Musik ist Kommunikation: Komponistin Katharina Rosenberger

Zum zehnten Mal werden 2023 die Schweizer Musikpreise verliehen: nebst dem Grand Prix an den Genfer Jazz-Trompeter Erik Truffaz werden am Musikfestival Bern am 8. September weitere 10 Preise und Spezialpreise vergeben. In einer Sommerserie portraitiert der neoblog einige der Preisträger:innen. Katharina Rosenberger, Komponistin, Kompositions-Professorin in Lübeck und Co-Intendantin des Zürcher Festival für zeitgenössische Musik Sonic Matter bildet den Auftakt. Katharina Rosenberger arbeitet mit intermedialen Verflechtungen zwischen Musik, Text und Bild und bindet das Publikum meist in Performanceprozesse ein. Dabei geht es ihr um Kommunikation, um Dialog und ums Partizipieren an der zeitgenössischen Musik.

Katharina Rosenberger im Interview mit Florian Hauser.

 

Portrait Katharina Rosenberger © Hans Gut

 

Florian Hauser
Einen der begehrten Schweizer Musikpreise zu bekommen, ist schon etwas Besonderes und zeugt von hoher Wertschätzung Ihrer Arbeit. Wie sieht es demgegenüber mit der Wertschätzung Ihrer künstlerischen Arbeit im Alltag aus? Sie müssen ja tun, was Sie tun müssen und wollen. Und das ist ja nicht unbedingt massenkompatibel. Sie machen keine Blockbusterfilme… Wie reagiert Ihr Publikum auf ihre Kunst?

Ich bin immer sehr berührt, wenn Menschen auf mich zukommen und auf meine Musik reagieren. Es sind Personen, die ich nicht kenne oder auch Personen, die keine Insider sind, also nicht selber Musiker*innen. Oft reagieren sie sehr positiv – und oft geht es ihnen dabei darum, etwas Neues entdeckt zu haben. Wenn sie sich auf dieses Neue, Ungekannte eingelassen haben und dann positiv überrascht sind, macht mich das sehr glücklich. Eigentlich sind das ja dann die idealen Fans, die mit Offenheit kommen und einfach mal reinhören wollen… Es gibt natürlich auch Momente in denen das Publikum sehr zweischneidig reagiert. Von: ‘um Gottes Willen, was war denn das für ein Stück!’ bis zu: ‘Wow, das ist das Tollste, was ich seit langem gehört habe’.

 

Die Kommunikation mit dem Publikum ist Ihnen ja per se sehr wichtig. Sie interagieren mit den Leuten, Sie binden sie auch in Performanceprozesse ein. Warum?

Lassen Sie mich mit einem Beispiel antworten: Ein Duett (innerhalb einer Videooper, die am Theaterspektakel Zürich uraufgeführt wurde) habe ich La Chasse genannt. Zwei Sängerinnen stehen sich in einer gewissen Distanz gegenüber. Das Publikum sieht sie nur im Profil. Und dann beginnen die Stimmen sich zu jagen. Anfangs nur mit Klängen wie wah, wah, wah wah! Sehr abstrakt, sehr reduziert. Es gibt keine Melodie. Und es ist nicht so einfach, sich das anzuhören. Aber als Leute aus dem Publikum auf mich zukamen und von der Erfahrung erzählt haben, wie gewaltig diese Klänge im Raum waren, wie sehr sich die Körper in die Struktur der Musik eingliederten, ging mir ein Licht auf: Die Verbindungen zwischen Klang und Raum, den Performerinnen und dem Publikum sind unheimlich wichtig. Es geht primär nicht nur um die Musik selbst, also dass die Musik auch nur sich selbst genügt, sondern es geht wirklich um Dialog und Austausch mit dem Publikum, mit der Umgebung.


La Chasse von Katharina Rosenberger in einer Instrumentalinterpretation durch das Landmann-/Stadler-Saxofonduo, aufgenommen in NYC 2018.

 

Erzählen Sie noch von einem anderen Beispiel!

Das Projekt Urban morphology. Das ist eine begehbare Konzertinstallation, die musiktheatralische Elemente hat und auch partizipativ ist. Das Publikum ist eingeladen, aktiv mitzumachen. Es geht um den Städtewandel: Was passiert, wenn zum Beispiel durch luxuriöse Neubauten Nachbarschaften, in denen wir aufgewachsen sind, verschwinden? Wenn das, dem ich mich zugehörig fühle, plötzlich nicht mehr existiert? Also Orte, in denen ganz viele Erinnerungen Platz haben: Wenn das wie weggewischt ist, was passiert dann mit uns? Was passiert, wenn diese Strukturen weg sind, die architektonischen, die sozialen, die klanglichen Komponenten, an denen wir uns orientieren?

Das Publikum konnte sich entscheiden, wie es sich bewegt. Ob es zuerst zu einer Performance-Insel geht oder sich ein Video ansieht, ob es eine ganz normale Konzertsituationen mit einem sehr fokussierten Zuhören will oder in einer Installation Velo fährt, um Elektrizität zu erzeugen und Licht zu spenden.

Das Publikum konnte also mitentscheiden, wie es die verschiedenen Informationen zusammenbaut. Bei solchen Projekten merke ich immer wieder, wie wichtig die intermedialen Verbindungen zwischen Text und Musik sind, zwischen Bild und Musik, den Räumen, den Körpern. Wie sich Räume öffnen fürs Publikum, wo es an Situationen anknüpfen kann, die mit ihren eigenem Alltag zu tun haben. Daraus ergeben sich immer wieder neue Fragen: wie höre ich Musik, wie wird Musik aufgeführt? Und es ergeben sich neue Erkenntnisse. Das ist faszinierend.

 

Sie sind sehr kommunikativ…

Ja klar. Ich mag es auch sehr, mit Musikerinnen, mit denen ich zusammenarbeite, über längere Zeiten in Kontakt zu sein.

 

Es gibt Komponisten, Komponistinnen, Kollegen, Kolleginnen von Ihnen, für die ist es vollkommen ausreichend, am Kompositionsschreibtisch zu sitzen und Strukturen zu entwerfen. Das war für Sie nie eine Option?

Doch schon. Das eine schliesst das andere nicht aus, oder? Es gibt natürlich Phasen, da bin ich enorm zurückgezogen. Aber wenn ich mich jetzt mit Städten auseinandersetze, dann will ich durch diese Strassen laufen, die Menschen kennenlernen. Um den Kern, den Inhalt eines Projekts zu erforschen. Zum Beispiel auch bei der Installation quartet – bodies in performance, wo ich nur die Rückenmuskulatur von vier Musiker*innen gefilmt habe. Man kann sich ja vorstellen, dass je nach Musikinstrument die vielen, vielen Jahre, die man übt, die Rückenmuskulatur jeweils ganz anders formen. Jede Performance hatte ihr eigenes Bild im Endlosschwarz, es kam nur der Rücken vor, der gespielt hat. Und das war wieder eine ganz neue Art für das Publikum, Performance zu erleben. Also Klang durch die Muskulatur zu sehen.

 


Auch in Katharina Rosenbergers Klang- und Videoinstallation The journey wurden die Sänger:innen aus ungewohnt-nahen Perspektiven gefilmt, Neue Vokalsolisten Stuttgart, Regie Lutger Engels 2020

 

Es sind jeweils lange Wege zum Ergebnis, gemeinsame Wege. Aber wie kommen Sie auf solche Ideen? Sie laufen mit weit ausgefahrenen ästhetischen Antennen durch die Welt und zack, springt sie ein Thema, eine Thematik an?

Mein roter Faden ist: Im Mittelpunkt steht der Mensch, sei es jetzt der Performer mit seinem, ihrem Körper, sei es das Publikum mit seinen Ohren, Augen, Körpern. Und um was geht es? Was berührt uns eigentlich? Das ist die Frage. Was für eine Bedeutung hat die Musik auch in Zeiten der Krisen, der Zeiten, der Umorientierung? Ich will jetzt nicht behaupten, dass ich als Künstlerin das wegweisend in meinen Stücken präsentiere. Aber es geht um das Hinterfragen, das Hinter-Sinnen durch neue klangliche, bildliche Situationen. Darum, sich mit dem Moment auseinanderzusetzen. Also das ist nicht ein Muss. Ein Publikum muss nie müssen. Aber ich möchte die Türen öffnen, dass es möglich ist.
Florian Hauser

 

Portrait Katharina Rosenberger © Kaspar Ruoff


Schweizer Musikpreise 2023:
Grand Prix Musik: Erik Truffaz
Musikpreise:
Katharina Rosenberger, Ensemble Nikel, Carlo Balmelli, Mario Batkovic, Lucia Cadotsch, Sonja Moonear, Saadet Türköz
Spezialpreise:
Helvetiarockt, Kunstraum Walcheturm, Pronto 

Sendungen SRF Kultur:
Musikmagazin, 13.5.23, Schweizer Musikpreise 2023, Redaktion Florian Hauser, Café mit Katharina Rosenberger (ab Min 4:55)

SRF Kultur online, 11.5.23: Trompeter Erik Truffaz erhält den Grand Prix Musik, Redaktion Jodok Hess:

Musik unserer Zeit, 11.1.2023: Komponieren! Mit Katharina Rosenberger, Redaktion Florian Hauser

Musik unserer Zeit, 8.12.2021: «Sonic Matter» – ein aussergewöhnliches Musikfestival in Zürich, Redaktion Moritz Weber

Musik unserer Zeit, 8.8.2018: Shift – eine Begegnung mit der Komponistin Katharina Rosenberger, Redaktion Cécile Olshausen

neoprofiles:
Katharina Rosenberger, Swiss Music PrizesFestival Sonic Matter, Ensemble Nikel, Kunstraum Walcheturm

 

 

Auf dem Weg zu Neuem


Neuerdings – Faszination Sound: Launch SRF-Videoreihe

Neuerdings – eine Videoserie in Zusammenarbeit von SRF 3 Sounds! und SRF Kultur präsentiert experimentelles Musikschaffen hautnah. In vier Portraits spürt sie den Arbeitsprozessen im Klanglabor von Noémi Büchi, Julian Sartorius, Martina Berther und Janiv Oron nach.

Roman Hošek stellt die die Reihe und die Portraitierten vor – zum Launch am Festival Bad Bonn Kilbi am 2.6.2023.

 

Roman Hošek
Sie sind gestandene Musikerpersönlichkeiten, die teils schon wichtige Preise gewonnen haben und die regelmässig in renommierten Projekten anzutreffen sind. Sie alle verfolgen auch einen radikal eigenen Schaffensweg – auf dem die Perspektive des grossen Erfolgs eine untergeordnete Rolle spielt. Es geht ihnen ums Machen. Diese vier Musiker:innen erzählen in einer neuen Dokuserie von ihrem kompromisslosen Gestaltungswillen.

 

Sound ist Materie

Noémi Büchi nimmt Alltagsgegenstände, wie Papier oder Schrauben, holt Klänge aus ihnen heraus und macht daraus Musik. Sie zerreisst beispielsweise das Papier, nimmt den Klang mit einem Mikrofon auf und verfremdet diesen mit Effekten und Computer-Software.

So wird alles, was klingt, zu einem Instrument für Noémi Büchi. Früher hat sie klassisches Klavier gespielt. Heute sind es Keyboards, Klangregler und Computerpads, welche die Zürcherin bedient und mit denen sie ihre selbst generierten Klangquellen ansteuert. So entstehen Collagen, die auf eine atemberaubende Klangreise einladen und das Publikum auch zum Sich-Bewegen animieren.

Denn etwas zu bewegen, ist wichtig für Noémi Büchi. Ihre sinfonisch anmutende Musik sei kein Kommentar und habe keine Botschaft. Sondern Klang sichtbar und erlebbar zu machen, das sei ihre Absicht. Das merke sie vor allem live, wenn Schallwellen körperlich werden.

 


Video-Portrait Noémi Büchi: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Sound ist Handwerk

Julian Sartorius bewegt sich gerne im Freien oder beispielsweise durch Fabrikhallen und trommelt mit seinen Schlagzeug-Sticks auf Objekten. Dabei ist es erstaunlich, welch breite Palette von Klängen er scheinbar gewöhnlichen Gegenständen entlockt, wie Deckeln, Rohren oder Drähten und wie er es schafft, damit attraktiv klingende Beats zu fabrizieren.

