Sprache mischt sich in Musik ein

Musik und Sprache sind vielfältig verflochten. Dem weiten Spektrum geht die diesjährige Darmstädter Frühjahrstagung anhand von Lectures, Roundtables und Konzerten auf die Spur. Zu erleben sind die Slam-Poetin Nora Gomringer oder die Sopranistin Sarah Maria Sun wie auch das ensemble proton bern.
Erstmals online – live gestreamt vom 7. bis zum 10.April 2021.

INMM 2021 Verflechtungen II © zVg INMM

Thomas Meyer
Darmstadt, die ehrwürdige und traditionsreiche Stadt in Hessen, die als „Zentrum des Jugendstils“ gilt, ist auch für die Musik des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung. Sie beherbergt nicht nur das Jazz-Institut mit dem europaweit bestbestückten Archiv. Alle zwei Jahre finden dort im Sommer auch die berühmten Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik statt, bei denen sich die besten DozentInnen mit dem Nachwuchs treffen, dozieren und diskutieren. Seit der Gründung 1946 ist Darmstadt ein Ort der Diskussion, an dem die ästhetischen Richtungen vorgegeben werden – der wichtigste Ort neben Donaueschingen. Die Stadt hat der von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen angeführten Avantgarde denn auch den Namen gegeben: die Darmstädter Schule.

Etwas weniger bekannt ist, dass damals auch eine Frühjahrstagung ins Leben gerufen wurde, in der es zwar auch um Neue Musik, in der künstlerischen Produktion und in der Musikwissenschaft, geht, vor allem aber um ihre Vermittlung gerade in der Musikpädagogik. Veranstalter ist das ‘Institut für Neue Musik und Musikerziehung’ (INMM). Der Verein bietet im Rahmen der Frühjahrstagungen auch Kompositionskurse für Kinder und Jugendliche an und initiierte das Forschungsprojekt ‘Campus Neue Musik’, das kooperative Kompositionsprojekte mit Schulklassen begleitet.


INMM Trailer Konzert mit Sarah Maria Sun, 9.4.21 ©INMM 2021

Die Tagung wird seit jeher von einem Kollektiv-Vorstand aus Künstler*innen, Pädagog*innen und Wissenschaftler*innen vorbereitet und durchgeführt, was in der Zusammensetzung den Gedanken der Kooperation verkörpert. Es versteht sich, schreibt das INMM auf seiner Homepage, als „Forum des interdisziplinären Diskurses zwischen Produktion, Reproduktion und Reflexion innovativer künstlerischer Konzepte der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit und ihrer musikpädagogischen Vermittlung“. 

Brandaktuelle Themen und Grenzbereiche

Zur Diskussion standen dort seit je brandaktuelle Themen und Grenzbereiche, in den letzten Jahren etwa zur Körperlichkeit, zu Film/Video oder zum Aufeinanderprallen von Kulturen. „Wir möchten schauen, wie unterschiedliche Dinge zueinander kommen“, sagt der Musikwissenschaftler Till Knipper, der im Vorstand mitwirkt. Heuer stehen die vielfältigen Verflechtungen von Wort und Sprache mit der Musik zur Debatte – ein uraltes, eigentlich fast fundamentales Thema, das aber noch etliches Potenzial birgt. Ja, in der Neuen Musik öffnen sich dafür ganz neue Bereiche, die in der Tagung diesmal thematisiert werden sollen.

Annette Schmucki musikalisiert Sprache: Skizze © zVg Annette Schmucki

Die Pandemie lässt ein Live-Durchführung nicht zu. Erstmals läuft nun alles übers Internet, nach einem klugen Zeitplan, bei dem man nicht mit Material überfüttert wird. Zum einen sind da vorproduzierte Beiträge, die man sich online anschauen kann. Sie bieten quasi ein künstlerisches Statement zu dem, was ab 16 Uhr erst in Lectures und ab 18 Uhr in Roundtable-Gesprächen thematisiert wird. Der Abend ist Performances bzw. Konzerten vorbehalten. Die Verbindung von Musik und Sprache bietet da ein weites Spektrum. Gewiss kommt dabei auch die herkömmliche Art des Vertonens vor. Sie steht am zweiten Tag auch im Zentrum, aber so herkömmlich gerät sie dann doch auch wieder nicht, etwa wenn die Slam-Poetin Nora Gomringer mit Günter Baby Sommer interagiert, einem Schlagzeuger, der einst schon mit Günter Grass auftrat.

Nora Gomringer und Günter Baby Sommer © zVg INMM 2021

Am ersten Tag werden die Verflechtungen bis hinein ins Theatrale aufgenommen, am dritten meldet sich die Stimme selber zu Wort (und Ton), eben jenes so individuelle wie belastbare Transportmedium. The Voice gehört diesmal der herausragenden Sopranistin Sarah Maria Sun.
Sie performt bzw. singt zum Beispiel neue Lieder des Deutschen Rolf Riehm und des Kanadiers Thierry Tidrow. Er fügt seinen Morgenstern-Vertonungen eine Subebene aus emoticons hinzu.


Rolf Riehm, Ausschnitte aus Liederzyklus nach Heine / Hölderin, Der Asra, Orpheus Euphrat Panzer, Hyperions Schicksalslied, Sarah Maria Sun, Jan Philip Schulze, UA INMM 2021

Zum samstäglichen Abschluss gibt’s mit den «Transformationen» einen helvetischen Schwerpunkt. Beim Konzert des ensemble proton bern ist kein Text, zumindest kein herkömmlicher, zu vernehmen, vielmehr wird Sprache in Musik verwandet, und das kommt nicht von ungefähr, denn die Schweiz verfügt über einige besondere Worttonkünstler*innen: Komponist*innen, die Sprache eben auch in blosse Töne transferieren und transformieren und dabei zu erstaunlichen Resultaten gelangen.

Vorbilder in der ältesten Generation gibt es etliche wie Heinz Holliger, Urs Peter Schneider oder Roland Moser. Da kann es – wie bei Moser – auch mal vorkommen, dass nur die Interpunktion eines Texts musikalisiert wird.

Und die Jüngeren sind ihnen gefolgt, haben weiterentwickelt, Neues eingebracht. Die Komponistin Annette Schmucki etwa gehört hierher, die gerne von Wortlisten ausgeht, sie analysiert und durchdringt und daraus ihre Musik entstehen lässt: Auf vielerlei Ebenen: Mal wird der Text einfach gesprochen, mal erscheint die Sprache als Notenbild, mal prägt sie die Struktur der Musik Ihr brotkunst… /54 Stück/farbstifte papier tabak basiert zum Beispiel auf Texten von Adolf Wölfli. Was es wohl mit ihrer neuen Komposition drei möbelstücke auf sich hat?


Annette Schmucki, brotkunst / 54 stück / farbstifte papier tabak, UA ensemble proton bern 2016

Daniel Ott, der Gründer des Festivals Rümlingens, der heute mit seinem Kollegen Manos Tsangaris die Münchner Biennale für Neues Musiktheater leitet, war immer auch politisch motiviert. Eine seiner ersten Kompositionen, molto semplicemente für Akkordeon solo entstand vor dem Hintergrund des Basler Chemiebrandes 1986 und brachte das auch zur Sprache. In 6/7 Gare du Sud geht er von der unzumutbaren Situation aus, der sich MigrantInnen im Bahnhof Chiasso konfrontiert sehen: Alltägliches fliesst in die Musik ein. Das sind ungewöhnliche Umsetzungen, die neuartige Aspekte des Sprachmaterials zutage fördern.

Von Isabel Klaus erklingt ein älteres Werk aus dem Jahr 2013: and then? für Kontraforte (eine neuentwickelte Art Kontrafagott) und Ensemble. Und es zeigt die Liebe dieser Komponistin zum Schrägen, etwas Absonderlichen, zum Beharrlichen und leise-verspielt Kabarettistischen.
Eine Sprachvertonung ist das nicht mehr, viel mehr mischt sich der Dirigent nicht nur gestisch, sondern auch sprechend in die Musik ein. Ja, manche hätten die Musik gerne textlos rein, aber so puristisch ist sie nun einmal nicht immer zu haben…
Thomas Meyer

Annette Schmucki Skizze © zVg Annette Schmucki

Die 74. Frühjahrstagung des INMM – Verflechtungen II Musik und Sprache in der Gegenwart- findet vom Mittwoch 7. bis zum Samstag 10. April 2021 online statt: alle Veranstaltungen sind öffentlich und kostenlos zugänglich.
Die Vorträge von Christa Brüstle und Christian Grüny sind bereits jetzt online.

Konzerte:
Donnerstag, 8.4., 20h: Betrommeltes Sprachvergnügen, Nora Gomringer und Günter Baby Sommer
Freitag, 9.4., 20h: Sarah Maria Sun, Kilian Herold, Jan-Philipp Schulze
Samstag, 10.4., 20h: ensemble proton bern: Werke von Annette Schmucki, Isabel Klaus, Daniel Ott, Lauren Redhead

Nora Gomringer, Günter Baby Sommer, Rolf Riehm, Thierry Tidrow, Adolf Wölfli, Manos Tsangaris, Münchener Biennale für Neues Musiktheater, Christa Brüstle, Christian Grüny

neo-Profiles
Heinz Holliger, Urs Peter Schneider, Roland Moser, Annette Schmucki, Daniel Ott, Neue Musik Rümlingen, Isabel Klaus, Sarah Maria Sun, ensemble proton bern

Ein Wettbewerb lässt aufhorchen

Die drei Preisträger stehen fest!
1. Preis: Yiquing Zhu
(Shanghai) für sein Werk Deep Grey mit der Basel Sinfonietta unter Peter Rundel
2. Preis: Arthur Akshelyan
(Yerevan) für sein Werk Three pieces for Orchestra mit dem Sinfonieorchester Basel unter Francesc Prat
3. Preis: Miguel Morate
(Valladolid) für sein Werk Comme s’en va cette onde mit dem Kammerorchester Basel unter Frank Ollu

Gabrielle Weber
Bereits zum dritten Mal findet die Basel Composition Competition (BCC) statt. Eine Woche lang wird Basel zum Zentrum der Neuen Orchestermusik. Zwölf internationale Kandidaten treten zum Wettstreit mit Ihren neuen Stücken an, uraufgeführt durch die drei grossen Basler Klangkörper, dem Sinfonieorchester Basel, der Basel Sinfonietta und dem Kammerorchester Basel. Pandemiebedingt finden die Konzerte ohne Live-Publikum statt, werden aber live gespielt und online gestreamt. Am Finalkonzert am Sonntag kommen drei bis fünf aus den Vorrunden bestimmte Werke nochmals zur Aufführung. Und die Jury vergibt die finalen Preise live, vor Ort.

Portrait Michael Jarrell, Juryvorsitz ©zVg Basel Composition Competition

 

Der internationale biennale Wettbewerb soll neue Werke für Orchester aus der Taufe heben. Und er knüpft damit an die Tradition der Förderung gewichtiger Orchesterwerke durch Paul Sacher an. Die Paul Sacher -Stiftung ist denn auch am Wettbewerb mit in der Jury vertreten und bringt ihr Knowhow ein.

Dass ein solches Grossprojekt in Basel Realität werden konnte, ist dem Initianten und Leiter Christoph Müller zu verdanken, der auch das Kammerorchester Basel managt. Er ist überzeugt, dass Neue Musik so spannend ist, dass sie nicht nur einen Platz als Zugabe neben Klassikern der Orchesterliteratur verdient. Ihm schwebt vor, dass der Wettbewerb möglich macht, dass die Stücke ins Standartrepertoire der drei oder auch weiterer grosser Klangkörper Eingang finden.

Zum Wettbewerb wurden 12 Kandidaten eingeladen. An drei Konzerten werden ihre neuen Stücke durch die drei Orchester uraufgeführt. Sieben für Sinfonieorchester, fünf für Kammerorchester. Das ist erstaunlich zu Pandemiezeiten.

Müller ist deshalb speziell glücklich über den Austragungsort Don Bosco, das neue Basler Kulturzentrum. Hier finden sich ideale Bedingungen. Es können bspw. pandemiebedingte Abstände zwischen den Musiker*innen eingehalten werden und es gibt genügend räumliche Distanz zwischen Jury und Orchester.

