Grösstmögliche Freiheit – Ligetis Atmosphères neu interpretiert

«Tuns contemporans», Biennale für Neue Musik Graubünden, findet vom 29.3. bis zum 2.4. zum dritten Mal statt. Mit Motto «100 Jahre Ligeti» beleuchtet es den wegweisenden Komponisten auch aus heutiger Sicht. Atmosphères, Ligetis monumentales Orchesterwerk bekannt aus Kubriks «Space Odyssee 2001», kommt im Theater Chur als raumumspannende Klanginstallation zur Neuinterpretation. Ein Gespräch mit Martina Mutzner, Initiatorin und künstlerische Leiterin des Projekts.

 

28. Mai 2023: 100. Geburtstag György Ligeti

Gyoergy Ligeti, Februar 1992 Stadttheater Bern ©Alessandro della Valle

 

Gabrielle Weber
Wenn ein Schlüsselwerk der musikalischen Avantgarde unerwartet grosse Verbreitung fand, dann sicherlich Atmosphères von György Ligeti. Stanley Kubriks Weltraumepos «Space Odyssee 2001» von 1968 trug dazu bei, dass Ligetis eindrückliches Orchesterwerk, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 1961, weltweit berühmt ist: im Film begleitet es eine fast zehnminütige Kamerafahrt durch abstrakt-verfliessende Weltraum-Farbfelder, die zum Fortschrittlichsten gehören, was 1968 an Kamera- und Tricktechnik möglich war. Oder war es umgekehrt: begleitet das Bild die Musik?

 

Klangfarbenflächenkomposition

 

Atmosphères, Ligetis mikropolyphones 87-stimmiges Orchesterwerk verschaffte ihm bereits davor in Fachkreisen den grossen Durchbruch. Sein neuer kompositorischer Ansatz, bei dem Klangfarben und -flächen strukturelle Elemente ablösen, wurde mit Begeisterung aufgenommen: bei der Uraufführung in Donaueschingen wurde es auf Wunsch des Publikums gleich zweimal gespielt. Mit Kubrik hingegen stand Ligeti jahrelang im Rechtsstreit, da dieser Atmosphèreszunächst ohne den Komponisten anzufragen und ohne ihn zu entgelten verwendete.

 


György Ligeti, Atmosphères, Sinfonieorchester Basel, 2015, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Das Churer Vermittlungsprojekt nimmt die Idee des Komponierens mit Klangfarbenflächen wie auch den Bekanntheitsgrad des Werks zum Ausgangspunkt. In einer immersiven partizipativen Konzert-klanginstallation ersteht Ligetis Atmosphères neu, interpretiert durch 81 Stimmgruppen: über ein halbes Jahr entwickelten Schulklassen, semiprofessionelle Musiker:innen und Laien, die Mitglieder zwischen 7 und 77 Jahren alt, ihre eigenen Klangflächen. In Workshops, begleitet von Musiker:innen des Churer ensemble ö! und der Kammerphilharmonie Graubünden, entstanden so die einzelnen Schichten eines grossen Gesamtklangs.

In diesen kann man nun während des ganzen Festivals im Innenbereich des Theaters Chur, übertragen über ein Lautsprechersystem und eingebettet in eine Lichtszenografie à la Kubrik, eintauchen.

 

Apparitions für Orchester (1958/59) ist eines der ersten Werke, in denen György Ligeti mit Klangflächen komponierte, Aufnahme mit der Basel Sinfonietta unter Johannes Kalitzke, 2003, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ligetis Idee der grösstmöglichen kompositorischen Freiheit habe den Ausschlag zur Wahl dieses Vermittlungsprojekts gegeben, so Martina Mutzner, die Projektverantwortliche.

«György Ligeti hat mit Atmosphères ein Stück geschrieben, das sich gegen die damals gängigen Kompositionsdogmen wendete. Atmosphères steht stellvertretend für einen freigeistigen Umgang mit künstlerischem Material und im übertragenen Sinne auch mit dem Menschen“. Es gebe kein richtig oder falsch. Deshalb sei es so geeignet für ein partizipatives Projekt mit Laien-Musiker:innen.

 

Inventarisieren und Botanisieren

Sie seien einen „umgekehrten Weg gegangen“. Zuerst hätten sie, inspiriert von Atmosphères, improvisiert, Klänge entwickelt und aufgezeichnet. «Wir sammelten die Klangflächen. Es war wie ein Inventarisieren oder Botanisieren“, meint Mutzner. David Sontòn Caflisch, künstlerischer Leiter der Biennale, erstellte dann aus den Einspielungen Partituren für Instrumentalparts. Flöten-, Harfen- und Streichergruppen ergänzen nun die vokalen und geräuschhaften Klangflächen zu den vorgegebenen 87-Stimmen Ligetis.

Entstanden ist eine kompositorische Assoziation zu Ligetis Klangflächenkomposition im weitesten Sinne, und damit etwas komplett Neues: dies passe zum Konzept der Biennale mit Ligeti im Zentrum, der mit Mentorinnen und Schülerinnen in Beziehung gesetzt werde. An den vier grossen Konzerten im Theater Chur stehen u.a. Werke von Béla Bartók und Sándor Veress, Komponisten die Ligeti prägten, aber auch von Detlef Müller-Siemens, Michael Jarrell oder Alberto Posadas, die er wiederum prägte, sowie Uraufführungen im Dialog mit Ligetis Oeuvre.

 

Michael Jarrell, music for a while pour orchestre 1995, ensemble contrechamps, Dirigent Jürg Henneberger, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ihre Leidenschaft für Neue Musik und deren Vermittlung bringt Mutzner ins Projekt ein: „Atmosphères wählten wir auch, da es durch Stanley Kubricks Space Odyssey Eingang in die Populärkultur gefunden hat. Viele Leute haben es schon gehört, aber wissen nicht, was es ist.“ Von den Mitwirkenden und auch den Ensembleleitenden, hätten einige noch kaum mit zeitgenössischer Musik zu tun gehabt. „Die Aufnahmen klangen schlussendlich so, als würden sie regelmässig in einem Ensemble für zeitgenössische Musik proben. Die Musizierenden waren in diesem vielbeschworenen Flow, und das überträgt sich auf die Zuhörenden“, so Mutzner.

Konsequente Öffnung von Neuer Musik

Die konsequente Öffnung von Neuer Musik für ein breiteres Publikum ist generelles Anliegen der Churer Biennale. Fanden die Konzerte pandemiebedingt 2021 nur online statt, so wird auch diese Ausgabe gesamthaft online live-gestreamt. Zudem setzt sich die «tuns contemporans» auch nachhaltig für eine ausgewogenere Gendermischung im Klassikbetrieb und für eine Erneuerung des Orchesterrepertoires ein: 2021 fand erstmals ein «Call for Scores for ladies only!» statt, aus dem drei Uraufführungen von Komponistinnen hervorgingen. Auch diese Ausgabe kommen drei neue Stücke zur Uraufführung. Gewählt wurden aus 78 eingereichten Werken Los tiempos del alma für kleines Ensemble der kürzlich verstorbenen jungen argentinischen Komponistin Patricia Martinez (*1973-2022), von Areum Lee (*1989) aus Korea leer für grosses Ensemble und la via isoscele della sera für Streichorchester der Italienerin Caterina di Cecca (*1984).

 

Oscar Bianchi, Contingency für Ensemble (2017), aufgezeichnet mit dem Ensemble der Lucerne Festival Alumni, dirigiert von Baldur Brönnimann, 2020, Eigenproduktion SRG SSR.

 

Die Zusammenarbeit mit dem Orchestra della Svizzera Italiana im Konzert am Samstagabend – u.a. kommt von Oscar Bianchi Exordium von 2015 zur Aufführung – und die Verpflichtung von Mario Venzago als Gastdirigent oder das Abschlusskonzert mit dem Ensemble Vocal Origen, im roten Turm zuoberst auf dem Julierpass, garantieren dieser dritten Festivalausgabe Synergien und eine Öffnung der Neuen Musik über das Lokale hinaus.
Gabrielle Weber

 

Roter Turm auf dem Julierpass © Benjamin Hofer

 

Tuns contemporans – Biennale für Neue Musik Graubünden 2023
Atmosphères: partizipatives generationenübergreifendes Konzertprojekt: Teilnehmende –Profimusiker*innen, passionierte semiprofessionelle Musiker*innen, Musikschüler*innen und begeisterte Laien

 

György Ligeti, Detlev Müller-Siemens, Alberto Posadas, Béla Bartók, Sándor Veress, Origen Festival Cultural, Mario Venzago, Caterina di Cecca, Areum Lee, Patricia Martinez, Martina Mutzner: Musiksalon

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 24.5.2023: György Ligeti 100: Autor Michael Kunkel
neoblog, 7.4.2021: tuns contemporans 2021 – Graubünden trifft Welt, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile:
György Ligeti, tuns contemporans, Ensemble ö!, Kammerphilharmonie Graubünden, David Sontòn Caflisch, Oscar Bianchi, Michael Jarrell, Ensemble Vocal Origen

Stimme – Schweigen – Persona

Die junge Komponistin Anda Kryeziu bringt den Kultfilm «Persona» von Ingmar Bergman für das Theater Basel als Musiktheater auf die Bühne. Eine musikalische Reflexion über die Themen Stimme, Schweigen und Identität.

 

Die Komponistin Anda Kryeziu, ©Jetmid Idrizi

 

Jaronas Scheurer
Ich treffe Anda Kryeziu an einem regnerischen Februarabend in der Basler Innenstadt zum Interview. Die letzte Probephase für ihr Musiktheater «Persona», basierend auf dem gleichnamigen Film des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, hat gerade begonnen und ihr steht ein stressiger Endprobe-Monat bevor. Für sie bedeutet das, von Montag bis Samstag jeweils den ganzen Tag Proben und in der Nacht Revisionsarbeiten. Gleichzeitig lastet eine gehörige Portion Druck auf der knapp 30-jährigen Komponistin – ein abendfüllendes Musiktheater für das renommierte Theater Basel zu schreiben, ist nicht allen vergönnt. So könnte man auf jeden Fall meinen. Doch Anda Kryeziu wirkt beim Interview erstaunlich entspannt und gelöst.

Die kosovarische Komponistin studierte in Bern Klavier und Komposition bei Dieter Ammann, danach in Basel und Berlin bei Caspar Johannes Walter und Daniel Ott Komposition und elektroakustische Musik und intermediale Komposition bei Wolfgang Heiniger. Inzwischen hat sich schon eine erstaunlich umfangreiche Werkliste angehäuft: Musiktheatrale Werke, Performances, Orchesterkompositionen, Werke für Instrumentalbesetzungen mit oder ohne Elektronik, multimediale Kompositionen, Installationen und akusmatische Stücke. Kryeziu wechselt mühelos zwischen verschiedenen Formaten und Besetzungen und präsentierte ihre Werke schon an renommierten Festivals wie Impuls Festival Graz, Neue Musik Rümlingen oder der Münchener Biennale. Ihr reiches und diverses Portfolio ist vielleicht der Grund für ihre Gelassenheit angesichts des renommierten Auftrags vom Theater Basel.

 


Anda Kryeziu: «Infuse: Playtime» (2021), Ensemble Recherche.

