Superinstrumente und schöne Monster – Xenakis wird 100

Zum 100. Geburtstag von Iannis Xenakis finden am 28. und 29. Mai 2022 die Xenakis-Tage Zürich statt. Initiiert hat das Festival der Musikwissenschaftler Peter Révai. Ihm gelang es 1986, Iannis Xenakis nach Zürich zu holen, an die von Révai gegründete «konzertreihe mit computer-musik». An den drei Konzerten der Xenakis-Tage wird die breite Palette von Xenakis Schaffen präsentiert.

 

Portrait Iannis Xenakis 1973 © les amis de Xenakis

 

Cécile Olshausen
Der Komponist Iannis Xenakis (1922-2001) wird meist mit drei Etiketten versehen: griechischer Widerstandskämpfer mit schwerer Gesichtsverletzung, Le Corbusiers Assistent (später auch Konkurrent), und musikalischer Mathematiker. Seine Tochter Mâkhi bringt einen weiteren und überraschenden Aspekt mit ins Spiel: sie berichtet, dass ihr Vater eigentlich ein Romantiker gewesen sei. Johannes Brahms war sein Lieblingskomponist. Das Buch, das Mâkhi Xenakis 2015 über ihren Vater geschrieben hat, erscheint dieser Tage in deutscher Übersetzung. Der Mitherausgeber Thomas Meyer wird an den Xenakis-Tagen in Zürich darüber berichten. Vater und Tochter verband eine liebevolle, aber auch ambivalente Beziehung. Xenakis wollte unbedingt, dass seine Tochter den mathematisch-naturwissenschaftlichen Weg einschlägt, erst dann sollte die Kunst kommen; so wie er es vorgelebt hatte. Als Kompromiss studierte Mâkhi Xenakis dann Architektur, aber sie wurde nicht Architektin, sondern Bildhauerin und Malerin.

Xenakis also liebte Brahms und entwickelte gleichzeitig visionäre Klangwelten. Er beschäftigte sich mit elektronischer Musik und Schlagzeug, da er hier ein grosses Potential nie zuvor gehörter Klänge sah.

 


Iannis Xenakis beschäftigte sich oft mit Schlagwerk, ein Instrument, in dem er ein grosses Potenzial an neuen Klängen sah, Rebonds B für Schlagwerk (1987-1989), Marianna Bednarska, Lucerne Festival 22.8.2019, Eigenproduktion SRG/SSR
Aber auch eine der traditionellsten Gattungen, das Streichquartett, verwandelte er in etwas Neues. Seine Streichquartette werden in Zürich gesamthaft aufgeführt, und zwar vom Arditti Quartet, für das Xenakis zwei der vier Quartette komponiert hat. Eine tour de force, denn die Werke sind rabiat schwer zu spielen.

 

«Superinstrument» Streichquartett

 

Goethes Bonmot, man höre beim Streichquartett «vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten» kann man dabei gleich vergessen. Denn Xenakis bricht mit fast allen Traditionen des Streichquartetts. Da gibt es keinen Austausch musikalischer Gedanken, keine Motiventwicklungen, keine individuellen Wortmeldungen. Vielmehr scheint Xenakis hier für ein einziges, verschlungenes «Superinstrument» zu schreiben. Ein Superinstrument, das durch den ganzen Tonraum rast, von extrem tief bis spitzig hoch, das seine Klangfarben ständig ändert mit unterschiedlichen Tremoli, mit Pizzicati aller Art und mit col legno-Partien, also mit dem Bogenholz gestrichenen oder geschlagenen Tönen. Und vor allem: Die vier Streicher sausen mit ihren Fingern über die Griffbretter und hinterlassen dabei regelrechte Feuerschweife. Gerade in den ersten beiden Quartetten (ST/4 und Tetras) ist das Glissando Xenakis liebstes musikalisches Mittel. Er erzeugt damit eine faszinierende Schwerelosigkeit des Klangs. Dieses Schwebende hat Xenakis auch in seiner Architektur verwirklicht: der von ihm für die Weltausstellung 1958 in Brüssel entworfene Philips-Pavillon mit seinen kühnen Kurven ist eine in Beton gegossene Glissando-Musik.

 


In Phlegra für Ensemble von 1975 lässt sich Xenakis’ Vorliebe für Glissandi gut hören, Ensemble Phoenix Basel, Dir. Jürg Henneberger, Gare du Nord, 3.11.2018, Eigenproduktion SRG/SSR

 

An den Xenakis-Tagen in Zürich werden aber auch Raritäten zu hören sein, die eine ganz andere Seite seines Schaffens offenbaren, nämlich Kammermusik, die an Volksmusik erinnert. Diese Kompositionen weisen weit in Xenakis Vergangenheit. Er wurde in Rumänien geboren. Die erste Musik überhaupt, die Xenakis als Kind hörte, war Volksmusik, die in seiner Geburtsstadt Brăila in den Kaffeehäusern und im Radio erklang. Die traditionelle rumänische und griechische Musik findet ein Echo in diesen Kammermusikwerken.