Sakiko Kosaka, Micro roots, Kandidatin BCC 2019

Der Basler Wettbewerb auferlegt -ungleich anderen- kaum Ausschlusskriterien oder Einschränkungen, weder eine Alterslimite, noch Diplome. Einzige Bedingungen: die eingereichten Stücke dürfen noch nicht aufgeführt oder prämiert worden sein.

Kandidat*innen aus der ganzen Welt

Dass die Basel Composition Competition damit ein Desiderat erfüllt, zeige auch die hohe Zahl an Anmeldungen, meint Müller. Denn nicht alle Komponierenden absolvieren einen ‘geraden Weg’ und sind im genau richtigen Alter ‘reif’ für einen Wettbewerb.

355 Bewerbungen waren es insgesamt, aus allen Alterssgruppen – es gab Kandidat*innen zwischen 14 und 87 Jahren-, mit unterschiedlichstem musikalischem Hintergrund. Und sie stammten aus der ganzen Welt. Allerdings war der Anteil an Frauen mit nur 8% sehr bescheiden.

Natürlich sind auch die Dirigenten Peter Rundel, Franck Ollu und Francesc Prat, die höchstes musikalisches Niveau versprechen, die online-Verbreitung der Stücke und die hohe Gesamtpreissumme von 100’000.- CHF, die ansehnliche Preise verspricht, attraktiv.

Anonymes Verfahren

Das Verfahren der Vorausscheidung verlief anonym. Bewertet wurden einzig die eingereichten Partituren, ohne die zugehörigen CVs.

Für die Auswahl war eine hochkarätige internationale Jury zuständig, die unter dem Vorsitz des Komponisten Michael Jarrell aus Genf tagte. Die Vorauswahl fand an einem intensiven Wochenende im November 2020 statt.

Der Jury gehören die in Berlin lebende koreanische Komponistin Unsuk Chin, die Schweizer Komponisten Beat Furrer und Andrea Lorenzo Scartazzini und Dr. Felix Meyer, der Direktor der Paul Sacher Stiftung an. Mit dabei sind auch drei Vertreter*innen der mitwirkenden Orchester.

 

Unsuk Chin, Komponistin / Jurymitglied 2021 ©zVg Basel Composition Competition

Zum Wettbewerb sind -ausser zwei Kandidaten, die pandemiebedingt per Zoom dabei sind- alle Eingeladenen angereist. Und das von weit her, aus Japan, Korea, China, Spanien, Deutschland oder den Vereinigten Staaten. Üblicherweise wohnen die Komponierenden den Proben der Konkurrent*innen bei. Diesmal begleiten sie -pandemiebedingt- nur die Entstehung ihres eigenen Stücks.

Das Schweizer Musikschaffen ist diesmal untervertreten. Mit Artur Ashkelyan aus Armenien ist ein Tonschöpfer aus der Schweizer Szene vertreten, er studierte Komposition an der Haute école de musique de Genève. Für ihn hat der Wettbewerb eine besondere Bedeutung, denn ungleich den meisten anderen Kandidaten komponierte er bislang vor allem kammermusikalische Werke. Sein neues Stück ‘Three pieces for orchestra‘ wird nun vom Sinfonieorchester Basel uraufgeführt.

Artur Akshelyan, Kandidat 2021: Sinouos for Piano Trio 2015

Die letzte, die zweite Ausgabe von 2019 des hochdotierten Basler Preises wurde in der Szene konträr diskutiert. Denn trotz allmählich grösserer Gender-Balance in den einschlägigen Neue Musik-Institutionen gelang es dem jungen Wettbewerb offenbar nicht, Komponistinnen in die Jurorenrunde zu integrieren.

Man habe sich bemüht, geeignete Frauen für die Jury zu gewinnen, sagt Müller. Verschiedene seien angefragt worden, aber aus diversen Gründen kam es zu Absagen.

Das sieht nun etwas anders aus. Mit Unsuk Chin ist eine international renommierte Komponistin dabei.

Hingegen schaffte es diesmal, entgegen den Ausgaben 2017 und 2019, keine einzige Frau in den Final-Wettbewerb. Das ist alarmierend, aber nicht erstaunlich angesichts der geringen Zahl eingereichter Werke von Frauen. Müller möchte deshalb Frauen speziell ermutigen sich zu bewerben.

Die Basel Composition Competition setzt ein Zeichen dafür, dass grosse Klangkörper zusammenstehen und sich fürs heutige Musikschaffen einsetzen können. Das ist wichtig, gerade in einer Zeit, in der es kaum Auftrittsmöglichkeiten gibt und Orchester hohe Auflagen zu bewältigen haben.

Rückmeldungen der Komponisten, die es in den Wettbewerb schafften, bestätigen das. Dass sein neues Stück durch ein tolles Orchester live gespielt und einem weltweiten Publikum zugänglich gemacht werde, gerade jetzt, sei eine unschätzbare Chance, meint der Kandidat aus Deutschland, Oliver Mattern. Und der Japaner Hiroshi Nakamura, angereist aus Tokyo, kann es kaum fassen, dass sein Stück von Peter Rundel dirigiert wird. Denn er bewundere den Dirigenten schon seit jungen Jahren, seitdem er in Japan einer von ihm geleiteten Aufführung von Luigi Nonos Prometeo beiwohnte.

Zu hören gibt es diesmal auf jeden Fall Spannendes: 12 Stücke aus der ganzen Welt, 12 völlig verschiedene Zugänge auf die Gattung Orchesterwerk. Viele Stücke nehmen Bezug auf andere Sparten und Medien, auf Visuelle Kunst, auf Philosophie, Nô-Theater, oder Physik und Astronomie. Zudem geht es um die Gegenwart, die aktuelle Pandemie-situation oder um Spiritualität oder Religion.

Und spannend bleibt es bis zum Schluss, wenn die drei Preise vergeben werden.

Zu wünschen fürs nächste Mal wären weitere Jurorinnen, und vor allem auch mehr Frauen, die sich bewerben und wieder weibliche Preisträgerinnen.
Gabrielle Weber

Die drei Wettbewerbskonzerte werden live gestreamt und sind später online nachzuhören, auf youtube und auf neo.mx3.ch.
Die Wettbewerbsbeiträge der letzten Ausgabe 2019 sind gleichfalls dort zu finden.

Basel Composition Competition, 3. Durchführung: 4.-7.März 2021
Live-Stream 1. Wettbewerbskonzert, Donnerstag, 4.3.21., 19h: Basler Sinfonieorchester, Leitung Francesc Prat
2. Wettbewerbskonzert, Freitag, 5.3.21., 19h: Basel Sinfonietta, Leitung Peter Rundel
3. Wettbewerbskonzert, Samstag, 6.3.21., 19h: Kammerorchester Basel, Leitung Franck Ollu
Abschlusskonzert udn Preisbekanntgabe, Sonntag, 7.3.21., 20h: auf Idagio

Sendungen SRF 2 Kultur:
in Musikmagazin, 6./7.3.21 (anfangs): Annelis Berger im Gespräch mit Gabrielle Weber zur BCC, Redaktion Annelis Berger
Kultur Aktuell / Kultur kompakt, 8.3.21: Besprechung Finalkonzert, Redaktion Benjamin Herzog
Musik unserer Zeit, 21.4.21: Basel composition competition 2021 – drei grosse Klangkörper blicken in die Zukunft, Redaktion Gabrielle Weber

Profile neo.mx3:
Basel Composition CompetitionMichael Jarrell, Beat Furrer, Andrea Lorenzo ScartazziniArtur Akshelyan

“Interpretation zeitgenössischer Werke – Investition in die Zukunft”

Laufend macht neo.mx3 rare SRG-Aufnahmen der Schweizer musikalischen Avantgarde zugänglich. Christian Fluri entdeckte für den neoblog im bereits beträchtlichen Fundus das Winterthurer Streichquartett.
Im Ausnahmejahr 2020 erlebte es ein ausserordentliches Jubiläum.

Winterthurer Streichquartett ©zVg Musikkollegium Winterthur

Christian Fluri
Es ist ein Unikum, im besten Sinne des Wortes, das Winterthurer Streichquartett. Welches andere hat je schon sein 100-Jahr-jubiläum feiern können. Normalerweise entwickeln und entfalten Streichquartette ihre Kunst in gleicher Besetzung, leben so zusammen, so dass sie sich untereinander blind verständigen. Gehen die vier Musikerinnen oder Musiker – aus welchem Grund auch immer – auseinander, löst sich das Quartett auf. Das war grundsätzlich so beim – gerade für die Musik des 20. Jahrhunderts so prägenden – LaSalle String Quartet. Ein wenig anders verhält es sich bei dem für die Gegenwart ebenso stilbildenden Arditti Quartett, es ist an seinen Primgeiger, Gründer und Namensgeber Irvine Arditti gebunden, von ihm geprägt – auch bei Wechseln auf den anderen Positionen.

Stete Erneuerung hält lebendig

Ganz anders das Winterthurer Streichquartett, das aus den jeweiligen Stimmführern des Musikkollegium Winterthur besteht. Kommt bei den Streichern ein neuer Stimmführer, eine neue Stimmführerin, wechselt auch die Quartett-Besetzung. So erneuert sich das vierköpfige Ensemble immer wieder einmal, und das verlangt von den Mitgliedern des Quartetts grosse Flexibilität. Genau diese Flexibilität gibt dem Quartett jedoch Lebendigkeit.

Winterthurer Streichquartett 1930er Jahre ©zVg Musikkollegium Winterthur, Handzeichnung Gustav Weiss

Auch im Jubiläumsjahr 2020 ist eine Stelle vakant geworden, die des zweiten Violinisten Pär Näsbom, der seit 1987 Stimmführer der zweiten Violine war und altershalber das  Musikkollegium verlassen hat. Zudem wird der Primgeiger und Konzertmeister Roberto González Monjas ab der Saison 2021/22 Chefdirigent des Orchesters. Das heisst, auch die Konzertmeisterstelle wird bald neu besetzt. So stehen im Quartett nach sieben Jahren gleicher Besetzung nächste Wechsel an. Damit kommt es wieder einmal zu einer Erneuerung.

Winterthurer Streichquartett 2016: Besetzung Chmel, González-Monjas, Näsbom, Dähler ©zVg Musikkollegium Winterthur

Weiterhin mit dabei sind der Bratschist Jürg Dähler (seit 1993), der sich auch im Leitungsteam der Swiss Chamber Soloists engagiert und dort in unterschiedlichen Kammerformationen auftritt, und die Cellistin Cecilia Chmel (seit 1989). Auch sie ist wie ihre Kollegen eine herausragende Kammermusikerin.

Dass das Winterthurer Streichquartett sein stolzes Jubiläum im November mit einem grossen Festkonzert gebührend feiern konnte, das haben leider die Corona-Massnahmen verhindert. Das sei schon etwas betrüblich gewesen, merkt Cecilia Chmel in unserem ­elektronisch geführten Gespräch an: <Immerhin konnten wir unser Jubiläumskonzert für wenigstens 50 Zuhörer*innen spielen und live streamen.>

Stets präsent in der Gegenwart

Seit den Anfängen des Quartetts hat die Musik der Gegenwart neben klassisch-romantischen Werken ihren festen Platz im Repertoire. Bereits 1921 spielte es in seiner ersten Besetzung mit dem Konzertmeister Ernst Wolters Arnold Schönbergs Streichquartett fis-Moll op.10, wie die Musikhistorikerin Verena Naegele in ihrer Laudatio zum 100. Geburtstag erwähnt.