Der Berner Schlagzeuger ist stark von der elektronischen Musik inspiriert. Selbst erzeugt er seine Sounds aber ausschliesslich mit seinen Händen und auf akustischen Instrumenten und Objekten. Es ist diese Übersetzungsarbeit, die ihn reizt: Mit etwas Natürlichem etwas zu erschaffen, das fast künstlich klingt.

Eine weitere Facette von Sartorius’ künstlerischem Schaffen ist das Produzieren von Beats und auch da geht er eigene Wege. Er arbeitet beispielsweise gerne mit einem altmodischen Kassettengerät, das ihn – im Vergleich zu einem digitalen Sequenzerprogramm – von den technischen Möglichkeiten her zwar limitiert, aber dafür zu sofortigen, künstlerischen Entscheidungen zwingt.

 


Video-Portrait Julian Sartorius: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Sound ist Suche

Martina Berther holt aus ihrem elektrischen Bass sehr viel mehr heraus, als einfach Basstöne. Heftige Stürme oder weite Klanglandschaften tun sich vor dem geistigen Auge auf, wenn sie mit ihren Effektgeräten und Präparations-Werkzeugen – wie Stahlwolle, Schleifblock, Flaschenhals oder Geigenbogen – ihr Instrument in Schwingung versetzt.

Die Bündner Soloperformerin sagt, sie mache experimentelle Musik, weil sie sich dann selbst überraschen könne und so viel Freiheit habe. Gleichzeitig sei der Umgang mit dieser Freiheit nicht immer einfach. Ein Widerspruch? Nein! Es ist diese Spannung – zwischen Gelingen und Absturz – die für Martina Berther den Reiz ausmacht.

Genauso wie eine Soloperformance könne auch die Suche nach Sounds zum Balanceakt werden. Denn auch da gibt es viele Ungewissheiten und sogar Zweifel. Hinter jedem Sound muss für Martina Berther eine Absicht stecken, bevor sie ihn in ihr Repertoire aufnimmt. Platz für Beliebigkeit gibt es dabei nicht.

 


Video-Portrait Martina Berther: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Sound ist Reaktion

Janiv Oron wirkt wie ein Erfinder in einem Musiklabor. Wenn der frühere DJ seine Sounds kreiert, dann steht zwar nach wie vor der Plattenspieler oft im Zentrum, diesen erweitert er aber auf experimentelle Weise mit anderen Klangquellen, wie beispielsweise mit einem rotierenden Lautsprecher oder einer Murmelbahn.

Der Basler Klangperformer dirigiert seine Klangmaschinen aber nicht nur, sondern er reagiert auch auf zufällige Impulse, die er zurückbekommt. Janiv Oron sieht das als «Quelle des Ungewissen» und lässt sich bewusst darauf ein, um Improvisation zum Teil seines Schaffens zu machen.

Von der digitalen Klangwelt wendet sich Janiv Oron zwar nicht ab, aber er verspürt eine stärkere Faszination zu analogen und physisch-funktionierenden Klangquellen. Diese bieten im Vergleich zwar nur eine beschränkte Anzahl von Möglichkeiten, dafür sind sie haptisch und können von Hand bedient werden, statt auf einem Bildschirm.

 


Video-Portrait Janiv Oron: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

«Neuerdings – Faszination Sound»

«Neuerdings» ist eine Videoporträt-Serie über diese vier Schweizer Musiker:innen. Sie sind Vorboten der Musik von morgen, die sich in ihrem Schaffen an der Schnittstelle zwischen kontemporärer Elektroakustik, Experimentalmusik und Pop bewegen und damit auch international auf Anklang stossen.

In diesen Zwischenbereichen ist die Schweiz besonders stark, nicht zuletzt wegen der zahlreichen Studiengänge, die auf transdisziplinäre und progressive musikalische Praxis setzen. Andererseits entstehen dafür auch immer mehr Veranstaltungen und wachsendes Interesse beim Publikum.

Durch die Porträtserie, die eine Zusammenarbeit von SRF 3 Sounds! und SRF 2 Kultur ist, wird ein Besuch in die Klangtüftlerstuben dieser vier Musiker:innen möglich, die mit ihrem Schaffen neue Wege gehen und deshalb schwer zu verorten sind. Sie reden in den Videos über ihre radikale Herangehensweisen und beschreiben ihre Zugänge zum Unzugänglichen und das Innovationspotenzial von neuen Klängen.
Roman Hošek

Der Launch fand statt am Festival: Bad Bonn Kilbi, Freitag 2.6.2023

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 7.6.2023, 20h: “Neuerdings”: Schweizer Musik mit Pioniergeist, Redakteur Roman Hošek
in: MusikMagazin, 3./4.6.2023: Swisscorner, Vier Schweizer Soundartists (ab Min 46:59), Redaktion Lea Hagmann
srf online-Text: Sie schrauben am Sound der Zukunft, Autor: Claudio Landolt

Sendung SRF 3:

Sounds!, 7.6.2023, 20h: “Neuerdings”: Schweizer Musik mit Pioniergeist, Redaktion Claudio Landolt

Neuerdings
auf playsuisse

Neo-profiles:
Noémi Büchi, Julian Sartorius, Martina Berther, Janiv Oron

 

 

 

Poetisch-futuristische Expedition

Ein Projekt in der grossen Halle des Pariser Centre Pompidou zu realisieren ist etwas Einzigartiges. Der Schweiz-Französische Komponist Mathieu Corajod und die Bieler Compagnie Mixt Forma erleben dies mit ihrem ersten gemeinsamen Werk gleich am ausstrahlenden Pariser Manifeste-Festival. Das interdisziplinäre Projekt Laquelle se passe ailleurs, ein «szenisches Gedicht für vier hybride Performer», verwebt Musik, Text, Tanz und Schauspiel mit Elektronik. Es kommt auch in der Schweiz mehrfach zur Aufführung. Im Zoom-Interview nach Paris, wo sich Corajod gerade am IRCAM mitten in den Schlussproben befand, sprach er über seinen Ansatz von Musiktheater, Hybridität und Interdisziplinarität.

 

Gabrielle Weber
Die Compagnie Mixt Forma gründete Corajod mit Ziel, die Möglichkeiten experimentellen Musiktheaters mit Gleichgesinnten zu erforschen. Laquelle se passe ailleur wurde während zwei Jahren gemeinsam entwickelt und überzeugte in ersten Projektetappen bereits die Pariser Association Beaumarchais-SACD, die die Realisation durch einen Förderpreis möglich machte. Und das bezeichnenderweise im Bereich der Choreografie.

Den Hintergrund in Musiktheater bringt Corajod vom Studium an der Hochschule der Künste Bern mit, wo er auch Chloé Bieri, Sängerin, und Stanislas Pili, Perkussionist, kennenlernte, zwei Mitglieder der jungen Compagnie.

 

Portrait Mathieu Corajod © Liliane Holdener

 

Corajods eigene Vorstellung geht in der Verwebung verschiedener Disziplinen, Medien und Technologien weit über das traditionelle Verständnis von experimentellem Musiktheater als szenische Strömung der zeitgenössischen Musik hinaus. Im weiterführenden Studien am Pariser IRCAM befasste er sich intensiv mit Elektronik wie auch mit zeitgenössischem Tanz. Insbesondere die Verschmelzung von Komposition und Choreografie liess ihn nicht mehr los. In Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen Pierre Lison und Marie Albert erarbeitete er sein erstes Stück für Tanz. Weitere folgten, wobei auch der zusätzliche Einsatz von Stimme, sowie kollaborative und inklusive Aspekte für Corajod zentral sind. Gemeinsam mit Lison zeichnet Corajod nun auch für die Choreografie von Laquelle se passe ailleurs, wobei Lison erneut als Tänzer-Performer mitwirkt.

 

Mathieu Corajod, ça va bien avec comment tu vis (2019)  für zwei TänzerInnen und Elektronik, Marie Albert und Piere Lison

 

Forscher:innen auf einer gemeinsamen Suche

Ergänzt durch den Schauspieler Antonin Noël, unternehmen die vier Performer:innen des Stücks eine gemeinsame «poetisch-futuristische Expedition». Die je eigene Expertise bringen sie dabei so ins Ganze ein, dass etwas komplett Neues entsteht. Sie seien Forscher:innen auf einer gemeinsamen Suche, so Corajod. Er bezeichnet diese Art von Zusammenarbeit als „Hybridisierung“. Da ist einerseits die Hybridität zwischen Körper und Maschine, ermöglicht durch ein technisches Dispositiv auf der Bühne in Koproduktion mit dem IRCAM. Andererseits agieren die Performer:innen selbst hybrid. Alle führen alles aus. Sie bringen dabei ihren eigenen Zugang ein und lernen voneinander.

 

Interdisziplinarität ist immer dabei- ob sichtbar oder unsichtbar

Laquelle se passe ailleurs sei von Anfang an intermedial gedacht gewesen. „Die Impulse, die ich durch den Tänzer, den Schauspieler und den Schriftsteller erhielt, haben die Forderungen an die Bühne extrem erhöht“, sagt Corajod. Der französische Autor Dominique Quélen trug neue Texte bei, die wiederum auf Ideen der Companie zurückgehen. Sie wurden dann in Musikpartitur und Choreografie übersetzt. Für einen Auftritt der Sängerin Bieri bspw. hätten sie einen der Texte nicht nur strukturell, sondern Silbe für Silbe auf einzelne Gesten übertragen, und Bieri ergänzt dies durch spezielle Klangfarben der Stimme. Alles sei in jedem der auftretenden Körper vorhanden – Tanz, Text und Musikalisation, meint Corajod dazu. Interdisziplinarität sei immer dabei, auf die eine oder die andere Art, ob sichtbar oder unsichtbar.

 


Chloé Bieri in Five young lights für Stimme und Elektronik von Pietro Caramelli, 2019

 

Szenen einer Exploration – verbunden durch einen spielerisch-poetischen Ansatz 

Eine eigentliche Geschichte gibt es im Stück keine. Hingegen arbeiteten sie mit versteckten Erzählungen, die sich die Mitwirkenden gegenseitig ausmalten, um auf der Bühne agieren zu können. „Bei der Entwicklung eines Stücks tauchen immer Fragen auf wie: Wer bin ich in diesem Stück? Was mache ich? Wie verhalte ich mich? Und es hilft bei der Interpretation, sich etwas imaginieren zu können“, meint so Corajod. So entstanden verschiedene Szenen einer Exploration mit einer Art lückenhaften Handlung, verbunden durch einen spielerisch-poetischen Ansatz: „Wir wollen das Publikum auf diese Reise mitnehmen“, sagt Corajod und vergleicht die Atmosphäre des Projekts mit Filmen von Andrei Tarkowski, David Lynch oder Stanley Kubrick.

Auch die Choreografie verfolgt keine Handlung. Sie hätten unterschiedliche Strategien für einzelne Szenen angewandt. Nur manche, wie Bieris‘ Solo, seien ganz auschoreografiert. Andere basierten auf Improvisation und seien dann Schritt für Schritt einstudiert und fixiert worden. In einzelnen Objekten des Bühnenbilds befinden sich zudem Bewegungssensoren, die bei Manipulation durch die Performer:innen Klang erzeugen. Und diese Manipulationen wiederum sind bis ins Detail choreografiert.

 

Compagnie Mixt Forma © Anna Ladeira

 

Was ihn dabei interessiere, sei, Bewegungen so zu gestalten, dass sie im größeren Zusammenhang der Bühne etwas auslösten, sagt Corajod. Als Bestätigung für diesen neuartigen Ansatz, Choreografie und Komposition eng miteinander zu verweben, sieht er die Förderung der SACD für die Choreographie. Sie sei einerseits eine Auszeichnung und freue ihn andererseits besonders, da er von der Musik herkomme. Die Produktion werde dadurch nicht „nur“ in der zeitgenössischen Musik, sondern auch im Theater- und im Tanzbereich wahrgenommen.