 

«Persona» von Bergman

Für das Theater Basel vertont sie den Film «Persona» von Ingmar Bergman als «ambivalentes musiktheatrales Format, oszillierend zwischen Oper, Theater und Performance», wie sie das Werk selbst bezeichnet, für eine Sopranistin, eine Performerin, vier Instrumente und Elektronik. Der Kultfilm von Bergman aus dem Jahre 1966 dreht sich um zwei Frauen, die Schauspielerin Elisabeth Vogler und die Krankenpflegerin Alma. Elisabeth hat plötzlich aufgehört zu sprechen und wird daher in Begleitung von Alma zur Kur in eine Villa am Meer geschickt. Durch das Schweigen von Elisabeth übernimmt Alma das Sprechen und erzählt Elisabeth von ihren innersten Wünschen, Träumen und von gutgehüteten Geheimnissen aus ihre Vergangenheit. Es entwickelt sich eine komplexe Beziehung zwischen den zwei Frauen und das Schweigen von Elisabeth nimmt dabei ganz unterschiedliche Facetten an, von überheblicher Distanz über empathische Teilnahme bis hin zu passiver Aggressivität. Mehr und mehr verschwimmen die Grenzen zwischen den zwei Protagonistinnen. Der Film von Bergman ist einerseits ein exaktes Psychogramm dieser ungewöhnlichen Beziehung, andererseits eine Reflexion darüber, was eine Person eigentlich ausmacht und ob wir nicht nur aus unterschiedlichen Masken bestehen.

Inwiefern macht die Stimme unsere Identität aus und was geschieht mit einer Identität, wenn der Faktor Stimme plötzlich wegfällt? Anda Kryeziu, die Regisseurin Caterina Cianfarini und die Dramaturgin Meret Kündig interessierten sich also vor allem für «Persona», weil darin Stimme, Schweigen und Identität in enger Verknüpfung verhandelt werden.

 

Anda Kryeziu: «co-» (2016-2017), gespielt von Theo Nabicht (Kontrabassklarinette), Seth Josel (E-Gitarre) und Gabriella Strümpel (Cello) vom Ensemble KNM Berlin.


Wie komponiert man Schweigen?

Das Schweigen der Hauptfigur Elisabeth ist ein zentraler Aspekt in «Persona». Doch, wie komponiert man eigentlich Schweigen? Musik besteht ja aus Klängen und Schweigen gerade nicht. Wobei, wie Anda Kryeziu betont, «Schweigen nicht dasselbe ist wie Stille. Schweigen ist die Entscheidung, nicht zu sprechen, und Stille ist die Absenz von Klängen.»

Das Schweigen musste Kryeziu jedoch gar nicht aktiv komponieren: «Das Schweigen war schon konzeptuell da und war eigentlich Auslöser für alle anderen musikalischen Ideen im Stück. Dieses Schweigen ist für mich das stärkste und krasseste Stilmittel, das mir in diesem Projekt zur Verfügung steht. Mit dem Schweigen von Elisabeth versuche ich die ganze Dynamik und Energie des Werks zu gestalten und es dient uns in vielen musikalischen und dramatischen Situationen als zündender Funke.»

Anda Kryeziu sieht im Schweigen der einen Hauptfigur eine willkommene Herausforderung und komponierte es als wichtigen Faktor mit. Ähnlich sieht es mit der Stimme der anderen Hauptfigur aus. Die Krankenpflegerin Alma übernimmt in Anbetracht der schweigenden Elisabeth das Sprechen für beide. Für Kryeziu ist die Stimme der Sopranistin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, die die Rolle der Alma übernimmt, Ausgangspunkt ihrer Komposition. «Die menschliche Stimme ist ein komplexes Kommunikationsmittel, ein ganzes Paket an Informationen, ein semiotisches System, über das man ganz viel über Identität erfahren kann.» so Kryeziu.

Die Stimme von Guðmundsdóttir wird von Kryeziu mittels elektronischen Mitteln verfremdet, verzerrt und vervielfacht. «Mit den Veränderungen des Stimmklangs kann ich auch die Wahrnehmung der sprechenden Person verändern. Sie kann plötzlich männlich, kindlich oder total zerstört klingen.»

 


Anda Kryeziu: “Kreiswanderung im Raum”, aus der Produktion “Grosse Reise in entgegengesetzter Richtung” an der Münchener Biennale 2022. Jens Ruland (Perkussion) und Ensemble Hand Werk.

 

Die Stimme aus den Instrumenten heraus

Zudem setzt Kryeziu die Stimme mit unterschiedlichen Gegenübern in Beziehung: Durch Loops spricht die Stimme von Guðmundsdóttir mit sich selbst, durch das raumfüllende Abspielen und Wiederaufnehmen tritt sie auch in einen Dialog mit dem Raum und mithilfe sogenannter Transduktoren kann Kryeziu den Stimmklang oder einzelne Schnipsel der Stimme auf die vier Instrumente projizieren. Die Stimme spricht dann sozusagen aus den Instrumenten heraus. Eine stimmige Metapher dafür, dass eine Identität in enger Verbindung und in stetiger Wechselwirkung mit der Aussenwelt interagiert.

Eine Stimme, die aus vielen Instrumenten heraus spricht – das ist vielleicht auch ein passendes Bild für das Schaffen von Kryeziu. Immer wieder taucht das Thema Identität in ihrem vielfältigen Schaffen auf. «Das Thema Identität kommt für mich nie alleine, weil es für mich nicht aus dem soziopolitischen Kontext ausgekoppelt werden kann. Wir existieren nicht als abstrakte Entitäten. Wir sind so, wie wir sind, wegen unserer Umgebung, wegen unserer Geschichte und Biografie.», so Kryeziu. Ihre Werke seien zwar nie autobiografisch, aber vielleicht liege dennoch in ihrer migrantischen Biografie ein Grund, wieso das Thema Identität immer wieder auftauche.
Jaronas Scheurer

 

Das Musiktheater «Persona» ist eine Produktion des Theater Basel und wird am 4., 6., 7., 15., 16. und 17. März 2023 im Gare du Nord gezeigt, mit: Álfheiður Erla Guðmundsdóttir: Sopran, Alice Gartenschläger: Performance, Jeanne Larrouturou: Perkussion, Chris Moy: Gitarre, Maria Emmi Franz: Cello und Aleksander Gabrýs: Kontrabass.

Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Ensemble Hand Werk, Jens Ruland, Wolfgang Heiniger, Caspar Johannes Walter, Theo Nabicht, Seth Josel, Gabriella Strümpel, Ensemble KNM Berlin, Ensemble Recherche

Neo-Profile:
Anda Kryeziu, Aleksander Gabrýs, Jeanne Larrouturou, Concept Store Quartet, Daniel Ott, Gare du Nord, Dieter Ammann

Von Wechselklängen und Fokussierungen

Marcus Weiss, Basler Saxofonvirtuose, verschreibt sich wie kein anderer der zeitgenössischen Musik. Eben ist eine CD mit vier ihm auf den Leib geschriebenen Werken für Orchester und Solosaxofon erschienen.

Peter Révai
Marcus Weiss, der herausragende Saxofonvirtuose der europäischen Neuen Musikszene, hat beim Label Wergo mit «SAX – contemporary concertos for saphone» eine CD mit exemplarischen zeitgenössischen konzertanten Solowerken mustergültig eingespielt und dieser Tage veröffentlicht. Darunter finden sich so unterschiedliche Werke wie Focus, Konzert für Saxofon und Orchester, des ungarischen Altmeisters Peter Eötvös aus dem Jahre 2021, und Konzert für Baritonsaxofon und Orchester von Georg Friedrich Haas von 2008. Alle eingespielten Werke wurden von Weiss uraufgeführt und durften bereits mehrere Aufführungen mit unterschiedlichen Orchestern erleben. Mitverantwortlicher dieser Werksammlung ist Harry Vogt, der frühere Künstlerische Leiter des Festivals für zeitgenössische Kammermusik Witten und Redaktor des WDR, der alle Stücke dieser CD produziert hat.

 

Portrait Marcus Weiss zVg. Marcus Weiss

 

Wie kein Zweiter ist der Basler Instrumentalist Marcus Weiss daran, sein von Adolphe Sax erfundenes und 1846 patentiertes Instrument bei den zeitgenössischen Schöpferinnen und Schöpfern von Musik an den Mann respektive an die Frau zu bringen. Anders als beim Jazz in den Big Bands hat dieses Holzblasinstrument in der klassischen Sparte keinen fixen Platz in den Orchestern gefunden. Umso mehr taucht es in der zeitgenössischen Kammermusik auf, was auch die regelmässigen internationalen Auftritte von Weiss im «Trio Accanto»  und im Pariser Saxofonquartett XASAX belegen.

Seit seiner ersten selbst produzierten Solo-CD «Neue Musik für Saxophon» 1991 mit Werken von Giancinto Scelsi, Luciano Berio, Walter Zimmermann, Mauricio Sotelo und Roman Haubenstock-Ramati ist Weiss in Sachen Neuer Musik weltweit unterwegs. Dabei hat er mehr als nur im Jahrestakt Einspielungen auf den Markt gebracht und unzählige Neukompositionen angeregt. Dass dabei der volle Einsatz des Musikers gefragt ist, belegt auch die Entstehung von Focus von Peter Eötvös.

 


Peter Eötvös, Focus, Sinfonieorchester Basel, Leitung: Peter Eötvös, Saxofon: Marcus Weiss, 2022, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Für Focus hat Weiss den Komponisten nach einem gemeinsamen Konzert in Wien angefragt, ob er ein Saxofonkonzert für ihn schreiben könne. Während fünf Jahren standen sie dafür im ständigen Kontakt. Während der Corona-Pandemie tauschten sie sich via Videoconferencing aus. Kurz vor der Uraufführung mit dem WDR Sinfonieorchester trafen sie sich persönlich am Wohnort von Eötvös in Budapest, wo sie jede Phrasierung und alle Tempi gemeinsam durchgingen sowie Korrekturen anbrachten, so Weiss.

Herausgekommen ist ein viersätziges, äusserst virtuoses und klanglich anregendes Solokonzert, bei dem das Saxophon, mal das Tenor- und dann das vor allem im Schlusssatz eingesetzte Sopransaxophon, voll chromatisch und mit ausgeprägtem sprachlichem Parlando im Fokus steht. Die Musik ist bis zum Schluss rhythmisch ziemlich aufgeladen. Sie  bewegt sich ausgehend von einem immer wiederkehrenden «Hummelflug»-Thema mit allen Extremen der Artikulation und der Dynamik durch verschiedenste klangfarbliche Situationen oder Tableaus fort. Der letzte Satz endet völlig gegensätzlich mit lyrischen introvertierten, immer mehr ausfransenden Sopranmomenten.

Wie Eötvös im Programmbuch zur Uraufführung mitteilt, stamme die Idee zu Focus aus der Welt der Films. So wie dort die Kamera sich häufig auf jemanden fokussiere oder auf etwas konzentriere, so bilde in seinem Stück das Orchester den «Hintergrund», und überlasse den «Premier Plan» dem Solisten, wobei sich seine «Tonkamera» in Zeitlupe langsam auf das eine oder andere fokussiere.