Winterthurer Streichquartett 1952: Besetzung Dahinden, Rybar, Wigand, Tusa, mit Unterschriften ©zVg Musikkollegium Winterthur

Die gegenwärtige Cellistin Cecilia Chmel unterstreicht die Bedeutung, die die Neue Musik für das Winterthurer Quartett hat: <Wenn man vor allem das klassisch-romantische Repertoire spielt, ist es besonders wichtig, auch die Gegenwart wahrzunehmen und in die Zukunft zu schauen. Die Interpretation zeitgenössischer Werke ist ein Investition in die Zukunft.>

Das Winterthurer Streichquartett arbeitet seit Beginn immer wieder mit Komponistinnen und Komponisten zusammen und vergibt auch Kompositionsaufträge. So erwähnt Celilia Chmel die Zusammenarbeit mit dem grossartigen Basler Altmeister Rudolf Kelterborn sowie den Zürchern Alfred Felder und Ursina Braun, die zugleich beide exzellente Cellist*innen sind.

Auch eine Geschichte Neuer Musik

Wie fruchtbar die langjährige Auseinandersetzung des Quartetts mit Musik des 20. Jahrhunderts von Schweizer Komponisten ist, spiegelt sich in den nun neu zugänglichen Aufnahmen aus dem Archiv der SRG. Auf neo.mx3 finden sich zahlreiche Aufnahmen des Quartetts mit zeitgenössischen Werken aus den Jahren 1948 bis 1975.

Rudolf Kelterborn, Streichquartett Nr.2, 1958, Eigenproduktion SRG/SSR

Ein besonderes Juwel ist das frühe, dreisätzige 2. Streichquartett Kelterborns. Die Aufnahme von 1958 in der Besetzung mit Peter Rybarm (1. Violine), Clemens Dahinden (2. Violine), Heinz Wigand (Viola), und Antonio Tusa (Violoncello), ist von erstaunlicher Präsenz und Klarheit. Diese zeichnen auch die Interpretation selbst aus, die analytischen Geist und Passion für das Werk in sich vereinigt. Der junge Kelterborn befindet sich hier auf dem Weg zu seiner eigenen kompositorischen Sprache und zeigt bereits seine hohen Qualitäten in der Verbindung von Emotionalität, musikalischer Tiefe, Dichte und Genauigkeit. Dies in einer Komposition, die sich auf der Höhe ihrer Zeit jenseits reihentechnischer Dogmatik bewegt.

Packende interpretatorische Kunst zeigt auch die 1963 eingespielte Aufnahme von Ernest Blochs fantastischem Quintett für Klavier und Streicher Nr.1 (1923). Zur gleichen Besetzung kommt hier der Pianist Rudolf am Bach. Er lehrte am Winterthurer Konservatorium und setzte sich gleichfalls stark für Schweizer Musik seiner Zeit ein. Der ersten Agitato-Satz wie das abschliessende Allegro energico ist von mitreissender rhythmischer Prägnanz. Die Interpretation dringt mit grosser klanglicher Transparenz auch im langsameren Mittelsatz tief in Gehalt und Struktur des Werks ein und schärft die Dissonanzen.

Ernest Bloch, Quintett für Klavier und Streicher 1963, Eigenproduktion SRG/SSR

Am eidgenössischen Tonkünstlerfest 1975 in Basel spielte das Quartett Hermann Hallers 2. Streichquartett von 1971, In der Besetzung mit Abraham Comfort (1.Violine), Clemens Dahinden (2. Violine), Marcel Gross (Viola), und Markus Stocker (Violoncello), zeigt sich ein faszinierendes Werk von dunklem, melancholischen Grundton in ganz eigener kompositorischer Sprache. Sie verbindet Spätromantik mit dem Vokabular der Moderne.

Herman Haller, Streichquartett Nr.2, 1971, Eigenproduktion SRG/SSR

Das Winterthurer Streichquartett zeichnet sich durch Genauigkeit der interpretatorischen Auseinandersetzung, durch klangliche Klarheit, und enge Dialogführung zwischen den vier Musikern aus. Und diese neuste Aufnahme in einer anderen Quartett-Besetzung unterscheiden sich in nichts vom durchgängig hohen Niveau der früheren Einspielungen. Das ist erstaunlich.

Die Winterthurer sind wohl eines der wenigen Quartette, die bei immer wieder wechselnder Besetzung den hohen künstlerischen Anspruch, die musikalische Vitalität und Passion – hier für zeitgenössische Musik bekannterer und unbekannterer Komponisten – mit erneuern kann.
Christian Fluri

Winterthurer Streichquartett 2006: Besetzung Chmel, Näsbom, Zimmermann, Dähler ©zVg Musikkollegium Winterthur

2021 stehen drei weitere zeitgenössische Quartette auf dem Spielplan. Farewell (1995) des US-Amerikaners John Corigliano, Tenebrae (2002) des Argentiniers Osvaldo Golijov und Arcadiana, das opus 12 (1994) des Engländers Thomas Adès.

Samstag, 6.3.2021, 19h: Hauskonzert Winterthurer Streichquartett: Der Tod und das Mädchen, John Corigliano, Streichquartett Nr.1 Farewell , Franz Schubert Streichquartett d-Moll D 810 Der Tod und das Mädchen

Die Konzerte des Winterthurer Streichquartetts finden wie die meisten Konzerte des Musikkollegium während der Pandemie live im Saal statt und sind per Live-Stream zu erleben. Im Konzertkalender finden Sie alle Angaben.

John Corigliano, Oswaldo Golijov, Thomas Adès, Verena Naegele, LaSalle String Quartet, Arditti Quartett, Arnold Schönberg, Ernest Bloch

Neo-Profiles: Winterthurer Streichquartett, Musikkollegium WinterthurSwiss Chamber SoloistsSwiss Chamber ConcertsRudolf Kelterborn, Hermann Haller

Multisensorische Gesamtinszenierungen: Das Duo eventuell.

Entdecken! Aus dem wachsenden Pool an neo-Profilen fischte Julian Kämper das Saxophon-Duo eventuell. Die Besonderheit: ein multisensorischer Ansatz, der immer wieder das eigene Künstlerinnendasein und den eigenen Körper zum Thema macht.

Mit den beiden Saxophonistinnen und Performerinnen Manuela Villiger und Vera Wahl unterhielt er sich zu ihren Beweggründen.

 

eventuell.: Manuela Villiger und Vera Wahl ©zVg eventuell.

Julian Kämper
2015 gründeten die Instrumentalistinnen Manuela Villiger und Vera Wahl das Duo „eventuell.“. Eigentlich als Saxophon-Duett. Doch das Saxophon ist ein verhältnismäßig junges Instrument und die Duo-Besetzung untypisch, das klassische Repertoire also überschaubar. Deshalb kollaboriert eventuell. seit Beginn intensiv mit – meist jungen und internationalen – Komponistinnen und Komponisten wie Yiran Zhao, Loïc Destremau, Mauro Hertig und Victor Alexandru Coltea. Oder es entstehen eigene Kompositionen.

Die Programme von eventuell. sind oft visuell, körperlich und szenisch angelegt: Gesamtinszenierungen, die nicht in erster Linie hörend, sondern multisensorisch wahrgenommen werden sollen. In ihren Projekten binden die beiden Performerinnen, die gemeinsam in Luzern und Zürich studiert haben, außermusikalische Kontexte ein und machen immer wieder ihr Künstlerinnendasein und ihren eigenen Körper zum Thema.


Manuela Villiger Beat for two soprano saxophones, video and electronics, eventuell., UA 2020

Die Konzertformate, die das Duo in Eigenregie entwickelt, sind weit entfernt von den musikalischen Praktiken, wie sie im konventionellen Hochschulstudium gemeinhin vermittelt werden. Was waren die Beweggründe, das eigene künstlerische Profil derart zu schärfen? – fragte ich mich und verabredete mich mit Manuela Villiger und Vera Wahl zum Gespräch.

Ihr Repertoire umfasst Stücke mit Live-Elektronik, Video und performativen Elementen. Sie reizen die Klang- und Spielmöglichkeiten des Saxophons aus und behandeln Ihr Instrument oftmals auf unübliche Weise – zum Beispiel in Julian Sifferts Komposition „Grammars of Crisis“. Wie ist es für Sie, nicht nur das Saxophon, sondern auch Sensoren, Alltagsgegenstände oder den Körper als Instrumente einzusetzen?

VW: Das ist ein Prozess, der automatisch passiert, wenn man sich für diese Art von Musik interessiert. Wir können unsere Musikalität vom Saxophonspiel mitnehmen und auf performative Elemente übertragen. Da ist es nicht wichtig, was man in den Händen hält. Hauptsache, man drückt sich gerne mit dem Körper aus. Es gibt in dem Stück ja auch beides: Passagen mit und ohne Instrument.

Julian Siffert Grammars of Crisis für Sopransaxophon, Altsaxophon, Video und Elektronik, eventuell., UA 2019

In diesem Stück treiben Sie Sport, präparieren Ihre Instrumente. In anderen Fällen bedienen Sie allerlei elektronische Geräte. Begeben Sie sich da nicht in fremdes Metier?

MV: Bei dem Einsatz von Elektronik war und ist es „learning by doing“ und „Trial and Error“. Es ist eine Frage des ästhetischen Mittels. Auf dem Saxophon haben wir Stunden, Tage, Wochen damit verbracht, irgendwelche Techniken zu erlernen. Wenn wir etwas ganz exakt reproduzieren müssen, dann ist das Saxophon unser Mittel. Denn da wissen wir zu 99% sicher, was passiert, wenn wir dies oder jenes machen. Aber in gewissen Stücken ist diese Ästhetik nicht gefragt, sondern da geht es genau darum, eben nicht alles unter Kontrolle zu haben. Diesen Gegensatz setzen wir bewusst ein: wir haben ein Mittel, mit dem wir etwas sehr präzise ausführen können, aber wir wollen dieses Mittel nicht immer einsetzen – sonst verliert es die Aussagekraft.

VW: Im ersten Teil von Grammars of Crisis, wenn das Video mit unseren Sportübungen läuft, spielen wir, was wir hören. Wir doppeln quasi die Tonspur. Das Instrument ist hier das Mittel zum Zweck. Wir könnten das auf einem anderen Instrument nicht so gut nachvollziehen und umsetzen wie auf dem, das wir am besten beherrschen.

Individuen mit Abweichungen auf der Bühne sichtbar machen

Der Kontrollverlust kam zur Sprache: Warum setzen Sie sich in einigen Stücken unvorhersehbaren und körperlich anstrengenden Situationen aus?

MV: Dieser Fokus auf das Individuell-Sein ist für uns sehr wichtig. Wenn ich persönlich ein Konzert besuche, sehe ich erstmal einen Menschen in seiner Rolle als Musiker. Mich fasziniert, jemanden atmen zu hören oder zu beobachten, wie er sich bewegt beim Spielen. Daran merke ich dann: dieser Musiker unterscheidet sich von jenem Musiker. Im klassischen Konzert wird das aber normalerweise möglichst ausgeblendet, denn da geht es um das Klangresultat, das so klingen soll, wie es in den Noten steht. Wir wollen zeigen, dass wir auf der Bühne alle Individuen mit Abweichungen sind.

VW: In unserem Programm „eventuell. limit“ haben wir das zum zentralen Thema gemacht. Da ging es um verschiedene Arten von Grenzen. Es geht uns nicht darum, alles möglichst perfekt zu spielen und alles zu kaschieren, was eben nicht perfekt ist. Alle Performenden sind Menschen und keine Maschinen. Das spannende daran sind auch die Fehler und das Unperfekte.


Manuela Villiger augenBlick for two amplified soprano saxophones, eye-blink sensors, video and electronic sounds, eventuell., UA 2019

In Ihren selbst komponierten Stücken thematisieren Sie oft Ihre eigenen Körper – Körperteile wie Augen oder Füße werden zu visuellem und musikalischem Material. Ist das eine Strategie, um sich als Interpretinnen in den Fokus zu rücken?

MV: Für uns ist das keine Selbstinszenierung. Es geht um eine Auseinandersetzung mit den physischen Voraussetzungen, die wir als Menschen mitbringen. Da sind wir beim Thema Individualität: Was unterscheidet mich von anderen? Es ist offensichtlich der Körper. Für uns ist das schon lange ein Thema und wir möchten das auch in unsere Performances und Konzerte übertragen. Also integrieren wir in einigen Stücken Videosequenzen, die Teile unserer Körper zeigen.