 

Mathieu Corajod et Pierre Lison (mouvement), Axes (2021), Instrumentaler Tanz, Duo Alto, UA Paris 2021

 

Denn Corajod möchte zeitgenössische Musik auch an ein breiteres Publikum bringen und er lotet dabei stets die Grenzen des Genres aus. Mit seinem Vorgängerprojekt, der experimentellen Oper Rendez-vous près du feu, aufgeführt im Rahmen der „Nancy Opera Experience“ am Festival Musica 2022, gelang ihm das: Corajod war nicht nur Komponist, sondern zeichnete auch für die Regie. Das neue Werk fand teils im Freien – auf dem weitläufigen Platz Stanislas vor der Oper – teils im Innern der Opéra national de Lorraine statt. Mitglieder des Opernorchesters und Darsteller:innen spielten im Innern, nah an den Fenstern zum Platz. Der Chor sang als Flash-Mob- im Publikum auf dem Vorplatz, und das Geschehen wurde per Videomapping auf die Fassade projiziert.

 

Mathieu Corajod, Rendez-vous près du feu (2022): Théâtre musical und experimentelle Oper vereinigt in einem aussergewöhnlichen Format (In situ, Videomapping, Flash-Mob), Kompositionsauftrag Opéra national de Lorraine und Festival Musica

 

Die Oper öffnete sich zum Platz und zur Stadt und wurde durch Licht, Szenographie und Aktionen anders als üblich belebt – und sie zog zahlreiche zufällige Passant:innen während des ganzen Stücks in den Bann szenischer hybridisierter zeitgenössischer Musik.

Nach den beiden Grossprojekten ist nun erstmal eine kreative Pause angesagt, in der sich Corajod seinem Forschungsprojekt zum Schweizer Musiktheaterpionier Hans Wüthrich widmet.
Gabrielle Weber

Laquelle se passe ailleurs :
2. / 3.6.23, 19:30h,Theater am Rennweg 26 Biel
8.6.23, 20h, Gare du Nord Basel
12.6.23, 20h, Festival ManiFeste, Centre Pompidou Paris
9.9.23, 21h, Musikfestival Bern, Dampfzentrale Turbinensaal

Festival ManiFeste IRCAM/Centre Pompidou Paris, 7. Juni – 1. Juli 2023

IRCAM, Nancy Opera Experience, Opéra national de Lorraine, Musica Festival Strasbourg

Neo-Profile:
Mathieu CorajodCompagnie Mixt FormaChloé BieriHans WüthrichGare du Nord, Musikfestival Bern

Freundlicher Komponist düsterer Geschichten

Der britische Komponist und Dirigent George Benjamin wurde 2023 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrt. Seine schwärzeste Oper Lessons in Love and Violence dreht sich um das historische Männerpaar Edward II. und Piers Gaveston. Ab diesem Wochenende ist sie in einer Neuproduktion am Opernhaus Zürich zu sehen. Moritz Weber interviewte Benjamin vor der Premiere.

Moritz Weber
Der 63-jährige George Benjamin ist sehr gut gelaunt, scherzt und ist sehr freundlich, als ich ihn per Videokonferenz bei sich zuhause erreiche. Im Hintergrund zwitschern die Vögel, die Sonne scheint ihm ins Gesicht.

 

Portrait George Benjamin © Maurice Foxall / zVg Contrechamps

 

Die Opern, die er komponiert und für die er unter anderem berühmt ist, sind jedoch alles andere als freundlich. Im Gegenteil: In seinem ersten Welterfolg Written on skin (2012) serviert der betrogene Ehemann seiner Frau zum Schluss das Herz ihres Geliebten zum Essen. Und seine nächste abendfüllende und ebenso umjubelte Oper Lessons in Love and Violence (2018) ist ein fesselndes Mittelalter-Drama rund um den einstigen englischen König Edward II. und seinen Geliebten Gaveston, die beide Opfer eines Komplotts wurden.

Schon als Kind träumte Benjamin davon, Opern zu komponieren, und er erdachte sie für sich in seinem Kopf. Waren die Themen für diese Fantasieopern auch schon so brutal? «Ja, ich fürchte sie waren sehr brutal. Ich mochte dramatische und gefährliche Geschichten, und ich hatte als kleines Kind keine Angst vor Dunkelheit in der Kreativität». Seine ersten Lieblingsopern des Repertoires waren denn auch Wozzeck, Elektra, Salome und La damnation de Faust – mit Mozarts Zauberflöte konnte er nicht viel anfangen, und mit Rossini hat er bis heute Probleme. «Das war mir zu nett und zu wenig beängstigend».

Seine Inspiration damals war ein bebildertes Buch mit alten Mythen und Legenden, von Herkules und Pegasus bis zum Rattenfänger von Hameln (letztere Geschichte wurde schliesslich zum Stoff seines ersten Bühnenwerks, der kurzen Zwei-Personen-Kammeroper Into the little hill (2006). «Ich bin sehr für Fröhlichkeit und für Harmoni zwischen den Menschen, aber im Theater braucht es Spannung, Drama, Mysteriöses und möglicherweise auch Dunkles».

König Edward II. vernachlässigte sein Volk und seine politischen Geschäfte, er gab lieber Geld aus für Kunst und Musik und war Piers Gaveston vollkommen verfallen. Es war George Benjamin wichtig, einmal eine Oper mit einem homosexuellen Paar im Zentrum zu schreiben, «und die grösste Herausforderung war eine technische: Wie schreibt man in einer modernen Klangsprache für ein Paar von zwei Baritonen?»

Überhaupt gibt es in der Operngeschichte bislang kaum Vorbilder für Männer-Liebespaare, abgesehen etwa von den Opern Brokeback Mountain (Charles Wuorinen, 2014) oder Edward II (Andrea Lorenzo Scartazzini, 2017).

In diesen beiden Werken singen die Geliebten allerdings in den Stimmlagen Bariton und Tenor. Auf die Frage, ob er in die Komposition dieser Männerliebe auch Autobiographisches eingebracht habe antwortet Benjamin: «Das müssten sie meinen Partner Michael Waldman fragen, aber soweit ich weiss nicht. Das Leben heute in West-London ist aber auch viel friedvoller als damals in jenem Palast, wo die Oper spielt», sagt er und lacht.

Benjamin sind einige eindringliche Szenen zwischen Edward und Gaveston gelungen, in welchen sich Liebe und Gewalt teils auch vermischen. Zwei Handlese-Szenen etwa (Szenen 3 und 6), die eine Achse durch das ganze Stück bilden. Sie sind mit fast rituellen Klängen von Perkussionsinstrumenten aus aller Welt untermalt: Von zwei persischen Tombaks, einer afrikanischen Sprechtrommel und zwei karibischen Tumbas. Dazu kommt das mitteleuropäische Cymbalon, «denn meine Idee war es, dass Musik aus der ganzen Welt erklingt, während Gaveston aus der Hand des Königs liest. Es sollte wie ein Fenster zum Übernatürlichen sein.»

 

 

Eine weitere Schlüsselszene spielt sich kurz darauf im Theater ab. Dort lädt die betrogene Königin Isabel Edward und Gaveston zu einem «Entertainment» ein, zu einer Unterhaltung. Damit will sie den Putsch in die Wege leiten. Die Musik ist vielschichtig, denn das, was auf der Bühne gezeigt wird, soll sich von dem, was sich zwischen den Protagonist:innen abspielt, abheben und gleichzeitig damit harmonieren. Das Bühnenstück dreht sich um die alttestamentliche Liebesgeschichte zwischen David und Jonathan, ebenfalls ein Männerpaar, und Gaveston soll mit dieser Aufführung becirct werden. «Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, um diese Szene zu schreiben: Im Theater auf dem Theater singen hohe Stimmen in einer eigenen Textur und Klangfarbe, hinzu kommt der versteckte Hass und das Unbehagen». Sie kulminieren schliesslich und Gaveston wird gegen den Willen des Königs verhaftet. Am Ende der Oper lädt schliesslich der Thronfolger seine Mutter Isabel zu einem Entertainment ein, in welchem er das Komplott gegen seinen Vater auf die Bühne bringt und ihren Komplizen und Geliebten ermorden lässt. Edwards Sohn hat also seine Lektionen in Liebe und Gewalt gelernt.

Auch für diese seine bisher finsterste Oper hat George Benjamin intensiv mit den Sänger:innen der Uraufführungsproduktion am Royal Opera House zusammen gearbeitet. «Sie alle kamen zu mir nach Hause, ich habe sie am Klavier in Liedern und Opernarien begleitet, ihnen viele Fragen zu ihren Stärken und Schwächen und zu ihren musikalischen Vorlieben gestellt». Die Rollen sind Stéphane Degout, Gyula Orendt und Barbara Hannigan auf den Leib geschrieben, aber selbstverständlich nicht ausschliesslich für sie. «Ich liebe es und bin gespannt, welche eigenen Timbres und Charakteristika andere Sänger:innen in diese Rollen einbringen. Es ist mir aber wichtig, dass sie alle Töne klar und am richtigen Platz singen, mit wenig Vibrato. Denn ich habe sie sehr sorgfältig auf die Orchesterklänge abgestimmt.»

 

George Benjamin, Martin Crimp und Barbara Hannigan im Gespräch zur Uraufführung von Lessons in love and violence im Royal Opera House 2018

 

Das Libretto stammt wie auch bei seinen anderen Bühnenwerken vom Dramatiker Martin Crimp. Wenn er ihn nicht getroffen hätte, hätte er wahrscheinlich nie eine Oper komponiert, sagt Benjamin, «ich wartete 25 Jahre um ihn zu finden. Alle Versuche mit anderen Librettisten scheiterten». Nun sind sie ein eingespieltes, kongeniales Team, vielleicht ähnlich wie einst Da Ponte und Mozart, Hofmannsthal und Strauss. Denn auch Crimp und Benjamin verbinden gemeinsame ästhetische Prämissen: Eine sehr klare und konzise (Ton-)Sprache sowie Kraft – oder Gewalt – im Ausdruck. «Er setzt die Worte sehr genau und intendiert; er ist ein Perfektionist, so wie ich es beim Komponieren auch zu sein versuche», sagt der Siemens-Musikpreisträger bescheiden.

 

Märchenhaftere neue Oper

George Benjamins viertes Bühnenwerk wird diesen Sommer am Opernfestival in Aix-en-Provence uraufgeführt, er selbst wird dirigieren. Picture a day like this wird weniger dunkel sein als Lessons, verrät er: «Martin Crimp und ich wollten etwas anderes machen, auch um uns selbst zu erfrischen. Diese Oper ist kürzer und auch kleiner besetzt, fünf Protagonist:innen anstatt acht, im Orchester 22 anstatt 70 Musizierende».

 

Hier geht es um eine Suche: Eine Frau verliert ihr Kind und soll an einem einzigen Tag eine Person finden, die vollkommen glücklich ist. Als ihr das nicht gelingt, wendet sie sich an eine Zauberin. «Ich liebe Instrumente, die eigentlich nicht zum klassischen Orchester gehören, und verwende auch in Picture a day like this ein paar davon, zum Beispiel Tenor- und Bassblockflöten.» In dieser neuen und auch kürzeren Oper ist die Protagonistin die ganze Zeit auf der Bühne, was ebenfalls ein Novum ist für Benjamin und Crimp. Die Personen, welchen sie begegnet, sind hingegen ganz unterschiedlich charakterisiert. Mehr verrät er noch nicht: «Mir wäre es lieber, wenn das Publikum das ohne meine Worte entdecken würde».
Moritz Weber

 

Portrait George Benjamin © Rui Camilo zVg. EvS. Musikstiftung

 

Opern George Benjamins:
Into the little hill (2006), Written on skin (2012)

George Benjamin, Charles Wuorinen, Stéphane Degout, Barbara Hannigan, Martin Crimp

Partituransicht Lessons in Love and Violence bei Faber Music

Neuproduktion Opernhaus Zürich: 21.Mai -11.Juni 2023 (musikalische Leitung Ilan Volkov, mit: Ivan Ludlow/Lauri Vasar als König, Björn Bürger als Gaveston und Jeanine De Bique als Isabel.