Der Plan von Eötvös geht auf. Man merkt, dass er das Saxofon erfasst und zur vollen Entfaltung bringt. Man glaubt, ohne zu zögern, wenn der Komponist schreibt, dass ihm seit seiner Kindheit das Saxophon sehr nahe stünde, weil es so klänge, als würde er selber singen. Er habe viele Jazzsaxofonisten wie Paul Desmond, Gerry Mulligan, Stan Getz und Sonny Rollins im staatssozialistischen, Jazz-feindlichen Ungarn gehört. Später, nach seiner Auswanderung nach Köln, habe er das Saxophon mit Jazzklängen angereichert, ohne sich aber je dem Jazz zuzuneigen. Denn als Komponist, so Eötvös, schreibe er stets klassisch jeden einzelnen Ton nieder. So kämen zwar in seinen Konzerten Saxofone häufig zum Einsatz, doch behandelt er das Instrument hier zum ersten Mal solistisch. Dabei kommt es mit einer Ausnahme im Schlusssatz ohne den Einsatz neuer Spieltechniken (extended techniques) aus, verlangt aber eine gewisse Fingervirtuosität. Auf der CD spielt neben Weiss, wie an der Uraufführung, das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Elena Schwarz.

Dasselbe Orchester ist auch für die Einspielung des einsätzigen Konzert für Baritonsaxofon und Orchester von Georg Friedrich Haas zuständig, diesmal unter der Leitung von Emilio Pomàrico.

 


Georg Friedrich Haas, Konzert für Baritonsaxofon und Orchester, WDR Sinfonieorchester, Leitung: Emilio Pomàrico, Saxofon: Marcus Weiss, 2019, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Das Konzert entstand, als der österreichische Komponist wie Weiss an der Musikakademie Basel als Dozent tätig war. Zeitgleich verfasste Weiss zusammen mit dem italienischen Komponisten Giorgio Netti ein Lehrbuch über das Saxofonspielen, in dem als Spezialität die neuartigen Mehrklänge (Multiphonics) systematisch dargestellt sind.

Nachdem Weiss dem Kollegen Haas  auch sein riesengrosses Baritonsaxophon demonstrierte, setzte der für mikrotonales Komponieren bekannte Österreicher es wirkmächtig in Musik um: die neuen Spieltechniken fügte er gemäss seinem Spektralkonzept kongenial in das Spiel des solistischen Rieseninstruments ein.

Diese Zusatztöne sind auch Grundlage des Orchestertuttis , wobei Haas der Musik genügend Raum und Zeit bietet, um dessen ganze Magie zu entfalten. Mehrere Generalpausen verstärken seine mächtige Wirkung. Entstanden ist das Stück im wesentlichen anlässlich eines Japanaufenthaltes. Es gehe ihm um die Verarbeitung der Erfahrungen mit einer anderen Kultur, berichtet der Komponist. Im Zentrum steht eine aus einem Shinto-Ritual übernommene Episode. So spielt das Soloinstrument eingebettet zwischen scharfen Akzenten nach innen gerichtete Melodien, deren Nachhall weiterlebt.

Mitunter ist das Saxofon völlig im Orchesterklang eingebettet, bis es wieder daraus solistisch hervortritt, so dass Wechselklänge von Tutti und Solo auf ganz spezielle Weise erfahrbar werden. Das dynamische Spektrum ist äusserst variabel, wobei die Körperlichkeit des Soloinstruments immer wieder durchschlägt. So fängt etwa das Stück für den Solisten mit allergrösster Kraft an, um alsdann schnell in höchster Lage im dort schwierig zu spielenden Piano pianissimo zu landen. Dort im «Weissen Schnee», so Weiss, würden von ihm als Musiker Viertel-, ja sogar Achteltöne verlangt, was extrem sei.
Nebst den beiden Werken komplettieren Saxordionphonics für Sopransaofon, Akkordeon und Kammerorchester (2014) des litauischen Komponisten Vykintas Baltakas und Violent Incidents. Hommage à Bruce Nauman (2005 -2006), für Saxofon und Ensemble des österreichischen Jarell-Schülers Johannes Maria Staud die sehr empfehlenswerte CD.
Peter Révai

 

CD: SAX – Contemporary Concertos for Solosaxophone, Wergo / Schott, release 20.1.2023

Marcus Weiss / Giorgio Netti: Die Spieltechnik des Saxofons, Bärenreiter 2010

Marcus Weiss, CD: Neue Musik für Saxofon, 1991

Trio AccantoAdolphe SaxHarry VogtGiancinto Scelsi, Luciano Berio, Walter Zimmermann, Mauricio SoteloRoman Haubenstock-Ramati, Emilio PomàricoElena SchwarzPaul Desmond, Gerry Mulligan, Stan GetzSonny RollinsWDR Sinfonieorchester, Vykintas BaltakasJohannes Maria Staud

 

Neo-profiles:
Marcus Weiss, Xasax Saxofonquartett, Georg Friedrich Haas, Peter Eötvös

 

Spielräume zwischen Himmel und Hölle

Vom 26.-29. Januar widmet sich das Festival “SPIEL! Games as critical practice” in Basel dem kritischen Potential des Spielens. Der Komponist Michel Roth hat das Festival kuratiert.

 

Die Live-Installation Rave-Séance von und mit Marko Ciciliani läuft im Rahmen des Festivals am 27. Januar auf dem Jazzcampus. ©Katja-Goljat

 

Friederike Kenneweg
Wer sich mit Michel Roth über das Spielen unterhält, kommt nicht umhin zu entdecken, dass es eigentlich nicht nur ein Thema, sondern ein multidimensionales Themenfeld ist, das sich da eröffnet. Denn spielen lässt sich ja mit ganz Unterschiedlichem: mit Worten, Dingen, Gedanken, Klängen, Farben oder Instrumenten… Ein Spiel gibt Regeln vor und kreiert für die Dauer des Spiels eine eigene Welt, sei es in der Musik, im Computer-, im Rollen- oder im Brettspiel. Wer sich selbst als Spieler:in in einer solchen Welt begreift, hält nach den Regeln Ausschau, nach denen gespielt wird. Jede:r Spieler:in hat die Möglichkeit, das Spiel innerhalb des ihm oder ihr vorgegebenen Raums zu beeinflussen. Aber die Regeln, nach denen gespielt wird, können auch verändert werden – und schon offenbart sich eine philosophische oder politische Dimension des Spielens. Spielen kann zwar zur Weltflucht dienen und zu einem gewissen Eskapismus führen. Es kann aber auch ein kritisches, gar weltveränderndes Potential entfalten.

Mary Flanagans “Critical Play”

Diesen Gedanken fand Michel Roth besonders prägnant in den Schriften der U.S.-amerikanischen Game Designerin Mary Flanagan ausformuliert, auf die er bei seinen Recherchen zu Games und Spielen gestoßen war. Vor allem beeindruckte ihn Flanagans Buch “Critical Play. Radical Game Design” aus dem Jahr 2009, in dem sie aus der Sicht der Gestalterin das kritische Potential betont, das im Setting von Spielen liegen kann. Welche Bilder, Klischees und Vorstellungen sollen reproduziert, welche sollen verändert werden? In welchem Möglichkeitsraum sollen sich die Spielenden für die Dauer des Spiels aufhalten? Wie Spiele gestaltet sind, kann auch darauf Einfluss nehmen, wie wir hinterher unsere reale Lebenswelt sehen, und vielleicht auch: was wir darin verändern wollen.

Himmel und Hölle

Beim Festival in Basel wird Mary Flanagan als Keynote-Speakerin dabei sein. Außerdem wird sie im Foyer des Theaters Basel ihr mapscotch-Projekt präsentieren, das auf dem Kreidezeichnungs- und Hüpfspiel “Hopscotch” basiert, das wir als “Himmel und Hölle” kennen. Besucher:innen können ihre persönlichen Himmel und Höllen für das Spiel definieren und den Boden des Foyers über die Dauer des Festivals zu einem individualisierten Hüpf-Parcours werden lassen.

Klang und Struktur des Flipperkastens

Ein Phänomen, das Michel Roth schon lange fasziniert, sind Spielautomaten. Für die ZeitRäume Basel entwarf er 2021 eine “Spiel Hölle”, in der die Soundkulisse von Flipperautomaten maßgeblich den Klang bestimmt.

 

 

Kein Wunder, dass solche Automaten auch im Rahmen des Basler Festivals wieder einen Gastauftritt haben werden: In der Alten Billettkasse des Theaters Basel stehen die Flipperautomaten und andere Games dem Publikum zum Ausprobieren (und Anhören) zur Verfügung. In einer Lecture Performance in Zusammenarbeit mit dem Kontrabassisten Aleksander Gabrys beschäftigt sich Michel Roth unter dem Titel Pinball Etudes auch noch einmal mit dem Flipperspiel, diesmal jedoch, indem er einen Kontrabass zu einem Flipper verwandelt und die Saiten mit beweglichen Kugeln präpariert. Normales Instrumentenspiel ist nicht mehr möglich, sondern Aktion und Klang hängen nun auch davon ab, wohin die Kugeln rollen. Was genau geschehen wird, lässt sich weder komponieren noch proben.

 


Im Stück Räuber-Fragmente nach Robert Walserhier gespielt vom Ensemble Catrall,  wandte Michel Roth erstmals Spieltheorie innerhalb einer Komposition an. Walsers Räuber-Roman wird darin in eine Art Spielanordnung gebracht. Ein freier Improvisator ist auf der Bühne, der ständig in das Stück eingreifen darf, wie eine Art Spielverderber.

 

Spiel und Komposition

Das Festival präsentiert darüber hinaus eine Vielzahl von Werken solcher Komponist:innen, die sich mit dem Spiel unter verschiedenen Gesichtspunkten auseinandergesetzt haben. Zum Beispiel arbeitet Bernhard Lang unter dem Titel Game seit 2016 an einer Werkreihe, in der er den Instrumentalist:innen einen durch ein festes Regelwerk definierten Spielraum überantwortet, den sie dann aber frei nutzen können. In Basel werden GAME 3-4-3 und Game ONE von Bernhard Lang zu hören sein. Mike Svoboda stellt in Homo ludens (2019) den Spieler:innen fünf Settings zur Auswahl, in denen sie je unterschiedlichen Regeln zu folgen haben. Und Sarah Nemtsov untersucht in ihrem Schlagzeugstück Poker, Roulette (2020) den Gegensatz von Spieltrieb und Spielsucht – zwei Prinzipien, die so nah beieinander zu sein scheinen und doch ganz unterschiedliche Energien mit sich bringen.

 


Homo Ludens von Mike Svoboda teilt die Musiker:innen in zwei Teams ein. Treten sie beim Musizieren auch gegeneinander an? Hier eine Aufnahme der Uraufführung des Stückes im Gare du Nord, März 2019, mit der Camerata Variabili und den Gästen Mike Svoboda und Lucas Niggli.

 

Kontrast, Clash, Begegnung

Michel Roth hat sich bewusst entschieden, die thematische Breite, die mit dem Festivalthema einhergeht, nicht einzuschränken, sondern Ansätze aus Game Design, Musikwissenschaft, Performancekunst, Komposition und Pädagogik unmittelbar aufeinander prallen zu lassen. Besonders neugierig ist er darauf, ob sich die unterschiedlichen Zielgruppen auf das jeweils andere Gebiet einlassen werden. Bleiben die Gamer:innen vielleicht auch bei der Neuen Musik hängen? Spielen alle miteinander Mapscotch im Foyer des Theaters Basel? Treffen sie beim Real World Audio Game auf dem Theaterplatz auch mit gänzlich Unbeteiligten aufeinander? Partizipieren alle zusammen am Jeu sonore, zu dem Sébastien Roux und Clément Canonne das Publikum einladen?

