Eine Seele – viele Seelen: Dieter Ammann 60

Dieter Ammann, Komponist grosser Orchesterwerke und bekennender Langsamschreiber feiert seinen 60igsten Geburtstag, u.a. mit Konzerten der Basel Sinfonietta und des Luzerner Sinfonieorchesters.

Musikredaktor Florian Hauser traf ihn zum persönlichen Portraitgespräch:

 

Dieter Ammann Portrait © Dieter Ammann

 

Eine Seele

… von Mensch. Der, wenn er sich Zeit nimmt, viel davon hat. Der fragt, erzählt, lacht und lebt, bei einem Interview zum Beispiel, bei Kaffee und Ostereiern und Tabak, und ganz langsam, unmerklich geht es zur Sache, geht es hinein in die verschiedenen Schichten der Konzentration. Oder – auch das kann sein – die Assoziationen springen nur so und die Themen jagen sich. Ein Treffen mit Dieter Ammann ist ein direkter Ausdruck dessen, wie es in seinem Inneren zugeht. Da wo sie wohnen: die …

 

Zwei Seelen

 

… in seiner Brust. Aus denen er Energie saugt: Da ist die improvisierende, vorwärts stürmende Seele, und da ist die komponierende, reflektierende. Sie befeuern sich gegenseitig, und die eine erscheint wie das Reversbild der anderen. Treffen sie aufeinander, entsteht ein Netz von Kräften, die in verschiedene Richtungen zerren und die Musik bis zum Zerreissen spannen. Beim Improvisieren zwingt einen der Auftritt, die Mitmusiker, der Groove dazu, im Fluss zu bleiben und immer weiterzumachen. Wenn er eine Idee hat, dann spielt er sie. Wenn er dagegen als Komponist eine Idee hat, dann zerlegt er sie, legt sie auf den Prüfstein. Da wird dieses Unbewusste angehalten. Die Zeit wird angehalten. Dann probiert er, experimentiert, klopft die Ideen ab, ob sie etwas taugen und wie viel sie taugen. So ist die Musik, die Ammann komponiert, wie eine eingefrorene Improvisation. „Wenn ich mit einem Stück fertig bin“, sagt der ausgesprochene Langsamschreiber Ammann, „ist es für mich wie ein Schmuckstück, ein Kleinod, das ich poliert habe. Ich lege es dann weg, schaue in die nächste Schachtel – und die ist wieder vollkommen leer. Dann beginne ich wieder von neuem.“

 

Von 2014 bis 2016 komponierte der Langsamschreiber Dieter Ammann sein Orchesterstück glut für Orchester, hier in der Aufnahme mit dem Lucerne Festival Academy Orchestra, Dir. George Benjamin, 1. September 2019, KKL Lucerne Festival, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Viele Seelen

 

Mit Altrocker Udo Lindenberg oder Jazzlegende Eddie Harris hat Dieter Ammann gejammt, sich als Trompeter, Saxofonist und Bassist bei den Donkey Kongs und in Steven’s Nude Club ausgetobt, an den Jazzfestivals Köln, Willisau, Antwerpen und Lugano ist er aufgetreten.

Komposition und Theorie hat er studiert, bei Roland Moser und Detlev Müller-Siemens, bei Witold Lutoslawski und Wolfgang Rihm. Dann, Anfang der 90er, stellte ihn das Ensemble für Neue Musik Zürich in einem Konzert mit komponierenden Jazzern vor. Das war eine Initialzündung mit Folgen: erste CD, erste Auszeichnungen – er wird bekannt. Als composer-in-residence in Davos und anschliessend beim renommierten Lucerne Festival. Es regnet Preise: Schweizer Musikpreis, Hauptpreis der IBLA-Foundation New York, Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung (den Siemens-Hauptpreis, den ‘Nobelpreis’ der Musik bekommt er irgendwann auch noch…)

 

Was ist so besonders an Ammans schneller, vitalen Musik? Dass sie keinen Leerlauf kennt. Die ständige Bewegung und das Unerwartete kennt sie, und ständig kann sie implodieren oder explodieren.

Mit dem Ergebnis, dass sich die Energie seiner Musik unmittelbar mitteilt: Es ist nicht eine Musik, bei der man das Gefühl hat, man müsse sich erst durch eine dicke Schale beissen, bevor man an den Kern herankommt. Nein, die Kontaktaufnahme funktioniert schnell: Da wird man nicht nur eingeladen, sondern geradezu mitgezogen, mitgerissen.

 

Noch mehr Seelen

 

Das spüren und davon profitieren auch seine Student*innen. Seit über 30 Jahren unterrichtet Ammann an der Hochschule Luzern die Fächer Komposition Klassik, Komposition und Arrangement Jazz sowie Theorie Klassik. Er fördert und fordert die jungen Kolleg*innen, denn er ist beileibe keiner, der Nachfolger züchten will. „Ich will die Studierenden nicht in eine vornherein definierte ästhetische Richtung zwingen, sondern sie vielmehr dazu bewegen, ihren eigenen Weg zu gehen und die musikalische Sprache zu entwickeln, die in jedem Einzelnen von ihnen angelegt ist.“

 


Am Geburtstagskonzert der Basel Sinfonietta kommen auch zwei Orchesterwerke von Dieter Ammanns Student:innen zur Uraufführung, u.a. von der jungen, aus Armenien stammenden Komponistin Aregnaz Martirosyan (*1993), hier ihr Orchesterstück Dreilinden: UA durch das Armenien national Philharmonic Orchestra, am 14. Mai 2021

 

Wohin ihn seine eigene, in ihm angelegte Sprache noch führt? Wohin sie sich entwickelt? Keine Ahnung. Und das ist auch gut so. „Vielleicht ist es eben genau das: dieses Unsicher-Sein und dieses permanente Suchen, was mich am Komponieren wirklich reizt. Das Spannende am Komponieren ist eben dieses es-ist-so-noch-nicht-da und ich muss das jetzt irgendwie mir erarbeiten.“

 

Ammann ist nicht einer, der dem Selbstgelingen der Arbeit als Beobachter zuschauen kann. Aus der Vogelperspektive sozusagen. „Ich bin nicht der Vogel, ich bin eher der Frosch. Wenn ich zwei gekreuzte Grashalme vor mir sehe, muss ich mir überlegen, ob ich rechts oder links herum gehe, mittendurch schlüpfe oder darüber springe. Von oben betrachten kann ich die Grashalme aber nicht. Ein Beispiel: ich habe in der Vertikalen, also im Harmonischen, den Anspruch, dass jeder gesetzte Ton zu jedem anderen in einer sinnvollen Beziehung steht. Dass dies, gerade in einer Textur für Orchester, zu äusserst langwierigen Entscheidungsprozessen führt, liegt auf der Hand. Als intuitiv vortastender Komponist kann ich ja keinerlei Verantwortung an die Prädisposition des musikalischen Materials abschieben, da diese Vorformungen gar nicht existieren. Nebst der Tonhöhe gilt dasselbe natürlich auch für alle anderen musikalischen Aspekte, inklusive der nicht planbaren Gestaltwerdung der Gesamtform: ich bin in allen Belangen die einzige, immer ungesicherte (und unsichere) Beurteilungsinstanz.“

Ad multos annos, lieber Frosch!
Florian Hauser


Udo Lindenberg, Eddie Harris, Detlev Müller-Siemens, Witold Lutoslawski, IBLA-Foundation – New York, Ernst von Siemens MusikstiftungJazzfestival WillisauEstival Jazz Lugano
Basel Sinfonetta «Musik am Puls der Zeit», 23.5.22: Dieter Ammann – Sechzig Jahre im Groove, Gespräch mit Robin Keller und Baldur Brönnimann

 

Konzerte zum Geburtstag:
Basel Sinfonietta:
Donnerstag, 26. Mai, 19h, Stadtcasino Basel : 5. Abo-Konzert «60 Jahre im Groove», Dieter Ammann: «Unbalanced instability» für Violine und Kammerorchester (2013), «Core» (2002), «Turn» (2010), «Boost» (2000/01) für Orchester, Dirigent Principal Conductor Baldur Brönnimann, Solistin Simone Zgraggen (Violine)
18h Pre-Concerttalk Dieter Amman & Uli Fussenegger (Leiter Zeitgenössische Musik Hochschule für Musik FHNW) / Vorkonzert Studierende FHNW

Sonntag, 22. Mai,19h, Club auf dem Jazzcampus Basel: Dieter Ammann live in concert im intimen Rahmen als Improvisator auf Keyboards, an der Trompete und am Bass, mit Jean-Paul Brodbeck (Piano), Christy Doran (Guitar) und Lucas Niggli (Drums, Percussion)

Luzerner Sinfonieorchester:
Dieter Ammann zum 60. Geburtstag: “Glut”, 31. 5. 2022, KKL, 19:30h, Dir. Michael Sanderling

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 18.5.2022, 20h / Samstag, 21.5.2022, 21h: Durchwachte Nacht. Mit und zu Dieter Ammann, Redaktion Florian Hauser.

Musik unserer Zeit, Neue Musik auf dem Sofa, Mittwoch, 23.2.2022: u.a. über glut von Dieter Ammann, mit Doris Lanz und Marcus Weiss, Redaktion Benjamin Herzog
neoblog, 21.8.2020: Ich bin einer der langsamsten Komponisten Europas, Dieter Ammann im Gespräch zum Film Gran Toccata, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile:
Dieter Ammann, Basel Sinfonietta, Wolfgang Rihm, Roland Moser, ensemble für neue musik zürich, Aregnaz Martirosyan, Davos Festival young artists in concert, Lucerne Festival ContemporarySwiss Music Prices, Luzerner Sinfonieorchester

Labyrinthische Spuren gegen fixe Systeme

Jaronas Scheurer
Die Münchener Biennale ist ein Festival für neues Musiktheater, das seit 2016 von Daniel Ott und Manos Tsangaris kuratiert wird. Die Uraufführungen des Festivals sprengen immer wieder die gewohnten Formate und führen das Publikum an überraschende Orte. So auch dieses Jahr vom 7. bis zum 19. Mai: zum Beispiel mit der Produktion
«s p u r e n» der jungen russischen Komponistin Polina Korobkova.