Festival Aix-en-Provence, George Benjamin, Picture a day like this, UA 5.-.23.Juli 2023

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 17.5.23, 20h/ 20.5.23., 21h: Drama um den schwulen Edward II. George Benjamins düsterste Oper, Redaktion Moritz Weber.
Musikmagazin, 20./21.5.2023: Kurzportrait George Benjamin, Redaktion Moritz Weber.

Neo-Profile:
Contrechamps, Opernaus Zürich, George Benjamin, Andrea Lorenzo Scartazzini

 

 

20 Jahre Konus Quartett

Dem Saxophon jeden möglichen Ton entlocken – das ist das Metier des Konus Quartetts. Die vier Musiker sind spezialisiert auf zeitgenössische und experimentelle Musik und zeigen im Ensemble einen grossen Reichtum an neuen Saxophon-Klangwelten. Dieses Jahr feiert das Konus Quartett sein 20. Jubiläum mit einer Festivalwoche voller Kollaborationen – zum Beispiel mit dem Gori Frauenchor aus Georgien.

Florence Baeriswyl
Viele Saxophonquartetts wollen möglichst virtuos und voll klingen, am ehesten wie eine Orgel. Nicht das Konus Quartett: es spielt präzis und minimalistisch und erforscht dabei die Grenzen der Saxophonmusik. Christian Kobi, Fabio Oehrli, Stefan Rolli und Jonas Tschanz: das sind die Namen hinter dem Konus Quartett, welches dieses Jahr sein 20. Jubiläum feiert. Die vier Musiker sind breit gefächert und haben Hintergründe, die von freier Improvisation, über Tonmischung und Label-Führung bis zur Big Band- und Festivalleitung reichen. Alle vier teilen die Leidenschaft für das Saxophon und eine musikalische Experimentierfreudigkeit.

 

Konus Quartett: Von links nach rechts: Christian Kobi, Fabio Oehrli, Stefan Rolli, Jonas Tschanz © Livio Baumgartner

 

Minimalismus und Präzision

Christian Kobi beispielsweise hat auch schon mit der Stille des Saxophons Musik erzeugt. Dafür montierte er Mikrophone ganz dicht am Blasrohr und nahm die Resonanz im Inneren des Instruments auf, ohne hineinzublasen. Die so aufgenommene Stille verstärkte er, bis es zu einer Rückkopplung kam. Das Ergebnis ist ein anhaltender, unscheinbarer Ton, der sich einfach überhören lässt, wenn man sich nicht darauf achtet.

 


Christian Kobi lässt in rawlines 1 durch Rückkopplung von Resonanzen im Saxophoninneren Stille zu Klang werden.

 

Modular und zukunftsgewandt

Während ein traditionelles Saxophonquartett aus den vier Hauptinstrumenten der Saxophonfamilie besteht – Bariton, Tenor, Alt und Sopran – setzt sich das Konus Quartett modular zusammen und bleibt in der Besetzung flexibel. Je nach Stück spielen sie in der traditionellen Besetzung, aber manchmal auch mit zwei Altsaxophonen, einem Tenor- und einem Baritonsaxophon, oder sogar mit zwei Tenor- und zwei Baritonsaxophonen.

Diese Flexibilität suchen die vier Saxophonisten auch, wenn sie Kompositionen in Auftrag geben. Sie arbeiten vor allem mit Komponist:innen zusammen, die sich vertieft mit Klang auseinandersetzten und sich nicht von traditionellen Erwartungen an Saxophonquartette einschränken lassen. Unter den Stücken, die sie aufführen, finden sich Kompositionen von wichtigen Namen der internationalen Szene der zeitgenössischen Musik wie Chiyoko Szlavnics, Jürg Frey, Barry Guy, Makiko Nishikaze, Phill Niblock, Urs Peter Schneider, Martin Brandlmayr oder Klaus Lang.

 

FORWARD & REWIND: Ein Fest für neue Musik

Zur Feier seines 20. Jubiläums veranstaltet das Konus Quartett mit Titel Foward & Rewind in Bern ein Festivalwochenende. Forward & Rewind ist wörtlich gemeint: die vier Saxophonisten nehmen vergangene Kollaborationen erneut auf und streben neue an, sie zeigen sich zugleich reflektiert und zukunftsgewandt.

Eine dieser bereits vorhandenen Kollaborationen ist beispielsweise die mit dem Streichquartett Quatuor Bozzini. Im Jahr 2021 brachte das Konus Quartett mit ihnen das Stück Continuité, fragilité, resonance vom Schweizer Komponisten Jürg Frey zur Uraufführung. Am Eröffnungskonzert greifen die Musiker:innen des Konus Quartetts und des Quatuor Bozzini dieses Stück nochmal auf, zusammen mit einem Stück der Komponistin Chiyoko Szlavnics. Dabei lassen sich die Musiker:innen viel Zeit und Raum – und entfalten geduldig und präzise die verschiedenen Klangflächen, die in den Kompositionen verborgen sind.


During a Lifetime (Ausschnitt): Das Konus Quartett interpretiert ein Stück der kanadischen Komponistin Chiyoko Szlavnics.

 

Kraftvolle Stimmen aus Georgien

Eine neue Kollaboration erfolgt mit dem renommierten georgischen Gori Frauenchor, welcher seit 1970 den traditionellen georgischen Chorgesang auf Bühnen bringt. Diese polyphone Gesangstechnik ist hunderte von Jahren alt und entfernt verwandt mit dem uns bekannten Jodeln. Sie zeichnet sich besonders durch die fast physisch spürbare Kraft in der Stimme aus. Die Frauen singen teilweise einstimmig, teilweise mikrotonal aufgefächert, und vermischen dabei Harmonie und Dissonanz.

Seit 2013 wird der Chor von Teona Tsiramuna geleitet und hat sich gewissermassen neu erfunden. Der Leiterin ist es sehr wichtig, stets Neues zu entdecken und die gesangliche Tradition mit modernen und internationalen Musiken zu kombinieren. «1970 sang der Chor für eine bestimmte, ziemlich homogene Hörerschaft. Es wurde vor allem schwermütige und getragene georgische Musik aufgeführt. Jetzt hat sich das ausgeweitet. Wir singen auch mexikanische, türkische oder afrikanische Volksmusik», so Tsiramuna im Interview für SRF 2 Kultur.

Besonders nach einer Kollaboration mit der georgisch-britischen Pop- und Blues-Sängerin Katie Melua gewann der Gori Frauenchor über die Grenzen Georgiens hinaus an Bekanntheit und tritt nun auf europäischen Bühnen in verschiedenen Konstellationen an. Die Experimentierfreudigkeit zieht die Dirigentin auch zu Kollaborationen mit zeitgenössischen Musiker:innen, bspw. an den Stanser Musiktagen.

 

An den Stanser Musiktagen 2022 traten die Frauen zusammen mit vier jungen elektronischen Künstler:innen auf und verschmolzen Stimme mit Synthesizer-Klängen.

 

«Air Vibrations»

Air vibrations, die Kollaboration des Konus Quartetts mit dem Gori Frauenchor lässt sich einerseits als «Luftschwingungen» übersetzen, andererseits auch als «Liedschwingungen», vom italienischen «aria». Zum Schwingen bringt der Gori Frauenchor seine Stimmen zusammen mit zwei weiteren grossen Namen der zeitgenössischen Musik: die georgisch-schweizerische Pianistin Tamriko Kordzaia und der österreichische Komponist und Konzertorganist Klaus Lang.

 

Die neue Kollaboration knüpft an die erste Zusammenarbeit zwischen Klaus Lang und dem Konus Quartett, dem Stück Drei Allmenden, an.

 

Lang hat das Konzert konzipiert und komponiert und spielt auch an der Orgel mit. Seine Werke zeichnen sich durch die Weise aus, wie der den Klang erforscht. Musik ist «hörbar gemachte Zeit», so Lang. Auf seinem Instrument, der Konzertorgel, lässt sich diese Seite des Klangs besonders gut erkunden, da man die Töne beliebig lange halten kann.

Im Konzert Air Vibrations verwebt Lang dieses Orgelspiel mit den Saxophonen des Konus Quartetts und den Klaviertönen von Tamriko Kordzaia. Zusammen legen sie den Boden für den traditionelle Gesang des Gori Frauenchors. Dadurch entsteht Musik, die Altes und Neues vermischt, und somit voll und ganz im Sinne des Festivals steht: Forward & Rewind.
Florence Baeriswyl

 

Konus Quartett © Livio Baumgartner

 

FORWARD & REWIND Bern
3.5.23, 18:30: Konzert «Continuité, fragilité, resonance» von Jürg Frey, mit Quator Bozzini, les Concerts de musique Contemporaine (CMC) La Chaux-de-Fonds
5.5.-7.5.23: Fest für neue Musik , Bern
5.5. 19:30: Interlaced Resonances, Aula PROGR Bern
6.5. 19:30: Voltage Cracklings, Aula PROGR Bern
7.5. 19:30: Air Vibrations, Kirche St Peter & Paul Bern

Weiteres Konzert: Moods Zürich
8.5.23, 20:30:  «Air Vibrations»

Fabio Oehrli, Jonas TschanzChiyoko Szlavnics, Barry Guy, Makiko Nishikaze, Phill Niblock, Martin Brandlmayr, Klaus Lang, Quatuor Bozzini

Sendung SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert, 19.7.2023: Konzert Konus Quartett und Gori Women’s Choir, Bern: Air vibrations
Neue Musik im Konzert, 12.1.22: Jürg Frey: Stehende Schwärme
Musik unserer Zeit
, 13.11.13: «zoom in» – der Saxophonist und Veranstalter Christian Kobi
Online-Artikel, 13.11.13: Das Rauschen des Nichts: Der Saxophonist Christian Kobi
Musik unserer Zeit, 17.07.2019: Saxophonzauber mit dem Konus Quartett
Musikmagazin, 21.5.22: Chorleiterin Teona Tsiramua: «Wir singen nicht nur Wiegenlieder»


Neo-profile:
Konus Quartett, Tamriko Kordzaia, Christian Kobi, Jürg FreyUrs Peter Schneider, Jonas Tschanz

Die genetische Legitimation

Vokalperformance prägt die heutige zeitgenössische Musiklandschaft. Gerade Performerinnen können sich auf eine lange Tradition an Werken für Stimme seit Luciano Berios Sequenza III per voce femminile (1965) oder Cathy Berberians Stripsody  (1966) berufen. Benjamin Herzog und Florian Hauser setzten in einer Mini-Serie Musik unserer Zeit mit historischen und aktuellen Vertreterinnen des Genres auseinander.

 

Benjamin Herzog
Irgendwie läuft es doch immer darauf hinaus: Seine eigene Stimme finden. Die kann in den Speichelseen unserer Mundhöhlen liegen, in herumgeschleuderten Raumklängen oder in Urwörtern, mit denen wir uns auf unserem Kontinent schon vor 15’000 Jahren zu verständigen versuchten. 

Belcanto ist ein stehender Begriff in der Vokalpraxis. Der schöne Gesang. Und damit fängt es bereits an. Was ist schön? Was (noch) Gesang? Wer den Klanggebilden der Norwegerin Maja Ratkje zuhört, hybriden, mehrschichtigen Tonschichten, ist von deren Schönheit fasziniert. Mit Belcanto indes haben sie wenig zu tun.

Auch die Schweizerin Franziska Baumann würde ihren Gesang nicht mit dem klassischen „Schöngesang“ vergleichen. Sie sagt: „Ich wusste zuerst gar nicht, dass das, was ich mache, überhaupt Kunst ist.“ Zur Erkenntnis, dass dem vielleicht doch so ist, und zu der damit verbundenen Selbstermächtigung musste sie erst nach New York reisen. Dorthin, wo die Vorstellungen dessen, was Singen alles sein kann, offener waren, als im Toggenburg, Baumanns Heimat.

 

Portrait Franziska Baumann ©Francesca Pfeffer

 

Sehr weit weg von den elysischen Gefilden des Gesangs bewegt sich die US-Amerikanerin Audrey Chen. Sie sagt, sie erhebe, mit dem, was sie mache, überhaupt keinen künstlerischen Anspruch. „Es ist ein Prozess“, sagt sie, der eher ihre wechselhafte Biographie abbilde. Ein Leben, für das Chen eine eigene Sprache finden wollte.