Das Festival selbst wird zu einem Möglichkeitsraum, der das Publikum auf vielfältige Weise zum Spielen und Entscheidungen treffen einlädt. Wer sich auf diese Mischung aus Lectures, Konzerten, Installationen und Interaktionen einlässt, kann dabei intellektuell, sinnlich und spielerisch etwas von all dem erfahren, was Spiel ist und sein kann – je nachdem, wohin die Flipperkugel fliegt.
Friederike Kenneweg

Festival “Spiel! Games as critical practice” vom 26.-29. Januar 2023, tagsüber im Foyer des Theater Basel und abends in der Musikakademie bzw. im Jazzcampus.

Bernhard Lang, Sarah Nemtsov, Sébastien Roux, Clément Canonne, Marko Ciciliani, Mary Flanagan, Critical Play: Radical Game Design,

Sendungen im SRF Kultur:
neoblogpost 2.9.2021: Unendliche Spielwelten, Autor: Jaronas Scheurer über das “Spiel Hölle” Projekt von Michel Roth

neo-profile:
Michel Roth, Mike Svoboda, Aleksander Gabrys, sonic space basel

«In maletg da mia veta»

Gion Antoni Derungs (1935–2012) ist nicht nur der prominenteste Komponist Graubündens. Er gilt auch als eine der herausragenden Musikerpersönlichkeiten der Schweiz. Zehn Jahre nach seinem Tod erfährt er nun eine umfassende Würdigung mit einer Biografie und es fand ein Derungs-Festival in Chur statt.
Ein Porträt von Laura Decurtins.

 

Laura Decurtins
Von künstlerischer Fantasie, einer starken musikalischen Identität und unbändigem Schaffensdrang zeugt das umfangreiche Œuvre von Gion Antoni Derungs; er bezeichnete es selbst als «Bild seines Lebens». In produktiver Auseinandersetzung mit den einheimischen Musiktraditionen ebenso wie mit den internationalen musikalischen Strömungen des 20. und 21. Jahrhunderts gelangte Derungs zu seinem unverkennbaren Personalstil. Heute steht sein Name für hochstehende musikalische Kunstwerke, die einfache Lieder ebenso wie komplexe Instrumentalwerke umfassen und Laien wie professionelle Musiker ansprechen.

 


Portrait Gion Antoni Derungs zVg. Fundaziun Gion Antoni Derungs

 

Volkslieder als «Wurzel» und «Quelle»

Gion Antoni Derungs wurde am 6. September 1935 im kleinen Dorf Vella in der Val Lumnezia geboren. Nach dem verfrühten Tod des Vaters musste die Familie mit Wenig über die Runden kommen, doch auf die musikalische Erziehung der Kinder legte die selbst hochbegabte Mutter – sie war eine Schwester des berühmten Musikers Duri Sialm – nichtsdestotrotz grossen Wert. Romantische Klaviermusik, Opern und die Volkslieder der Surselva umgaben Derungs von klein auf. Als Hilfsmessmer durfte er bisweilen auch Gottesdienste auf dem Harmonium begleiten, sodass sich ihm die alten katholischen Kirchenlieder der Surselva tief einprägten. Die «canzun romontscha» wurde für Derungs gleichsam zu einer musikalisch-identitätsstiftenden Wurzel und zu einer Quelle, aus der er gerne kompositorisch schöpfte.

 

Vom Klavierstudenten zum Musikdirektor 

1949 trat Derungs in das Klostergymnasium in Disentis ein und wurde dort von Dorfmusiklehrer Giusep Huonder und zusätzlich vom Onkel Duri Sialm in Klavier und Orgel unterrichtet. Gleich nach der Matura erhielt er einen Studienplatz am Konservatorium in Zürich, wo er neben Klavier auch Komposition, Musiktheorie, Orgelspiel, Dirigieren und Partiturspiel studierte; an der Musikakademie belegte er Schulgesang. Als Nachfolger seines Onkels wurde er 1960, noch während des Studiums, zum Musikdirektor von Lichtensteig (im Toggenburg) gewählt und 1962 schliesslich zum Klavier- und Orgellehrer am Bündner Lehrerseminar in Chur, zum Organisten der dortigen Kathedrale und zum Leiter der romanischen Stadtchöre Alpina und Rezia.

 

Versuchskaninchen und «Hausinterpreten»

1968 gründete Derungs zusammen mit Pfarrer Gieri Cadruvi zur Förderung der romanischen Liedgutes die Schallplattenreihe «Canzuns popularas» (CPLP). Bis 1987 erschienen hier 13 Tonträger mit den unterschiedlichsten Programmen und Interpreten. Hauptinterpret war das von Derungs gegründete EnsembleQuartet grischun, ein Elite-Kammerchor, mit dem Derungs seine neusten, avantgardistischen Vokalkreationen ausprobieren konnte, etwa die Missa pro defunctis op. 57, für die er am internationalen Kompositionswettbewerb in Ibagué (Kolumbien) die Goldmedaille erhielt.

 

Gion Antoni Derungs, Quintett op 25 für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Zu eigentlichen «Hausinterpreten» seiner neusten instrumentalen Kammermusik wurden Derungs’ Kolleg:innen am Lehrerseminar, darunter seine Cousine, die Organistin Esther Sialm. Zwischen 1969 und 1971 bot das Radio Rumantsch Derungs’ sogenannter «musica moderna» eine Plattform – was ihm prompt den zweifelhaften Ruf eines «Modernen» einbrachte. Präsentiert wurden unter anderem das Quintett op. 25 für Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier, eine «symbiotische» Verbindung von linear-polyphonen Momenten mit Clusterklängen und Geräuschexplosionen, sowie die Silhouetten op. 17b für Klarinette und Klavier, wo aus einem anfänglichen «Durcheinander von Linien und Punkten» zunehmend silhouettenhafte Konturen entstehen.

 

Gion Antoni Derungs, Silhouetten op. 17b für Klarinette und Klavier, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Von der Avantgarde zurück zur Tonalität

Solche «musica moderna» komponierte Derungs von 1968 bis gegen Mitte der 1970er Jahre. Schon als Student war er fasziniert von den Experimenten der musikalischen Nachkriegs-Avantgarde, vom Serialismus, der Aleatorik und der Minimal Music, aber auch von der Polnischen Schule der 1960er Jahre mit ihrer Klangflächen- und Klangfarbenmusik. Zu den damals tonangebenden Darmstädter-Kreisen und ihren Ferienkursen für Neue Musik blieb er hingegen auf Distanz.

 

Mitte der 1970er Jahre wandte sich Derungs der «einfacheren», neotonalen Musik der Postmoderne zu, ohne jedoch den einschlägigen Kreisen angehören zu wollen. Er benutzte die musikalischen Sprachen seines Jahrhunderts immer sehr frei und undogmatisch, wobei alles seine Berechtigung haben musste. In der wiedergewonnenen Tonalität sah Derungs «hoffnungsvolle Perspektiven» für die Weiterentwicklung seines Personalstils. Da er aber nie den augenblicklichen Erfolg suchte, warteten viele Werke Jahrzehnte «in der Schublade» auf ihre Uraufführung.

 

«Vorwärts schauen»: Durchbruch und Erfolg

Seinen Durchbruch in Graubünden erzielte Derungs mit einem Vokalwerk, das in dieser Zeit entstand: mit dem Opernballett Sontga Margriata op. 78. Zurückkommen zur Tonalität hiess für ihn nämlich auch, sich wieder mit seinen musikalischen Wurzeln zu beschäftigen: «Tradition bewahren heisst vorwärts schauen». Und gerade das Volkslied erlaubte es ihm, gleichzeitig aktuelle Musik mit einem einheimischen Ton zu erschaffen. Aus dem wohl ältesten romanischen Lied La canzun da Sontga Margriata entstand so ein zeitgenössisches Werk, das 1981 in einer Bündner-Genfer-Zusammenarbeit eine erfolgreiche Uraufführung feierte. Dieser schweizweite Erfolg motivierte ihn, die romanische Sprache auch für Gattungen zu verwenden, die in Graubünden keine Tradition besassen: für das Kunstlied einerseits, aber vor allem: für die grosse Oper. Diese «erfand» Derungs gewissermassen im Jahr 1984 mit seiner ersten Oper Il cerchel magic op. 101. Auch hierfür erhielt er über die Grenzen hinaus positive Resonanz – in Romanischbünden selbst gilt diese erste «opera rumantscha» seither als musikalischer Meilenstein.

 


Gion Antoni Derungs, Il cerchel magic (der magische Kreis), 1984, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Im Laufe der Jahre komponierte Derungs ebenso eine Vielzahl instrumentaler Werke: von kleinbesetzter Kammermusik über Solokonzerte bis hin zu zehn grossen Sinfonien – diese allerdings alle aus persönlichem Antrieb. Kompositionsaufträge bekam er dagegen über all die Jahre von den verschiedensten Formationen im In- und Ausland, für die er dann jeweils in kürzester Zeit passende, auf die Interpreten zugeschnittene Werke schuf. Auch blieb es nicht nur bei einer einzigen Oper: Derungs vertonte ebenso eine Kriminalgeschichte, ein Märchen und das dramatische Leben des Rotkreuzgründers Henry Dunant; zuletzt entstanden für das Festival Origen im Surses noch drei geistliche Vokalopern nach mehrsprachigen Libretti des Indendanten Giovanni Netzer. Hier arbeitete Derungs vorwiegend mit einer Mischung aus freitonaler Harmonik, impressionistischen Farben, motettischen Techniken und einer starken Wort-Ton-Beziehung.

 

«Jeder Mensch tritt einmal ab»

 Ausgereift zeigte sich diese Tonsprache in seinem letzten a-cappella-Chorwerk, dem Nachtgebet Complet op. 189, das Derungs 2011 vollendete. Es war das Jahr, in dem er die Diagnose Krebs erhielt und sich plötzlich an den Gedanken eines baldigen Todes gewöhnen musste. Tatsächlich begleitete ihn der Tod schon seit Kindesbeinen und fand im Laufe der Jahre auch Eingang in diverse Kompositionen, er verband sie gewissermassen motivisch-thematisch, etwa das Requiem op. 74 mit der 2. Sinfonie op. 110, der Trauersinfonie, oder die Sontga Margriata mit der 8. Sinfonie «Sein-Vergehen». «Jeder Mensch tritt einmal ab», notierte Derungs zur 8. Sinfonie. «Und wir alle sind uns dessen bewusst.»

 


Gion Antoni Derungs, Sinfonie Nr.8, op. 158 (2002/2003), Eigenproduktion SRG/SSR

 

Gion Antoni Derungs starb am 4. September 2012, zwei Tage vor seinem 77. Geburtstag. Er hinterlässt ein riesiges Œuvre mit 191 Opuswerken und hunderten Kompositionen ohne Opuszahl. Schon 1996 verlieh man ihm dafür den Ehrentitel eines «Orpheus der Rätoromanen», eines Künstlers also, der Grenzen überwindet und die heimische Musiktradition in die Kunst überführt. Die höchste Auszeichnung, die man als Bündnerroman:in erhalten kann, sollte allerdings erst posthum folgen: 2015 wurde Derungs von den romanischen Medien zu «in dils nos» (einem der Unseren) erkoren – hatte er doch seine romanischen Wurzeln nie verleugnet und die «kleinen Wünsche» seiner Heimat stets berücksichtigt.
Laura Decurtins

 

Laura Decurtins ist Autorin der neuen, im Herbst 2022 im Chronos-Verlag erschienenen Biografie zu Gion Antoni Derungs.