Vera Wahl foot prints for two alto saxophones, video and tape, eventuell., UA 2020

Emotionale Statements – politische Diskurse 

Sie bezeichnen Ihre Konzerte auch als „emotionale Statements“ und „politische Diskurse“. Wie kann man das verstehen?

VW: Wir investieren viel Zeit in unsere Projekte. Dabei diskutieren wir viel und stellen uns Fragen über das, was wir da machen. Diese ganzen – sagen wir – philosophischen Themen und emotionalen Aspekte bringen wir dann auch in die Performances ein. Wir suchen nicht unbedingt irgendein politisches Thema aus und geben dann unsere Meinung preis. Wir stellen eher Fragen: Diese Fragestellungen sind manchmal sehr diffus in den Stücken verborgen. Teilweise arbeiten wir auch mit Textelementen, um das Publikum zur Auseinandersetzung mit bestimmten Themen anzuregen.

MV: Die Überlegung hat sich wohl jeder zeitgenössische Musiker schon gemacht: Wo liegt der Profit der Gesellschaft bei dem, was wir machen? Wenn ich die Gewissheit habe, mich mit Fragestellungen unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen, rechtfertigt das für mich persönlich, dass ich so viel Zeit in diese Projekte investiere. Ich weiß, es gibt Komponistinnen und Musiker, die davon überzeugt sind, dass Musik für sich steht und keine außermusikalischen Kontexte benötigt. Das stimmt für uns so nicht. Nach Konzerten haben wir oft interessante Gespräche mit Leuten, die unsere Fragestellungen ganz anders interpretiert haben als wir. Das ist für uns eine schöne Bestätigung. Denn unsere Performance hat dazu angeregt, sich Gedanken zu machen.
Julian Kämper

 

eventuell.: Manuela Villiger und Vera Wahl ©zVg eventuell.

 

eventuell., Julian SiffertYiran Zhao, Loïc Destremau

Konzerttour:
eventuell. connected2120.05.-01.06.2021 (Zürich, Basel, Olten, Baden und Luzern)Kompositionen von Lara Stanic und Mathieu Corajod

Am 9.Juni 2021, um 20h, tritt das Duo eventuell. mit dem Programm eventuell.fern in der Reihe musica aperta in Winterthur auf, mit Werken von Felix Baumann, Emilio Guim, Mauro Hertig, Simon Steen-Andersen, François Rossé, Matthew Shlomowitz und Alex Mincek.

Sendung:
BR KLASSIK Horizonte, 06.05.2021, 22:05: da sein. Das Saxophon-Duo eventuell., Autor: Julian Kämper, Redaktion: Kristin Amme

Neo-Profiles: eventuell., Manuela Villiger, Vera Wahl, Mauro Hertig, Victor Alexandru Coltea, Lara Stanic, Mathieu CorajodSimon Steen-Andersen, Mauro Hertig

 

Maria Kalesnikava das Gesicht von Belarus

IN CASE YOU MISSED IT: ECLAT AGAIN ONLINE FROM 17.2. till 21.2.!

Gabrielle Weber
Eclat Stuttgart, das Festival für Neue Musik, findet online statt. Ein umfangreicher Schwerpunkt ist der Demokratiebewegung in Belarus gewidmet.

Durch Maria Kalesnikava, seit September 2020 inhaftierte Ikone der friedlichen Demokratiebewegung, hat der Konflikt einen starken Bezug zur Stuttgarter Kulturszene. Als Musikerin, Pädagogin, Vermittlerin und Organisatorin war sie hier während vieler Jahre aktiv. Kalesnikava wird im Rahmen des Festivals mit dem Menschenrechtspreis 2021 der Gerhart und Renate Baum Stiftung ausgezeichnet.

Maria Kalesnikava ©zVg Eclat / Musik der Jahrhunderte Stuttgart


Im Project Echoes – Voices from Belarus finden belarusische und internationale Kunst- und Musikschaffende in kurzen künstlerischen Statements zum Konflikt zusammen.

Mit von der Partie in Echoes – Voices from Belarus sind zwei Komponisten aus der Schweiz, Andreas Eduardo Frank und Oscar Bianchi. Mit Frank und Bianchi unterhielt ich mich zu ihren Arbeiten für Eclat.

Oscar Bianchi traf ich per Zoom in seinem Atelier in Berlin an. Der gefragte, international tätige Schweizer Komponist mit Tessiner Wurzeln ist dem Festival Eclat schon seit langem verbunden und präsentierte in Stuttgart immer wieder neue Stücke.

Sein Projekt zu Belarus habe eine Vorgeschichte, sagt Bianchi. Der tragische Tod von George Floyd durch Polizeigewalt und die mediale Berichterstattung darüber habe ihn traumatisiert. Seine Betroffenheit verarbeitete er im Sommer 2020 zu einem kurzen Stück. Darin ging es Bianchi nicht nur um Rassendiskriminierung, sondern generell um Unterdrückung und Brutalität.

Oscar Bianchi ©Philippe Stirnweiss

Und als Christine Fischer, Intendantin von Eclat Stuttgart, ihn auf ihr Belarus-Vorhaben ansprach, schlug er vor, das Stück nochmals anders zu beleuchten. “Ich will einen Akzent setzen und einen Beitrag dazu leisten, Gehör zu verschaffen, dass jede Form von Brutalität und Unterdrückung nicht toleriert werden dürfen”, sagt Bianchi.


Oscar Bianchi, With you, UA Murten Classics 2020

Auch Fischer initiierte das Belarus-Projekt aus persönlicher Betroffenheit. Denn eine der Hauptanführerinnen der Belarusischen Demokratiebewegung, Maria Kalesnikava, war viele Jahre in der Stuttgarter Kulturszene aktiv, als Musikerin, Pädagogin und Projektleiterin, u.a. an der Musikhochschule oder am Festival Eclat.

Zuletzt leitete Kalesnikava die Social Media-Aktivitäten des Festivals, bevor sie für eine andere Aufgabe nach Belarus zurückkehrte, sich dort sofort der Demokratiebewegung anschloss und in kürzester Zeit zu einer der Leitfiguren avancierte. Zusammen mit Swetlana Tichanowskaja, der Oppositionsführerin, und Veronika Zepkalo, enge Mitarbeiterin, ist sie von diversen Auftritten auf Podien der Demokratiebewegung in lebhafter Erinnerung. Sie wurde am 8. September 2020 verschleppt und ist seither inhaftiert.

Maria Kalesnikava mit Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkalo an Protesten in Minsk ©zVg Eclat / Musik der Jahrhunderte Stuttgart

Als Maria Kalesnikava, die Bianchi vom Eclat-Festival gut kannte, inhaftiert wurde, sei rasch klar gewesen, dass die Belarusische Regierung auf den Faktor Zeit setze und darauf zähle, dass das mediale Interesse schwinde, so Bianchi.  Umso wichtiger seien solch kulturelle Aktionen, um den Diskurs wachzuhalten und die Menschen zu sensibilisieren.

‘Die Sturmhaube – Symbol für institutionalisierte Macht und Unterdrückung’

Bianchi schloss sich mit der Belarusischen Videokünstlerin Vasilisa Palianina zusammen. In der gemeinsamen Arbeit gingen sie dem Bild von Polizeitruppen in voller Kampfmontur und ‘Balaclava’ (Sturmhaube) nach, stellvertretend für die allgegenwärtige, gewaltbereite Bedrohung in Belarus und in vergleichbaren Konflikten. Die Anonymität durch die Sturmhaube sei ein Symbol für den Verlust von Transparenz, Rechenschaftspflicht und für institutionalisierte Macht und Unterdrückung. Und alles geschehe im Verborgenen.

“Die Bilder und der Klang erzählen zusammen eine eigene Geschichte “, sagt Bianchi zur gemeinsamen Arbeit.

In Voices from Belarus ist auch Andreas Eduardo Frank, Komponist aus Basel, dabei. Franks Musik beinhaltet oft Video und Multimedia oder ist musiktheatralisch angelegt. Für das Belarus-Projekt vertonte er ein Video.

Er ist der Stuttgarter Kulturszene gleichfalls lange verbunden und initiierte im ersten Lockdown das online Coronaprojekt – SuperSafeSociety. Da ging es ums Ausloten neuer digitaler partizipativer Konzertformate. Das Resultat war ein online Musiktheater, das für jeden Zuschauer individuell stattfand. Deswegen sprach ihn auch die Intendantin Christine Fischer fürs Projekt Belarus an. Beim Belarus-Projekt gehe es gerade in Zeiten von Corona auch darum, Künstler in Belarus, die selbst unter der Unterdrückung leiden, zu fördern und zu unterstützen, meint Frank, und war deshalb sofort dabei.

Andreas Eduardo Frank ©Andreas Eduardo Frank

Mit Maria Kalesnikava hatte Frank in diesem Umfeld zu tun. Und es habe ihn nicht erstaunt, sie so plötzlich an vorderster Front der Belarusischen Demokratiebewegung zu sehen. Denn Maria habe eine unglaubliche Ausstrahlung und Anziehungskraft, die begeistere und auch medienwirksam sei.

Frank fand für seinen Beitrag mit dem Belarusischen Videokünstler Mikhail Gulin zusammen. Gulins Video Sisiphus ergänzte er mit einem Soundtrack, bestehend aus genau acht selbstgesprochenen Worten: “exploit / hurt / fought / suppressed / punished / choked / repeat / proceed”.

Frank destillierte diese Worte aus Gesprächen mit Gulin: “Es gibt den Komplex Sisiphus, und es gibt den Komplex Belarus und das Engagement dafür. Beide finden im künstlerischen Kommentar zusammen” meint Frank dazu. Die Parallelen zwischen Sisiphus und dem Künstlerdasein seien natürlich evident, wie das permanente Sich-Abmühen oder das Ausgeliefertsein der Kunstschaffenden gegenüber der mächtigen Staatsmaschinerie.

“exploit / hurt / fought / suppressed / punished / choked / repeat / proceed”

Mit den Worten fütterte Frank einen Sampler und improvisierte dann zum Video mit kleinem elektronischem Setup. Er verfremdete die Worte, spielte sie schneller oder langsamer ab, filterte sie: “Daraus entstanden Klänge wie ‘getriebene Schweine’ oder ersticktes Atmen neben den erkennbaren Wörtern. Und es ist auch eine Spur von bitterer Ironie dabei: die heftigen Wörter erhalten eine andere Semantik, gemeinsam mit dem Bild von herumgeschobenen Heuballen..” sagt Frank.

Andreas Eduardo Frank& Mikhail Gulin: Sisiphos, UA Eclat Stuttgart 2021

Das Projekt hat auch Franks eigene Sensibilisierung für den Konflikt massgeblich verstärkt. “Wir sitzen hier und uns geht’s eigentlich gut – und die Leute dort werden verschleppt und gefoltert, sie verschwinden einfach”. Unvergesslich sei ihm eine Begegnung direkt vor der Fertigstellung des Projekts: Frank habe seinen Teil beendet, Gulin hingegen noch nicht. Worauf Gulin ihm erklärte: “Today, a close friend, was taken to the police. People are imprisoned, abducted, beaten. The judicial system does not work.”
Gabrielle Weber

Frauenpower und mediale Aufmerksamkeit in Belarus, September 2020 ©zVg Eclat/Musik der Jahrhunderte Stuttgart

Mehrere Formate thematisieren am Eclat den Belarusischen Konflikt:
Freitag, 5.2. Echoes – Voices from Belarus: Koproduktionen Belarusischer mit internationalen Kunst- und Musikschaffenden.

Sonntag, 7.2., 17h: Verleihung des Menschenrechtspreises 2021 der Gerhart und Renate Baum Stiftung an Maria Kalesnikava / Konzert Trio vis à vis. Der Preis wird übergeben von Bundesminister a.D. Gerhard Baum, entgegengenommen von der Schwester Kalesnikavas, Tatsiana Khomich.

3.-7.2.: digitale Ausstellung, Belarus – der Weg zu sich selbst: während des ganzen Festivals online zu begehen.