Die drei Frauen sind Vokalperformerinnen. Der Begriff ist so allgemein wie unscharf. Sängerin, Vokalist, „singing artist“ – im Teich dieses Denglisch blubbert Vieles und bildet doch eine spezielle Bubble. Nämlich, dass viele dieser Vokalperformerinnen, wollen wir bei diesem Wort bleiben, zugleich Ausführende sowie Komponierende, Konzeptionierende sind.

Erkundungstouren durch ihre Toggenburger Heimat

Als Kind machen wohl viele von uns das, was Franziska Baumann auf ihren Erkundungstouren durch ihre Toggenburger Heimat machte: Den Klang der Bäche, der Blätter, Vögel, von vorbeituckernden Mähdreschern innerlich zu einer Klangmischung zu verbinden. Zu einer Art Musik, die vielleicht damals schon mit dem einen oder anderen Gluckser, Piepser aus Baumanns Mund wieder aus dem kindlichen Körper nach aussen dringen wollte. Danach folgte bei Franziska Baumann: klassisches Studium und Ausbruch aus den Regeln und Mauern der damals noch bewahrend „Konservatorien“ genannten Anstalten. In New York fand sie Vorbilder, die das, was mit ihren frühen Erfahrungen verknüpft war, ganz selbstverständlich als Kunst ansahen. „Es war auch eine Selbstermächtigung“, sagt sie heute.

Nicht nachvollziehende Interpretin zu sein, sondern Meisterin über die eigenen Töne. Und das, es trifft auf alle der drei in diesem Text Beschriebenen zu, mit Mitteln, die die eigene Stimme um mehrere Dimensionen erweitern. Bei Franziska Baumann ist dies ein spezieller Handschuh mit Sensoren. Mit ihm kann sie Klänge erzeugen, aus einer vorher angelegten Klangbibliothek abrufen und im Raum herumschicken. Ein Geisterorchester, das sie selbst dirigiert, während sie dazu zugleich vokal performt.

 


Franziska Baumann, Re-Shuffling Sirenes, Solo für Stimme und gestische Live-Elektronik, International Conference for Live Interfaces Trondheim 2020

 

Audrey Chen hat dieses Orchester in ihrem eigenen Mund entdeckt. Was sie da auf eine unumwunden intime Weise zwischen Wangen, Zunge, Gurgel und in den Wellen des eigenen Speichels an Klängen erzeugt, wirkt wie eine Sprache aus Hyperkonsonanten. Ein Überwesen scheint da zu uns zu sprechen. Was den „Belcanto“ ausmacht, das Segeln auf Vokalen, fehlt hier nicht nur. Auch die Konsonanten selbst kommen zerstückelt, atemlos, als klingende Mundmuskelmasse einer Extraterrestrischen, zumindest ziemlich Fremden aus ihr heraus. Chen erwähnt mehrfach, dass sie mit 23 Jahren bereits alleinerziehende Mutter wurde. Ein offenbar einschneidendes Erlebnis in ihrer Biographie. Wurde sie sich in ihrem Lebensentwurf damals selbst fremd? „Ich musste, auch als Immigrantin sowie Tochter eines Immigrantenpaars in den USA, meine eigene Sprache finden.“ Heute lebt sie mit dem norwegischen Posaunisten Henrik Munkeby Nørstebø zusammen. Ihre beiden (Musik)-Sprachen scheinen nicht komplett verschieden zu sein. Jedenfalls verbinden sie sich seit Jahren in geradezu erstaunlich harmonischen Projekten.

 

Audrey Chen &Henrik Munkeby Nørstebø, Beam Splitter, 22.04.2017, Kaohsiung Taiwan, Yard/Theater

 

Orchestrales Denken

Und sie, die Norwegerin Maja Ratkje? Sie sagt, ihr Denken sei orchestral. Klavier oder Gitarre seien ihr schon immer zu wenig „Begleitung“ gewesen. Wer mit Ratkje spricht, dem dürfte dieses doppelte Understatement nicht entgehen. Ratkje spielt gerne auf vielen Ebenen. Als Studentin gründete sie eine Gruppe namens „Spunk“, um ihr Publikum mit den Stimmen der Chipmonks zu irritieren, jenen der Comicwelt entsprungenen, sprechenden Eichhörnchen. Ein Aufenthalt am IRCAM in Paris zog eine Faszination für elektronische Medien mit sich, die Ratkje seither konsequent vertieft. Ihr Auftritt anlässlich einer Preisvergabe am ZKM in Karlsruhe, dokumentiert auf Video, zeugt von der mittlerweile erlernten Virtuosität. Ratkje gelingt es, mittels Stimme und Elektronik ein ineinandergefurchtes Klangwesen entstehen zu lassen, das, der griechischen Hydra gleich, immer mehr Köpfe hat, als wir wahrnehmen, geschweige denn hörend je bezwingen könnten.

 

Maja S.K. Ratkje Interview zu What are the words to us, UA Luzerner Theater 2022

 

Ratkje zeigte in ihrer Residenz am Luzerner Theater in der Saison 2022/23, dass sie neben neuester Technik auch dem ganz Alten zugewandt ist. Zu hören war, in ein Musiktheaterstück integriert, ihre Komposition Revelations (This Early Song). Darin kommen Urwörter wie „worm“, „bark“ oder „spit“ vor. Wurm, Rinde, Spucke also, Wörter, die vor 15’000 Jahren auf dem ganzen eurasischen Kontinent gesprochen wurden. So erzählt Ratkje im Gespräch.

Warum sie in solchen semantischen Tiefenschichten gräbt, wird beim Hören offenbar und wirkt wie eine Legitimation für das in diesem Text anhand dreier Exponentinnen skizzierte Thema. Die Faszination, die uns aus Revelations anspringt, ist nichts weniger als eine Art genetischer Legitimation der vokalen Performance, wie wir sie heute in vielerlei Ausprägung erleben. Es geht darum, seine Stimme zu finden. Einen Weg zu finden, sich mit Sinn gegenseitig anzusprechen, -fauchen, -spucken. Ob wir, das Publikum, uns von dieser Art, sich mitzuteilen, mehr angesprochen fühlen oder doch lieber von der Kulinarik des Belcanto, das hingegen sei doch jedem selber überlassen.
Benjamin Herzog

 

In der Musik unserer Zeit-Serie Vokalperformance I und II vom 8. und 15. März 2023 portraitiert zudem Florian Hauser (II: Erstausstrahlung 15.3.23) die Pionierinnen Carla Henius und Cathy Berberian, im Gespräch mit Anne-May Krüger, Basler Sängerin und Musikwissenschaftlerin, die über die beiden ein Buch verfasste.

 

Portrait Anne-May Krüger © Foto Werk

Anne-May Krüger: Musik über Stimmen – Vokalinterpretinnen und -interpreten der 1950er und 60er Jahre im Fokus hybrider Forschung, Wolke-Verlag.

Maja Ratkje, Audrey ChenCarla Henius, Cathy Berberian, Luciano Berio

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 8.3.2023: Vokalperformance I – Gegenwartsstimmen elektronisch verwoben, Redaktion Benjamin Herzog)
Musik unserer Zeit15.3.2023: Vokalperformance IIPionierinnen Carla Henius und Cathy Berberian, Redaktion Florian Hauser im Gespräch mit Anne-May Krüger

Neo-profile: Franziska Baumann, Anne-May Krüger

 

 

Durch Musik eins werden mit der Natur

Toshio Hosokawa ist der bekannteste japanische Komponist und diese Saison Creative Chair beim Tonhalle Orchester Zürich. Hosokawa verbindet in seiner Tonsprache die westliche neue Musik mit traditioneller japanischer Musik. Moritz Weber unterhielt sich mit dem Komponisten.

 

Moritz Weber
Vor drei Jahren komponierte Toshio Hosokawa im Auftrag des Pianisten Rudolf Buchbinder eine Variation über den berühmten Walzer von Diabelli in C-Dur, über welchen einst Beethoven seine monumentalen 33 Veränderungen komponiert hatte. «Ich liebe Klavierklänge», sagt Hosokawa im Gespräch, «aber in diesem Walzer hat es sehr viele Töne». Seine Variation klingt denn auch wie in Zeitlupe, er lässt einzelnen Tönen viel Zeit, um sich zu entfalten. Wegen des langsamen Tempos sei das Stück typisch für ihn, sagt der japanische Komponist, und sogar die tonalen Elemente passten zu seiner Musiksprache, denn in den letzten 2 bis 3 Jahren habe er sich wieder mehr für tonale Musik interessiert, «und ich möchte in Zukunft auch tonale Musik komponieren.»

 

Über das Studium in Deutschland zur traditionellen japanischen Musik

Zu seiner eigenen Klangsprache, die fernöstliche und westliche Ästhetik verbindet, fand er über einen Umweg. «Meine Familie war sehr japanisch», sagt er. Mit einem Ikebana-Meister als Grossvater, der auch Nō-Gesang und die Teezermonie liebte, und einer Mutter, die immer Koto spielte, war ihm das dann doch etwas «zu viel». Für ihn waren die traditionellen japanischen Künste damals altmodisch, «langweilig» gar.

Da er sich als Klavierstudent insbesondere für das klassisch-romantische Repertoire begeisterte, wie für die späten Klaviersonaten von Beethoven, ging Hosokawa nach Deutschland, um bei Isang Yun (in Berlin) und Klaus Huber (in Freiburg i. B.) Komposition zu studieren.

 


Klaus Huber, Kompositionsprofessor von Toshio Hosokawa mit seinem fernöstlich inspirierten Stück Plainte – Lieber spaltet mein Herz, Contrechamps 2018, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Am Meta-Musikfestival im Berlin der 1970er-Jahre wurde neue Musik aus Europa mit traditioneller Musik aus aller Welt kombiniert. György Ligeti mit indonesischer Gamelanmusik, Karlheinz Stockhausens Mantra mit Tempelmusik aus Japan. Dort hörte und erlebte Hosokawa von Europa aus die Musik seiner Heimat ganz anders und entdeckte ihre Schönheit. Gemischt mit Heimweh und dank der Ermunterung seiner Lehrer begann Hosokawa in seinem Stil die fernöstliche Klangsprache und Philosophie mit der europäischen zu verschmelzen.

 

Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Ästhetik

Ein wichtiger Unterschied zwischen europäischer und japanischer Musik sei, dass letztere keine absolute Musik sei, sondern immer als Atmosphäre oder Hintergrund für bestimmte Ereignisse wie Zeremonien oder Tänze. Sie sei an einen Ort gebunden. Die europäische Musik hingegen sei eine Architektur, die an den unterschiedlichsten Orten gespielt werden könne, so wie man eine Skulptur oder ein Gemälde irgendwo hin transportieren kann, so Hosokawa.

 

Portrait Toshio Hosokawa © KazIshikawa zVg. Tonhalle-Orchester Zürich

 

«In der japanischen Musiktradition ist der Einzelton sehr wichtig. Ich sage immer, unsere Musik sei eine Kaligraphie in Zeit und Raum, und eine musikalische Linie ist wie ein Pinselstrich, mit Anfang und Ende». Die Töne seien vertikale Ereignisse, wie ein kalligraphischer Pinselstrich auf einem weissen Papier. Ganz im Gegensatz zu den zu Motiven verbundenen Tongruppen der westlichen Musik, z.B. das berühmte «ta-ta-ta-taaaaaa» aus Beethovens 5. Sinfonie, singt Hosokawa vor.