Ich treffe Polina Korobkova einen guten Monat nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine in einem gemütlichen Basler Café. Nach einem abgeschlossenen Kompositionsstudium in Moskau hat Korobkova in Zürich bei Isabel Mundry und in Basel bei Caspar Johannes Walter studiert. 2021 hat sie in Zürich ihren Master abgeschlossen und wohnt seit kurzem in Berlin. Weitere Studien betreibt sie nun bei Martin Schüttler in Stuttgart. Damit sind schon einige Fixpunkte für Korobkovas Schaffen abgesteckt: Ein waches, sensibles politisches Bewusstsein wie Mundry, ein Interesse für mikrotonale Klangwelten wie Walter und gründliches konzeptuelles Arbeiten wie Schüttler.

 

Die Komponistin Polina Korobkova, zVg. Polina Korobkova


Wendepunkt 24. Februar

Korobkova wirkt bei unserem Treffen erschüttert, jedoch gefasst ob der russischen Invasion in die Ukraine. Sie sei noch daran, die Geschehnisse zu verarbeiten und befinde sich noch im Schockzustand. Obwohl sie sich nicht mit Russland identifiziere, wird sie als gebürtige Russin unweigerlich damit in Verbindung gebracht. Für sie, die wie viele andere russischen Künstler:innen einerseits die russische Invasion vehement ablehnen und öffentlich kritisieren, andererseits beruflich und privat auch unter dem Krieg leiden, stellt der 24. Februar 2022, der Tag an dem Russland den Krieg gegen die Ukraine begann, einen Wendepunkt dar. Es gäbe für sie eine Zeit davor und eine Zeit danach und sie sei sich gerade noch am neu sortieren und könne noch nicht sagen, wie das Danach überhaupt aussehen werde. Die russische Invasion betrifft auch ihre Münchener Produktion namens «s p u r e n». Der grosse Teil der Arbeit sei vor dem 24. Februar entstanden, aber die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine könnten nicht spurlos an ihrer Produktion vorbeigehen. Wie genau sich das im Resultat, das vom 12. bis 18. Mai an der Münchener Biennale gezeigt wird, niederschlagen wird, wisse sie jedoch noch nicht.

 


Polina Korobkova: flashbacks to perform i, UA: 2021: in der Zürcher Hochschule der Künste.


Verloren im Luftschutzbunker

Ihre Produktion «s p u r e n» ist konzeptuell auf jeden Fall so angelegt, dass der Thematisierung des Ukraine-Kriegs nichts im Wege steht. Die Produktion wird in den Kellerräumen der Hochschule für Musik und Theater in München gezeigt. Das Gebäude hat Adolf Hitler als «Führerbau» in den 1930er Jahren errichten lassen und die Kellerräume waren als Luftschutzbunker gedacht. Ab 1943 boten die Kellerräume, in denen «s p u r e n» spielt, jedoch nicht Menschen Schutz, sondern über 600 grösstenteils geraubten Gemälde, die Hitler in seinem «Führermuseum» in Linz ausstellen wollte. Davon sieht man heute jedoch keine Spur mehr. Die Kellerräume sähen, so Korobkova, alle gleich aus und böten äusserlich keinerlei Hinweise auf Zeit, Land oder ihre Geschichte. Nur ein ungutes, klaustrophobisches Gefühl aufgrund des fehlenden Tageslichts und der dicken Kellerluft bekäme man. Man fühle sich sehr verloren da unten.

Korobkova bespielt die Kellerräume mit einem Popsong, dessen Fragmente von fünf Sängerinnen live gesungen werden. Dieser Song klänge wie ein ganz normaler Popsong, auch der Text sei typisch. Doch aufgrund der persönlichen Geschichte dahinter – Korobkova schrieb diesen Popsong, als sie zwölf Jahre alt war – sei das auch sehr persönlich und intim. Durch die Platzierung dieses Popsongs in den vereinheitlichten, klaustrophobischen Kellerräumen entsteht ein starker Kontrast. Ein ganz anderes Setting als ein konventionelles Konzert – sowohl was die Räumlichkeiten, als auch was das Format betrifft. Denn Korobkova bespielt den ganzen Luftschutzbunker. Das Publikum wird durch die Anlage geführt und sitzt nicht auf zugewiesenen Stühlen.

 


Polina Korobkova: anonymous material i, UA 2020: in Apeldoorn (Holland) durch das Orkest De Ereprijs.

 

Unzählige historische Spuren

Zu dem Popsong und den fünf Sängerinnen gesellt sich die Aufnahme einer 36-tönigen Orgel, die durch einen vorprogrammierten Roboter bespielt wird. Diese Orgel namens Arciorgano steht an der Musik Akademie Basel und ist ein Nachbau nach einer Beschreibung des Komponisten und Musiktheoretikers Nicola Vicentino. Er war im 16. Jahrhundert tätig. Vicentino wollte mit dieser Orgel alle Stimmungsprobleme lösen, die damals ausführlich diskutiert wurden: er entwarf eine Art Super-Orgel, die die Idee der “Universalharmonie”, ein wichtiger Bezugspunkt für die Musikphilosophie der Renaissance, mit der immer komplexer werdenden Harmonik vereinen sollte. Vicentino hat also die überbordende Musikpraxis der Zeit mit einem fixen, übergeordneten System zu bändigen versucht. Für Korobkova steht diese Orgel auch für den leicht diktatorischen Versuch, die wild wuchernde Welt der Musik in ein fixes System zu zwängen; daher auch die mechanische Spielweise und die Megafon-Lautsprecher, die an politische Repression egal welcher Couleur erinnern und über die die Orgelaufnahmen abgespielt werden.

Diktatorisch anmutende Megafon-Lausprecher, aus denen die mechanisch klickende Aufnahme einer Super-Orgel aus dem 16. Jahrhundert plärrt; fünf Sängerinnen, die den 08/15-Popsong eines Teenagers singen, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufwuchs; die klaustrophobischen, identitätslosen Kellerräume, in denen vor knapp 80 Jahren die Nazis massenhaft Raubkunst lagerten: In
«s p u r e n» von Polina Korobkova fliessen sehr unterschiedliche historische Zeitschichten zusammen, unzählige Spuren sind darin angelegt. Doch alle kreisen irgendwie um die Problematik von fixen Systemen– seien sie nun musiktheoretischer oder politischer Natur. Und dieses Hinterfragen von fixen Gewissheiten und Systemen ist auch ihr kompositorischer Antrieb. Sie frage sich bei jedem Stück immer und immer wieder, wieso sie eigentlich komponiere und wo ihr Platz in der Kunst- und Musikwelt überhaupt sei.
Jaronas Scheurer

Münchener BiennaleManos Tsangaris, Isabel Mundry, Caspar Johannes WalterMartin SchüttlerNicola Vicentino, Arciorgano,  Arciorgano des Studio 31+Führerbau

Erwähnte Veranstaltungen
Die Münchener Biennale findet vom 7. bis 19. Mai 2022 an verschiedenen Orten in München statt.

«s p u r e n» von Polina Korobkova wird vom 12. bis 18. Mai 2022 im Luftschutzbunker der Hochschule für Theater und Musik an der Arcisstrasse 12 in München aufgeführt.

 

Profile neo-mx3:
Polina Korobkova, Daniel Ott, Isabel Mundry

Offen für Menschen und Musik

Friederike Kenneweg
„Es fällt gerade schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren“, sagt die Pianistin Tamriko Kordzaia, als ich sie Anfang März zu einem Zoom-Gespräch treffe. Wir sind beide erschüttert vom Krieg, der in der Ukraine begonnen hat. Aber für die Georgierin Kordzaia hat das Geschehen noch eine andere Bedeutung. „Ich bin hier natürlich auch gleich auf der Demo gewesen, und das hat gut getan, aber wenn danach alles wieder einfach so weiter geht, fühle ich mich hier auf einmal einsam…“

 

Die Pianistin Tamriko Kordzaia sitzt am Flügel und spielt konzentriert, vor ihr die aufgeschlagenen Noten.
Portrait Tamriko Kordzaia © Lorenzo Pusterla/ Kunstraum Walcheturm

 

Brücken zwischen Georgien und der Schweiz

Und dabei ist Tamriko Kordzaia schon lange als eine Art musikalische Botschafterin zwischen der Schweiz und Georgien unterwegs. Seit 2005 leitet sie das Festival Close Encounters, das sich zur Aufgabe gemacht hat, zeitgenössische Musik beider Länder gemeinsam zur Aufführung zu bringen. Alle zwei Jahre findet das Festival in der Schweiz und in Georgien statt. Dabei geht es Tamriko Kordzaia zum einen darum, die Musik zeitgenössischer Komponist:innen beider Länder gemeinsam zu präsentieren und so Begegnungen zu schaffen. In Georgien geht es aber auch darum, zeitgenössische Musik in ländliche Regionen weit abseits des hauptstädtischen Zentrums zu bringen. „Das ermöglicht allen Beteiligten – Musiker:innen wie Zuhörenden – immer wieder einmalige Erfahrungen“, betont Kordzaia.

In diesem Jahr werden zu Werken von Peter Conradin Zumthor und Cathy van Eck junge georgische Komponist:innen mit neuen Stücken vorgestellt. Und mit Alexandre Kordzaia (*1994) ist auch der Sohn der Pianistin beim Close Encounters Festival vertreten. Er kann selbst als vermittelnder Grenzgänger zwischen der Schweiz und Georgien gelten, aber auch zwischen klassischer und elektronischer Musik. Denn er komponiert nicht nur Kammermusikwerke, sondern ist unter dem Namen KORDZ auch als Clubmusiker bekannt.