Das Churer Gion Antoni Derungs-Festival fand vom 1. bis zum 4. September 20220 u.a. im Theater Chur statt, und wurde hauptsächlich vom Ensemble ö! bestritten. Die Konzerte wurden insgesamt von RTR auf Video aufgezeichnet und stehen auf neo.mx3 zur Verfügung.

Gion Antoni Derungs / Fundaziun

Duri Sialm, Giusep Huonder, Gieri Cadruvi, Quartet grischun, Esther Sialm, Giovanni NetzerHenry Dunant

Sendungen SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert, 14.12.22: Gion Antoni Derungs-Festival in Chur, Redaktion / Moderation Cécile Olshausen

neo-profile:
Gion Antoni Derungs, Ensemble ö!

 

 

 

 

Communiquer au-delà de la musique 

Eric Gaudibert, Genfer Pianist, Komponist und Dozent war eine Schlüsselfigur der zeitgenössischen-experimentellen Musikszene der Romandie. Verstorben vor zehn Jahren, prägte er als Pädagoge eine ganze Generation Musikschaffender und förderte wichtige Ensembles für zeitgenössische Musik. Vom 09. bis zum 17. Dezember veranstalten diese für ihn gemeinsam ein Festival mit Marathonkonzert in der Genfer Victoria Hall. Dabei kommen auch 22 Miniaturen seiner ehemaligen Studierenden zur Uraufführung.

Gabrielle Weber
Sie heissen Contrechamps, Ensemble Vortex, Eklekto Geneva Percussion Center oder Nouvel Ensemble Contemporain (NEC) und gemeinsam ist ihnen nicht nur, dass sie in der zeitgenössischen Musikszene der Romandie sehr aktiv sind, sondern auch, dass alle einen starken Bezug zu Eric Gaudibert haben.

Daniel Zea, Serge Vuille und Antoine François, die künstlerischen Leiter von Vortex, Contrechamps und NEC, initiierten das Festival als kollaboratives Projekt: «die Idee entstand spontan als wir uns über Eric unterhielten und es ergab sich ganz von selbst, dass wir es gemeinsam angehen wollten», meint Daniel Zea, denn Gaudibert sei für die Entwicklung der ganzen Szene wichtig gewesen. In der Haute école de musique Genève (HEMG) finden nun eine Tagung, ein Filmscreening mit table ronde, sowie ein Konzert von Vortex statt. In der Victoria Hall gibt es zum Schluss ein Marathonkonzert der Ensembles zusammen mit dem Orchester der HEMG.

 

Portrait Eric Gaudibert ©DR zVg. Contrechamps

 

Als «communiquer au-delà de la musique», ein Kommunizieren über die Musik hinaus, bezeichnete Gaudibert, was ihn zum Unterrichten antreibe. Dieses Kommunizieren erprobte er zunächst in Frankreich, wo er nach dem Klavierstudium in Lausanne und dem Kompositionsstudium in Paris ab 1962 im Bereich der «Animation», der Musikvermittlung, in ländlichen Regionen tätig war. Anschliessend, zurück in der Schweiz, unterrichtete er viele Jahre Komposition am Conservatoire Populaire de Genève, bevor er an die HEMG wechselte. Bereits Michael Jarrell oder Xavier Dayer, beides heute namhafte Komponisten und Dozenten mit Wurzeln in Genf, waren seine Schüler. Viele weitere nationale und internationale Laufbahnen begleitete er als künstlerische Leitfigur, Förderer und Netzwerker.

Serge Vuille, Leiter von Contrechamps, selbst kein direkter Schüler von Gaudibert, beindrucke am «Phänomen Gaudibert» dessen nachhaltige Präsenz in der Szene, die sich auch daran gezeigt habe, wie rasch weitere Partner fürs Festival zugesagt hätten. Contrechamps arbeite laufend mit ehemaligen Schüler:innen zusammen, seien es Interpret:innen oder Komponist:innen. «Am Festival wollte ich deshalb diesen Lehrer-Schüleraspekt in zweierlei Richtungen abbilden», sagt Vuille.

Da ist einerseits Nadia Boulanger, Gaudiberts Theorielehrerin in Paris: von ihr bringt Contrechamps ein Orchesterwerk zur Aufführung. Boulanger unterrichtete ihrerseits zahlreiche, heute weltweit gespielte Komponierende. Ihr eigenes Werk wird hingegen selten aufgeführt. Sie sei als Komponistin verkannt, da sie selbst hauptsächlich als Pädagogin wahrgenommen werde, so Vuille.

Andererseits gab Contrechamps im Kreis von Gaudiberts ehemaligen Studierenden Kurzkompositionen in Auftrag. Angesichts der hohen Zahl von 45 Absolvent:innen fragte man «nur» einen regional überschaubaren Kreis von weiterhin in der Romandie tätigen oder mit der Romandie verbundenen an. Von diesen sagten mit zwei Ausnahmen alle zu. «Dieses klare Bekenntnis seiner Schüler:innen war beeindruckend», sagt Serge Vuille.

Mit Vorgabe einer Dauer von nur einer Minute und offener Besetzung, vom grossen Ensemble bis zum Solo und ggf. Tonband, werden nun 22 Miniaturen aufgeführt, darunter Stücke von Arturo Corrales, Fernando Garnero, Dragos Tara oder Daniel Zea.

Daniel Zea hebt noch einen anderen Aspekt der Lehrer-Schüler-Kommunikation hervor: «Wir alle sind sehr dankbar dafür, was er uns mitgegeben und ermöglicht hat. Zugleich war es ein Hin und Her: Eric war offen und neugierig – ihn interessierte was uns interessierte. Wir beeinflussten ihn zum Beispiel mit unserem Interesse an unserer traditionellen Musik». Zea stammt wie einige Absolvent:innen von Gaudiberts Kompositionsklasse aus Südamerika. Sein Ensemble Vortex fand in Gaudiberts Unterricht zusammen und wurde von ihm bis zuletzt begleitet und gefördert.

 


Hekayât, pour rubâb, hautbois, hautbois baryton, alto et percussion, 2013 Eigenproduktion SRG/SSR, interpretiert von Khaled Arman an der Rubâb, einer arabischen Laute, ist eines der späten Werke Gaudiberts, in denen er Instrumente, deren Interpret:innen und Spielweisen aus anderen Kulturräumen zu integrieren sucht.

 

Elektroakustik und Diversität

 

Gaudibert, geboren 1936 in Vevey, studierte in Paris bei Nadia Boulanger und bei Henry Dutilleux, und ist vor allem für seine poetischen klangmalerischen Instrumentalwerke bekannt. Es gibt aber auch andere, weniger bekannte Seiten:Zurück in der Schweiz, forschte er in den frühen siebziger Jahren in seiner selbstbezeichneten «experimentellen» Phase im Experimentalstudio des Radios in Lausanne an elektronischen Klängen.

 

Portrait Eric Gaudibert zVg. Contrechamps

 

Vortex widmet ein Konzert am 10. Dezember ganz seinen elektroakustischen Werken, was der multimedialen Ausrichtung des Ensembles entspricht: «es ist eine wichtige, viel zu selten gezeigte Phase seines Schaffens», sagt Daniel Zea. Zusammen mit John Menoud, Komponist und Multiinstrumentalist, besuchte er Gaudiberts Witwe Jacqueline, wobei sie Videos, Tonkassetten und Partituren durchforstet hätten. Zur Aufführung kommen nun Stücke für Instrumente und Tonband oder Live-Elektronik, die oft nur ein-zwei Mal aufgeführt wurden, interpretiert von Musiker:innen, die eng mit Gaudibert zusammen gearbeitet haben. Benoît Moreau spielt bspw. En filigrane für Epinette (Spinett) und Tonband, das nur einmal, durch Gaudibert selbst an der Uraufführung 20018 gespielt wurde – Moreau war damals dabei.

 

Die Stückauswahl fürs Schlusskonzert zeigt die Vielseitigkeit Gaudiberts. «wir entschieden uns für eine Kombination von Schlüsselwerken wie Gong – sein letztes grosses Ensemblewerk – mit selten gespielte Stücken, um die Diversität seines Schaffens zu zeigen», so Vuille. Gong ist dem Pianisten Antoine Françoise gewidmet, der es auch am Festival interpretiert, zusammen mit Contrechamps. François, heute international gefragter Solo-Pianist und Leiter des NEC, hatte gleichfalls eine enge Beziehung zu Gaudibert. Selbst Pianist, begleitete und unterstützte Gaudibert die Entwicklung von François seit der ersten Begegnung als er 16 Jahre alt war und setzte auf sein Können für die anspruchsvolle Partie in Gong mit erst 24  Jahren.

 


Gong &Lémanic moderne ensemble, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Nebst Instrumentalwerken ist auch in der Victoria Hall Gaudiberts elektroakustische Phase vertreten: Vortex bringt Ecritures von 1975 für eine Stimme und Tonband, entstanden im Experimentalstudio in Lausanne, in einer neuen Version für vier im Raum verteilte Stimmen zur Aufführung. «Das Stück lebt weiter mit neuen technischen Möglichkeiten. Das wäre in Gaudiberts Sinn gewesen», sagt Zea. Dass seine ehemaligen Studierenden weiterhin kollaborativ zusammenarbeiten, das hätte Eric Gaudibert sicherlich gleichfalls begrüsst – als Kommunizieren über die Musik hinaus.
Gabrielle Weber

Nadia Boulanger, Henri Dutilleux

 

 Im Filmportrait: Eric Gaudibert, pianiste, compositeur, enseignant (Plans fixes, 48min, Suisse, 2005) äussert sich Gaudibert zu seinen grossen Themen, bspw. seine Vorliebe für Literatur und Malerei, die Zeit in Paris, das Unterrichten und die Einflüsse anderer Kulturen in sein Musikschaffen: der Film steht im Zentrum einer Roundtable am Genfer Festival Gaudibert am 10. Dezember.

 

Festival Gaudibert:
9./10. Dezember 2022, HEMG: Tagung / Konzerte: An der Tagung an der HEMG diskutieren u.a. die Komponisten und Dozenten Xavier Dayer, Nicolas Bolens oder der Musikethnologe und Interpret Khaled Arman.
17.Dezember 2022, Victoria Hall Genève, 18:30h: Marathonkonzert Contrechamps, Eklekto, le NEC, Vortex, orchestre de la HEMG, Dirigent: Vimbayi Kaziboni, Gaudibert, Boulanger, UA 22 Miniaturen:

Sendung RTS:
musique d’avenir, 6.2.23: Festival Gaudibert 2022, Redaktorin/Autorin Anne Gillot

Neo-Profile
Eric Gaudibert, Daniel Zea, Antoine Françoise, Arturo Corrales, Fernando Garnero, Dragos Tara, Ensemble Vortex, Contrechamps, Nouvel Ensemble Contemporain, Eklekto Geneva Percussion Center, John Menoud, Benoit MoreauEnsemble Batida, Xavier Dayer, Michael Jarrell

Sonic Matter: Auf den Klang kommt es an

Sonic Matter – Festival für experimentelle Musik findet dieses Jahr vom 1. bis zum 4. Dezember in Zürich zum zweiten Mal statt. Unter dem vieldeutigen Motto Rise weist das Festival über das Festival hinaus. Ein Schwerpunkt ist dabei das Musikschaffen in Subsahara-Afrika.