 

Nō-Theater und Gagaku-Musik

«In den Stücken des traditionellen japanischen Nō-Theaters aus dem 12. oder 13. Jahrhundert geht es um Seelenheilung, und dieser Gedanke ist auch sehr wichtig für mich», sagt Hosokawa: «Die Verstorbenen kommen zurück, erzählen vom Jenseits, heilen ihre Seelen durch Tanz und Gesang und kehren dann zurück ins Reich der Toten». Musikalisch ist der «Kalligraphie-Gesang» prägend, wie auch das Schlagzeug: Heftige Schläge, welche die Zeit quasi vertikal durchschneiden. Es werden nicht grosse horizontale Räume eröffnet, sondern die Impulse sind für sich selbst Ereignisse. Darauf weise er auch immer hin, wenn er mit Musiker:innen an seinen Stücken arbeite, wie diese Saison als Creative Chair beim Tonhalle-Orchester Zürich. «Diese heftigen vertikalen Einschnitte, sie sind stärker als normale Einsätze, auch die plötzlichen Änderungen in der Dynamik. Ich sage immer: Denken sie beim Spielen, sie malen eine Kalligraphie. Denken sie nicht zu formal, sondern dass jeder Moment ein wichtigster Moment ist, jeder Moment eine Ewigkeit.»

 

 


Toshio Hosokawa, Ferne Landschaft III – Seascapes of Fukuyama (1996), Basel Sinfonietta, Dirigent Baldur Brönnimann 2016, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Hosokawa gefallen auch die mikrotonalen Färbungen, welche bei der Gestaltung von Tönen im Nō-Theater wichtig sind. «Um die Zentraltöne herum gibt es immer kleine Veränderungen, und diese möchte ich hören, denn sie machen die Töne lebendig». Auch hier singt er im Interview einen langgezogenen Ton vor und zeichnet dazu mit der Hand in der Luft den Tonverlauf nach.

 

Der Mutterakkord der Shô

Die etwa 500 Jahre ältere und ursprünglich aus China und Korea stammende japanischen Gagaku-Musik ist eine zeremonielle Hofmusik. Der Klang der japanischen Mundorgel Shô ist hier omnipräsent. Er symbolisiert im Hintergrund die Ewigkeit, während darüber Melodieinstrumente wie Hichiriki oder die Drachenflöte Ryūteki klangliche Kalligraphien «zeichnen».

Mit der Shô sei es auch möglich, den Atem und kreisende Zeit unmittelbar erfahrbar zu machen. Hosokawa nennt das den «Mutterakkord», und er hat diverse Stücke für oder mit Shô geschrieben. Auch diese Kreisläufe seien für ihn sehr wichtig, wie auch der Gedanke, dass Gagaku eher eine kosmische Musik ist als eine menschlich-emotionale.

 

Naturkatastrophen als Opernstoff

Toshio Hosokawa ist mit seiner einzigartigen Tonsprache und seinen Kompositionen in allen Gattungen weltberühmt geworden. Viele seiner Werke drehen sich um Naturkatastrophen wie um das verheerende Tohoku-Erdbeben, Tsunami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima. «Mein Ziel ist es, durch Musik und durchs Komponieren eins zu werden mit der Natur. Eigentlich ist die japanische Natur sehr schön mit ihren Jahreszeiten, aber sie ist nicht immer freundlich zu den Menschen. Diese Tatsache habe ich erfahren als der Tsunami kam, und ich begann, ganz anders über Natur nachzudenken. Mit meiner vierten Oper Stilles Meer wollte ich ein Klagelied für die Opfer dieses einschneidenden Ereignisses oder ein Requiem für die Toten schreiben.» Nicht nur die Urgewalt hat Hosokawa darin auskomponiert, sondern die schrecklichen Bilder des Verlusts, wie Kinderschuhe oder Spielzeug, welche in den Überschwemmungsgebieten treiben.

 


Toshio Hosokawa, die Oper Stilles Meer ist für Toshio Hosokawa ein Klagelied an die Opfer des Tsunami von 2011, UA Staatsoper Hamburg 2016

 

 

Momentan komponiert Hosokawa seine sechste Oper, auch sie wird sich wieder um Naturkatastrophen drehen. Eine junges Paar, ein Japaner und ein Flüchtling aus der Ukraine, besucht darin verwüstete Orte, verschiedene «Höllen» im Sinne von Dantes Inferno, wo sie die Auswirkungen der Naturkatastrophen sehen, so Hosokawa. Die Oper soll in der Spielzeit 2025/26 uraufgeführt werden.

 

Innere und äussere Ruhe

Um seine innere Ruhe zu finden, geht Hosokawa gerne in den Wald oder ans Meer in der Nähe seines Wohnortes in Nagano. Er meditiert auch täglich, still sitzend und nichts tuend für ein paar Minuten. Eine Kraftquelle für seine kontemplative Zustandsmusik, welche durchsetzt ist von eruptiven Ausbrüchen.

Seine Musik soll auch für das Publikum ein Ort der Kontemplation sein, ein Ort des Gebets. «In Japan gibt es sehr viele geschnitzte Holzstatuen von anonymen Künstler:innen, bei welchen die Menschen beten. Ich möchte, dass meine Musik eine ähnliche Bedeutung hat. Sie kann die Menschen vielleicht nicht retten, aber irgendwie schützen.»

Die Spiritualität spielt auch in seinen jüngsten Werken eine Rolle: Ceremony für Flöte und Orchester (UA 2022) und Prayer für Violine und Orchester (UA 2023).

 

Das Soloinstrument sei auch in diesen beiden Stücken wie ein Schamane, ein Vermittler zwischen dem Dies- und dem Jenseits, so Hosokawa, er empfange und höre die Urkraft Ki (気). «Diesen Gedanken finde ich sehr interessant: Komponieren, nicht als ein Ausdruck eines Menschen oder seines Egos, sondern als Empfangen von dem, was schon da ist; die Urkraft der Klänge, den bald lieblichen, bald dramatischen Fluss der Töne. «Das Orchester repräsentiert dabei die Natur. Diese ist also in und um das Soloinstrument bzw. den Schamanen. Er kommuniziert mit ihr, trägt Konflikte aus, und soll zum Schluss zu einer Harmonie mit ihr findet».

Hosokawa sieht sich als ein Vertoner dieser Urkraft, und sagt: «auch ich möchte ein Schamane werden» – wenn er es nicht schon ist.

Wenn er mit Orchestern oder Musiker:innen seine Werke einstudiert, wie jetzt während seiner Zeit als Creative Chair des Tonhalle Orchesters Zürich, sei es vor allem das Zeitgefühl, woran man manchmal etwas mehr arbeiten müsse.
Moritz Weber

Tonhalle-Orchester Zürich: Toshio Hosokawa, Creative Chair, Saison 2022/23
Konzerte: Sonntag, 26.3. Kammermusik
Mittwoch, 29.3.23: Meditation to the victims of Tsunami für Orchester.

 

Rudolf Buchbinder, Isang Yun, Klaus Huber, Shô, Hichiriki, Ryūteki, Gamelan, Karlheinz Stockhausen, Gagaku, György Ligeti, Koto, Metamusikfestival Berlin

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 22.3.23, 20h, 25.3.23, 21h: Musikschamane und Vertoner der Urkraft, Autor Moritz Weber

Neo-Profile:
Toshio Hosokawa, Tonhalle-Orchester Zürich, Klaus Huber

 

Grösstmögliche Freiheit – Ligetis Atmosphères neu interpretiert

«Tuns contemporans», Biennale für Neue Musik Graubünden, findet vom 29.3. bis zum 2.4. zum dritten Mal statt. Mit Motto «100 Jahre Ligeti» beleuchtet es den wegweisenden Komponisten auch aus heutiger Sicht. Atmosphères, Ligetis monumentales Orchesterwerk bekannt aus Kubriks «Space Odyssee 2001», kommt im Theater Chur als raumumspannende Klanginstallation zur Neuinterpretation. Ein Gespräch mit Martina Mutzner, Initiatorin und künstlerische Leiterin des Projekts.

 

28. Mai 2023: 100. Geburtstag György Ligeti

Gyoergy Ligeti, Februar 1992 Stadttheater Bern ©Alessandro della Valle

 

Gabrielle Weber
Wenn ein Schlüsselwerk der musikalischen Avantgarde unerwartet grosse Verbreitung fand, dann sicherlich Atmosphères von György Ligeti. Stanley Kubriks Weltraumepos «Space Odyssee 2001» von 1968 trug dazu bei, dass Ligetis eindrückliches Orchesterwerk, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 1961, weltweit berühmt ist: im Film begleitet es eine fast zehnminütige Kamerafahrt durch abstrakt-verfliessende Weltraum-Farbfelder, die zum Fortschrittlichsten gehören, was 1968 an Kamera- und Tricktechnik möglich war. Oder war es umgekehrt: begleitet das Bild die Musik?

 

Klangfarbenflächenkomposition

 

Atmosphères, Ligetis mikropolyphones 87-stimmiges Orchesterwerk verschaffte ihm bereits davor in Fachkreisen den grossen Durchbruch. Sein neuer kompositorischer Ansatz, bei dem Klangfarben und -flächen strukturelle Elemente ablösen, wurde mit Begeisterung aufgenommen: bei der Uraufführung in Donaueschingen wurde es auf Wunsch des Publikums gleich zweimal gespielt. Mit Kubrik hingegen stand Ligeti jahrelang im Rechtsstreit, da dieser Atmosphèreszunächst ohne den Komponisten anzufragen und ohne ihn zu entgelten verwendete.

 


György Ligeti, Atmosphères, Sinfonieorchester Basel, 2015, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Das Churer Vermittlungsprojekt nimmt die Idee des Komponierens mit Klangfarbenflächen wie auch den Bekanntheitsgrad des Werks zum Ausgangspunkt. In einer immersiven partizipativen Konzert-klanginstallation ersteht Ligetis Atmosphères neu, interpretiert durch 81 Stimmgruppen: über ein halbes Jahr entwickelten Schulklassen, semiprofessionelle Musiker:innen und Laien, die Mitglieder zwischen 7 und 77 Jahren alt, ihre eigenen Klangflächen. In Workshops, begleitet von Musiker:innen des Churer ensemble ö! und der Kammerphilharmonie Graubünden, entstanden so die einzelnen Schichten eines grossen Gesamtklangs.

In diesen kann man nun während des ganzen Festivals im Innenbereich des Theaters Chur, übertragen über ein Lautsprechersystem und eingebettet in eine Lichtszenografie à la Kubrik, eintauchen.

 

Apparitions für Orchester (1958/59) ist eines der ersten Werke, in denen György Ligeti mit Klangflächen komponierte, Aufnahme mit der Basel Sinfonietta unter Johannes Kalitzke, 2003, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ligetis Idee der grösstmöglichen kompositorischen Freiheit habe den Ausschlag zur Wahl dieses Vermittlungsprojekts gegeben, so Martina Mutzner, die Projektverantwortliche.

«György Ligeti hat mit Atmosphères ein Stück geschrieben, das sich gegen die damals gängigen Kompositionsdogmen wendete. Atmosphères steht stellvertretend für einen freigeistigen Umgang mit künstlerischem Material und im übertragenen Sinne auch mit dem Menschen“. Es gebe kein richtig oder falsch. Deshalb sei es so geeignet für ein partizipatives Projekt mit Laien-Musiker:innen.

 

Inventarisieren und Botanisieren

Sie seien einen „umgekehrten Weg gegangen“. Zuerst hätten sie, inspiriert von Atmosphères, improvisiert, Klänge entwickelt und aufgezeichnet. «Wir sammelten die Klangflächen. Es war wie ein Inventarisieren oder Botanisieren“, meint Mutzner. David Sontòn Caflisch, künstlerischer Leiter der Biennale, erstellte dann aus den Einspielungen Partituren für Instrumentalparts. Flöten-, Harfen- und Streichergruppen ergänzen nun die vokalen und geräuschhaften Klangflächen zu den vorgegebenen 87-Stimmen Ligetis.

Entstanden ist eine kompositorische Assoziation zu Ligetis Klangflächenkomposition im weitesten Sinne, und damit etwas komplett Neues: dies passe zum Konzept der Biennale mit Ligeti im Zentrum, der mit Mentorinnen und Schülerinnen in Beziehung gesetzt werde. An den vier grossen Konzerten im Theater Chur stehen u.a. Werke von Béla Bartók und Sándor Veress, Komponisten die Ligeti prägten, aber auch von Detlef Müller-Siemens, Michael Jarrell oder Alberto Posadas, die er wiederum prägte, sowie Uraufführungen im Dialog mit Ligetis Oeuvre.