An der 41. Ausgabe von ECLAT gibt es 13 meist live gestreamte Konzerte mit ausschliesslich digitalen Werken und zahlreichen Uraufführungen. Interviews, Chats, Diskussionen, Games u.v.a.m. begleiten durch die fünf Festivaltage.

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Belarus – Zur Erinnerung: Im August 2020 bestätigte sich der autoritär regierende Staatschef Lukashenko nach demokratischen Wahlen selbst erneut im Präsidentenamt, obwohl die Bürgerrechtlerin und Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja die Mehrheit in den Wahlen erlangte. Das Wahlresultat wurde seitens EU nicht anerkannt. Tichanowskaja lebt nun im Exil in Litauen, ihre Mitspielerin Veronika Zepkalo im Exil in Polen. Maria Kalesnikava wurde am 8. September in Minsk inhaftiert als sie sich einer Ausschaffung widersetzte. Sie ist nach wie vor in Untersuchungshaft.

Am 27. Januar 2021 prangerte Amnesty International die Folter in Belarus an.
Musik der Jahrhunderte / Eclat bemüht sich zusammen mit Menschenrechtsorganisationen und unterstützt durch Politiker*innen seit September 2020 um die Freilassung von Maria Kalesnikava.

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Eclat / Musik der Jahrhunderte, Trio vis à vis, Mikhail Gulin, Vasilisa Palianina

Sendungen SRF 2 Kultur:
Kultur aktuell / Kultur kompakt Podcast, 4.2.21: Redaktion Theresa Beyer, Kritik Konzert Voice Affairs / Festival Eclat

Kultur aktuell / Kultur kompakt Podcast, 5.2.21: Redaktion Gabrielle Weber, Portrait Maria Kalesnikava / Festival Eclat

in Musik Magazin, 6.2./7.2.12: Redaktion Moritz Weber, Beitrag Gabrielle Weber, Portrait Maria Kalesnikava / Festival Eclat

Neo-Profiles: Andreas Eduardo Frank, Oscar Bianchi

‘Ein Madrigal-Trip’

Das Berliner Festival Ultraschall findet statt! Live und zeitversetzt on air am Radio, auf Deutschlandfunk Kultur und rbbKultur. Der Basler Komponist und Videokünstler Jannik Giger bringt am 22.1. ein neues Stück zur Uraufführung: ‘Qu’est devenue ce bel oeuil’ für Sopran, Bassklarinette und fiktive Vierkanal-Orgel. Das Konzert ist live am Freitag, 22. Januar 2021, 20h, und in der Wiederholung am 16. Februar zu hören.

Jannik Giger Portrait ©zVg Jannik Giger

Gabrielle Weber
Giger bezieht sich in seinen Arbeiten oft auf die ‘klingende Vergangenheit’, auf Tondokumente oder Stücke von bspw. Franz Schubert, Leos Janacek oder Bela Bartok. Meist beinhalten seine Stücke auch Video, Installation oder räumliche Komponenten. Und manchmal erstellt Giger auch Filmsoundtracks, die als eigenständige Musikwerke den Filmen gegenüberstehen.


In der Video-Installation Gabrys und Henneberger – Transformationen (UA Gare du Nord Basel 2014) improvisiert der Kontrabassist Aleksander Gabrys live zu einem Video. Auf diesem ist der Dirigent Jürg Henneberger zu sehen, wie er das Ensemble Phoenix in Gigers Clash dirigiert.

Diesmal widmet er sich erstmals der Renaissance. Das neue Stück für Ultraschall mit dem Titel Qu’est devenue ce bel oeuil basiert auf dem gleichnamigen Madrigal des Renaissance-Komponisten Claude Le Jeune für Stimmen a capella.

Über sein neues Stück unterhielt ich mich mit ihm per Zoom von Zürich nach Basel auf der Zielgeraden zur Uraufführung.

Das Musikleben pausiert gerade aufgrund der Pandemie.. Wie hat sich ihr Arbeiten verändert?

In meinem Arbeitsalltag als Komponist verbringe ich viel Zeit alleine im Studio oder in der Kammer. Ausser den extremen sozialen Einschränkungen hat sich deshalb wenig verändert. Aber die Vorgeschichte und die Probenarbeit für einzelne Stücke ist kompliziert geworden.

Begonnen habe ich das neue Stück für Ultraschall in Berlin. Ich hatte dort ein Stipendium (Atelier Mondial) und wollte ein halbes Jahr lang intensiv Museen, Galerien und Konzerte besuchen. Aufgrund der Pandemie war alles geschlossen. Hingegen kenne ich nun alle Seen, Parks und Wälder in und rund um Berlin. Durch dieses Vakuum von der Aussenwelt verbrachte ich eine geschützte, zurückgezogene Zeit und konnte mich richtig gut aufs Komponieren konzentrieren. Das war eine positive Seite.

Die negative Seite: Proben- und Konzertsituationen sind die eigentliche Belohnung fürs einsame Komponieren. Diese kleinen speziellen Momente, in denen sich alles verdichtet, die sich aus dem Arbeitsjahr abheben, sind nun nicht mehr existent.

Ihre Arbeiten beinhalten meist auch Visuelles wie Video oder Installation: gibt es beim Stück für Ultraschall solche Aspekte oder adaptierten Sie es für die rein radiophone Uraufführung?

Es ist zwar ein kammermusikalisches Stück ‘für Stimme, Bassklarinette und fiktive Orgel’, war aber ursprünglich gedacht als räumliches Live-Stück. Den Auftrag erhielt ich von den Musikerinnen Sarah Maria Sun, der Sopranistin, und Nina Janssen-Deinzer, der Klarinettistin. Ihr Wunsch war der Einbezug von Elektronik. Ich entschied mich für eine Vierkanalzuspielung, eine imaginäre grosse Orgel – vier Lautsprecher, die um sie herum platziert sind. Da es nun ohne Publikum stattfindet und übers Radio ausgestrahlt wird, fällt die geplante räumliche Komponente weg.

Jannik Giger: Sarah Maria Sun (Sopran) in der Schlotterarie aus Kolik, UA Gare du Nord Basel, 2019


Eine Crazy-Harmonik..

Wie kamen Sie gerade auf Claude Le Jeune? Sie befassten sich bislang eher mit Stücken aus der Romantik, Klassik, Barock oder mit Wegweisern der Moderne? Was ist ihr Bezug zur Renaissance?

Ich schöpfe oft aus bestehenden Versatzstücken oder Materialien auf die ich zufällig stosse und die mich auf irgendeine Weise ansprechen. Der Sänger Jean-Christophe Groffe hat mich auf dieses fantastische Vokalstück aufmerksam gemacht. Speziell an Le Jeune ist die Crazy-Harmonik. Das Stück ist komplett durch-chromatisiert und einheitlich: Da gibt’s einen Text, eine Harmonik, eine Form, eine repetitive Rhythmik. Dass ich von diesem Material ausging, war ein intuitiver Entscheid. Es entstand ein assoziatives, fast anti-intellektuelles Stück mit einem einfachen Konzept: die Kombination des Choralmaterials mit Orgelklängen. Meine eigene Vorgabe war, dass es nichts anderes an Samples beinhalten dürfe als Orgelklänge.

Claude Le Jeune (1528-1600), Qu’est devenu ce bel oeuil

.. hatte das vielleicht etwas mit der Pandemie zu tun? Ein Rückbezug auf eine ferne Vergangenheit, auf die musikalische Renaissance..

Nein – oder vielleicht schon.. Es geht ja um Vergänglichkeit, das Stück hat etwas Nostalgisches. Bereits die Titel-Frage ‘Qu’es devenu ce bel oeil?’.. Was ist passiert.? Alles löst sich auf.. Le Jeune begleitete mich in Berlin. Ich komponierte da auch ein Stück fürs Arditti-Quartett, in dem ich mich auf ihn bezog.

Wie gingen Sie kompositorisch vor? Weshalb diese Besetzung?

Ich hörte mir zahlreiche Orgelaufnahmen an -von Bruckner, Machaut, Bach, Brahms, Buxtehude- und sampelte einzelne Orgelklänge ab. Darin lassen sich nicht nur verschiedene, unterschiedlich gestimmte Orgeln hören, sondern auch verschiedene Räume. Während Wochen erstellte ich mir so ein Archiv an Klängen. Dann “baute” ich aus verschiedenen Samples die fiktive Orgel durch Montage und Collage. Das Aneinanderreihen und Überlagern von Klängen und Räumlichkeiten ergab eine fast orchestrale Komplexität.


Jannik Giger, Ausschnitt aus Elektronikspur / Fiktive Orgel in: Q’est devenu ce bel oeil, UA Festival Ultraschall 22.1.2021


Im Stück kommen die beiden Solistinnen zur fiktiven Orgel: Wie muss man sich das als Ganzes vorstellen?

Das obig eingefügte Tonbeispiel zeigt einen Ausschnitt aus der Tonspur der fiktiven Orgel allein. Jeder Akkord stammt von einer anderen Orgel. Die Tonspur läuft im Konzert durch, verteilt auf vier Lautsprecher, und wird sich mit den Live-Instrumenten mischen. Die zwei Ebenen spielen miteinander. Manchmal verschmelzen sie, manchmal sind sie gegenläufig.

Ein ‘Madrigal-Trip’

Das ursprüngliche Stück von Le Jeune ist ein Madrigal für Stimmen a capella, die Chromatik übernehmen Sie in die Vier-Kanalorgel – wie gehen Sie mit der Stimme um?

Sarah Maria Sun, die Sopranistin, singt auf den Originaltext von Le Jeune. Manchmal klingt das nach französischem Chanson, manchmal nach Renaissance oder nach zeitgenössischer Musik, gespickt mit neuen Spieltechniken. Die Stimme fluktuiert von melodiös und tonal zu sehr geräuschhaften Passagen. Sie spielt mit ästhetischen Referenzen. Es ist fast ein ‘Madrigal-Trip’ entstanden.

Giger on air oder im live-stream: geht das überhaupt? Sehen Sie auch Chancen in der aktuellen Situation und wie gehen Sie mit ihr um?

Wenn Kammermusik gut aufgenommen wird, auch visuell, kann das im Livestream schon funktionieren. Stücke für mehrere Instrumente oder für Orchester gehe ich aber gerade anders an. Es ist ein physisches Vakuum da: weil die Musikerkörper nicht präsent sind, weil die Ritualisierung der Konzerte fehlt, das Auftreten, das Abtreten, die Spannungsmomente. Reine Dokumentation reicht nicht mehr aus. Ich versuche, einen Schritt weiter zu gehen. Kürzlich nahm ich bspw. ein CD zusammen mit Dieter Ammann auf (CD Ammann-Giger, Mondrian Ensemble, Ensemble Nuance): Der Tonmeister Alexander Kordzaia hat die Aufnahme close mikrophoniert, bewusst fast überproduziert. Die Musik ist mikroskopisch aufgefächert. Das Produkt ist keine Abbildung von live, sondern erhielt eine komplett andere Wahrnehmungsqualität.

Was kommt danach? 2021 soll bspw. auf dem Label KAIROS eine neue CD herauskommen mit Titel  Krypta – wollen Sie dazu etwas verraten? Und gibt es kommende Projekte?

Die Platte vereint bereits produzierte, z.T. noch nicht veröffentlichte Instrumentalmusik. Krypta war eine Klanginstallation fürs Musikfestival Bern, von der es auch eine reine Stereo-Audiospur gibt. Oder es gibt ein neues Stück, eine Montagearbeit aus Studio-Recordings mit den Ensembles Xasax und Thélème.


Jannik Giger, Ausschnitt aus Krypta, Multichannel Orchestration, Musikfestival Bern 2019

Ich freue mich auf ein Projekt für die Architekturbiennale in Venedig. Bei der Eröffnung im Mai im Pavillon Suisse soll ein räumliches Stück von mir aufgeführt werden – falls es stattfinden kann.. Auf Basis von Architekturtexten arbeite ich mit dem Opernsänger Andrejs Krutojs. Es geht um Venedig und die italienische Oper. Und für ZeitRäume Basel machte ich mich an die Arbeit für eine Videoinstallation. Sie befasst sich mit der Thematik der ‘Blind audition’, eine Form des gendergerechten Vorspielens für Orchesterstellen.
Gabrielle Weber

Jannik Giger Portrait © zVg Jannik Giger


Ultraschall Berlin
– Festival für neue Musik: findet vom 20. Bis zum 24. Februar statt. Hier geht’s zum genauen Programm.