 

Engagiert für einen vergessenen Komponisten

Es sind allerdings nicht nur die jungen georgischen Komponist:innen, die Tamriko Kordzaia bekannter machen will. In Zusammenarbeit mit zwei weiteren georgischen Pianistinnen hat sie sich auch der Wiederentdeckung des in Vergessenheit geratenen Komponisten Mikheil Shugliashvili (1941-1996) gewidmet. Im Jahr 2013 brachten die drei Pianistinnen die Grand Chromatic Fantasy (Symphony) von Shugliashvili zur Aufführung und veröffentlichten die erste Aufnahme des beeindruckenden Werks für drei Klaviere auf CD.

 

Ausschnitt einer Aufführung des Stückes Grand Chromatic Fantasy (Symphony) von Mikheil Shugliashvili beim Musikfestival Bern 2020

 

Brücken bauen zwischen Formationen, Epochen und Genres

Tamriko Kordzaia ist als Pianistin in ganz unterschiedlichen musikalischen Formationen aktiv. Sie spielt Soloauftritte, konzertiert im Duo mit Dominik Blum von Steamboat Switzerland oder mit der Cellistin Karolina Öhman, und ist seit 2008 Mitglied des Mondrian Ensembles, das selbst alle möglichen Kombinationen, die ein Klavierquartett ermöglicht, mit seinen Programmen abdeckt.

 

Die vier Musikerinnen des Mondrian Ensembles. Foto: Arturo Fuentes
Tamriko Kordzaia spielt schon seit 2008 im Mondrian Ensemble, zusammen mit Karolina Öhman, Ivana Pristašová und Petra Ackermann. Foto: Arturo Fuentes

 

Und schon lange ist Tamriko Kordzaia nicht nur eine Grenzgängerin zwischen den Ländern und Formationen, sondern auch zwischen den Epochen. Zu Beginn ihrer Karriere in Georgien hatte sie sich zunächst mit ihren Interpretationen von Mozart und Haydn einen Namen gemacht. Als sie aber an der Zürcher Hochschule der Künste ihre Studien fortsetzte, begann ihre Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik. Zum Beispiel mit den Werken des Schweizer Komponisten Christoph Delz (1950-1993), dessen sämtliche Klavierwerke Kordzaia im Jahr 2005 einspielte. Das Mondrian Ensemble, in dem Kordzaia Mitglied ist, hat es sich explizit zur Aufgabe gemacht, in seinen Programmen alte und neue Musik gemeinsam zu spielen und dadurch ungewöhnliche Zusammenhänge hörbar zu machen. Das Ensemble setzt in seinen Programmen auch Konzepte um, in denen Raum, Bühne oder Film eine Rolle spielen, und hat auch keine Berührungsängste bei der Zusammenarbeit mit Vertreter:innen des Jazz oder der Clubmusik.

 

Aufnahme des Mondrian Ensembles von Plod on von Martin Jaggi.

 

Über die lange Zeit, die Tamriko Kordzaia jetzt beim Mondrian Ensemble dabei ist, haben sich feste und regelmäßige Arbeitsbeziehungen ergeben, u.a. mit Komponisten wie Dieter Ammann, Felix Profos, Antoine Chessex, Martin Jaggi, Jannik Giger, Roland Moser und Thomas Wally.

 

sieben sonnengesichter

Ein besonderes Verhältnis hat Tamriko Kordzaia allerdings zur Musik von Klaus Lang, dessen Stücke schon in einige Programme des Mondrian Ensembles Eingang gefunden haben. Als die Corona-Pandemie das Konzertleben jäh zum Stillstand brachte, war es das Stück sieben sonnengesichter von Klaus Lang, mit dem sich Kordzaia, auf sich selbst zurückgeworfen, endlich einmal ausführlicher beschäftigen wollte. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung erschien 2021 auf CD.

 


Video von den CD-Aufnahmen der sieben sonnengesichter von Klaus Lang mit Tamriko Kordzaia am Klavier.

 

Arbeit mit der jungen Generation

Etwas, das Tamriko Kordzaia schon seit ihren Anfängen in der Schweiz begleitet, ist die Arbeit mit jungen Musiker:innen – eine Tätigkeit, die sie heutzutage richtig glücklich macht. An der Zürcher Hochschule der Künste gibt sie Klavierunterricht und hilft den Studierenden, den Weg zur eigenen Stimme bei der Interpretation nicht nur klassischer, sondern auch zeitgenössischer Werke zu finden. Und dort kommt sie auch mit jungen Komponist:innen in Kontakt, denen sie bei der Entwicklung ihrer Stücke beratend zur Seite steht. „Das ist so toll zu sehen, was diese jungen Leute für Ideen haben und wie sie weiter kommen. Das gibt mir immer Sinn und hilft mir weiter zu machen, auch wenn drumherum alles schwierig ist.“
Friederike Kenneweg

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Close Encounters:
Dienstag, 26.4.22 Kunstraum Walcheturm – Favourite Pieces
Donnerstag, 28.4.22 Stanser Musiktage – Georgische Musik mit dem Gori Frauenkammerchor
Freitag, 29.4.22 Feilenhauer Winterthur – Georgische Musik mit dem Gori Frauenkammerchor
Samstag, 30.4.22 GDS.FM Club Sender Zürich – Tbilisi Madness

10 PIECES TO DESTROY ANY PARTY:
Im nächsten Programm des Mondrian Ensembles kommt das gleichnamige Stück von Alexandre Kordzaia zur Uraufführung, eine „Oper ohne Libretto in 6 Sätzen“ für Klavierquartett und Elektronik. Das Stück erzählt die Geschichte von drei Prinzessinnen, die angesichts ihrer Hochzeit anfangen zu zweifeln und schließlich ihr eigenes Fest sabotieren. Dazu kombiniert: Werke von Mauricio Kagel, Cathy van Eck und Bernd Alois Zimmermann.
Dienstag, 3.5.22 Gare du Nord, Basel
Mittwoch, 4.5.22 Kunstraum Walcheturm, Zürich
Donnerstag, 5.5.22 Cinema Sil Plaz, Ilanz

Erwähnte CD-Einspielungen:
Klaus Lang / Tamriko Kordzaia, sieben sonnengesichter: CD domizil records 2021.
Mikheil Shugliashvili/Tamriko Kordzaia, Tamara Chitadze, Nutsa Kasradze, Grand Chromatic Fantasy (Symphony) For Three Pianos: CD, Edition Wandelweiser Records, 2016.
Christoph Delz: Sils „Reliquie“ – 3 Auszüge aus „Istanbul“, CD, guildmusic, 2005.

Klaus Lang, Mikheil Shugliashvili, KORDZ, Christoph Delz

neo-Profile:
Tamriko Kordzaia, Festival Close Encounters, Mondrian Ensemble, Karolina Öhman, Petra Ackermann, Alexandre Kordzaia, Cathy van Eck, Peter Conradin Zumthor, Jannik Giger, Dieter Ammann, Martin Jaggi, Roland Moser, Felix Profos, Antoine Chessex, Zürcher Hochschule der Künste, Musikfestival Bern

Holz, Mund, Ritual – Erzählen am Festival Archipel

Gabrielle Weber
‘Holz, Mund, Ritual, Besitz’. Keine übergreifende Gesamtthematik, sondern einzelne Motive prägen die diesjährige Ausgabe des traditionsreichen Genfer Neue Musik-Festival Archipel. Die künstlerischen Leitenden, Marie Jeanson und Denis Schuler, wollen Geschichten erzählen und unerwartete Begegnungen schaffen. Ein spielerischer, heiterer Zugang und das gemeinsame Erleben stehen dabei im Vordergrund.

Jeanson, Veranstalterin aus der experimentellen und improvisierten Musik, und Schuler, Komponist, kuratierten ihre erste gemeinsame Festivalausgabe 2021. Mitten in der Pandemie online, zwar (erfolg-)reich an Konzerten und Begegnungen von Musikschaffenden, aber ohne Live-Publikum. Dieses Jahr wird nun das Stammhaus des Festivals, die ‘Maison communale de Plainpalais‘, an zehn Tagen rund um die Uhr be-spielt und gleichzeitig zum Ort der Begegnung. Nebst dem umfangreichen Konzertprogramm – mit Composer in residence Clara Jannotta oder einem Fokus Alvin Lucier- gibt es Klanginstallationen, gemeinsame, von Musikschaffenden zubereitete Mahlzeiten, nächtliche salons d’écoute, wo Mitwirkende ihre Lieblingsstücke über Dolby-Surround-System vorstellen, oder Talkrunden und Vermittlungsateliers. Daneben ist ein durchgängiges Festivalradio zu hören und gibt es zahlreiche weitere Veranstaltungen, verteilt über die ganze Stadt.

 

Die Motive ziehen sich dabei als verborgener roter Faden durchs gesamte Festival. Eng in die Festivalkonzeption involviert sind verschiedene Komponierende. Sie spinnen aus den Motiven ihre je eigenen Geschichten. Beispielsweise die Genfer Komponistin Olga Kokcharova. Mit ihr unterhielt ich mich in Genf zu ihrem mehrteiligen Festivalprojekt ‘sculpter la voûte‘ – den Harz formen.

 

Portrait Olga Kokcharova, zVg. Festival Archipel

 

 

“Wir haben die Verbindung zur Umwelt verloren – durch Klang lässt sich diese wiederherstellen”, sagt Olga Kokcharova. Die zarte, fast scheu wirkende Komponistin klangmächtiger Natur-Soundscapes widmet sich in ihrem zentralen Festivalprojekt dem Motiv des Holzes.

Sculpter la voûte basiert auf mehrjährigen Forschungen, in denen sich Kokcharova mit dem Wachstum von Bäumen in Tessiner Wäldern beschäftigte. Dabei nimmt sie sowohl Holz als Klangerzeuger als auch den Wald als Bedingung für menschliche Kultur unter die Lupe.

Im Frühling 2021 zeichnete Kokcharova in einem Naturreservat im Tessin Klänge auf. Da hört man die physiologische Aktivität der Bäume. Das sind fast brutale, rohe Klänge – tiefe Sonoritäten, Knacken. Man spürt, dass da Kräfte im Spiel sind, die weit über das Menschliche hinausgehen”, sagt Kokcharova.