 

Michael Jarrell, music for a while pour orchestre 1995, ensemble contrechamps, Dirigent Jürg Henneberger, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ihre Leidenschaft für Neue Musik und deren Vermittlung bringt Mutzner ins Projekt ein: „Atmosphères wählten wir auch, da es durch Stanley Kubricks Space Odyssey Eingang in die Populärkultur gefunden hat. Viele Leute haben es schon gehört, aber wissen nicht, was es ist.“ Von den Mitwirkenden und auch den Ensembleleitenden, hätten einige noch kaum mit zeitgenössischer Musik zu tun gehabt. „Die Aufnahmen klangen schlussendlich so, als würden sie regelmässig in einem Ensemble für zeitgenössische Musik proben. Die Musizierenden waren in diesem vielbeschworenen Flow, und das überträgt sich auf die Zuhörenden“, so Mutzner.

Konsequente Öffnung von Neuer Musik

Die konsequente Öffnung von Neuer Musik für ein breiteres Publikum ist generelles Anliegen der Churer Biennale. Fanden die Konzerte pandemiebedingt 2021 nur online statt, so wird auch diese Ausgabe gesamthaft online live-gestreamt. Zudem setzt sich die «tuns contemporans» auch nachhaltig für eine ausgewogenere Gendermischung im Klassikbetrieb und für eine Erneuerung des Orchesterrepertoires ein: 2021 fand erstmals ein «Call for Scores for ladies only!» statt, aus dem drei Uraufführungen von Komponistinnen hervorgingen. Auch diese Ausgabe kommen drei neue Stücke zur Uraufführung. Gewählt wurden aus 78 eingereichten Werken Los tiempos del alma für kleines Ensemble der kürzlich verstorbenen jungen argentinischen Komponistin Patricia Martinez (*1973-2022), von Areum Lee (*1989) aus Korea leer für grosses Ensemble und la via isoscele della sera für Streichorchester der Italienerin Caterina di Cecca (*1984).

 

Oscar Bianchi, Contingency für Ensemble (2017), aufgezeichnet mit dem Ensemble der Lucerne Festival Alumni, dirigiert von Baldur Brönnimann, 2020, Eigenproduktion SRG SSR.

 

Die Zusammenarbeit mit dem Orchestra della Svizzera Italiana im Konzert am Samstagabend – u.a. kommt von Oscar Bianchi Exordium von 2015 zur Aufführung – und die Verpflichtung von Mario Venzago als Gastdirigent oder das Abschlusskonzert mit dem Ensemble Vocal Origen, im roten Turm zuoberst auf dem Julierpass, garantieren dieser dritten Festivalausgabe Synergien und eine Öffnung der Neuen Musik über das Lokale hinaus.
Gabrielle Weber

 

Roter Turm auf dem Julierpass © Benjamin Hofer

 

Tuns contemporans – Biennale für Neue Musik Graubünden 2023
Atmosphères: partizipatives generationenübergreifendes Konzertprojekt: Teilnehmende –Profimusiker*innen, passionierte semiprofessionelle Musiker*innen, Musikschüler*innen und begeisterte Laien

 

György Ligeti, Detlev Müller-Siemens, Alberto Posadas, Béla Bartók, Sándor Veress, Origen Festival Cultural, Mario Venzago, Caterina di Cecca, Areum Lee, Patricia Martinez, Martina Mutzner: Musiksalon

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 24.5.2023: György Ligeti 100: Autor Michael Kunkel
neoblog, 7.4.2021: tuns contemporans 2021 – Graubünden trifft Welt, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile:
György Ligeti, tuns contemporans, Ensemble ö!, Kammerphilharmonie Graubünden, David Sontòn Caflisch, Oscar Bianchi, Michael Jarrell, Ensemble Vocal Origen

Von Wechselklängen und Fokussierungen

Marcus Weiss, Basler Saxofonvirtuose, verschreibt sich wie kein anderer der zeitgenössischen Musik. Eben ist eine CD mit vier ihm auf den Leib geschriebenen Werken für Orchester und Solosaxofon erschienen.

Peter Révai
Marcus Weiss, der herausragende Saxofonvirtuose der europäischen Neuen Musikszene, hat beim Label Wergo mit «SAX – contemporary concertos for saphone» eine CD mit exemplarischen zeitgenössischen konzertanten Solowerken mustergültig eingespielt und dieser Tage veröffentlicht. Darunter finden sich so unterschiedliche Werke wie Focus, Konzert für Saxofon und Orchester, des ungarischen Altmeisters Peter Eötvös aus dem Jahre 2021, und Konzert für Baritonsaxofon und Orchester von Georg Friedrich Haas von 2008. Alle eingespielten Werke wurden von Weiss uraufgeführt und durften bereits mehrere Aufführungen mit unterschiedlichen Orchestern erleben. Mitverantwortlicher dieser Werksammlung ist Harry Vogt, der frühere Künstlerische Leiter des Festivals für zeitgenössische Kammermusik Witten und Redaktor des WDR, der alle Stücke dieser CD produziert hat.

 

Portrait Marcus Weiss zVg. Marcus Weiss

 

Wie kein Zweiter ist der Basler Instrumentalist Marcus Weiss daran, sein von Adolphe Sax erfundenes und 1846 patentiertes Instrument bei den zeitgenössischen Schöpferinnen und Schöpfern von Musik an den Mann respektive an die Frau zu bringen. Anders als beim Jazz in den Big Bands hat dieses Holzblasinstrument in der klassischen Sparte keinen fixen Platz in den Orchestern gefunden. Umso mehr taucht es in der zeitgenössischen Kammermusik auf, was auch die regelmässigen internationalen Auftritte von Weiss im «Trio Accanto»  und im Pariser Saxofonquartett XASAX belegen.

Seit seiner ersten selbst produzierten Solo-CD «Neue Musik für Saxophon» 1991 mit Werken von Giancinto Scelsi, Luciano Berio, Walter Zimmermann, Mauricio Sotelo und Roman Haubenstock-Ramati ist Weiss in Sachen Neuer Musik weltweit unterwegs. Dabei hat er mehr als nur im Jahrestakt Einspielungen auf den Markt gebracht und unzählige Neukompositionen angeregt. Dass dabei der volle Einsatz des Musikers gefragt ist, belegt auch die Entstehung von Focus von Peter Eötvös.

 


Peter Eötvös, Focus, Sinfonieorchester Basel, Leitung: Peter Eötvös, Saxofon: Marcus Weiss, 2022, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Für Focus hat Weiss den Komponisten nach einem gemeinsamen Konzert in Wien angefragt, ob er ein Saxofonkonzert für ihn schreiben könne. Während fünf Jahren standen sie dafür im ständigen Kontakt. Während der Corona-Pandemie tauschten sie sich via Videoconferencing aus. Kurz vor der Uraufführung mit dem WDR Sinfonieorchester trafen sie sich persönlich am Wohnort von Eötvös in Budapest, wo sie jede Phrasierung und alle Tempi gemeinsam durchgingen sowie Korrekturen anbrachten, so Weiss.

Herausgekommen ist ein viersätziges, äusserst virtuoses und klanglich anregendes Solokonzert, bei dem das Saxophon, mal das Tenor- und dann das vor allem im Schlusssatz eingesetzte Sopransaxophon, voll chromatisch und mit ausgeprägtem sprachlichem Parlando im Fokus steht. Die Musik ist bis zum Schluss rhythmisch ziemlich aufgeladen. Sie  bewegt sich ausgehend von einem immer wiederkehrenden «Hummelflug»-Thema mit allen Extremen der Artikulation und der Dynamik durch verschiedenste klangfarbliche Situationen oder Tableaus fort. Der letzte Satz endet völlig gegensätzlich mit lyrischen introvertierten, immer mehr ausfransenden Sopranmomenten.

Wie Eötvös im Programmbuch zur Uraufführung mitteilt, stamme die Idee zu Focus aus der Welt der Films. So wie dort die Kamera sich häufig auf jemanden fokussiere oder auf etwas konzentriere, so bilde in seinem Stück das Orchester den «Hintergrund», und überlasse den «Premier Plan» dem Solisten, wobei sich seine «Tonkamera» in Zeitlupe langsam auf das eine oder andere fokussiere.

Der Plan von Eötvös geht auf. Man merkt, dass er das Saxofon erfasst und zur vollen Entfaltung bringt. Man glaubt, ohne zu zögern, wenn der Komponist schreibt, dass ihm seit seiner Kindheit das Saxophon sehr nahe stünde, weil es so klänge, als würde er selber singen. Er habe viele Jazzsaxofonisten wie Paul Desmond, Gerry Mulligan, Stan Getz und Sonny Rollins im staatssozialistischen, Jazz-feindlichen Ungarn gehört. Später, nach seiner Auswanderung nach Köln, habe er das Saxophon mit Jazzklängen angereichert, ohne sich aber je dem Jazz zuzuneigen. Denn als Komponist, so Eötvös, schreibe er stets klassisch jeden einzelnen Ton nieder. So kämen zwar in seinen Konzerten Saxofone häufig zum Einsatz, doch behandelt er das Instrument hier zum ersten Mal solistisch. Dabei kommt es mit einer Ausnahme im Schlusssatz ohne den Einsatz neuer Spieltechniken (extended techniques) aus, verlangt aber eine gewisse Fingervirtuosität. Auf der CD spielt neben Weiss, wie an der Uraufführung, das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Elena Schwarz.

Dasselbe Orchester ist auch für die Einspielung des einsätzigen Konzert für Baritonsaxofon und Orchester von Georg Friedrich Haas zuständig, diesmal unter der Leitung von Emilio Pomàrico.

 


Georg Friedrich Haas, Konzert für Baritonsaxofon und Orchester, WDR Sinfonieorchester, Leitung: Emilio Pomàrico, Saxofon: Marcus Weiss, 2019, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Das Konzert entstand, als der österreichische Komponist wie Weiss an der Musikakademie Basel als Dozent tätig war. Zeitgleich verfasste Weiss zusammen mit dem italienischen Komponisten Giorgio Netti ein Lehrbuch über das Saxofonspielen, in dem als Spezialität die neuartigen Mehrklänge (Multiphonics) systematisch dargestellt sind.

Nachdem Weiss dem Kollegen Haas  auch sein riesengrosses Baritonsaxophon demonstrierte, setzte der für mikrotonales Komponieren bekannte Österreicher es wirkmächtig in Musik um: die neuen Spieltechniken fügte er gemäss seinem Spektralkonzept kongenial in das Spiel des solistischen Rieseninstruments ein.

Diese Zusatztöne sind auch Grundlage des Orchestertuttis , wobei Haas der Musik genügend Raum und Zeit bietet, um dessen ganze Magie zu entfalten. Mehrere Generalpausen verstärken seine mächtige Wirkung. Entstanden ist das Stück im wesentlichen anlässlich eines Japanaufenthaltes. Es gehe ihm um die Verarbeitung der Erfahrungen mit einer anderen Kultur, berichtet der Komponist. Im Zentrum steht eine aus einem Shinto-Ritual übernommene Episode. So spielt das Soloinstrument eingebettet zwischen scharfen Akzenten nach innen gerichtete Melodien, deren Nachhall weiterlebt.