Konzert 22.1., 20h, live Deutschlandfunk Kultur:
Sarah Maria Sun, Sopran, und Nina Janssen-Deinzer, Klarinetten und Saxophon, UA Jannik Giger Qu’est devenu ce bel oeuil und Werke von u.a. Georges Aperghis, Toshio Hosokawa, Wolfgang Rihm.
Wiederholung 16.2.20, 23:04h, rbb Kultur in: Musik der Gegenwart

Jannik Giger, CD Ammann-Giger / a tree in a field records – Koproduktion SRF 2 Kultur, Atelier Mondial, KAIROS, Andrejs Krutojs, Alexander Kordzaia, Ensemble Nuance, Festival ZeitRäume Basel, Biennale Venezia, ThélèmeJean-Christophe Groffe

Sendungen SRF 2 Kultur
Kultur Aktuell & Kultur Kompakt Podcast, 22.1.21, 8:05h/11:30h: Livegespräch zum Festival Ultraschall und UA Jannik Giger, Gesprächspartnerin Gabrielle Weber
Musik unserer Zeit, 3.2.21, 20h: Jannik Giger, der Scherbensammler, Redaktion Theresa Beyer
Musikmagazin, 6./7.2.21: Jannik Giger im Café-Gespräch mit Theresa Beyer
srf online: Multitalent Jannik Giger – Dieser Komponist hält der verstaubten Klassik den Spiegel vor, Autorin Theresa Beyer

Neo-Profiles
Jannik Giger, Sarah Maria Sun, Musikfestival Bern, Ensemble Phoenix Basel, Mondrian Ensemble, Aleksander Gabrys, Dieter Ammann, Xasax Saxophonquartett, ZeitRäume Basel

An Moku – Klangkünstler und Soundtüftler

Entdecken! so lautet ein neoblog-Vorsatz fürs neue Jahr. Immer wieder portraitiert der neoblog etwas Besonderes aus dem wachsenden Pool an neo-Profilen. Den Einstieg bildet Dominik Grenzler aka An Moku. Mit Grenzler unterhielt ich mich zwischen den Jahren.

Gabrielle Weber
Grenzler aka An Moku ist -nicht nur- seit dem ersten Shutdown- enorm produktiv. Seiner Musik kam die Zeit des Innehaltens fast organisch entgegen. Denn sie verbindet Naturklang mit Urbanem. Grenzler der naturverbundene Elektro-Soundtüftler, nutzte die Zeit des ersten Shutdowns für neue Kollaborationen. Und er setzte Field Recordings ein, Aufnahmen aus seinem Umfeld, aus der Natur, dem Alltagsleben, von vergangenen Reisen.
In kürzester Zeit entstanden in Folge gleich drei neue CDs

Dominik Grenzler aka An Moku ©zVg Dominik Grenzler

“Für die Kollaborationen während des Shutdowns habe ich Field Recordings aus meiner grossen Sammlung verwendet. Ich nehme sie überwiegend auf meinen Reisen auf. Sie sind eine Art Reisetagebuch. Da ich nicht physisch unterwegs sein konnte, reiste ich online nochmals mit ihnen. Und dazu erkundete ich digital Ungeahntes “.

Grenzler stammt ursprünglich aus Gdynia, Polen, und es verschlug ihn jung nach Deutschland, in den Ruhrpott. In der dortigen Club- und Popszene machte er sich zunächst als E-Bassist einen Namen, bevor er sich vor einigen Jahren für die neue Wahlheimat Zürich entschied. Mit An Moku, seinem Pseudonym für experimentelle Musik, entstanden dann im Nu diverse Zusammenarbeiten mit hiesigen Musikschaffenden. Und neue sind geplant, bspw. mit der Bassistin Martina Berther.


An Moku & Frederik Vanderlynden, Mirror / Of Mirrors, 2020

Die CD ‘Of Mirrors‘ entstand bereits 2012, als Zusammenarbeit mit dem belgischen Klangkünstler Frederic Vanderlynden aka Virlyn, auf der Basis von Field Recordings aus Island. Das Album ruhte zunächst in der Schublade und nahm erst mit der Zusammenarbeit mit den Schweizer Musikern Cornelia Stromeyer, Piano, Oriana Zänerle, Geige und Jacki Knöpfel, Cello eine endgültige Form an. “Die CD spiegelt eigentlich eine Reise in die Vergangenheit”, meint Grenzler.


An Moku & Frederik Vanderlynden, Frost / Of Mirrors, 2020

Of Mirrors bietet einen enormen, äusserst subtilen Farbenreichtum.
Flirrend, knisternd steigt der erste Track ein. Minimal tonal changierende Klangteppiche, repetitive Patterns brechen allmählich das elektronische Flimmern. Und immer wieder evozieren Instrumentalklänge vermeintlich konkrete, dennoch unbestimmte Orte.
Grenzler vermittelt in Of Mirrors Stimmungen fast mit einem filmischen Ansatz: es entstehen Bilder im Kopf, vage Landschaften, Weite und Ferne.

Um Musik, die Bilder evoziert, geht es auch bei der CD von An Moku mit Joel Gilardini.
Die Gelegenheit zur Zusammenarbeit ergab sich durch Grenzlers Einladung zum zehnten ‘Marathon des Zelluloids’ im Dezember 2019 in Zürich. Ein Stummfilmfestival mit Soundtracks, gespielt als Live-Performances.


An Moku & Joel Gilardini, 2020

Die CD basiert auf gemeinsamen Improvisations-Sessions seit Herbst 2019, bei denen die beiden ihren gemeinsam Ton gefunden hätten, meint Grenzler, unabhängig vom konkreten Film. Dieser sei erst kurz vor dem Festival bekanntgegeben worden: drei Kurzfilme der US-amerikanischen Avantgarde-Filmemacherin Maya Deren aus den vierziger Jahren. Dazu Grenzler: “Maya Deren dient zwar als ein Soundtrack. Aber eigentlich entstand eine Art Kopfkino”.

Auch die Stücke dieser CD kommen unbestimmt, fast mysteriös daher und lassen Raum für die eigene Imagination. Bspw. tragen die Tracks keine Titel, nur rätselhafte Nummerierungen: 5 – 11.2 – 2 – 13 – 8 – 11.1 – 10, geben also keinen inhaltlichen Anhaltspunkt.

“Gerade eben ist das Album von dem Musik-Blog «Post Ambient Lux» zu den Top 100 Ambient-Alben 2020 ernannt worden”, freut sich Grenzler.

Auf dem jüngsten Album ‘Where We Meet‘ trifft Grenzler auf den belgischen Gitarristen Stijn Hüwels. Where We Meet entstand während des Lockdowns im Frühling, zwischen Zürich und Leuven, und ist die erste Zusammenarbeit zwischen Grenzler und Hüwels.


An Moku & Stijn Hüwels, Where we meet, 2020

“Das Album ist voll von mikroskopischen Field Recordings. Mir reichen meist ein paar wenige Sekunden, um dem musikalischen Kontext eine interessante farbliche Nuance, gar Wendung zu verleihen. Mit der heutigen Technik im Gepäck klingt sogar ein Specht im Wald fremd..”, sagt Grenzler dazu.

Atonale Verrücktheit und imaginierte Welten

Früher machte ich Rock und Pop. Heutzutage interessiere ich mich weniger für harmonische Melodien, sondern mehr für Stimmungen”, so Grenzler und beschreibt die Musik von An Moku selbst als “atonale Verrücktheit”, und seine musikalischen Genres mit “Experimental Music, Dark Ambient, Drone, Soundtrack”.

An Moku, das Alter Ego, stammt aus dem Japanischen und bedeutet: “tacit, unsaid, implicit”, umfasst also das, was nicht genau in Worte gefasst werden kann oder soll. Das was mitschwingt oder sich von selbst versteht. Und genau das macht das Geheimnis von An Moku aus.

An Moku evoziert ferne Welten, sei es geografisch oder zeitlich, und lässt der eigenen Imagination Raum. Und entsprechend sind die CD-Covers von einer japanisch minimalistischen Ästhetik geprägt: schwarz-weisse bis tiefblaue, meist eigene Fotografien Grenzlers, darauf Landschaften, vereinzelte unkenntliche Menschen. Das bestätigt er: “Der Minimalismus zieht sich bei mir durch alles durch – Ob Klang- oder Bild. Am liebsten würde ich Musik nur aus einem einzigen Element bestehend machen”.

Vorerst erscheint aber anfangs 2021 ein weiteres Album aus der Shutdownphase zusammen mit Stefan Schmidt aus Deutschland auf Karlrecords und im Frühling ein minimalistisches Bass-Gitarren-Solo-Album auf dem New Yorker Label Puremagnetik.
Gabrielle Weber

Dominik Grenzler aka An Moku ©zVg Dominik Grenzler

 

Of Mirrors: Kooperation zwischen dem von Grenzler gegründeten Zürcher Label EndTitels und dem britischen Label Audiobulb.

An Moku und Joel Gilardini: erschienen auf dem japanischen Label  Bullflat3.8.

Where We Meet: erschienen auf dem britischen Label Slowcraft Record

An Moku, Martina Berther, Maya Deren, Stijn Hüwels, Joel Gilardini, Frederic Vanderlynden aka Virlyn, Marathon des Zelluloids, Stefan Schmidt, Karlrecords, Puremagnetik, «Post Ambient Lux»

Neo-Profiles
An Moku, Martina Berther, Joel Gilardini

 

 

 

 

 

 

Stilles Beben – Der Komponist Charles Uzor

Mit sieben Jahren hat er seine Muttersprache Igbo vergessen und eine neue Sprache gelernt: Schweizerdeutsch. Der Komponist Charles Uzor macht sich in seiner Musik auf den Weg zurück in seine nigerianische Kindheit, in die «pochende und bebende Natur» der afrikanischen Tropen, zur fernen Stimme seiner Mutter. Cécile Olshausen hat Charles Uzor besucht.

Charles Uzor Portrait ©zVg Charles Uzor

Cécile Olshausen
Es regnet, als ich in St. Gallen aus dem Zug steige. Mein Smartphone zeigt mir den Weg zu Charles Uzors Wohnung. Er lebt mitten in der St. Galler Innenstadt, nur zwei Minuten zu Fuss. Trotzdem schaffe ich es, mich zu verlaufen.

Umwege haben mich zu Charles Uzor geführt. Vor vielen Jahren sassen wir einmal zufällig nebeneinander in einem Konzert, haben uns unterhalten. Seither habe ich seinen Namen, seine Musik immer wieder gehört. Persönlich aber sind wir uns nie mehr begegnet.

Jetzt öffnet er mir die Türe und ich schüttle ein paar Regentropfen ab, bevor ich eintrete. Charles Uzor empfängt mich in seiner grosszügigen Stadtwohnung. Mein Blick fällt auf einen Flügel, auf Wände voller Bücher und CDs, in der Küche plätschert der Heizkörper wie ein Springbrunnen. Ein Sonnenschirm lehnt in einer Ecke des Wohnzimmers und erinnert an den Sommer, während draussen über dem kleinen Balkon ein riesiger Weihnachtsstern hängt.

Am Stubentisch nehmen wir Platz. Und von der städtischen Adventsbeleuchtung direkt vor seinem Fenster führt uns unser Gespräch langsam hinein in die Lebens- und Klangwelten von Charles Uzor. In eine Biografie, in der sich so viele Wege kreuzen.

In Nigeria ist Charles Uzor 1961 zur Welt gekommen. Wenige Jahre später entbrannte in seiner Heimatregion Biafra ein grausamer Kampf um Unabhängigkeit. Mit sieben Jahren entkam er den Kriegs-Gräueln. In St. Gallen fand Charles Uzor eine neue Familie. Hier ging er zur Schule, machte seine Matura. Studien – zuerst Oboe, dann Komposition – führten ihn nach Rom, Bern, Zürich und London. Seine Dissertation schliesslich schrieb er über Melodie und innerliches Zeitbewusstsein. Charles Uzors Werke sind vielseitig: Opern, Tanz-, Orchester- und Chorkompositionen, aber auch viele Stücke für Ensemble-Besetzungen.