Kokcharova stammt ursprünglich aus Sibirien und wanderte im Alter von 16 Jahren in die Schweiz aus. Sie habe da einen regelrechten Kulturschock erlebt, aber auch einen Inspirationsschub. Denn in Sibirien sei sie von Natur umgeben, fern von Städten aufgewachsen und hätte nichts über die europäische Kultur erfahren.

In Genf studierte sie zunächst Architektur, Design und Bildende Kunst, dann Klavier und Komposition. Klang sei ihr von Anfang an wichtig gewesen. Heute arbeitet sie insbesondere mit Klängen aus der Natur, mit field recordings, und integriert diese in Konzertkompositionen, in Installationen, Soundwalks, Klangperformances oder auch in Filmmusik, für Festivals und Institutionen im In- und Ausland.

 


Olga Kokcharova und Antoine Läng, Venera, 2018

 

Kokcharova geht es in ihren Arbeiten immer um grössere Zusammenhänge, um die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Umwelt.

 

Knacken von Bäumen beim Wachstum – rohe, brutale Klänge

 

In der Uraufführung von Sculpter la voûte– ‘altération’ (Veränderung) für verstärktes Lautsprecherdispositiv, einer Auftragskomposition des Festivals und gleichzeitig dem ersten Teil ihres Projekts, führt sie die im Tessin aufgenommenen Klänge in einem Lautsprecherorchester zusammen. Realitätsnah verräumlicht wird der Waldklang dabei durch ein Ambisoniksystem, einen raumumspannenden ‘Dom an Lautsprechern’, erstellt in Zusammenarbeit mit der ZHdK Zürich. Dieses wird am Festival auch für andere Konzerte eingesetzt, bspw. für die Schweizer Erstaufführung von Luis Naóns Streichquartett mit électronique ambisonique, aufgeführt durch das Quatuor Diotima am Vorabend.

Kokcharova ergänzt diese ambisonics hingegen durch ein Akusmonium, ein System aus zusätzlichen Lautsprechern, wodurch sie den Klang mit ‘altérations’ stark verfremdet.

“Es ist, wie wenn ich den Wald auferstehen lasse. Man ist direkt in Kontakt mit dem Klang des Lebens, das ihn bevölkert: man fühlt sich mittendrin.”

 

Der Wald ist für Kokcharova kein Ort der Erholung, sondern im Gegenteil ein Ort der höchsten Konzentration, ein Ort, der die Verbindung schafft zu Dingen, die wir nicht verstehen. Darauf macht sie durch die Verfremdungen in ihrem Stück aufmerksam.

 


Olga Kokcharova, Mixotricha Paradoxa – part II, 2019

 

 

Performance installatique et sensorielle

 

Als Performance installatique et sensorielle betitelt Kokcharova den zweiten Teil von Sculpter la voûte –  ‘auscultation‘ (Auskultivierung), eine Zusammenarbeit mit dem Ensemble Contrechamps Genève. Kokcharova zeichnet in ihrer Installation den Klangweg des Holzes nach: vom lebenden Baum, der durch die Zirkulation des Safts in Schwingung versetzt wird, bis hin zum Tonholz, das in den Händen des Geigenbauers zum Instrument wird und dann gemeinsam mit dem Körper eines Musikers vibriert. Und das spürbar, im wahrsten Sinne des Wortes. Je eine ‘Musiker:in des Genfer Ensemble Contrechamps spielt jeweils für eine einzelne Zuhörer:in. Diese:r kann dabei das Instrument ertasten, seinem Klang und seiner Vibration nachspüren, und so ihre je eigene expérience vibratoire erleben.

 

 

Pour entendre le son on a besoin de la matière..

 

Klang, das ist Vibration: das ist unsere Verbindung zur Welt, meint Kokcharova. Und um Klang zu hören, brauche es Materie, bspw. Holz: diese Verbindung schafft für Kokcharova auch einen grösseren Zusammenhang, der uns im Verborgenen präge: «Wenn man über die Menschheitgeschichte spricht, geht es immer um den Menschen mit Werkzeugen und Tieren. Pflanzen werden nicht erwähnt – aber ohne die Pflanzen wäre der Mensch nichts”. Ihr gehe es darum auf zu zeigen, wie andere Lebensformen -in diesem Falle die Bäume-  alle Facetten unseres Lebens, und auch unsere kulturelle Produktion beeinflussen.

Mensch und Natur stehen seit jeher in Beziehung, sagt Kokcharova. Und so erzählt sie in ihrem Festivalprojekt eine etwas andere, sehr persönliche Geschichte vom Holz und vom Menschen.
Gabrielle Weber

 

Olga Kokcharova, Lutherie Guidetti, Locarno

 

Festival Archipel Genève: 1.-10.April Genf

Clara Ianotta, italienische Komponistin ist artist en residence und am gesamten Festival anwesend.

Alvin Lucier, dem 2021 verstorbenen US-Elektropionier ist eine Hommage mit drei Performance-Installationen gewidmet.

Antoine LängQuatuor Diotima, Denis Schuler, Marie Jeanson

 

Erwähnte Veranstaltungen:
Samstag, 2.4.: UA Olga Kokcharova ‘Sculpter la voûtealtération’, und’Mycenae Alpha‘ von Iannis Xenakis (1978), zu Ehren von dessen 100jährigem Geburtstag, Olga Kokcharova am’système ambisonique‘.

3.-10.April: Olga Koksharova: Sculpter la voûte –  ‘auscultation‘:

Samstag, 9.4., 14h: Gespräch ‘arbre, bois, vibration, transmission‘ mit Ernst Zürcher, Schriftsteller, und Christian Guidetti, Laute.

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
in: Musikmagazin, Sa, 2.4.22, 10h /So, 3.4.20h, von Benjamin Herzog: Café mit Olga Kokcharova, Redaktion Gabrielle Weber
Musik unserer Zeit, Mi, 22.6.22, 20h/Sa, 25.6.22, 21h: Erzählen am Festival Archipel Genève 2022, Redaktion Gabrielle Weber

Profile neo-mx3:
Festival Archipel, Olga Kokcharova, Contrechamps, Luis Naon

Ohne Ohrwürmer! Festival ear we are

Cécile Olshausen
Es ist ein mutiges Festival. Ein innovatives. Ein Festival für neue Hörerfahrungen jenseits des Mainstreams, das ear we are. 1999 in Biel gegründet als Bühne für die freie Improvisation, ist es heute zum international beachteten Festival für Jetzt-Musik geworden. Das Publikum dankt es dem risikofreudigen Festival-Kuratorium und erscheint jeweils zahlreich in der Alten Juragarage am Rande der Bieler Altstadt. Es kommt mit offenen Ohren und der Lust, Unbekanntes zu entdecken: ear we are!

 

Christine Abdelnour & Magda Mayas treten am Festival ear we are 2022 auf ©zVg Festival ear we are

 

Das Festival ear we are ist wie ein gut sortierter Buchladen, wo man – nebst den Bestsellern – Literatur von unbekannten Schriftstellerinnen und Dichtern vorfindet und sich genau diese Lektüre mitnimmt in vollem Vertrauen auf die kluge Vorauswahl der Buchhändlerin. So bringt auch das Kuratorium von ear we are alle zwei Jahre Musikerinnen und Musiker nach Biel, die manchmal bekannte Cracks, oft aber auch Geheimtipps sind. Die vier künstlerischen Leiter des Festivals sind Martin Schütz, Hans Koch, Christian Müller und Gaudenz Badrutt; alle vier ausgewiesene Künstler der freien Improvisation, die dieses Genre in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit ihren eigenen Interventionen weiterentwickelt und in die Zukunft geführt haben.

 

Martin Schütz, Cellist und einer der Co-Kuratoren des Festivals: Solo, live Dezember 2019, zVg. Martin Schütz

 

Ihre Programmarbeit für das Festival ear we are ist ein wesentlicher und wertvoller Prozess: da wird viel Musik zusammen angehört, diskutiert, verworfen, neu bewertet. Das Kuratorium sucht nach kreativen Musikerinnen und Musikern, die Wagnisse eingehen, mit dem Risiko spielen, die im besten Sinne des Wortes improvisieren, also nicht immer schon im Voraus genau wissen, wohin sie der eingeschlagene Weg, die einmal angeschlagenen Töne führen werden. Solchen Kunstschaffenden bietet ear we are einen kreativen Raum. Und so wird jeweils während dreier Tage über musikalische Stilgrenzen hinweg experimentiert und laboriert. In einem dafür passenden Ort: nämlich einer Fabrikhalle, die extra für das Festival leergeräumt wird, die Alte Juragarage, erbaut 1928 im Bauhausstil. Ein spezieller Ort für spezielle Musik. Für Improvisation, aber auch für Konzept-Musik und Komposition. Eben: für Jetzt-Musik.

 

Es ist durchaus kein Zufall, dass ein solch innovatives Musik-Festival so erfolgreich in Biel gedeihen konnte. Denn in Biel ist die Szene der freien Improvisation besonders lebendig. Überhaupt hat die sogenannte «Freie Improvisation» in der Schweiz eine lange Tradition. Es war Anfang der 70er-Jahre, als sich eine ganze Reihe junger Musikerinnen und Musiker eine neue Musik erfand. Jene, die vom Jazz herkamen, wollten nicht mehr Standards und Grooves spielen und sogar der Free Jazz war ihnen ein zu enges Korsett; und jene, die von der Klassik herkamen, wollten nicht mehr akkurat notierte Partituren voller Geräusche und Spezialeffekte stundenlang einüben und nachspielen, sondern sie wollten selbst erfinderisch werden. So entstand die frei improvisierte Musik, und sie entwickelte sich in keinem Land so schnell wie in der Schweiz. Es gab Subventionen und neue Festivals, die Musikschaffenden organisierten sich, und bald schon wurden sie zu grossen internationalen Festivals eingeladen. Längst ist die freie Improvisation auch Teil des institutionellen Ausbildungsprogramms der Musikhochschulen geworden.