Mitunter ist das Saxofon völlig im Orchesterklang eingebettet, bis es wieder daraus solistisch hervortritt, so dass Wechselklänge von Tutti und Solo auf ganz spezielle Weise erfahrbar werden. Das dynamische Spektrum ist äusserst variabel, wobei die Körperlichkeit des Soloinstruments immer wieder durchschlägt. So fängt etwa das Stück für den Solisten mit allergrösster Kraft an, um alsdann schnell in höchster Lage im dort schwierig zu spielenden Piano pianissimo zu landen. Dort im «Weissen Schnee», so Weiss, würden von ihm als Musiker Viertel-, ja sogar Achteltöne verlangt, was extrem sei.
Nebst den beiden Werken komplettieren Saxordionphonics für Sopransaofon, Akkordeon und Kammerorchester (2014) des litauischen Komponisten Vykintas Baltakas und Violent Incidents. Hommage à Bruce Nauman (2005 -2006), für Saxofon und Ensemble des österreichischen Jarell-Schülers Johannes Maria Staud die sehr empfehlenswerte CD.
Peter Révai

 

CD: SAX – Contemporary Concertos for Solosaxophone, Wergo / Schott, release 20.1.2023

Marcus Weiss / Giorgio Netti: Die Spieltechnik des Saxofons, Bärenreiter 2010

Marcus Weiss, CD: Neue Musik für Saxofon, 1991

Trio AccantoAdolphe SaxHarry VogtGiancinto Scelsi, Luciano Berio, Walter Zimmermann, Mauricio SoteloRoman Haubenstock-Ramati, Emilio PomàricoElena SchwarzPaul Desmond, Gerry Mulligan, Stan GetzSonny RollinsWDR Sinfonieorchester, Vykintas BaltakasJohannes Maria Staud

 

Neo-profiles:
Marcus Weiss, Xasax Saxofonquartett, Georg Friedrich Haas, Peter Eötvös

 

«In maletg da mia veta»

Gion Antoni Derungs (1935–2012) ist nicht nur der prominenteste Komponist Graubündens. Er gilt auch als eine der herausragenden Musikerpersönlichkeiten der Schweiz. Zehn Jahre nach seinem Tod erfährt er nun eine umfassende Würdigung mit einer Biografie und es fand ein Derungs-Festival in Chur statt.
Ein Porträt von Laura Decurtins.

 

Laura Decurtins
Von künstlerischer Fantasie, einer starken musikalischen Identität und unbändigem Schaffensdrang zeugt das umfangreiche Œuvre von Gion Antoni Derungs; er bezeichnete es selbst als «Bild seines Lebens». In produktiver Auseinandersetzung mit den einheimischen Musiktraditionen ebenso wie mit den internationalen musikalischen Strömungen des 20. und 21. Jahrhunderts gelangte Derungs zu seinem unverkennbaren Personalstil. Heute steht sein Name für hochstehende musikalische Kunstwerke, die einfache Lieder ebenso wie komplexe Instrumentalwerke umfassen und Laien wie professionelle Musiker ansprechen.

 


Portrait Gion Antoni Derungs zVg. Fundaziun Gion Antoni Derungs

 

Volkslieder als «Wurzel» und «Quelle»

Gion Antoni Derungs wurde am 6. September 1935 im kleinen Dorf Vella in der Val Lumnezia geboren. Nach dem verfrühten Tod des Vaters musste die Familie mit Wenig über die Runden kommen, doch auf die musikalische Erziehung der Kinder legte die selbst hochbegabte Mutter – sie war eine Schwester des berühmten Musikers Duri Sialm – nichtsdestotrotz grossen Wert. Romantische Klaviermusik, Opern und die Volkslieder der Surselva umgaben Derungs von klein auf. Als Hilfsmessmer durfte er bisweilen auch Gottesdienste auf dem Harmonium begleiten, sodass sich ihm die alten katholischen Kirchenlieder der Surselva tief einprägten. Die «canzun romontscha» wurde für Derungs gleichsam zu einer musikalisch-identitätsstiftenden Wurzel und zu einer Quelle, aus der er gerne kompositorisch schöpfte.

 

Vom Klavierstudenten zum Musikdirektor 

1949 trat Derungs in das Klostergymnasium in Disentis ein und wurde dort von Dorfmusiklehrer Giusep Huonder und zusätzlich vom Onkel Duri Sialm in Klavier und Orgel unterrichtet. Gleich nach der Matura erhielt er einen Studienplatz am Konservatorium in Zürich, wo er neben Klavier auch Komposition, Musiktheorie, Orgelspiel, Dirigieren und Partiturspiel studierte; an der Musikakademie belegte er Schulgesang. Als Nachfolger seines Onkels wurde er 1960, noch während des Studiums, zum Musikdirektor von Lichtensteig (im Toggenburg) gewählt und 1962 schliesslich zum Klavier- und Orgellehrer am Bündner Lehrerseminar in Chur, zum Organisten der dortigen Kathedrale und zum Leiter der romanischen Stadtchöre Alpina und Rezia.

 

Versuchskaninchen und «Hausinterpreten»

1968 gründete Derungs zusammen mit Pfarrer Gieri Cadruvi zur Förderung der romanischen Liedgutes die Schallplattenreihe «Canzuns popularas» (CPLP). Bis 1987 erschienen hier 13 Tonträger mit den unterschiedlichsten Programmen und Interpreten. Hauptinterpret war das von Derungs gegründete EnsembleQuartet grischun, ein Elite-Kammerchor, mit dem Derungs seine neusten, avantgardistischen Vokalkreationen ausprobieren konnte, etwa die Missa pro defunctis op. 57, für die er am internationalen Kompositionswettbewerb in Ibagué (Kolumbien) die Goldmedaille erhielt.

 

Gion Antoni Derungs, Quintett op 25 für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Zu eigentlichen «Hausinterpreten» seiner neusten instrumentalen Kammermusik wurden Derungs’ Kolleg:innen am Lehrerseminar, darunter seine Cousine, die Organistin Esther Sialm. Zwischen 1969 und 1971 bot das Radio Rumantsch Derungs’ sogenannter «musica moderna» eine Plattform – was ihm prompt den zweifelhaften Ruf eines «Modernen» einbrachte. Präsentiert wurden unter anderem das Quintett op. 25 für Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier, eine «symbiotische» Verbindung von linear-polyphonen Momenten mit Clusterklängen und Geräuschexplosionen, sowie die Silhouetten op. 17b für Klarinette und Klavier, wo aus einem anfänglichen «Durcheinander von Linien und Punkten» zunehmend silhouettenhafte Konturen entstehen.

 

Gion Antoni Derungs, Silhouetten op. 17b für Klarinette und Klavier, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Von der Avantgarde zurück zur Tonalität

Solche «musica moderna» komponierte Derungs von 1968 bis gegen Mitte der 1970er Jahre. Schon als Student war er fasziniert von den Experimenten der musikalischen Nachkriegs-Avantgarde, vom Serialismus, der Aleatorik und der Minimal Music, aber auch von der Polnischen Schule der 1960er Jahre mit ihrer Klangflächen- und Klangfarbenmusik. Zu den damals tonangebenden Darmstädter-Kreisen und ihren Ferienkursen für Neue Musik blieb er hingegen auf Distanz.

 

Mitte der 1970er Jahre wandte sich Derungs der «einfacheren», neotonalen Musik der Postmoderne zu, ohne jedoch den einschlägigen Kreisen angehören zu wollen. Er benutzte die musikalischen Sprachen seines Jahrhunderts immer sehr frei und undogmatisch, wobei alles seine Berechtigung haben musste. In der wiedergewonnenen Tonalität sah Derungs «hoffnungsvolle Perspektiven» für die Weiterentwicklung seines Personalstils. Da er aber nie den augenblicklichen Erfolg suchte, warteten viele Werke Jahrzehnte «in der Schublade» auf ihre Uraufführung.

 

«Vorwärts schauen»: Durchbruch und Erfolg

Seinen Durchbruch in Graubünden erzielte Derungs mit einem Vokalwerk, das in dieser Zeit entstand: mit dem Opernballett Sontga Margriata op. 78. Zurückkommen zur Tonalität hiess für ihn nämlich auch, sich wieder mit seinen musikalischen Wurzeln zu beschäftigen: «Tradition bewahren heisst vorwärts schauen». Und gerade das Volkslied erlaubte es ihm, gleichzeitig aktuelle Musik mit einem einheimischen Ton zu erschaffen. Aus dem wohl ältesten romanischen Lied La canzun da Sontga Margriata entstand so ein zeitgenössisches Werk, das 1981 in einer Bündner-Genfer-Zusammenarbeit eine erfolgreiche Uraufführung feierte. Dieser schweizweite Erfolg motivierte ihn, die romanische Sprache auch für Gattungen zu verwenden, die in Graubünden keine Tradition besassen: für das Kunstlied einerseits, aber vor allem: für die grosse Oper. Diese «erfand» Derungs gewissermassen im Jahr 1984 mit seiner ersten Oper Il cerchel magic op. 101. Auch hierfür erhielt er über die Grenzen hinaus positive Resonanz – in Romanischbünden selbst gilt diese erste «opera rumantscha» seither als musikalischer Meilenstein.

 


Gion Antoni Derungs, Il cerchel magic (der magische Kreis), 1984, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Im Laufe der Jahre komponierte Derungs ebenso eine Vielzahl instrumentaler Werke: von kleinbesetzter Kammermusik über Solokonzerte bis hin zu zehn grossen Sinfonien – diese allerdings alle aus persönlichem Antrieb. Kompositionsaufträge bekam er dagegen über all die Jahre von den verschiedensten Formationen im In- und Ausland, für die er dann jeweils in kürzester Zeit passende, auf die Interpreten zugeschnittene Werke schuf. Auch blieb es nicht nur bei einer einzigen Oper: Derungs vertonte ebenso eine Kriminalgeschichte, ein Märchen und das dramatische Leben des Rotkreuzgründers Henry Dunant; zuletzt entstanden für das Festival Origen im Surses noch drei geistliche Vokalopern nach mehrsprachigen Libretti des Indendanten Giovanni Netzer. Hier arbeitete Derungs vorwiegend mit einer Mischung aus freitonaler Harmonik, impressionistischen Farben, motettischen Techniken und einer starken Wort-Ton-Beziehung.

 

«Jeder Mensch tritt einmal ab»

 Ausgereift zeigte sich diese Tonsprache in seinem letzten a-cappella-Chorwerk, dem Nachtgebet Complet op. 189, das Derungs 2011 vollendete. Es war das Jahr, in dem er die Diagnose Krebs erhielt und sich plötzlich an den Gedanken eines baldigen Todes gewöhnen musste. Tatsächlich begleitete ihn der Tod schon seit Kindesbeinen und fand im Laufe der Jahre auch Eingang in diverse Kompositionen, er verband sie gewissermassen motivisch-thematisch, etwa das Requiem op. 74 mit der 2. Sinfonie op. 110, der Trauersinfonie, oder die Sontga Margriata mit der 8. Sinfonie «Sein-Vergehen». «Jeder Mensch tritt einmal ab», notierte Derungs zur 8. Sinfonie. «Und wir alle sind uns dessen bewusst.»

 


Gion Antoni Derungs, Sinfonie Nr.8, op. 158 (2002/2003), Eigenproduktion SRG/SSR

 

Gion Antoni Derungs starb am 4. September 2012, zwei Tage vor seinem 77. Geburtstag. Er hinterlässt ein riesiges Œuvre mit 191 Opuswerken und hunderten Kompositionen ohne Opuszahl. Schon 1996 verlieh man ihm dafür den Ehrentitel eines «Orpheus der Rätoromanen», eines Künstlers also, der Grenzen überwindet und die heimische Musiktradition in die Kunst überführt. Die höchste Auszeichnung, die man als Bündnerroman:in erhalten kann, sollte allerdings erst posthum folgen: 2015 wurde Derungs von den romanischen Medien zu «in dils nos» (einem der Unseren) erkoren – hatte er doch seine romanischen Wurzeln nie verleugnet und die «kleinen Wünsche» seiner Heimat stets berücksichtigt.
Laura Decurtins

 

Laura Decurtins ist Autorin der neuen, im Herbst 2022 im Chronos-Verlag erschienenen Biografie zu Gion Antoni Derungs.

Das Churer Gion Antoni Derungs-Festival fand vom 1. bis zum 4. September 20220 u.a. im Theater Chur statt, und wurde hauptsächlich vom Ensemble ö! bestritten. Die Konzerte wurden insgesamt von RTR auf Video aufgezeichnet und stehen auf neo.mx3 zur Verfügung.

Gion Antoni Derungs / Fundaziun

Duri Sialm, Giusep Huonder, Gieri Cadruvi, Quartet grischun, Esther Sialm, Giovanni NetzerHenry Dunant

Sendungen SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert, 14.12.22: Gion Antoni Derungs-Festival in Chur, Redaktion / Moderation Cécile Olshausen

neo-profile:
Gion Antoni Derungs, Ensemble ö!