Über seine Musik verbindet sich Charles Uzor mit seiner Vergangenheit, mit seiner Kindheit in Nigeria.

Unsere Unterhaltung verläuft ruhig, es ist ein Gespräch, das Stille zulässt. Ein Stille, die ich auch in manchen Stücken von Charles Uzor wiederfinde. Zum Beispiel in    Nri/ mimicri (2015/2016) für Ondes Martenot, Schlagzeugensemble und Tonband. Das ist keine linear sich entwickelnde Komposition, vielmehr ein Klangraum, durch den man sich aufmerksam hörend tastet. Als betrete man ein Tropenhaus und befinde sich – kaum ist man über die Schwelle getreten – in einer völlig anderen Welt. Nri/ mimicri ist für Charles Uzor eine Annäherung an seinen «afrikanischen Ursprung», wie er es selbst formuliert, ein Stück, in dem man «das Pochen und Beben der Natur» wahrnehmen könne. Und es ist eine Referenz an seine Urahnen, die Nri, ein sagenumwobenes nigerianisches Volk.


Charles Uzor, Nri/mimicri, Percussion Art Ensemble Bern, UA 2016, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzor ist Igbo und im Südosten von Nigeria aufgewachsen, im Nigerdelta, einer Region mit tropischem Regenwald und vielen Flüssen. Mit seiner Familie hat er sich auf Igbo unterhalten. Als er dann mit sieben Jahren in die Schweiz kam, hat sich diese Sprache innerhalb kürzester Zeit verflüchtigt. Und blieb verschwunden. Bis heute treibt es Charles Uzor um, dass er seine Muttersprache einfach vergessen konnte.

.. traditionelle Igbo-Sprichwörter auf Band gesprochen..

Glückliche Umstände haben dazu geführt, dass er nach dem Biafrakrieg seine Familie wiederfand. Mittlerweile Teenager und fest verankert in seiner Schweizer Lebenswelt, entschied sich Charles Uzor, bei seiner St. Galler Familie zu bleiben. Mit seiner nigerianischen Mutter, die heute in den USA lebt, steht er seither aber im Kontakt. Und in seinem Zyklus Mothertongue (2018) hört man ihre Stimme. Sie hat traditionelle Igbo-Sprichwörter auf Band gesprochen.


Charles Uzor, Mothertongue Fire / mimicri for tape, Maria Christina Uzor, 2018

Uzor verarbeitet diese Aufnahmen zu einer Komposition und verbindet sich so klanglich mit einer Sprache, die er nicht mehr versteht. Mit seiner Muttersprache.


Charles Uzor, Mothertongue für Mezzosopran, Ensemble und Tonband, Ensemble Mothertongue, UA Musikfestival Bern 2020, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzors kompositorische Wege führen ihn nicht nur zurück in die Vergangenheit seiner afrikanischen Kindheit, sondern auch in weit entfernte Jahrhunderte. Während einer kurzen Gesprächspause, in der wir die Fenster öffnen und frische Luft hereinlassen, werfe ich einen Blick auf Charles Uzors überbordendes, buntes CD-Regal – und mir fällt auf: viel Musik von Pérotin, Guillaume de Machaut, Johannes Ockeghem oder Costanzo Festa. Woher diese Liebe zur Alten Musik komme, möchte ich von Charles Uzor wissen, als wir den Gesprächsfaden wieder aufnehmen.

In dieser vorbarocken Musik öffne sich, so Uzor, eine Weite und Wildheit, eine Ordnung und Struktur, die ihn magisch anziehe: «Ich habe oft das Gefühl, ich war da dabei; da kommen mir Bilder von mir als Renaissancemenschen, so nah empfinde ich das.» Und diese Musik mit ihren Reigen, Rhythmen und Repetitionen hat für Charles Uzor auch etwas Afrikanisches. So finden in seinen Kompositionen Alte Musik und afrikanische Sprach-Klänge zusammen. Wege, die sich treffen, Momente der Begegnung.

Was sich in seiner Musik mühelos verbindet, das Alte und das Neue, das Afrikanische und das Schweizerische, erfährt in seinem Alltag Risse. Denn als Schwarzer ist Charles Uzor von Rassismus betroffen – auch hier in der Schweiz. Und das, wie er mir erzählt, jeden Tag. Alltäglicher Rassismus.

8’46” – solange dauerte der Todeskampf des George Floyd

Charles Uzor hat auch nicht geschwiegen, als George Floyd ermordet wurde. Der schwarze US-Bürger, der im Mai 2020 durch Polizeigewalt zu Tode kam und dessen Mord weltweit Proteste ausgelöst hat, – zusammen mit der Bewegung «Black Lives Matter». Charles Uzor hat damals das Stück 8’46’’ Sekunden komponiert – solange dauerte der Todeskampf von George Floyd, dem der Atem abgedrückt wurde. Die Komposition besteht nur aus Atemgeräuschen. Für Charles Uzor war es eine Notwendigkeit, dieses Stück zu schreiben, um seine eigene tiefe Erschütterung zu verarbeiten und nach aussen zu tragen.


Charles Uzor, 8’46” – Floyd in memoriam, UA Musikfestival Bern 2020, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzors Hommage an George Floyd wurde am 4. September 2020 in Bern uraufgeführt. Ich habe diesen Konzertmoment in eindrücklicher Erinnerung. Eine konzentrierte Aufführung des Ensembles Mothertongue mit dem Dirigenten Rupert Huber. In keinem Moment pathetisch. Und am Ende der 8’46’’ kein Applaus – sondern Betroffenheit, Schweigen und einfach nur Stille.

Der Regen hat aufgehört und es ist dunkel geworden. Lange haben wir uns unterhalten. In der Küche kocht Charles Uzor einen Kaffee und das beruhigende Plätschern des Heizkörpers holt uns aus den Tiefen der Gesprächswelt zurück in die Gegenwart. Dann breche ich auf Richtung Bahnhof. Jetzt kenne ich den Weg.
Cécile Olshausen

 

Charles Uzor Portrait ©zVg Charles Uzor

Musikfestival Bern – Mothertongue, Rupert HuberPercussion Art Ensemble Bern

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 16.12.20, 22h: Pochen und Beben – der Komponist Charles Uzor, Redaktion Cécile Olshausen.

Neo-Profile: Charles Uzor, Musikfestival BernPercussion Art Ensemble Bern

Ungläubig, aber hoffend

Seit Lancierung von neo.mx3 machen die vier Sender der SRG auch Archivaufnahmen der Schweizer musikalischen Avantgarde sukzessive zugänglich. Inzwischen ist bereits ein enormer Fundus an raren Aufnahmen nach zu hören. Der neoblog macht immer wieder punktuell auf einzelne Musikschaffende, Ensembles oder wichtige Werke aufmerksam.
Der Basler Komponist Jacques Wildberger (1922–2006) -und sein Bezug zu Paul Celan- bilden den Einstieg.

Corinne Holtz: Jacques Wildberger vertont Paul Celan

Paul Celan (1920–1970) kam vor 100 Jahren als Paul Antschel in Czernowitz im damaligen Grossrumänien zur Welt. Er ist einer der meistvertonten deutschen Dichter und prägte über 50 Jahre Musikgeschichte. Der Schweizer Komponist Jacques Wildberger wandte sich in seinem letzten Werk noch einmal Celan zu.

Jacques Wildberger erläutert sein Komponieren ©zVg Michael Kunkel

Im April 1953 erreicht ein Zirkular die Vorstandsmitglieder des Schweizerischen Tonkünstlervereins. Es betrifft das Aufnahmegesuch des Schweizer Komponisten Jacques Wildberger. Unter den beigelegten Partituren findet sich das Trio für Oboe, Klarinette und Fagott aus dem Jahr 1952, entstanden nach Ende des strikten Studiums bei Wladimir Vogel im Tessin. Wildberger stösst mit seinen ersten eigenständigen zwölftönigen Arbeiten auf offene Ablehnung. „Niemand wird diese Werke je annehmen. Wir werden sie nie hören müssen und können darum ruhig Aufnahme beschliessen.“ Diese zynisch anmutende Bemerkung stammt von Paul Sacher, dem Mäzen und Dirigenten neuer Musik.

Jacques Wildberger: Trio für Oboe, Klarinette und Fagott, 1952, Eigenproduktion SRG/SSR

Sacher ist seit 1946 Präsident des Schweizerischen Tonkünstlervereins. Er hat damals zentrale musikpolitische Ämter inne und wird das Schweizer Musikleben über fünf Jahrzehnte massgeblich prägen.

Jacques Wildberger steht für die von Sacher als „konstruiert“ und „rabiat“ bezeichnete „12-Ton-Technik“. Ausserdem vertritt er politische Ansichten, die in der Schweizer Nachkriegszeit verdächtig sind. Wildberger ist drei Jahre lang Mitglied der PdA (Partei der Arbeit) und bleibt auch nach seinem Austritt 1947 – aus Protest gegen Stalins Regime – bekennend links.

Der Kampf um die Möglichkeit von Hoffnung

Ein Kerngedanke von Wildbergers Musik ist „der Kampf um die Möglichkeit von Hoffnung“. Die Hoffnung, dass es einmal besser und gerechter kommt. Obwohl ungläubig, bekennt sich Wildberger zur Auslegung, wie sie im Hebräerbrief 11,1 dargestellt ist: Der Glaube sei eine gewisse Zuversicht dessen, was man hofft.

Dieses Bekenntnis gilt es kompositorisch auszuleuchten: erstmals 1978 in An die Hoffnung für Sopransolo, Sprecher und Orchester.

Jacques Wildberger, An die Hoffnung (1978/79), Sylvia Nopper, Sopran, Georg Martin Bode, Sprecher, Sinfonieorchester Basel, Dirigent Heinz Holliger

Zuletzt dann in Tempus cadendi, tempus sperandi für gemischten Chor und sechs Instrumentalisten, 1998/99 im Auftrag des SWR Stuttgart geschrieben. Die Kantate gleicht einem Vermächtnis des 78jährigen Komponisten. Erneut komponiert Wildberger ein Mahnmal für die ermordeten Juden. Paul Celans Gedichte Tenebrae und Es war Erde in ihnen bilden die Mitte der vierteiligen Kantate.

Tenebrae im Licht von Celan und Wildberger ist ein Tabubruch. Der Dichter tritt als Gotteslästerer auf. Er fordert: Gott muss beten, nicht der Mensch. Der Komponist nimmt diese Übertretung beim Wort und schreibt einen reihenmässig organisierten Protestsong. Wildberger kehrt kompositorisch überhöht zu den Kampfliedern seiner Jugend zurück, die er für das Basler Arbeiterkabarett ‚Scheinwerfer‘ und die Neue Volksbühne Basel geschrieben hat.

Jacques Wildberger: Wir wollen zusammen marschieren, Eigenproduktion SRG/SSR

Jacques Wildberger am Klavier mit den ‘Kampfliedern’ ©zVg Michael Kunkel

Celan kannte die expressiven Tenebrae-Vertonungen des französischen Barockkomponisten Marc Antoine-Charpentier. Dieser schrieb 31 konzertante Motetten mit Instrumenten auf die Klagelieder des Jeremias. Statt den Zorn über die Zerstörung der jüdischen Tempel zu inszenieren, komponierte Charpentier tröstliche Musik für die Karwoche, die dunkelsten Tage im Kirchenjahr. Celan liess sich ausserdem von Friedrich Hölderlins Patmos-Hymne anregen. Aus ‚Nah ist und schwer zu fassen der Gott‘ wird bei Celan ‚Nah sind wir, Herr, nahe und greifbar.‘ Dann blendet der Dichter in die Gaskammern. ‚Gegriffen schon, Herr, ineinander verkrallt, als wär der Leib eines jeden von uns dein Leib, Herr.‘ Am Schluss steht ein Imperativ: ‚Bete, Herr. Wir sind nah.‘

Paul Celan liest Tenebrae

Wildberger nimmt diesen Tonfall auf und erzeugt in seinem 2 Minuten 30 Sekunden kurzen Satz mit sparsamsten Mitteln höchste Intensität. Peitschenhiebe von Schlagzeug und vierhändig gespieltem Keyboard eröffnen die Musik und mischen sich als Signal immer wieder ein. Tenebrae ist mit Agitato und der Tempovorschrift Viertel=108 überschrieben. Gott braucht die Peitsche, um hinzuhören. Dann erst setzt der Chor ein: achtstimmig vervielfacht, homofon geführt und mit rhythmischen Verschiebungen wie eine Versammlung unterschiedlichster Stimmen. Die Musik stellt sich als Weckruf hinter den Text: ‚Nah sind wir Herr, nahe und greifbar‘.

