur:
Kontext, Mittwoch, 21.10.20, 17:58h: Künste im Gespräch, Redaktion Corinne Holtz

in: Musik unserer Zeit, Mittwoch, 21.10.20., 20h: Redaktion Florian Hauser / Roman Hošek / Gabrielle Weber: Sc’ööf! & neo.mx3

Neo-Profiles:
Simone KellerEdu Haubensak, Lara Stanic, Stefan Wirth, Ensemble Tzara, Patrick Frank, Peter Conradin Zumthor, ox&öl, Kukuruz Quartett, Trio Retro Disco

Texte:
Thomas Meyer: Edu Haubensak – Das wohlverstimmte Klavier, in: Schweizer Musikzeitung, Nr. 11, November 2011
Edu Haubensak: von früher…von später. Im Dickicht der Mikroharmonien, in: MusikTexte 166, August 2020
Pauline Oliveros: Breaking Boundaries

“Kunst ist eine soziale Tätigkeit”

Das Geheimnis ist gelüftet: der diesjährige Schweizer Grand Prix Musique geht an Erika Stucky, Sängerin, Musikerin und Performerin im Bereich der neuen Volksmusik.

14 weitere Preisträgerinnen und Preisträger gibt es, davon mehrere im weit gefassten Genre der zeitgenössischen experimentellen Musik.
Der Neo-Blog portraitiert einzelne in loser Folge. Den Auftakt macht Antoine Chessex, Saxophonist, Komponist, Klangkünstler und Klangtheoretiker.

Portrait Antoine Chessex ©Pierre Chinellato

Antoine Chessex, 1980 in Vevey geboren, gehört zu den innovativsten jungen Musikschaffenden der Schweiz. Nach Aufenthalten in New York, London und Berlin lebt er nun in Zürich. Chessex kennt keine Scheu vor Genregrenzen. Er bewegt sich fliessend zwischen komponierter und improvisierter Musik, Noise und Klangkunst. Zudem ist er als Autor, Dozent und Kurator international tätig und sensibilisiert für gesellschaftspolitische Themen wie Ungleichheitsverhältnisse oder das Prekariat im Kunstschaffen. Mit Gabrielle Weber spricht er über Klang und Hören.

Ich gratuliere zum Erhalt des Musikpreises! Waren Sie überrascht?

Ich freue mich sehr und war auch überrascht. Insbesondere, da meine Arbeit sich eher am Rand der kommerziellen Musikszene abspielt und sich keinem Genre zuordnen lässt.

Was bedeutet für Sie dieser Preis?

Der Preis ist ein Zeichen der Anerkennung, dass meine berufliche Praxis, die sich nun schon über zwanzig Jahre erstreckt, wahrgenommen wird. Meinen Beruf erlernte ich nicht in einer Institution, sondern auf dem Feld, im Tun. Dass ich als Einzelkünstler den Preis bekomme, hat aber auch etwas Ambivalentes: Meine Musik entwickelt sich immer wieder in einer kollektiven Praxis, da sind oft Mehrere beteiligt.


Antoine Chessex / Eklekto: écho/cide, Ausschnitt

Hat der Preis gerade jetzt eine besondere Bedeutung? In Zeiten der Coronapandemie ist das Thema Prekariat im Musikschaffen für viele zentral. Sie machen darauf in Ihrer Zeitschrift “Multiple” aufmerksam…

Die Situation zeigt, wie fragil das ganze System ist und wie prekär viele freischaffende Künstler*innen in der Schweiz arbeiten. Viele Musikschaffende leben beruflich in einem Zustand der Bricolage. Sie kommen nur durch die Kombination verschiedener (Kultur-)Arbeiten über die Runden. Fällt ein Teilchen weg, kollabiert rasch das Ganze. Die Situation ist ausserdem deswegen komplex, weil Kunstschaffende viel Zeit brauchen, um zu experimentieren und zu recherchieren. Der Imperativ, immer „produktiv“ sein zu müssen, ist deshalb problematisch. Kunst ist meines Erachtens keine Dienstleistung, sondern vor allem eine soziale Tätigkeit. Im Grossen und Ganzen stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Kunst- und Musikschaffen als Beruf heute noch existieren kann.