Friedemann Dupelius
„It matters what matters we use to think other matters with“, schreibt die Philosphin Donna Haraway. Sinngemäss übersetzt kommt es also darauf an, mit welchen Mitteln wir über etwas anderes nachdenken. Das Zürcher Festival Sonic Matter versteht Klang als so etwas, auf das es ankommt. Mit Klang und Musik können wir über Dinge nachdenken, die wiederum darüber hinausgehen. Sound kann ein Tor zur Welt sein, Zuhören eine Art der Reflexion und Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. In der zweiten Ausgabe des Festivals, das 2021 die Nachfolge der Zürcher Tage für Neue Musik angetreten hat, wird diese Perspektive deutlich.

Aufnahmen für “Play the Village” mit Manon Fantini, Léo Collin und Menschen aus Horgen bei Zürich

Mit Rise gibt nun das Mittelwort der Motto-Trias Turn – Rise – Leap den leitenden Gedankenimpuls: „Das kann im Sinne von Wachsen oder Entstehen begriffen werden – oder auch als etwas Widerständiges, Aufbegehrendes, als etwas, das Grenzen erweitern will“, erläutert Lisa Nolte. Auch sie ist Teil einer Trias. Neben der Kulturmacherin gehören die Komponistin Katharina Rosenberger und die Künstlerin und Kuratorin Julie Beauvais zu dem Kernteam, das Sonic Matter seit 2021 konzipiert. Zweierlei verdeutlicht der Untertitel „Plattform für Experimentelle Musik“: Sonic Matter denkt über die Grenzen eines Festivals hinaus. Es ist nicht nach vier dichten Veranstaltungstagen vorbei, sondern begreift sich als ein Prozess, der kontinuierlich andauert. Ausserdem signalisiert der Begriff des Experimentellen eine ästhetische Breite. Es gehe darum, „möglichst viel Spielraum für klangbasierte aktuelle Kunstformen zu haben“, so Lisa Nolte. Einerseits gibt es Formate mit zeitgenössischer Musik, wie sie sich in Europa etabliert hat – zum Beispiel im Konzert des Tonhalle-Orchesters mit Musik von Peter Ruzicka und George Enescu, oder wenn das Collegium Novum Zürich Iannis Xenakis’ Φλέγρα (Phlegra) neben einer Uraufführung von Laure M. Hiendl spielt. Doch sagt Lisa Nolte auch: „Oft geht es bei der Neuen Musik um eine ganz bestimmte Vorstellung von Qualität, die man aber nicht überall teilt. Andere Ansätze können sehr bereichernd sein.“


Iannis Xenakis – Φλέγρα (Phlegra) (1975), gespielt vom Ensemble Phoenix Basel

Hören, Denken und Träumen mit Archiven

Diese Ansätze können aus anderen Musik- und Kunstformen kommen, oder auch aus lange zu wenig beachteten Orten auf der Welt. Das Duo Listening at Pungwe aus Südafrika und Simbabwe etwa hat eine ganz eigene künstlerische Umgangsweise mit Klang. Memory Biwa und Robert Machiri sammeln Musik und Fieldrecordings aus ihren Heimatregionen. Dieses Material begreifen sie als klingendes Archiv, dessen Inhalte sie in Performances und Listening Sessions neu kontextualisieren. Der namensgebende Begriff „Pungwe“ erinnert an das Ritual einer Totenwache, während der die Anwesenden in einem besonders wachsamen Zustand sind – ein Zustand, der es auch ermöglicht, von einer besseren Zukunft zu träumen oder sich für die Revolte zu motivieren.

 

Eine Live-Session von Listening at Pungwe in Kapstadt 2017

Klang- und Musik-Archive sind so ein „Matter“ (Mittel), mit dem über andere „Matters“ (Dinge, Themen) nachgedacht werden kann. In gesammelten Tonaufnahmen stecken Informationen über Geschichte, soziale und politische Umstände und vieles mehr. Und: Sie bieten Möglichkeit zur Imagination, zum Träumen davon, wie die Welt auch sein könnte. In diesem Sinne haben die Schüler:innen im Projekt Once Upon A Sound mit Roman Bruderer, Peter Nussbaumer und Iva Sanjek eigene Klangarchive angelegt, die sie beim Festival in Listening Sessions und DJ-Sets präsentieren.

Auch die Menschen aller Altersgruppen, die mit den Künstler:innen Léo Collin und Manon Fantini arbeiteten, schärften ihre Ohren auf die Klänge ihrer Umgebungen. Daraus entstand die Installation Play The Village. In den gemeinsamen Listening Sessions mit dem lauschigen Titel Weiche Kissen – heisse Ohren steht ebenso das gemeinsame Hören im Fokus. Eine ganze Symphony Of Archives lässt der marokkanische Künstler Abdellah M. Hassak im Kunstraum Walcheturm erschallen. Sonic Matter ist also auch eine riesige Ansammlung von archivierten Klängen, die in verschiedenen Veranstaltungsformaten für die offenen Ohren des Publikums zugänglich gemacht werden.


Noémi Büchi spielt am 3.12. “live from the Listening Lounge” im Kunstraum Walcheturm

Ein weiterer Schwerpunkt von Sonic Matter 2022 ist die Region Subsahara-Afrika. Neben Pungwe sind insbesondere Künstler:innen des ugandischen Musikfestivals und Labels Nyege Nyege in Zürich dabei. So steht Labelgründer Rey Sapienz hinter den Decks bei der Party in der Gessnerallee, wenn klar wird, was Lisa Nolte schon weiss: „Hören ist etwas Aktives. Das zeigt sich auch, wenn man von Musik direkt in körperliche Bewegung versetzt wird.“ Auch Tanzen ist Sonic Matter – ein klangliches Matter („Angelegenheit“) und der Moment, in dem Klang selbst als Matter („Materie“) ganz körperlich wird. Von Träumen und Sehnsüchten nach der verlorenen afrikanischen Heimat erzählen Latefa Wiersch, Rhoda Davids Abel und Dandara Modesto in ihrer interdisziplinären Performance Neon Bush Girl Society. Dabei greifen sie Legenden der geflohenen Volksgruppen Nama und Damara aus dem südlichen Afrika auf.

Neon Bush Girl Society

Sonic Matter ist immer

Auch im Sonic Matter Open Lab ist Subsahara-Afrika 2022 schwerpunktmässssig vertreten. Mit diesem dauerhaften Format unterstreicht Sonic Matter, dass es an 365 Tagen im Jahr stattfindet. Beim Open Lab arbeiten Expert:innen aus Kunst, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam an dringenden Fragen ihrer jeweiligen Region auf der Welt. Die Einzelprojekte beschäftigen sich u.a. mit indigenen Völkern in Uganda und Mosambik, mit dem kulturellen und politischen Leben südsudanesischer Flüchtlinge in Kenia oder historischen Sounds in Johannesburg. Fortlaufend wird die Online-Plattform upgedatet. Und auch das Sonic Matter Radio hält die Klang- und Denkprozesse rund um die Uhr am Laufen. Sonic Matter, das sind also nicht nur vier spannende Tage voller Musik, Klang und Kunst in Zürich – es ist auch ein Dauerzustand des Hinhörens, Nachdenkens und Erzählens rund um den Globus. Ganz nach Donna Haraway, denn Erzählungen erschaffen die Welt: „It matters what stories make worlds, what worlds make stories“.
Friedemann Dupelius

Sonic Matter: 1.-4.12.2022 in Zürich
Sonic Matter RadioSonic Matter Open Lab

Partner-Festival 2022:
Nyege Nyege (Uganda)

SRF 2 Kultur:
Sonic Matter 2021 auf dem neoblog @neo.mx3
SRF-Bericht über Sonic Matter 2021

Donna Haraway, Roman BrudererLaure M. Hiendl, Latéfa Wiersch, Manon Fantini, Rey Sapienz, Listening at Pungwe

neo-Profile:
Sonic MatterKatharina RosenbergerIannis XenakisLéo CollinCollegium NovumTonhalle-Orchester ZürichOlga KokcharovaNoémi Büchi

 

Das Lucerne Festival Forward nimmt “ein sauberes Ende”

Jaronas Scheurer
Vom 18. bis 20. November 2022 findet in Luzern das Lucerne Festival Forward statt. Neben grosse Namen der internationalen zeitgenössischen Musik-Szene wie Anna Thorvaldsdottir, Patricia Kopatchinskaja und Tito Muñoz steht auch die kollektive Intervention Ein sauberes Ende zum Schluss des Festivals auf dem Programm.

 

Der Luzerner Komponist, Musiker und Experte für Reinigungsmaschinen Urban Mäder, zVg. von Urban Mäder.

 

Der Luzerner Komponist und Musiker Urban Mäder bezeichnete sich im Interview als Experte für die verschiedensten Reinigungsmaschinen – und das hat gute Gründe. Denn für den Schlusspunkt des diesjährigen Lucerne Festival Forward (LFF) stehen für einmal nicht die Musiker:innen des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LCFO) im Rampenlicht, sondern unter anderem das Reinigungspersonal des KKL mitsamt ihren verschiedenen Staubsaugertypen, Nasswischern und Reinigungsmaschinen.

 


Urban Mäder und Peter Allamand: Klanginstallation ‘Balgerei’ im Rahmen des Festivals Alpentöne, Altdorf 2015.

 

Recherchearbeit um 6 Uhr morgens

Nach der ersten Ausgabe des LFF letztes Jahr und der in diesem Rahmen stattfindenden Aufführung des Stücks Ricefall von Michael Pisaro durch 49 Lai:innen aus der Bevölkerung, findet auch dieses Jahr am LFF eine partizipative Aktion statt: Ein sauberes Ende. Eine kollektive Intervention nennt sich die Aktion und dahinter stecken Urban Mäder, Nora Vetter, Pia Matthes und Peter Allamand. Und diese kollektive Intervention findet als Schlusspunkt des letzten Konzerts des vom 18. bis am 20. November stattfindenden LFF statt. Nun, was gibt es am Ende eines Festivals oder eines Konzertes zu tun: Putzen, damit das Ganze auch ein sauberes Ende nimmt. Von dieser Prämisse gingen die vier Künstler:innen aus und beschäftigten sich intensiv mit dem ganzen Putzequipment, das dafür zum Einsatz kommt. Denn, nach jedem Konzert im Kultur- und Kongresszentrum Luzern trabt am nächsten Morgen um 6 Uhr das fünfzehnköpfige Reinigungspersonal der Firma Vebego an und bringt den Konzertsaal, das Foyer, die Toiletten und alle Räumlichkeiten wieder auf Hochglanz. Die Mitarbeitenden benutzen dafür jedoch nicht Eimer und Besen, sondern etliche topmoderne Reinigungsmaschinen. Das Team hinter der Intervention Ein sauberes Ende habe sich intensiv mit den verschiedenen Maschinen beschäftigt und genau untersucht, was für Klänge aus all dem unterschiedlichen Reinigungsequipment herauszuholen seien, wie Urban Mäder berichtete. Sie hätten sich auch um 6 Uhr morgens mal ins KKL begeben, um dem Vebego-Team bei der Arbeit zuzuschauen. Aus dieser Recherchearbeit entstand dann eine Art Komposition für eine Gruppe von Lai:innen, die sich auf einen Aufruf des LFF hin als Performer:innen gemeldet haben.