In Takt 10 wird der Herr fortissimo angeschrien. Wildberger verstärkt die mit Akzent versehene Note mit der Vortragsbezeichnung gridato (geschrien). Fünf Takte lang folgt ein ‚ineinander verkralltes‘ Fortissimo.

Dann beginnt mit ‚Bete, bete zu uns‘ ein ruhiger Formteil. Auf das Schreien folgt das Flehen: gesungen, gesprochen und im stimmlosen ‘nn-ah’ endend. Eine Generalpause markiert hier, bereits im Takt 20, die Mitte des 41 Takte langen Stücks.

Wildberger setzt neu an und lässt den Protest stufenweise ab Celans Textzeile ‘windschief gingen wir hin’ wachsen. Die Musik endet wie der Text als chorischer Imperativ: ‘Bete, Herr, wir sind nah’.

Wildbergers Flughöhe wird in diesem solitären Zugriff auf Celan noch einmal deutlich. Statt den Dichter und sein Lebensdrama wie sonst üblich zu transzendieren, lädt Wildberger zu Widerstand und Handeln ein. «Ich habe nicht das Recht, Hoffnung zu verordnen» – Hoffnung zu komponieren hingegen schon, mit musikalischen Mitteln auf der Höhe der Zeit.
Corinne Holtz

Jacques Wildberger am Bahnhof Karlsruhe ©zVg Michael Kunkel

Weitere Werke von Jacques Wildberger sind auf seinem Neo-Profil nachzuhören, oder auf der zugehörigen Playlist.

Sendung SRF 2 Kultur
:
Musik unserer Zeit, 18.11.20: Lieder jenseits der Menschen – Paul Celan und die Musik, Redaktion Corinne Holtz
darin: Jacques Wildberger, Tenebrae, Tonbeispiel ab Min 53.36

Musique de création –  Geheimtipp aus Genf im GdN Basel

Ungewöhnlich ist die Besetzung, und überzeugend : drei Schlagzeuge und zwei Klaviere. Und noch ungewöhnlicher ist die Zusammenarbeit mit dem Cartoon-Kollektiv Hécatombe. In Diĝita verbindet das Genfer Ensemble Batida Musik mit Comics. Zu erleben am 26. November im Gare du Nord, im Saisonschwerpunkt „Romandie“.

Der Schwerpunkt des Basler Bahnhofs für Neue Musik erstreckt sich gleich über drei Saisons, mit drei mal drei Konzerten. Damit stärkt er längerfristig Brücken zur anderen Schweizer Sprachregion. Und gerade jetzt sind diese wichtig: denn die Ensembles aus der frankophonen Schweiz können aufgrund des Lockdowns in der Romandie dort nicht auftreten.

Der neoblog portraitiert die Gastensembles und neo.mx3 begleitet zusammen mit RTS Livesendungen zu den Konzerten.

Folge eins: Ensemble Batida Genève: Ein Portrait

Gabrielle Weber
Zum Gespräch traf ich Jeanne Larrouturou, Perkussionistin und Co-künstlerische Leiterin, per Zoom, im Genfer Lockdown. Larrouturou stammt aus Frankreich und wuchs in Genf auf. Nach dem Studium an der Haute école de musique Genève (HME) spezialisierte sie sich an der Hochschule für Musik Basel (FHNW) auf zeitgenössische Musik. Seither agiert sie als Brückenbauerin zwischen den Szenen der beiden Regionen.

Ensemble Batida: Concert Le Scorpion © Pierre-William Henry

Zur Besetzung von Batida kam es eher zufällig. Als “klassische Bartok-Formation ” sei Batida ursprünglich entstanden, sagt Larrouturou. Sie bezieht sich damit auf Bartoks  Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug von 1937/38 für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuge. Dazu formierten sich 2010 vier der Ensemblemitglieder für ein Schlusskonzert an der HME. Weitere gemeinsame Auftritte folgten. Als eine Perkussionistin die Gruppe für einen Auslandaufenthalt verliess, sprang Larrouturou ein, und blieb anschliessend gleich dabei. Die Kernformation besteht seither unverändert: die drei Perkussionistinnen Jeanne Larrouturou, Alexandra Bellon und Anne Briset ergänzen Viva Sanchez Reinoso und Raphaël Krajka am Klavier.

Ein Glücksfall, denn für die einmalige Besetzung entstanden viele neue Werke. Einerseits von befreundeten KomponistInnen, andererseits durch kollektives Komponieren der Ensemblemitglieder. Und auch das begann zufällig. In einem Projekt mit einer Tanzkompagnie habe der Choreograph Batida gebeten, etwas zu komponieren. “So kamen wir zum ersten Kompositionsauftrag. Und das gemeinsame Komponieren führten wir anschliessend weiter. Als nächstes komponierten wir für ein Projekt mit einem Marionettentheater”, so Larrouturou.

Ensemble Batida, Haïku, kollektive Komposition 2013

“Die Art wie wir komponieren kommt stark aus dem Experimentieren. Wir haben eine Idee der generellen Struktur, eines Konzepts. Dann ‘machen’ wir: wir spielen, wir hören uns gegenseitig an, nehmen uns auf, hören das Aufgezeichnete gemeinsam. Wir strukturieren, organisieren und notieren “. Eine Art der Kreation also, die Improvisation und Notation verbindet. In der Regel werden auch improvisatorische Elemente beibehalten.

musique de création

In einem musikalischen Genre will sich Batida nicht eindeutig verorten. “Wir sehen uns in der zeitgenössischen Musik. Wir mögen aber nicht so sehr was hinter dem Etikett steht”, meint Larrouturou. In Frankreich gäbe es verschiedene gelungenere Bezeichnungen: ‘Musique de création’ sei für sie am treffendesten: “der Begriff ist genug offen, schliesst aber gleichzeitig die alte „zeitgenössische Musik’ aus”.

Ensemble Batida: Mean E, kollektive Komposition 2013

Batida hatte bislang kaum Auftritte in der Deutschen Schweiz. Nach dem Concours Nicati in Bern 2014 folgten Auftritte beim Festival Zeiträume Basel und in Andermatt. Ganz im Gegenteil zur französischen Schweiz wo das Ensemble an vielen Festivals präsent ist, wie auch zum Ausland. In Frankreich, Russland, Portugal, Zypern waren sie bereits auf Tournee. Eine weitere – mit Diĝita in die USA – ist geplant (und wegen der Pandemie bereits schon  verschoben).

Wie erklärt sich Larrouturou diesen überschaubaren Austausch der Sprachregionen?

“Ich lebe seit zirka vier Jahren in Basel und habe mein Netzwerk in Basel, Genf und Lausanne. Mich erstaunt immer wieder, dass die Szenen sich gegenseitig wenig kennen. An der Hochschule in Basel stellte ich fest, dass es grundsätzliche Unterschiede in der ästhetischen Ausrichtung gab. An gewissen Musikschaffenden kommt man in Basel nicht vorbei, die waren aber in der Romandie kaum präsent. Die französische Schweiz ist stärker mit Frankreich, die deutsche Schweiz stärker mit Deutschland vernetzt”, meint Larrouturou.

Zusammen mit dem Komponisten Kevin Juillerat, Basler Studienkollege und in Lausanne domiziliert, kuratiert Larrouturou die Lausanner Konzertreihe Fracanaüm. Dort versuchen die beiden solche Gräben zu überwinden. ” Die Frage woher jemand kommt stellen wir uns gar nicht. Wir laden unser Netzwerk aus beiden Regionen ein. Aus solchen kleinen Initiativen entstehen Beziehungen auf lange Sicht “, ist Larrouturou überzeugt.

Batida geht es aber auch um Brücken zwischen den Sparten. Die meisten Projekte sind  transdisziplinär angelegt und entstehen in Kollaboration mit weiteren Kunstschaffenden, mit Tanz, Marionettentheater, Architektur, Video oder Comiczeichnern.

Mit dem Genfer Zeichnerkollektiv Hécatombe kollaborieren Batida seit einem ersten gemeinsamen Projekt 2016 laufend.

Ensemble Batida & Hécatombe: Oblikvaj, kollektive Komposition 2016-2018

“Beim ersten gemeinsamen Projekt Oblikvaj (2016-2018 ) stellte sich gleich heraus, dass wir dieselbe Wellenlänge hatten. Jedes der fünf Hécatombe-Mitglieder schuf eine grafische Partitur, je einen 24seitigen schwarz-weiss Comic. Batida reagierte darauf mit kollektiven Kompositionen. Das funktionierte blendend”. Später gab es dann Konzerte mit Live-Begegnungen.

In Diĝita geht es nun erstmals um den gemeinsamen Kreationsprozess. “Im Sommer 2019 vergruben wir uns alle zusammen in einer 14tägigen Retraite in einem alten Hof ‘au milieu de nulle part’. Wir brachten keine Instrumente mit, sondern sammelten vorhandene Klänge und zeichneten diese auf, bspw. von grossen Maschinen, Traktoren und Motoren.”

Diĝita, Trailer ©Gare du Nord, Batida & Hécatombe

Der Titel Diĝita steht einerseits konkret für die ‘Finger’, andererseits für digital vs. analog. Die aufgezeichneten und gesampelten Klänge verweisen auf das Digitale, die Musikerperformer auf die Arbeit mit Fingern. Die Musiker spielen innerhalb eines transparenten Kubus. Die Wände sind Screens, auf die 3D-Videos der Zeichner projiziert werden: lebensgrosse Comicfiguren auf den Videos überlagern und verfremden so die realen Musikerkörper im Kubus.

Diĝita konnte am 31. Oktober noch ein Konzert in Lausanne geben: “Das war ein Erlebnis in extremis. Uns war klar, dass wir sobald nicht mehr live spielen würden und wir haben den Moment noch stärker ausgekostet” meint Larrouturou dazu. Die weitere Diĝita -Tournee mit Folgekonzerten in Genf ist nun durch den Lockdown der Romandie unterbrochen.

En passant stellte sich im Gespräch heraus, dass Batida dieses Jahr gerade sein zehnjähriges Bestehen feiert. Ein Fest mit Partnern und Publikum in Genf sei geplant, aufgrund der Pandemie werde es aber sicherlich erst 2021 stattfinden.
Gabrielle Weber

 

Ensemble Batida Portrait ©Batida

Ensemble Batida: Klaviere: Viva Sanchez Reinoso, Raphaël Krajka
Percussion; Jeanne Larrouturou, Alexandra Bellon, Anne Briset
Diĝita: Video: Giuseppe Greco, Ton: David Poissonnier

Gare du Nord: Batida & Hécatombe: Diĝita, 26.11.20, 20h
(aufgrund des Basler Lockdowns spielten sie 2x für 15 Personen, mit Livestream für alle anderen)

Ensemble Batida, FracanaümKevin Juillerat, haute école de musique genève – neuchâtel, Hochschule Musik Basel, Hécatombe,

Sendung RTS:
l’écho des pavanes, 20.11.20, rédaction Anne Gillot, Gespräch mit Désirée Meiser, Intendantin Gare du Nord
Sendung SRF 2 Kultur:
in: Musik unserer Zeit zu neo.mx3, 21.10.20, Redaktion Florian Hauser / Gabrielle Weber

neo-Profiles: Ensemble Batida, Gare du NordAssociation Amalthea, Kevin Juillerat