Ein weiterer Aspekt von Xenakis Schaffen wird in einer Matinée am Sonntagmorgen im Pavillon Le Corbusier gezeigt. Dort erklingt Xenakis letzte elektronische Komposition: GENDY3 aus dem Jahr 1991. Hier wurde Xenakis grosser Traum eines komponierenden Automaten Wirklichkeit. In GENDY3 kontrolliert der Computer mittels Zufallsoperationen nicht nur die Klangereignisse, also Rhythmus, Tonhöhe und Tonfolge, sondern auch die Klangfarben. Im Vergleich zu manch heutiger computergenerierter Musik, die keinesfalls nach Computer klingen soll, wird bei GENDY3 nicht versteckt, dass da eine Maschine komponiert, es röhrt und quietscht und brummt. Xenakis sagte einmal, er hoffe, seine Musik töne nicht «wie ein Monster». GENDY3 klingt aber tatsächlich wie ein lebendiges Ding, – ein fantastisches, schönes Monster.
Cécile Olshausen

 

Portrait Iannis Xenakis 1988 © Horst Tappe

 

Les amis de Xenakis, Iannis Xenakis, Johannes Brahms, Mâkhi Xenakis, Thomas Meyer, Arditti Quartet, Le Corbusier, Philips Pavilion, Peter Révai, Pavillon Le Corbusier

 

Xenakis Tage Zürich, 28. und 29. Mai 2022

Erwähnte Veranstaltungen:
Samstag, 28. Mai, 20h, Konzert Streichquartette, Arditti Quartet, Vortragssaal Kunsthaus Zürich
Sonntag, 29. Mai, 11h, Gesprächskonzert, GENDY3, Pavillon Le Corbusier
Sonntag, 29. Mai, 18h: Konzerteinführung mit Thomas Meyer / Konzert Kammermusik, Swiss Chamber Soloists, Kirche St. Peter Zürich

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 25.5.2022, 20h, Musik und Architektur – Iannis Xenakis zum 100 Geburtstag, Redaktion Cécile Olshausen
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 23.6.2021, 20h, Nackte Wucht: Iannis Xenakis’ “Metastasis”, Redaktion Moritz Weber

neo-Profile:
Iannis Xenakis, Arditti Quartet

Eine Seele – viele Seelen: Dieter Ammann 60

Dieter Ammann, Komponist grosser Orchesterwerke und bekennender Langsamschreiber feiert seinen 60igsten Geburtstag, u.a. mit Konzerten der Basel Sinfonietta und des Luzerner Sinfonieorchesters.

Musikredaktor Florian Hauser traf ihn zum persönlichen Portraitgespräch:

 

Dieter Ammann Portrait © Dieter Ammann

 

Eine Seele

… von Mensch. Der, wenn er sich Zeit nimmt, viel davon hat. Der fragt, erzählt, lacht und lebt, bei einem Interview zum Beispiel, bei Kaffee und Ostereiern und Tabak, und ganz langsam, unmerklich geht es zur Sache, geht es hinein in die verschiedenen Schichten der Konzentration. Oder – auch das kann sein – die Assoziationen springen nur so und die Themen jagen sich. Ein Treffen mit Dieter Ammann ist ein direkter Ausdruck dessen, wie es in seinem Inneren zugeht. Da wo sie wohnen: die …

 

Zwei Seelen

 

… in seiner Brust. Aus denen er Energie saugt: Da ist die improvisierende, vorwärts stürmende Seele, und da ist die komponierende, reflektierende. Sie befeuern sich gegenseitig, und die eine erscheint wie das Reversbild der anderen. Treffen sie aufeinander, entsteht ein Netz von Kräften, die in verschiedene Richtungen zerren und die Musik bis zum Zerreissen spannen. Beim Improvisieren zwingt einen der Auftritt, die Mitmusiker, der Groove dazu, im Fluss zu bleiben und immer weiterzumachen. Wenn er eine Idee hat, dann spielt er sie. Wenn er dagegen als Komponist eine Idee hat, dann zerlegt er sie, legt sie auf den Prüfstein. Da wird dieses Unbewusste angehalten. Die Zeit wird angehalten. Dann probiert er, experimentiert, klopft die Ideen ab, ob sie etwas taugen und wie viel sie taugen. So ist die Musik, die Ammann komponiert, wie eine eingefrorene Improvisation. „Wenn ich mit einem Stück fertig bin“, sagt der ausgesprochene Langsamschreiber Ammann, „ist es für mich wie ein Schmuckstück, ein Kleinod, das ich poliert habe. Ich lege es dann weg, schaue in die nächste Schachtel – und die ist wieder vollkommen leer. Dann beginne ich wieder von neuem.“