 

Die Bratschistin, Komponistin und Performerin Nora Vetter, zVg. von Nora Vetter.

 

Das Team hinter Ein sauberes Ende

Hinter Ein sauberes Ende stecken neben dem Luzerner Komponist und Dozent für Improvisation Urban Mäder die Bratschistin, Komponistin und Performerin Nora Vetter, die Künstlerin und Szenografin Pia Matthes, die eine starken Affinität zur Klangkunst besitzt, und der langjährige Kollaborateur von Urban Mäder, Peter Allamand. Jede:r der vier Künstler:innen bringt eine andere Sichtweise mit hinein, so Nora Vetter im Gespräch. Urban Mäder besitze eine ganz eigene Klangsprache und einen unglaublichen Erfahrungsschatz in diesem Bereich, Pia Matthes habe ein sehr gutes Gefühl für Dramaturgie und, als ausgebildete Produktdesignerin, ein Auge für das Visuelle, Peter Allamand wisse wahnsinnig viel über das Funktionieren der Dinge und habe eine grosse Lust und Freude am Ausprobieren und Rumtüfteln. So habe er beispielsweise zu einer Sitzung der Vier einen Laubbläser mitgebracht, damit sie im Café, wo sie sich trafen, direkt ausprobieren konnten, wie so ein Ding klingt und funktioniert. Und für sie selbst, sagt Nora Vetter, sei, neben dem Fokus auf den klanglich-kompositorischen Aspekt, den sie mit Urban Mäder teile, die politische Dimension in dieser Arbeit von grosser Bedeutung. So sei es für sie wichtig gewesen, dass auch das tatsächliche Reinigungspersonal auftritt. Es haben sich daraufhin vierzehn der fünfzehn angestellten Reinigungskräfte gemeldet.

Während die Musiker:innen auf der Bühne aus aller Welt kommen und zu Recht für ihre Leistungen kräftig gefeiert werden, bleibt das häufig migrantisierte Reinigungspersonal im Verborgenen. Des Weiteren haftet dieser Tätigkeit das Klischee an, dass den Putzenden leider nichts anderes übrigbleibe. “Doch” so Nora Vetter “am Ende des Tages ist sowohl Musik machen als auch Putzen einfach Arbeit und beides ist gleichermassen notwendig dafür, damit ein Festival wie das LFF überhaupt durchgeführt werden kann.”

 


Nora Vetter: ‘Dream Paralysis’, latenz ensemble, Zürich 2021.

 

Ernst nehmen

Ernst nehmen – unter diesem Stichwort lassen sich vielleicht die verschiedenen Anliegen hinter der kollektiven Intervention Ein sauberes Ende versammeln: Ernst nehmen der Menschen, die die so wichtige, aber unsichtbare Arbeit des Putzens und Aufräumens übernehmen. Und ernst nehmen des klanglichen, ja gar musikalischen Potentials des Putzequipments.

 

Der Konzertsaal des Kultur- und Kongresszentrums Luzern, der am 20. November beim “sauberen Ende” gereinigt wird. ©KKL Luzern

 

Das Ziel der Aktion sei nicht, eine lustige Show abzuziehen, sondern die klanglichen Möglichkeiten der Reinigungstätigkeit und der Putzgeräte ernst zu nehmen, so Urban Mäder. Ihre Intervention basiere auf einer klaren musikalischen Vorstellung, das sei vergleichbar mit klassischen Kompositionen. “Wenn man ein Orchesterstück schreibt, kennt man sich mit der Zeit aus bei den Holzbläsern, den Blechbläsern, den Perkussionsinstrumenten usw. Wir kennen uns jetzt halt aus bei all den Putzmaschinen und wie die klingen.” Und vor allem – sieht das Publikum auch endlich mal die Menschen, die dafür sorgen, dass sich das KKL bei jedem Konzert von Neuem sauber, aufgeräumt und in tadellosem Zustand präsentiert, und kann sich dafür bei diesen meistens unsichtbaren Personen mit dem gebührenden Applaus bedanken.
Jaronas Scheurer

 

Trailer zur Intervention “Ein sauberes Ende” von Urban Mäder, Nora Vetter, Peter Allamand und Pia Matthes. Lucerne Festival Forward, 20. November 2022, KKL Luzern.

 

Das Lucerne Festival Forward fand vom 18. bis am 20. November in Luzern statt.
Die kollektive Intervention Ein sauberes Ende wurde im Rahmen des Abschlusskonzerts am 20. November im Konzertsaal des KKL uraufgeführt.
Neben Urban Mäder und Nora Vetter gehörten auch Pia Matthes und Peter Allamand zum Team hinter Ein sauberes Ende.

Neo-Profile:
Urban Mäder, Nora Vetter, Patricia Kopatchinskaja, Lucerne Festival Contemporary Orchestra

Vom Loop zum Bordun: Drehmomente von Janiv Oron

Friedemann Dupelius
Es hat etwas Putziges an sich, wie Staubsaugroboter über den Boden tänzeln. Stets auf der Suche nach ungereinigten Winkeln im Raum kreiseln sie umher, drehen sich um ihren Mittelpunkt, ruckeln vor und zurück, nach links und rechts. Die Jagd nach dem letzten Staubkorn orchestrieren sie mit einem unnachgiebigen Summen. Vergangenen Sommer packte Janiv Oron kleine Lautsprecher auf zwei dieser modernen Haushaltshilfen. In der Istanbuler Kunstgalerie Öktem Aykut schrubbten sie sich zwischen den Besucher:innen auf dem Parkett vorbei und spielten einen mobilen Soundtrack für die Gemälde von Renée Levi an den Wänden, bestehend aus Fragmenten von Kompositionen Janiv Orons und dem Surren der kleinen Sauger.

 

Janiv Oron © Flavia Schaub

 

Es scheint, als hätte Karlheinz Stockhausens Rotortisch mit seinem drehenden Lautsprecher gut 60 Jahre später die Mobilität entdeckt. Oder aber die Party-Lastzüge, wie man sie von der Zürcher Streetparade kennt, hätten die Orientierung verloren. Janiv Oron wären wahrscheinlich beide Interpretationen recht. Der Basler Musiker und Soundkünstler bewegt nicht nur seine Klangquellen, sondern auch sich selbst zwischen verschiedenen musikalischen Fixpunkten und wirbelt dabei den Staub der Gewohnheiten durcheinander. Als Teil des DJ-Duos Goldfinger Brothers spielt er seit über zwei Jahrzehnten an Partys zum Tanz auf. Im Studium der Musik und Medienkunst an der Hochschule der Künste Bern kam er in Kontakt mit Klangkunst und zeitgenössischer Komposition. Seither erweitert Oron seine Klangsprache und denkt die Werkzeuge, mit denen er in der Clubkultur gross geworden war, auf seinen neuen Pfaden weiter. Den Plattenspieler und die Vinylscheibe verwendet er als Instrumente zur Komposition und Live-Performance. Lautsprechersysteme setzt er ein, um klanglich auf Räume zu reagieren und darin neue Klangräume zu gestalten. Damit ist er nicht nur zu Gast in Galerien, sondern hat in den vergangenen Jahren auch zahlreiche Kollaborationen mit Klangkörpern der zeitgenössischen Musik und mit Tanzcompagnien entwickelt.

 


Im Mai 2022 erschien Janiv Orons erstes Solo-Album „Easel“ beim Zürcher Label Light From Other Days. Die Stücke darauf spielte Janiv Oron mit dem analogen Synthesizer „Easel“ von Buchla ein.

 

 

Alles dreht sich

Das Motiv der Rotation ist in vielen Arbeiten von Janiv Oron augen- und ohrenfällig: „Der Mix, unendliche Loops, Umdrehungen des Geistes, Geschwindigkeit, Phasenverschiebung, allgemeine Formen der Wiederholung oder raumzeitliche Versetzung“, so beschreibt er seine Faszination für alles Drehende in der Musik. „Das sind Geräuschestrudel aus Zeit und Raum. Sie erzeugen eine dynamische oder kinetische Fülle.“ Rotierende Lautsprecher, performende Saugroboter und drehende Plattenteller kreisen durch die Kunst von Janiv Oron. Die ist bei aller kompositorischer Abstraktion stark vom Körper im Raum und von körperlichen Wahrnehmungen informiert: „Sound wandert auf die Haut und die Haut beginnt, für dich zu hören.“ Janiv Oron weiss aus dem Club, wie es sich anfühlt, von subkutanen Bässen im Zwerchfell gekitzelt zu werden.

 

Janiv Oron bei Nachtstrom 94 im Gare du Nord, Basel

 

Für sein Konzert mit der Basel Sinfonietta im Juni 2022, zum Abschluss deren Jubiläumssaison „40+1“, brachte er ein Soundsystem, das ein Freund von ihm gebaut hatte, mit in die Halle des Sportzentrum Pfaffenholz. Die zwei hohen Lautsprechertürme waren nötig, um den „Soundclash“ mit den 80 Musiker:innen des Orchesters aufnehmen zu können. Zugleich galt es, eine große Sporthalle adäquat zu beschallen. Die Sinfonietta spielte in diesem Konzert Flowing down too slow von Fausto Romitelli und Christophe Bertrands Mana. Aus diesen beiden Kompositionen sampelte Janiv Oron 64 kleine Ausschnitte, teils nur wenige Sekunden kurz, und liess sie durch verschiedene Computer-Algorithmen laufen. Das Ausgangsmaterial wurde dadurch gedehnt, verzerrt und aus seinem ursprünglichen Kontext entnommen. „Im Sampling isoliere ich Fetzen von einer Geschichte und setze sie in eine neue Erzählung ein“, erklärt er. In einem nächsten Schritt instrumentierte der Komponist Oliver Waespi 21 ausgewählte Remix-Fragmente von Janiv Oron wiederum für die Basel Sinfonietta. Oron spielte schließlich live an den Turntables mit dem Orchester. Die Schallplatten dienten hierbei, an eine Software angeschlossen, als Steuereinheit für die einzelnen Orchestersamples.
Der Titel dieser Re-Re-Komposition lautet Datendieb: „Ich arbeite in meiner Musik sehr oft mit bereits bestehendem Material. Beim Sampling ist man ein Zeitengel. Man stiehlt in der Vergangenheit, bearbeitet im Moment und denkt das Material in die Zukunft weiter.“

 

Janiv Oron mit der Basel Sinfonietta

 

Atmender Klangkern, Tanzender Tod

Ähnlich zwischen den Zeiten oszilliert auch der Loop – die (oft) auf Schallplatte gepresste Keimzelle elektronischer Tanzmusik, der sich Janiv Oron weiterhin verbunden fühlt. Im Lauf der Jahre entwickelte er dazu eine Faszination für den Bordun – in der elektronischen Musik meist als Drone bezeichnet. Im Drone kulminiert der Loop in einer Art ewiger Bewegung, die wie Stillstand anmutet, aber im Kern atmet und vibriert. Mit analogen oder digitalen elektronischen Instrumenten haucht Oron seinen Drones Leben ein und spielt sie unter anderem in Kollaborationen wie mit Christoph Dangel (Cello), Stefan Preyer (Kontrabass), Thomas Giger (Lichtkunst) und dem Kammerorchester Basel.