 

Improvisation – kollektiv geprägte Kunst

Die freie Improvisation ist eine kollektiv geprägte Kunst; man spielt zusammen, die gemeinsamen Auftritte sind nicht nur musikalische, sondern auch soziale Begegnungen, man gibt aufeinander acht, leiht sich ein Ohr. Diese Kunst des Aufeinander-Hörens ist durchaus ein Qualitätskriterium: Wer nicht hören kann, was die andern spielen oder singen, wer ausschliesslich seine eigene Partitur im Kopf verfolgt, erweist sich letztlich als schlechter Improvisator. Aus all diesen musikalisch-ästhetischen und psychosozialen Prämissen ist ein spezifisches Musikgenre entstanden, das sich durchaus beschreiben lässt: Musikalische Bögen aus dem Nichts ins Nichts, eruptive Momente, das Vermeiden von «normalem» Singen oder Spielen, dafür viele Geräusche, die aus der Stimme heraus erforscht und an den Instrumenten erfunden werden, überraschende Spielmittel wie Stricknadeln, Bürsten oder Drähte, oft auch zahlreiche elektronische Hilfsmittel; und vor allem: die Musik wird aus dem Moment heraus entwickelt, nichts ist vorgeschrieben. Und doch sind dies alles Abmachungen, die natürlich auch eingeübt, gelehrt und gelernt werden. Das kann dazu führen, dass die beabsichtigten Neuerungen und Aufbrüche der improvisierten Musik manchmal etwas vorhersehbar werden und sich die freie Improvisation in ihrer eigenen Freiheit begrenzt.

Doch in der Uhrenstadt Biel werden die Zeiger immer wieder auf Jetztzeit gestellt, auch in der freien Improvisation. Dazu trägt das Festival ear we are viel bei, nicht zuletzt, weil es Musikschaffende aus der ganzen Welt einlädt, die ihre spezifischen Erfahrungen und Hintergründe mit einbringen. Gerade die Ausgabe von 2022, die eigentlich letztes Jahr hätte stattfinden sollen und wegen Corona verschoben wurde, zeigt deutlich, wie sehr sich die Genre-Grenzen auflösen und individuell geprägte Fragestellungen und Experimente im Zentrum stehen.

Da ist zum Beispiel die Schweizer Vokalistin Dorothea Schürch: Ihre Stimme ist ihr Mittelpunkt, ihr Klanglabor, ihr Forschungswerkzeug; dabei kreiert sie ihre Soundlandschaften ganz ohne elektronische Transformationen. Über Stimmexperimente der 1950er Jahre hat sie jüngst eine Dissertation geschrieben.

 


Ensemble 6ix mit Dorothea Schürch, Improvisationen zu Dieter Roth, Kunsthaus Zug 27.11.2014, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Auch die britische Trompeterin, Flügelhornistin und Komponistin Charlotte Keeffe fokussiert auf ihr Instrument. Sie beobachtet fasziniert, wie Maler ihr Werk auf der Leinwand kreieren. So erkundet auch sie in ihren pointierten Improvisationen Farben und Formen und versteht ihr Instrument als eine Art „Klangpinsel“. Oder da sind die betörenden Töne des Australiers Oren Ambarchi zu entdecken. Der in Sydney geborene Musiker, ursprünglich brillanter Schlagzeuger in Freejazz-Bands, hinterfragt die sogenannt professionelle «Beherrschung» eines Instruments: Ohne je eine Unterrichtsstunde genossen zu haben, nimmt er sich die Freiheit und entfaltet auf der Gitarre mit diversen Utensilien seine surreale Musikwelt. Und die amerikanische Dichterin, Musikerin, Künstlerin und Aktivistin Moor Mother setzt eurozentristischen Traditionen, afroamerikanische Kultur und gesellschaftskritischen Rap entgegen: Da werden ganz konkrete politische Positionen laut, die so explizit in der freien Improvisation selten zu hören sind.
Also: Ohren auf für ear we are 2022!
Cécile Olshausen

 

Zu erleben am ear we are 2022: die amerikanische Dichterin, Musikerin, Künstlerin und Aktivistin Moor Mother

 

Das aktuelle Programm von earweare, 3.-5.2.22, kann sich coronabedingt kurzfristig ändern.

Hans Koch, Christian Müller, Gaudenz Badrutt, Charlotte Keeffe, Oren Ambarchi, Moor Mother

 

Sendung SRF2 Kultur:
Musik unserer Zeit / Neue Musik im Konzert 2.3.2022:
Ohne Ohrwürmer! Das Bieler Festival earweare, Redaktion Cécile Olshausen

Musik unserer Zeit, 13.10.2021: Vinyl – Hype, Retro Kult, Gespräch mit Oren Ambarchy, Redaktion Gabrielle Weber

neo-Profile:
Martin Schütz, Dorothea Schürch, Florian Stoffner

 

 

 

Portrait unserer Zeit

Vortex – der Wirbel im Innern des Hurrikans, der übermächtige Strudel, dem man nicht entkommt. Der Name ist Programm: Aufwirbeln und Neumischen – darum geht es dem Genfer Ensemble für Neue Musik Vortex.

In Genf, in der Romandie und im Ausland ist das Ensemble Vortex eine feste Grösse – in der deutschen Schweiz trat es noch kaum auf. Zu seinem Saisonauftakt ist es nun zu Gast in der Gare du Nord in Basel, im Rahmen des Focus Romandie, dem Schwerpunkt zur französischsprachigen Schweiz.

Mit Daniel Zea, Komponist, Co-Gründer und -Leiter unterhielt ich mich zu Selbstverständnis und Ausrichtung des Ensembles und zur kommenden Saison.

 

Portrait Daniel Zea © zVg Daniel Zea

 

Am Anfang stand das gemeinsame Interesse, Schnittstellen auszuloten: zu Improvisation, Jazz, Tanz, Theater, Installation, Radiophonie und visuellen Künsten. “Uns verband die Neugier auf Experiment und die Faszination an Neuem”, sagt Daniel Zea. Und so schloss sich eine Handvoll Absolvent:innen der Genfer Musikhochschule zum Ensemble zusammen, um genau das auszuprobieren. Das war im Jahr 2005. Und immer sollte Elektroakustik dabei sein. “Das war damals noch gar nicht selbstverständlich”, meint Zea.

Sie stammen aus der Schweiz, Europa und Südamerika und die meisten sind bis heute dabei. Nebst Zea – er wuchs in Kolumbien auf, bevor es ihn fürs Studium nach Genf verschlug – sind da bspw. die Komponisten Fernando Garnero, Arturo Corrales und John Menoud oder die Interpret:innen Anne Gillot und Mauricio Carrasco. “Wir waren alle noch im Konservatorium und ganz jung: wir wollten unsere und die Stücke von anderen jungen Komponist:innen hören und spielen. Wir wollten sie möglichst frei erarbeiten, gemeinsam mit den Interpret:innen”, sagt Zea. Die Mitglieder – zirka zehn bilden den festen Kern – nehmen dabei oft beide Rollen ein.

Vortex führt ausschliesslich neue Stücke auf, die es fürs Ensemble in Auftrag gibt, uraufführt und anschliessend ins Repertoire aufnimmt. Insgesamt sind so bereits an die 150 neue Werke zusammengekommen. Und damit auch ein grosser Kreis an Komponierenden.

Ein wichtiger Wegbereiter war der Genfer Komponist und Dozent Eric Gaudibert: Er unterstützte die Ensemblegründung und stand dem jungen Ensemble bis zu seinem Tod 2012 zur Seite. “Eric Gaudibert war eine wichtige Persönlichkeit für die Neue Musik-Szene der französischen Schweiz und für Vortex. Er war unglaublich vernetzt: er inspirierte und beriet uns und ermöglichte Vieles” sagt Zea. Zum Abschluss der Saison veranstaltet Vortex deshalb ein Minifestival in Genf in Gedenken an seinen 10jährigen Todestag. Es findet im Dezember statt. Ungleich anderer Akteure orientieren sich die Vortex-Saisons am Kalenderjahr.

Eric Gaudibert, Gong pour pianofort concertante et ensemble, Lemanic Modern Ensemble, Dir. William Blank,  2011/12, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Immer haben sie einen thematischen Schwerpunkt. In der nun bereits 17. Spielzeit mit dem Motto ‘Resonance comes between notes and noise’ geht es um die Gesellschaft nach der Pandemie. Diese habe die Parameter unseres Umgangs miteinander neu gemischt und vieles ins Digitale verlagert. Unsere Zeit stehe unter einem hohen Druck, und den wollten sie zum Ausdruck bringen, sagt Zea.

Exemplarisch stehen dafür zum Saisonauftakt die zwei in Basel gezeigten Stücke: The Love letters? von Zea (UA 2019), und Fabulae von Fernando Garnero (UA 2016). “Beide Stücke spiegeln die heutige Gesellschaft auf unterschiedliche Weise – zusammen bilden sie ein Portrait unserer Zeit”, meint Zea.

 

“Inszenierung der Schwächung des Menschen durch Technologie”

 

In The Love letters? sitzen sich zwei Performer – ein Mann und eine Frau – gegenüber, beide am Computer. Bewegungen, Mimik und Blicke werden aufgezeichnet und auf Videogrossleinwand gezeigt – live, verzögert, überlagert, verfremdet – und übersetzt in elektronische Musik und Text.

 

Daniel Zea: The Love Letters?, Ensemble Vortex: Anne Gillot, Mauricio Carrasco, UA 2019

 

Zea befragt im Stück das Kommunizieren im digitalen Raum mittels Gesichtserkennung. In Suchmaschinen, Smartphones, Social Media oder staatlicher Überwachung kommt sie durch Algorithmen zum Einsatz, meist ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Der Titel trägt ein Fragezeichen: Ist das Aufgezeichnete/Gezeigte nun das Echte oder sind es die echten Akteure auf der Bühne? Können Gefühle, die wir über digitale Geräte austauschen, ‘echt’ sein?