«Das ist wie eine Sonic Fiction, die Imaginationen entfalten lässt»

Sie hinterfragen das romantisierende Klangbild der Natur in der Musik. Einige Ihrer Werke wurde auch schon mit “Urgewalt”, mit Erdbeben, Tsunami oder Vulkanausbrüchen verglichen.

In meiner Musik geht es vielleicht eher metaphorisch um Natur. Ich möchte Klischees der Repräsentation von Natur als schön, ruhig und harmonisch dekonstruieren. Natur ist auch chaotisch, gewaltvoll und laut. In Stücken wie The experience of limit klingt das Klavier wie ein Sturm im Meer. Das ist wie eine Sonic Fiction, die Imaginationen entfalten lässt. Phänomene wie seismische Aktivitäten, Tornados, Schneelawinen oder Starkregen interessieren mich klanglich.


Antoine Chessex / Tamriko Kordzaia, The experience of limit

‘Klang und Hören’ konnotieren Sie mit Macht und plädieren für ein ‘kritisches Hören’: Worum geht es dabei?

Musik ist kulturell konstruiert und eingebettet in verschiedene historische Traditionen. Im Grunde geht es mir aber meistens um die Verhältnisse von Klang und Hören. Hören ist nie neutral, sondern immer situiert. Da sind komplexe Mechanismen im Spiel und es geht um Machtverhältnisse: Die Tradition der europäischen Avantgarde schloss beispielweise viele Stimmen aus. Es braucht Diskurse, um aufzudecken, wo die Grenzen des Hörbaren sind. Der Begriff “kritisches Hören” fordert dazu auf, Machtverhältnisse und soziale Dimensionen mit zu hören und zu hinterfragen.

“Die Musikszenen und -institutionen agieren oft homogen, während die Realität der musikalischen Welt stark heterogen ist.”

Ihre Stücke siedeln sich zwischen improvisierter und notierter Musik, Noise und Klangkunst an – sie haben keine Berührungsängste zwischen musikalischen Genres: Wie funktioniert das in der Praxis der Institutionen?

Wenn es um Klang und Hören geht, werden Musikgenres obsolet. Kulturinstitutionen sind aber meist nach diesen organisiert. In der freien Szene funktioniert die Musik anders als im institutionellen zeitgenössischen Rahmen und Klangkunst braucht wiederum andere Räume. Die Musikszenen und -institutionen agieren oft homogen, während die Realität der musikalischen Welt stark heterogen ist. Je mehr sich Kunstschaffende zwischen den verschiedenen Szenen bewegen, desto mehr strukturelle Veränderungen können auch stattfinden.

Sie sind nicht “nur” als Komponist und Musiker, sondern auch als Kurator tätig, z.B. kuratieren Sie das Festival “Textures” im legendären Café OTO in London: Beeinflussen sich Komponieren und Kuratieren gegenseitig?

Beim Kuratieren geht es mir vor allem um andere Künstler*innen und Künstlerpersönlichkeiten und darum, Menschen zusammenzubringen. Komponieren, Kuratieren, aber auch Improvisieren und künstlerische Forschung sind mannigfaltig miteinander verbunden und repräsentieren verschiedene Aspekte meiner Praxis.

Portrait Antoine Chessex @Londres © A.Lukoszevieze

Ein neues Stück von Antoine Chessex kommt am Festival Label Suisse im September zur Uraufführung, interpretiert von Simone Keller an der Kirchenorgel und Dominik Blum an der Hammondorgel.
Interview: Gabrielle Weber

Antoine Chessex / Schweizer Kulturpreise BAK / Festival Label Suisse / Café OTO London

Sendung SRG: RSI/NEO, Redaktion Valentina Bensi, 28.7.20, 20h: incontro con Antoine Chessex

Neo-Profiles: Antoine Chessex, Swiss Music Prize, Simone Keller, Dominik Blum, Tamriko Kordzaia, Eklekto Geneva Percussion Center