 

Von 2014 bis 2016 komponierte der Langsamschreiber Dieter Ammann sein Orchesterstück glut für Orchester, hier in der Aufnahme mit dem Lucerne Festival Academy Orchestra, Dir. George Benjamin, 1. September 2019, KKL Lucerne Festival, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Viele Seelen

 

Mit Altrocker Udo Lindenberg oder Jazzlegende Eddie Harris hat Dieter Ammann gejammt, sich als Trompeter, Saxofonist und Bassist bei den Donkey Kongs und in Steven’s Nude Club ausgetobt, an den Jazzfestivals Köln, Willisau, Antwerpen und Lugano ist er aufgetreten.

Komposition und Theorie hat er studiert, bei Roland Moser und Detlev Müller-Siemens, bei Witold Lutoslawski und Wolfgang Rihm. Dann, Anfang der 90er, stellte ihn das Ensemble für Neue Musik Zürich in einem Konzert mit komponierenden Jazzern vor. Das war eine Initialzündung mit Folgen: erste CD, erste Auszeichnungen – er wird bekannt. Als composer-in-residence in Davos und anschliessend beim renommierten Lucerne Festival. Es regnet Preise: Schweizer Musikpreis, Hauptpreis der IBLA-Foundation New York, Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung (den Siemens-Hauptpreis, den ‘Nobelpreis’ der Musik bekommt er irgendwann auch noch…)

 

Was ist so besonders an Ammans schneller, vitalen Musik? Dass sie keinen Leerlauf kennt. Die ständige Bewegung und das Unerwartete kennt sie, und ständig kann sie implodieren oder explodieren.

Mit dem Ergebnis, dass sich die Energie seiner Musik unmittelbar mitteilt: Es ist nicht eine Musik, bei der man das Gefühl hat, man müsse sich erst durch eine dicke Schale beissen, bevor man an den Kern herankommt. Nein, die Kontaktaufnahme funktioniert schnell: Da wird man nicht nur eingeladen, sondern geradezu mitgezogen, mitgerissen.

 

Noch mehr Seelen

 

Das spüren und davon profitieren auch seine Student*innen. Seit über 30 Jahren unterrichtet Ammann an der Hochschule Luzern die Fächer Komposition Klassik, Komposition und Arrangement Jazz sowie Theorie Klassik. Er fördert und fordert die jungen Kolleg*innen, denn er ist beileibe keiner, der Nachfolger züchten will. „Ich will die Studierenden nicht in eine vornherein definierte ästhetische Richtung zwingen, sondern sie vielmehr dazu bewegen, ihren eigenen Weg zu gehen und die musikalische Sprache zu entwickeln, die in jedem Einzelnen von ihnen angelegt ist.“

 


Am Geburtstagskonzert der Basel Sinfonietta kommen auch zwei Orchesterwerke von Dieter Ammanns Student:innen zur Uraufführung, u.a. von der jungen, aus Armenien stammenden Komponistin Aregnaz Martirosyan (*1993), hier ihr Orchesterstück Dreilinden: UA durch das Armenien national Philharmonic Orchestra, am 14. Mai 2021

 

Wohin ihn seine eigene, in ihm angelegte Sprache noch führt? Wohin sie sich entwickelt? Keine Ahnung. Und das ist auch gut so. „Vielleicht ist es eben genau das: dieses Unsicher-Sein und dieses permanente Suchen, was mich am Komponieren wirklich reizt. Das Spannende am Komponieren ist eben dieses es-ist-so-noch-nicht-da und ich muss das jetzt irgendwie mir erarbeiten.“

 

Ammann ist nicht einer, der dem Selbstgelingen der Arbeit als Beobachter zuschauen kann. Aus der Vogelperspektive sozusagen. „Ich bin nicht der Vogel, ich bin eher der Frosch. Wenn ich zwei gekreuzte Grashalme vor mir sehe, muss ich mir überlegen, ob ich rechts oder links herum gehe, mittendurch schlüpfe oder darüber springe. Von oben betrachten kann ich die Grashalme aber nicht. Ein Beispiel: ich habe in der Vertikalen, also im Harmonischen, den Anspruch, dass jeder gesetzte Ton zu jedem anderen in einer sinnvollen Beziehung steht. Dass dies, gerade in einer Textur für Orchester, zu äusserst langwierigen Entscheidungsprozessen führt, liegt auf der Hand. Als intuitiv vortastender Komponist kann ich ja keinerlei Verantwortung an die Prädisposition des musikalischen Materials abschieben, da diese Vorformungen gar nicht existieren. Nebst der Tonhöhe gilt dasselbe natürlich auch für alle anderen musikalischen Aspekte, inklusive der nicht planbaren Gestaltwerdung der Gesamtform: ich bin in allen Belangen die einzige, immer ungesicherte (und unsichere) Beurteilungsinstanz.“