Love Letters? ist ein Liebesdialog der zeigt, wie absurd heutiges Kommunizieren über den Umweg digitaler Tools ist. Soziale Medien ermächtigen sich unser: es ist eine Inszenierung der Schwächung des Menschen durch Technologie”, so Zea.

Für Zea hat das Stück, das bereits 2018 entstand, fast etwas Prophetisches: In der Pandemie habe die Thematik eine grössere Relevanz erhalten, da digitales Kommunizieren omnipräsent wurde.

 

Vermeintlich Vertrautes verfremden

 

Auch Fabulae von Fernando Garnera verfremdet vermeintlich Vertrautes durch zusätzliche Blickwinkel. Video, Elektronik und Zusatztexte ergänzen das bekannte Grimmsche Märchen Cinderella um weitere Erzählebenen und entlarven überkommene Moralvorstellungen. So wird es in eine bizarre digital transformierte Gegenwarts-Zukunft versetzt.

“Dahinter lauert eine versteckte Kritik an der heutigen kapitalistischen Gesellschaft, die sich durch die Pandemie noch verschärfte”, sagt Zea.

 

Fernando Garnero, Fabulae, Ensemble Vortex, UA 2016

 

Einen radikal anderen Zugang auf unsere Gesellschaft vermittelt das nächste Projekt der Saison: Suma, eine Kollaboration mit dem Ensemble Garage aus Köln. Als Ausgangslage habe die Frage gestanden, wie Musik heute anders gemacht werden könne, gemeinsam und gegenwärtig, nachdem das Zusammenarbeiten über Distanzen zur Gewohnheit geworden sei. Das Resultat sei eine Art von Antwort auf die Pandemie, sagt Zea. “Wir kreieren im Kollektiv ein gemeinsames zeitgenössisches Ritual, durch das die Musik wieder ihre Verbindung zum ‘Heiligen’, zur Natur findet, basierend auf Erinnerung, Ritual und Schamanismus. Damit hinterfragen wir die Rolle von Technologie und Kommunikation heute”.

 

Composer’s next generation

 

Vortex widmet sich auch regelmässig der kommenden Generation – nicht zuletzt, um selbst ‘jung’ zu bleiben. Im biennalen interdisziplinären Laboratorium Composer’s next generation betreibt Vortex regelrechte Nachwuchsförderung. 2021 fand es bereits zum vierten Mal statt: auf einen Call for projects werden jeweils fünf junge Komponierende oder Klangkünstler:innen ausgewählt. Mit ihnen arbeitet Vortex dann eine Saison lang eng zusammen, gefolgt von einer Carte blanche am Neue Musik-Festival Archipel Genève und Folgeaufträgen u.a. im l’Abri, dem Ort für visuelle- und Klang-Kunst mitten in Genf. Damit bindet Vortex die Teilnehmenden weiter ans Ensemble und an die Genfer Szene. “Teilnehmer:innen waren bspw. Chloé Bieri, Barblina Meierhans oder Helga Arias – alle waren damals noch recht am Anfang, alle sind nun international unterwegs und weiterhin eng mit Vortex verbunden”, so Zea.

 

Ensemble Vortex / Composer’s next generation

 

Vortex wirbelt auf und mischt neu – auch die Genfer Neue Musik-Szene: die meisten Akteure der Romandie sind mittlerweile durch gemeinsame Projekte mit dem Ensemble assoziiert. Und natürlich haben sich die Vortexianer:innen inzwischen auch einzeln im In- und Ausland einen Namen gemacht.
Gabrielle Weber
Ensemble VortexDaniel Zea, Chloé Bieri, Anne Gillot, Mauricio Carrasco, Ensemble Garage, Festival Archipel, L’Abri, Festival acht Brücken Köln

 

Konzerte Ensemble Vortex:
23.2.22, 20h, Gare du Nord Basel: The Love letters? / Fabulae, im Anschluss Gespräch mit den Mitwirkenden

Suma: Ensemble Vortex & Ensemble Garage:
6.4.22 Archipel; 2.5.22 Köln: Festival acht Brücken

remember Eric Gaudibert – Mini-Festival: 10./17.Dezember 22, Genf

neo-Profile:
Daniel Zea, Ensemble Vortex, Eric Gaudibert, Arturo Corrales, Fernando Garnero, John Menoud, Barblina Meierhans, Helga Arias, William Blank, Lemanic Modern Ensemble

Melancholische Eleganz – Wolfgang Rihm schreibt für Sol Gabetta

Concerto en Sol – so heisst das neue Cellokonzert des Grossmeisters Wolfgang Rihm. Ab dem 20. Januar ist es auf Uraufführungstournee mit dem Kammerorchester Basel zu erleben. ‘Sol‘ steht dabei nicht nur für die Tonart, sondern ist zugleich Inbegriff für die Widmungsträgerin, die Ausnahmecellistin Sol Gabetta.
Im Gespräch mit Gabrielle Weber gibt Wolfgang Rihm Auskunft zum Hintergrund, zum speziellen Lebensabschnitt, in dem das Stück entstand, aber auch zu Inspiration und Interpretation seiner Werke.

 

Wolfgang Rihm Portrait ©Wolfgang Rihm

 

Gabrielle Weber
Herr Rihm, anfangs 2019 erhielten Sie den Autorenpreis für Ihr ‘Lebenswerk’. Ihr Schaffensrausch hält an. Sie sind (heute) ein sehr gefragter Komponist, werden mit Preisen überhäuft und können sich vor Aufträgen und Anfragen kaum retten: Was braucht es, um Sie für einen Kompositionsauftrag zu gewinnen, wie kam es zum neuen Werk für das Kammerorchester Basel?
Vor über fünf Jahren liess Sol Gabetta bei mir anfragen, ob ich ein Konzertwerk für sie schreiben wolle. Ich freute mich sehr darüber und machte mich an die Arbeit. Meine schwere Erkrankung kam dazwischen und die Skizzen blieben liegen. Als ich 2017 wieder auftauchte, versuchte ich alsbald an dem Stück weiter zu arbeiten. Das gelang relativ gut und ich hatte grosse Freude an der Arbeit, die ich noch im Jahr 2017 abschliessen konnte.

Was ist die Grundidee des Stücks?
Das Stück ist ganz auf die Widmungsträgerin bezogen, deren melancholische Eleganz und kraftvolle Linienführung ich sehr schätze. Ich wollte von Anfang an kein schweres Geschütz auffahren, sondern im Bereich von Durchsichtigkeit und nicht nach aussen gekehrter Beweglichkeit mich aufhalten. Am liebsten war mir der Gedanke, dass sich alles aus einer Gesanglichkeit heraus entwickelt – aber das ist ja ein Gedanke, dem fast alle meine Konzertwerke verpflichtet sind.

 

Inspiration – eine Art des Begeistertseins

Von Ihnen stammt die Aussage: ‘Inspiration ist das Einzige, was ein Künstler besitzt – es geht darum, die Inspiration in die Tat umzusetzen’: Was bedeutet für Sie ‘Inspiration’?
Inspiration? Vielleicht ist das eine Art des Begeistertseins? Ich spüre das dann daran, dass von allen beteiligten Entscheidungen immer viele andere Wege ausgehen können, die dorthin führen, wo ich mit meinen Gedanken noch gar nicht hinwollte. Mein Rat: wenn ein Künstler “konsequent” sein will, sollte er nicht inspiriert sein wollen – das würde nur verwirren. Aber da ich begabt für Verwirrung bin…

 


Wolfgang Rihm, Sub-Kontur. Für Orchester (1975), Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leiter Sylvain Cambreling, Lucerne Festival, KKL, 3.September 2022.

 

 

Den Solopart schreiben Sie der Argentinisch-Schweizerischen Cellistin Sol Gabetta auf den Leib. Gabettas Spielweise zeichnet Temperament und Innigkeit aus. Sie meint selbst dazu, dass sie fast auf dem Cello tanze, und innerlich beim Spielen singe: (Wie) lassen Sie sich von einer charakteristischen Interpretin wie Sol Gabetta inspirieren?
Ich versuche mir vorzustellen, wie die Interpretin oder der Interpret wohl mit meinen Noten umgeht – ansonsten schreibe ich, was ich mir als Musik vorstelle.

 

 


Wolfgang Rihm Marsyas, Rhapsodie für Trompete mit Schlagzeug und Orchester (1998-99), Lucerne Festival Academy, Reinhold Friedrich, Trompete, Robyn Schulkowsky, Schlagzeug, Leitung: George Benjamin, Lucerne Festival, KKL, 1.September 2019.

 

Von ihren Interpreten verlangen Sie meist ‘das Äusserste’, wodurch Dinge gewagt werden, die vor der gemeinsamen Arbeit unvorstellbar waren- wie holen Sie ein solch ‘verstecktes’ Potential aus den Interpreten heraus?
Das müssen Sie die Interpreten fragen… Ich denke: das Wichtigste ist, dass es überhaupt etwas zu interpretieren gibt, dass also eine Fülle von Möglichkeiten sich auftut, mit denen selbst der Komponist nicht gerechnet hat. Interpretation ist das Gegenteil von ‘Execution’. Die beste Interpretation ist wohl die, die viel Unabsehbares offenlässt und die uns, die Hörer, nicht zustopft mit scheinbaren Gewissheiten.

 

 


Wolfgang Rihm, Dis-Kontur für grosses Orchester (1974/1984), UA Lucerne Festival, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leitung Riccardo Chailly, KKL, 8.September 2019.

 

Melancholie – ja. Aber eben nicht allzu viel Schwärze

Jedes neue Werk bringt also auch für Sie etwas Unerwartetes mit sich: wurden Sie beim Komponieren von ‘Concerto en Sol’ selbst überrascht?
Ich hoffe, dass das Stück wie ein natürlicher Fluss sich entwickelt. Als würde ein Ereignis wie von selbst aus dem Zusammenhang sich ergeben und ein nächstes Ereignis hervorrufen.
Was mich überraschte: dass ich nach der langen Krankheitserfahrung vor drei Jahren das Stück in einer relativen Leichtigkeit halten konnte. Melancholie – ja. Aber eben nicht allzu viel Schwärze.