 


„Don Boscos Garden 1“ – mit Janiv Oron, Christoph Dangel, Stefan Preyer & Thomas Giger

 

Mit dem Kammerorchester hat Oron schon mehrfach genreübergreifende Projekte realisiert hat, etwa die drei Teile von Don Boscos Garden. Im neuesten, Ende Oktober 2022 realisiert, mischte er die vereinzelt im Don-Bosco-Gebäude spielenden Instrumentalist:innen des Kammerorchesters zu einem Remix von Mahlers 4. Sinfonie zusammen.


„Don Boscos Garden 2″ – mit dem Kammerorchester Basel, Giulia Semenzato & Anne-May Krüger

 

Im November 2022 steht eine weitere Kollaboration an. Für die Basler Tanzcompagnie MIR komponiert Janiv Oron gemeinsam mit dem Organisten Filip Hrubý eine Musik zwischen Ambient, Orgelklängen und Elektronik. Beide Orgeln der Basler Predigerkirche kommen dabei zum Einsatz. Das Stück Now here – no where. Ein Totentanz für das 21. Jahrhundert nähert sich dem abstrakten Phänomen des Todes und der eigenen Sterblichkeit an. Hierzu wurden auch acht Tanz-Laien aus Basel als „Expert:innen des Alltags“ in den Entwicklungsprozess einbezogen; eine von ihnen wird live auf der Bühne mittanzen. Auch wenn sich Janiv Oron bezüglich musikalischer Details noch bedeckt hält, kann man davon ausgehen, dass hier kein endgültiges Lied vom Tod gespielt wird. Denn: Alles dreht sich und kommt in veränderter Form wieder.
Friedemann Dupelius


Now here – no where. Ein Totentanz für das 21. Jahrhundert
9.-20.11., Predigerkirche Basel

Janiv Oron
MIR Compagnie
Christoph Dangel
Stefan Preyer
Thomas Giger

neo-Profile:
Basel Sinfonietta, Kammerorchester Basel, Oliver Waespi

Die Komponistin mit dem Lötkolben

Sie lebt mit ihrer Familie auf der schwedischen Insel Gotland, wenn sie nicht gerade unterwegs ist mit Ihrer Musik, die inzwischen von den wichtigsten Ensembles für zeitgenössische Musik und grossen Sinfonieorchestern gespielt wird. Lisa Streich erschafft mit modernsten Kompositionstechniken eine universelle Musiksprache, die das Publikum direkt anspricht und den heutigen Zeitgeist trifft, ohne anbiedernd zu sein. Wie sie das schafft, versucht Annelis Berger im Gespräch mit ihr herauszufinden.

 

Portrait Lisa Streich zVg. Lisa Streich

 

Annelis Berger
Kontraste, immer wieder diese Kontraste: Scharfe Peitschenschläge dringen ans Ohr, und in den Lücken – diesen entsetzlichen Lücken zwischen den Schlägen – schweben seltsam entrückte Pianissimo-Akkorde, bei denen man nicht weiss, ob das Ohr sich täuscht oder ob da tatsächlich die Orchestermusiker:innen leise mitsingen. Staunend sitzt man da und taucht ein in eine überraschende Musiksprache, die irgendwie «einleuchtet», Sinn ergibt, obgleich sie komplex und vielschichtig ist. Segel heisst das Stück von Lisa Streich, das 2018 am Lucerne Festival uraufgeführt wurde.

Es ist mein erster Kontakt mit der Musik der schwedischen Komponistin. Später wird mir klar, dass diese Musiksprache typisch ist für die Werke von Lisa Streich: sie überraschen, gleichzeitig sprechen sie die Hörer:innen direkt an. Man fühlt sich nicht ausgeschlossen, auch beim ersten Hören nicht. Da ist kein hermetischer Überbau, an dem man sich erst mal abarbeiten muss, um Zugang zu dieser Musik zu finden. Und dies, obwohl in jedem der Stücke sehr aufwändige intellektuelle, künstlerische und handwerkliche Arbeit steckt.

 


In Segel aus dem Jahr 2017 setzte Lisa Streich erstmals eine «spektrale Tonalität» ein.

 

Lisa Streich, geboren 1985 in Schweden, hat sich zur Organistin ausbilden lassen und dann in Berlin, Stockholm, Salzburg, Paris und Köln Komposition studiert. Sie meidet das Scheinwerferlicht, die Bühne ist nicht ihr Ding. Auf der Empore aber, allein an der Orgel, diesem «atmenden Geschöpf, das dir nicht gehört und das in jeder Kirche anders riecht», dort fühlt sie sich wohl. Ebenso beim Komponieren zu Hause auf der Insel Gotland, die an der Ostsee zwischen dem Baltikum und Schweden liegt und wo sie, nahe am Meer und inmitten einer malerischen Insellandschaft, sich abwechselnd mit ihren Kindern beschäftigt oder komponiert. Dazu gehört auch tüfteln, basteln, Geräte bauen. Irgendwann hat Lisa Streich nämlich angefangen, Elektronik in ihre Musik einzubauen, kleine Maschinen, die sie in einem alten Schuppen neben ihrem Wohnhaus herstellt: Sie lötet, baut, fügt zusammen, um dann z.B. im Stück Pietà für motorisiertes Cello und Ensemble einen fast mechanischen Sound zu erzeugen, der gerade darum so aufregend ist, weil er durch die maschinelle Anonymität universell wird.

Pietà endet leise. Lisa Streichs Stücke enden alle, ohne Ausnahme, im Piano. Sie habe es sich bis jetzt untersagt, laute Schlüsse zuzulassen, ein Fortissimo-Finalschluss komme ihr vor wie ein Plagiat, abgenutzt, ein billiger Effekt. So sagt mir Lisa Streich im Interview. Solche Sätze sind typisch für die schwedische Komponistin, die perfekt deutsch spricht. Sie hat einen hohen, fast moralischen Anspruch, mit ihrer Musik ehrlich zu sein. Darum beschäftig sie eine Aussage des französisch-griechischen Komponisten Georges Aperghis bis heute, demzufolge ein Künstler ein guter Lügner sein müsse. Irgendwie leuchte ihr ein, was er damit meine. Aber für sie funktioniere das nicht, meint sie.

Nein, für Lisa Streich funktioniert das nicht. Was ihre Musik stattdessen auszeichnet, ist spielerische Spiritualität. Und die erreicht man nicht durch Blendwerk, sondern durch Authentizität, Ehrlichkeit, keine moralinsaure, sondern eine sinnliche Wahrhaftigkeit. Wie sie das schafft, bleibt ein Geheimnis, allerdings, so sagt sie, fange sie vielleicht mit ihrer Musik ein bestimmtes Zeitgefühl ein, was dem heutigen Publikum entspreche. Die Kontrolle darüber habe man naturgemäss nicht. Aber manchmal schleiche sich in einem Werk etwas ein, was genau den Kern unserer Zeit treffe.

 

Portrait Lisa Streich zVg. Lisa Streich

 

Was sind denn nun die wichtigsten kompositorischen Mittel, die Lisa Streichs Stücke so authentisch, spannend und «heutig» machen?

 

Spektrale Tonalität und elektronische Klänge

Da gibt es zum Beispiel die sogenannte spektrale Tonalität, die Lisa Streich zum ersten Mal im oben erwähnten Werk «Segel» anwandte. Um solch schwebende Akkorde zu schaffen, sucht sie nach Aufnahmen von Amateurchören, die naturgemäss nicht perfekt sind. Sie nimmt Akkorde von diesen intonatorisch nicht ganz sauberen Aufnahmen und macht eine spektrale Analyse davon. Mit diesem Spektogramm arbeitet die Komponistin; das Ergebnis ist mikrotonale oder eben «spektrale Tonalität». Lisa Streich sagt dazu, dass sie tonale Musik liebe, aber durch häufiges Spielen und Hören allmählich nichts mehr dabei fühlte. Hingegen habe sie, wenn sie Laienchöre höre, die nicht ganz sauber intonierten, Moll und Dur neu erlebt. Sprich: Wenn gewohnte Akkorde eine Spur falsch sind, kann man Dur und Moll wieder neu erfahren

Ein weiteres kompositorisches Mittel in der Musik von Lisa Streich sind elektronische Klänge, die sie erzeugt, indem sie kleine Geräte am Instrument anbringt. Dadurch entsteht eine sehr eigene, beseelt-maschinelle Atmosphäre – oft im Kontrast mit scharfen Ensembleklängen, die auf diese mechanischen «Olimpia-Welten» (E.T.A. Hoffmann) prallen.

 

Anklänge an die römische Mehrchörigkeit

Und schliesslich gibt es diese Affinität zur menschlichen Stimme und zur Chortradition, die sich durch Lisa Streichs Oevre hindurchzieht. Zum Beispiel im wunderbaren Werk Stabat für 32 Stimmen und vier Chöre. Es ist in Rom entstanden, während Streichs Aufenthalt in der Villa Massimo. Es ist eins ihrer längsten Stücke und inspiriert von der römischen Mehrchörigkeit. Diese wird im Gegensatz zur venezianischen kaum mehr gepflegt, da es sehr aufwändig ist, diese 400 Jahre alte, mehrchörige Musik aufzuführen. Damals haben Knaben auf den Balkonen und sogar in der Kuppel des Petersdoms gesungen, nur durch Luken mit dem Dirigat verbunden. Zwölf Balkone gibt es zum Beispiel in der KircheS. Giovanni in Laterano, wo das Chorwerk uraufgeführt wurde. Mit dieser Vielchörigkeit stellte man damals eine Art unplugged Dolby-Surround-Tonsystem her. Das hat Lisa Streich fasziniert und sie versuchte, in einem vierchörigen Werk diesen Klang ins 21. Jahrhundert zu holen. Das Stück Stabat, das daraus entstand, ist eine Art Meditation für Chor, die eine weite Landschaft suggeriert, oder eine zeit- und raumlose Ebene, in die man sich fallen lassen kann, ohne weich oder hart zu landen. Man IST einfach.

 


32 Stimmen, verteilt auf vier Chöre sind in Stabat von Lisa Streich aus dem Jahr 2017 zu hören. Hier übersetzt sie die 400 Jahre alte römische Mehrchörigkeit ins 21. Jahrhundert

 

Die Frage nach dem religiösen Gehalt solcher Werke, die schon vom Titel her auf eine kirchliche Tradition verweisen, beantwortet Lisa Streich zögernd. Ja, die Religion habe früher in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt. Heute weniger, aber sie sei immer noch wichtig. Allerdings weniger geknüpft an eine bestimmte Religion. «Dass es eine Welt gibt, die unsichtbar ist, aber stärker und grösser als unsere sichtbare Welt, da bin ich mir sicher.  Auch die Musik lässt uns ja Dinge erleben oder spüren, die vielleicht gar nicht von dieser Welt sind.»

Tatsächlich bietet Lisa Streichs Musik die Möglichkeit für spirituelle Öffnungen, wenn man sich denn darauf einlässt. Vielleicht liegt gerade darin die Anziehung im Werk der Komponistin, nicht als Programm, sondern als untergründiger Strom, den man bewusst oder unbewusst wahrnimmt.
Annelis Berger

 

Am Samstag, 8. Oktober, 19:30h, bringt das Collegium Novum Zürich in der Zürcher Tonhalle ihr neues Stück OFELIA zur Uraufführung.

Georges Aperghis

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 12.10.22, 20h / 15.10.22, 21h: Im Innern der Orgel: Lisa Streich, Komponistin und Organistin, Redaktion Annelis Berger

 

Neo-Profile: Lisa Streich, Collegium Novum Zürich,