 

Sol Gabetta © Julia Wesely

 

Was dürfen wir klanglich erwarten, worauf dürfen wir uns speziell freuen?
Dass eine Art des ungezwungenen – unspektakulären Gelingens möglich sein kann…
Interview Gabrielle Weber

Das Programm stellt Igor Strawinskys 1947 für Paul Sacher komponiertes Concerto in Re, ein Auftragswerk des KOB zum 20Jahr-Jubiläum des Orchesters, Wolfgang Rihms Concerto en Sol gegenüber. Dazu kommt Felix Mendelssohns ‘schottische’ Sinfonie.

Das Konzert in Genf wird von RTS aufgezeichnet, Concerto en Sol für Sol Gabetta steht auf neo.mx3 in ganzer Länge zeitlich unbeschränkt zum Nachhören zur Verfügung.

Vollständiges Konzertprogramm:
Concerto für Sol, Kammerorchester Basel, Leitung Sylvain Cambreling
Igor Strawinsky, Concerto in Re für Paul Sacher, UA KOB 1947
Wolfgang Rihm, Concerto en Sol für Sol Gabetta, Auftragswerk KOB, UA
Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 3 a-moll Op. 56 (‘Schottische‘)

Konzerte
Montag, 20.Januar 2020, 20h: Genf, Victoria Hall
Dienstag, 21.Januar 2020, 19:30h: Zürich, Tonhalle Maag
Mittwoch, 22.Januar 2020, 19:30h: Bern, Kultur Casino
Donnerstag, 23.Januar 2020, 19:30h: Basel, Martinskirche
Freitag, 24.Januar 2020, 20:30h: Grenoble | F, MC2: Auditorium
Sonntag, 26.Januar 2020, 20h: Freiburg | D, Konzerthaus

Sendungen SRG:
21.1.2020: Kritik UA Genf in Kultur kompakt
22.1.2020, 22h: SRF Kulturplatz
25.1.2020, 10h / 26.1., 20h: Musikmagazin, Café mit Sol Gabetta
30.1.2020, 20h: RTS Espace deux: Le concert du jeudi
20.2.2020, 20h: SRF 2 Kultur: Im Konzertsaal

neo-profiles:
Kammerorchester Basel, Lucerne Festival Academy, Lucerne Festival Alumni, Sol Gabetta, Wolfgang Rihm

Reibung erzeugt Wärme – Marianthi Papalexandri-Alexandri am Festival “ZeitRäume Basel”, 13.-22. September 2019

Marianthi Papalexandri-Alexandri

Theresa Beyer
Im Hof des Basler Kunstmuseums zeigt das Festival «ZeitRäume» eine begeh- und bespielbare Klangskulptur. Mit ihrem geheimnisvollen Röhren-Instrument «Untitled VII» leistet die Komponistin und Klangkünstlerin Marianthi Papalexandri-Alexandri ihren Beitrag zur grossen Gemeinschaftsarbeit. Ein Besuch in ihrem Atelier in Wald im Zürcher Oberland.

Früher wurden in diesen grossen, hellen Fabrikräumen Textilien gewebt. Heute wohnen und arbeiten hier Marianthi Papalexandri-Alexandri und der kinetische Künstler Pe Lang. Ihr Loft ist ein Laboratorium voller Maschinen, Elektronik und mechanischen Objekten.

Hinten auf einer Werkbank legt Pe Lang einen Kippschalter um: auf einer schwarzen Pappe beginnt sich eine Scheibe zu drehen, Marianthi holt verschieden grosse Stricknadeln hervor und steckt sie in die Pappe. Mit dieser Geste wird das Objekt zum Instrument: Immer wenn die kleinen Schläuche, die von der Scheibe abstehen, die Nadeln streifen, erklingen feine Glockentöne. Zum Werk «Resonators» wächst das Ganze an, wenn mehrere Performer*innen an mehreren Maschinen nach einem bestimmten Muster Nadeln in die Pappe stecken. Die Konzeption solcher Klang-Settings ist der Kern von Marianthis und Pe Langs Arbeit.


Marianthi Papalexandri-Alexandri und Pe Lang: Modular No.3

Langwierige Materialforschung

Hinter jedem Detail dieser Klangobjekte stecken unzählige Materialtests – auch bei «Untitled VII», das am Zeiträume Festival von der grossen Klangskulptur «Rohrwerk/Fabrique Sonore» einverleibt wird. Im Atelier zeigt Pe Lang den Prototyp: «Die 24 Röhren des Klangkörpers sind aus durchsichtigem Acryl, ein Material, das einen warmen Klang ermöglicht. Jede Röhre ist mit einer TPE Folie überzogen, durch die wir eine Nylonschnur gespannt haben. Und die Rädchen aus Baumwollhartgewebe vorne an den kleinen Elektromotoren sind mit einer Art Kolophonium bestrichen. Durch die erhöhte Reibung wird der Ton erzeugt».

Visualisierung Rohrwerk Fabrique sonore© Made in

Pe Lang knipst die kleinen Motoren des Röhren-Instruments an und ein durchgehender Ton entsteht: komplex, organisch und schön – eine eigenständige Klangskulptur mit Potenzial zu einer Komposition. Um diese zu entfalten, schlüpft Pe Lang in die Rolle des Performers: langsam verändert er die Geschwindigkeiten der Motoren, die Spannung der Nylonschnur und die Position der Klammern, die daran befestigt sind. Der Klang reagiert sofort – mal erinnert er an einen modularen Synthesizer, mal an eine obertonreiche Orgel, mal an die mäandernden Drones von Eliane Radigue oder La Monte Young.

Die Behutsamkeit, mit der dieses Instrument gespielt werden muss, vergleicht Marianthi mit einer japanischen Teezeremonie: «Obwohl hinter jeder Geste grösste Berechnung steckt, wirkt es nach aussen mühelos und leicht. Alle Bewegung folgen einem natürlichen Flow.»

Marianthi Papalexandri-Alexandri: Untitled II (Vorläufer von Untitled VII)

Der Charme des Unperfekten

Im Klangflow von „Untitled II“ mischt noch etwas mit: das Material an sich. „Die Spannung der Membran lässt mit der Zeit nach, das Kolophonium reibt sich ab und die Motoren eiern leicht“, sagt Pe Lang, «Diese Ungenauigkeiten haben wir bewusst eingebaut.» Das Röhren-Instrument, das vorgibt clean, minimalistisch und kontrollierbar zu sein, ist eben gerade keine perfekte Maschine.

Auch deswegen bewegen sich die Klangskulpturen und Kompositionen von Marianthi und Pe Lang immer in einem Zwischenraum. Zwischen genau und ungenau. Zwischen Objekt und Performance. Zwischen mechanisch und elektronisch. Und wenn sie das Atelier in Wald verlassen, landen sie irgendwo zwischen Galerie und Konzertsaal.

Aber wer komponiert hier eigentlich: Die Komponistin, der Performer, oder das Instrument selbst? Genau diese Kategorien versucht Marianthi mit ihren Klangskulpturen aufzulösen. «Ich will Komponist*in, Performer*in und Instrument auf Augenhöhe bringen und so auch Autorschaft hinterfragen». Wer da also genau am Werk ist, hängt immer von der Perspektive ab.
Theresa Beyer

Marianthi Paplexandri-Alexandri: Untitled VI

Die diesjährige Festivalausgabe von «Zeiträume – Biennale für neue Musik und Architektur» in Basel ist mit 30 Projekten die bisher grösste. Vom 15. bis 21. September ist im Innenhof des Kunstmuseum der 45 Meter hohe Klangturm «Rohrwerk/Fabrique sonore» zu erleben. Marianthi Papalexandri-Alexandri ist eine von sechs Komponist*innen und vier Musiker*innen, die diese Mischung aus Pavillon und Musikinstrument zum Klingen bringt.

Am 20. September findet am Festival Zeiträume zudem die Übergabe des diesjährigen Schweizer Musikpreises an u.a. Cod.act, Michael Jarrell, Pierre Favre, Laurent Peter (d’incise) oder das Kammerorchester Basel statt.

Zeiträume – Biennale für neue Musik und Architektur, Marianthi Papalexandri-Alexandri, Pe Lang

neo-profiles: ZeitRäume BaselMarianthi Papalexandri-Alexandri, Pe Lang, Kammerorchester Basel, Michael Jarrell, Pierre Favre, d’incise / tresque

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Marianthi Papalexandri-Alexandri, Pe Lang: 11.September, 20h, Wiederholung 14.September, 20h;
Passage: Cod.act -Maschinenmusik aus La Chaux-de-Fonds: 20. September, 20h; Kontext, 20. September

Leidenschaft für Klang in der Natur

“A l’ur da l’En” – INNLAND – AUsLAND

Interview mit Daniel Ott, Co-Initiator und Mitglied des künstlerischen Komitees Festival Neue Musik Rümlingen

Neue Musik Rümlingen 2016 © Schulthess Foto

Gabrielle Weber
Das kleine Basellandschaftliche Festival Neue Musik Rümlingen ist dieses Jahr zu Gast im Unterengadin. Pionier der Inszenierung von Klang in der Natur ist es seit bald dreissig Jahren ein begehrter Geheimtipp. Das Gespräch mit Daniel Ott, Co-Initiator und Mitglied des künstlerischen Komitees, dreht sich um die Inszenierung von Musik im öffentlichen Raum, um den Umgang mit Unvorhersehbarem und um individuellen Zugang zu Musik.

Daniel Ott, mit der kommenden Festival tragen Sie den Rümlinger Gedanken vom Baselbiet ins Engadin: Wie kommt es zu diesem Besuch?

Rümlinger “Ausflüge” haben eine gewisse Tradition; wir besuchten bereits früh Basel oder angrenzende Gemeinden. 2013 führten wir dann das Festival ganz an einem anderen Ort durch. Wir wanderten zu Fuss von Chiasso nach Basel, spielten unterwegs mit lokalen Bandas und kooperierten mit befreundeten Festivals wie dem nahe am Unterengadin gelegenen Festival Klangspuren Schwaz im Tirol. Damals entstand die Idee einer grösseren Zusammenarbeit mit Schwaz die wir dieses Jahr verwirklichen. Gemeinsam bieten wir zwei Klangwege an, die jeder an einem Tag begangen werden können, einen im Unterengadin, kuratiert von Rümlingen, einen zweiten vom Tirol ins Engadin, kuratiert von Schwaz. Als Partner gewannen wir ausserdem die Fundaziun Nairs in Scuol, die visuelle Installationen beisteuert, sowie das Theater Chur, das seine Saisoneröffnung diesmal im Engadin abhält. Als Höhepunkt der beiden Klangwege treffen wir uns in der Mitte am Abend zum gemeinsamen Konzert und Fest in Scuol.

Neue Musik Rümlingen 2016, Daniel Ott: “CLOPOT – ZAMPUOGN”

2016 übernahmen sie zusammen mit Manos Tsangaris die künstlerische Leitung der Biennale für Neues Musiktheater München und überführten damit ihren Ansatz ins städtische Umfeld: Woher stammt Ihre Leidenschaft für die Verbindung von Klang und Natur oder öffentlichem Raum?

Dazu gibt es eine kleine Vorgeschichte: Vor 20 Jahren lud mich Peter Zumthor ein, Musik für seinen „Klangkörper Schweiz“, den Schweizer Pavillon bei der Expo 2000 in Hannover zu entwickeln, und reagierte seinereits architektonisch auf die Resultate unserer gemeinsamen Klangversuche.  Es ist aber weder realistisch noch nachhaltig, für jede musikalische Idee einen neuen Raum bauen zu lassen. Deshalb begann ich mich mit Klang in vorgegebenen Situationen zu beschäftigen, wo ich nicht alle Parametern beeinflussen kann. Die entstehenden Unwägbarkeiten lernte ich als Bereicherung zu schätzen. Ich beziehe mich damit unter anderen auf John Cage, der Zufälle in sein kompositorisches Denken mit aufgenommen hat, um eine grössere Klang- und Musikvielfalt zu ermöglichen.


Festival Neue Musik Rümlingen, excerpts 2017

Wo befindet sich das Publikum im Kontext Klang und öffentlicher Raum?

Musik wird immer von einem einzelnen Menschen rezipiert. Ich möchte individuelle Zugänge ermöglichen und orientiere mich eher an der Bildenden Kunst, wo das Publikum seit jeher selber entscheidet in welchem Rhythmus Werke rezipiert werden. Jeder gehörte Teil ist repräsentativ, jeder Blickwinkel ist gültig.

“Ein Stück ist vollständig, auch wenn nicht alles gehört oder gesehen wird.”

Landschaften tragen Geschichten in sich, Menschen geben Geschichten über Generationen weiter. Jedes einzelne Leben ist ein Roman. Dies in Kunst umzusetzen ist wichtig. Kunst ist Kommunikation.

Daniel Ott © Manu Theobald

Worauf dürfen wir im Engadin speziell gespannt sein?

Als grosses Eingangsfenster in Lavin hüllt Peter Conradin Zumthor in Con Sordino, ein Remake einer Rümlinger Arbeit, die Glocken der Laviner Kirche in Schaffell ein. Es entsteht ein verfremdeter Klang, der eher an elektronische Musik als an Kirchglocken erinnert. Wir konnten Beat Furrer gewinnen, einen Gedichtzyklus von Leta Semadeni, Schriftstellerin aus Lavin, die seit Jahrzehnten in Valader, dem Unterengadiner Romanisch, schreibt, zu vertonen. Die Uraufführung findet in einer wunderschönen schmucklosen kleinen Kapelle in Sur En d’Ardez statt. Peter Conradin Zumthor taucht die alte Holzbrücke von Lavin in Nebel ein – die Holzbrücke wird zur Nebelbrücke.


Peter Conradin Zumthor, Grünschall7 (Rüttler) Solo Drums, 2019

Am Inn wird Christian Wolff in seinem legendären Stück Stones aus dem Jahr 1968 in einer neuen Engadiner Version mit Steinen aus dem Inn zu erleben sein. Daneben tritt Jürg Kienberger in Innehalten, einem theatralen Stück, selbst auf. Viele Stationen werden mehrfach für jeweils eine kleine Gruppe von Zuhörern aufgeführt. Es entstehen sehr persönliche und unterschiedliche Darbietungen.
Interview Gabrielle Weber

Neue Musik Rümlingen, Klangspuren Schwaz, Fundaziun NairsTheater Chur

Festival Neue Musik Rümlingen:
14./15. September 2019 Unterengadin; 16. November 2019, Epilog Kirche Rümlingen:

neo-profiles:
Neue Musik Rümlingen, Daniel Ott, Beat Furrer, Peter Conradin Zumthor

„Ein Mischklang, den man noch nie gehört hat.“

Der Schweizer Thomas Kessler ist 2019 Composer in Residence beim Lucerne Festival.

Thomas Kessler, Basel 29.11.2018 ©Priska Ketterer

Sein langer Weg über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg ist voller Überraschungen und doch von einer inneren Konsequenz. Bekannt war, dass er in den 60er Jahren in Berlin eine junge Musikergeneration beeinflusste, etwa Klaus Schulze oder auch Edgar Froese, den Gründer der späteren Kultband „Tangerine Dream“, und doch war man erstaunt, als Thomas Kessler später über die Neue Musik-Sparte hinausdachte und einen kalifornischen Hiphop-Dichter aufsuchte, um mit ihm zusammenzuarbeiten.

“Utopia” – kein perfekt glatter Sound

Auch seine frühen Stücke, in denen er den Solomusikern jeweils selber die Kontrolle über die elektronische Aussteuerung ihres Spiels übergab, statt sie von einem zentralen Mischpult aus selber zu leiten, waren wegweisend, und doch wagte erst er es, diese Anordnung auf ein ganzes Orchester zu übertragen. Er wollte damit etwas Utopisches realisieren – und nannte das Stück denn auch „Utopia“.

Jedes Mal begann damit eine neue Forschungs- und Entdeckungsreise, denn die einmal gefundene Lösung suggerierte bald weitere Möglichkeiten. Aus „Piano Control“ von 1974 entstand im Lauf der Jahrzehnte ein gutes Dutzend von „Control-Stücken“, und auch „Utopia“ erfuhr zwei weitere orchestrale Ausformungen. Im dritten Stück, das auch in Luzern zu hören ist, wird das Orchester – und somit auch der Klang – im ganzen Raum verteilt.

Thomas Kessler: Trailer, Composer in Residence, Lucerne Festival 2019

Es ist bezeichnend dafür, wie Kessler (geboren 1937 in Zürich) vorgeht. Er ist nie zufrieden mit den erreichten Lösungen, ihm schwebt stets etwas Neues und Einzigartiges vor. So bewegte er sich stets etwas abseits vom Mainstream Neuer Musik. Nach seinen Kompositionsstudien in Berlin gründete Kessler dort ein eigenes Elektronisches Studio, mit dem er bald bekannt wurde. Sein Ruf drang schliesslich sogar in die Schweiz zurück. Ab 1973 unterrichtete er Komposition und Theorie an der Musik-Akademie Basel und baute dort das renommierte Elektronische Studio auf. So gehört er hierzulande neben Bruno Spoerri und Gerald Bennett zu den Pionieren der elektronischen und live-elektronischen Musik.

Jeglicher Akademismus blieb ihm freilich fremd. Statt eines perfekten glatten Sounds strebte er nachs Ungewohntem – so eben in den Orchesterstücken „Utopia“. Man braucht einiges Vertrauen, um jedem einzelnen Orchestermusiker im Konzert live die Klangmodulation via Laptop anzuvertrauen. Etwas Neues kann so entstehen: „Das gibt einen elektronischen Orchesterklang, denn keiner ist absolut genau. Der eine ist etwas lauter, der andere etwas leiser, das stimmt nicht ganz, und so ergibt sich ein Mischklang, den man noch nie gehört hat.“

Slam-Poetry und Orchester

Als Kessler 2001 frisch pensioniert nach Toronto übersiedelte, suchte er nach neuen musikalischen Begegnungen, jenseits des etablierten Konzertbetriebs: „auf der Strasse, in den Lokalen, in denen sich am Wochenende junge Leute treffen, dem Ort der lebendigen Slam-Poetry, einer Kunstform, die mich tief beeindruckt hat, die dort sehr stark ist und, obwohl man den Rap immer wieder mal totsagt, lebt und einfach nicht totzukriegen ist.“

Thomas Kessler und Saul Williams © Werner Schnetz

Nach einer längeren Recherche klopfte er schliesslich beim Slam Poeten Saul Williams an. Die beiden verstanden sich auf Anhieb. Aufgrund der Texte entstand erst ein Werk für Orchester („…said the shotgun to the head“), dann eines mit Streichquartett („NGH WHT“), jedes ganz anders im Duktus und in der musikalischen Anverwandlung der Sprache – und beide sind einzigartig in der zeitgenössischen Musik, denn die Wirkung ist an- und zugriffig, sie lassen einen nicht kalt.
Thomas Meyer

Sendungen SRF:
10.9., 10h: “Musikmagazin”
4.9., 21h: «Neue Musik im Konzert»: Late night 1

Konzerte Lucerne Festival u.a.: 

17.8.2019, Late night 1: Mivos Quartett, Saul Williams: u.a. NGH WHT
24.8.19, 15h, Moderne 1: Thomas Kessler u.a., Control-Zyklus III
24.8.19, Late night 2: Thomas Kessler, Saul Williams, Orchester der Lucerne Festival Academy, u.a. Utopia III, „…said the shotgun to the head“  

Neo-profiles:
Thomas Kessler, Lucerne Festival Moderne, Lucerne Festival Academy