Ad multos annos, lieber Frosch!
Florian Hauser


Udo Lindenberg, Eddie Harris, Detlev Müller-Siemens, Witold Lutoslawski, IBLA-Foundation – New York, Ernst von Siemens MusikstiftungJazzfestival WillisauEstival Jazz Lugano
Basel Sinfonetta «Musik am Puls der Zeit», 23.5.22: Dieter Ammann – Sechzig Jahre im Groove, Gespräch mit Robin Keller und Baldur Brönnimann

 

Konzerte zum Geburtstag:
Basel Sinfonietta:
Donnerstag, 26. Mai, 19h, Stadtcasino Basel : 5. Abo-Konzert «60 Jahre im Groove», Dieter Ammann: «Unbalanced instability» für Violine und Kammerorchester (2013), «Core» (2002), «Turn» (2010), «Boost» (2000/01) für Orchester, Dirigent Principal Conductor Baldur Brönnimann, Solistin Simone Zgraggen (Violine)
18h Pre-Concerttalk Dieter Amman & Uli Fussenegger (Leiter Zeitgenössische Musik Hochschule für Musik FHNW) / Vorkonzert Studierende FHNW

Sonntag, 22. Mai,19h, Club auf dem Jazzcampus Basel: Dieter Ammann live in concert im intimen Rahmen als Improvisator auf Keyboards, an der Trompete und am Bass, mit Jean-Paul Brodbeck (Piano), Christy Doran (Guitar) und Lucas Niggli (Drums, Percussion)

Luzerner Sinfonieorchester:
Dieter Ammann zum 60. Geburtstag: “Glut”, 31. 5. 2022, KKL, 19:30h, Dir. Michael Sanderling

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 18.5.2022, 20h / Samstag, 21.5.2022, 21h: Durchwachte Nacht. Mit und zu Dieter Ammann, Redaktion Florian Hauser.

Musik unserer Zeit, Neue Musik auf dem Sofa, Mittwoch, 23.2.2022: u.a. über glut von Dieter Ammann, mit Doris Lanz und Marcus Weiss, Redaktion Benjamin Herzog
neoblog, 21.8.2020: Ich bin einer der langsamsten Komponisten Europas, Dieter Ammann im Gespräch zum Film Gran Toccata, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile:
Dieter Ammann, Basel Sinfonietta, Wolfgang Rihm, Roland Moser, ensemble für neue musik zürich, Aregnaz Martirosyan, Davos Festival young artists in concert, Lucerne Festival ContemporarySwiss Music Prices, Luzerner Sinfonieorchester

Labyrinthische Spuren gegen fixe Systeme

Jaronas Scheurer
Die Münchener Biennale ist ein Festival für neues Musiktheater, das seit 2016 von Daniel Ott und Manos Tsangaris kuratiert wird. Die Uraufführungen des Festivals sprengen immer wieder die gewohnten Formate und führen das Publikum an überraschende Orte. So auch dieses Jahr vom 7. bis zum 19. Mai: zum Beispiel mit der Produktion
«s p u r e n» der jungen russischen Komponistin Polina Korobkova.

Ich treffe Polina Korobkova einen guten Monat nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine in einem gemütlichen Basler Café. Nach einem abgeschlossenen Kompositionsstudium in Moskau hat Korobkova in Zürich bei Isabel Mundry und in Basel bei Caspar Johannes Walter studiert. 2021 hat sie in Zürich ihren Master abgeschlossen und wohnt seit kurzem in Berlin. Weitere Studien betreibt sie nun bei Martin Schüttler in Stuttgart. Damit sind schon einige Fixpunkte für Korobkovas Schaffen abgesteckt: Ein waches, sensibles politisches Bewusstsein wie Mundry, ein Interesse für mikrotonale Klangwelten wie Walter und gründliches konzeptuelles Arbeiten wie Schüttler.

 

Die Komponistin Polina Korobkova, zVg. Polina Korobkova


Wendepunkt 24. Februar

Korobkova wirkt bei unserem Treffen erschüttert, jedoch gefasst ob der russischen Invasion in die Ukraine. Sie sei noch daran, die Geschehnisse zu verarbeiten und befinde sich noch im Schockzustand. Obwohl sie sich nicht mit Russland identifiziere, wird sie als gebürtige Russin unweigerlich damit in Verbindung gebracht. Für sie, die wie viele andere russischen Künstler:innen einerseits die russische Invasion vehement ablehnen und öffentlich kritisieren, andererseits beruflich und privat auch unter dem Krieg leiden, stellt der 24. Februar 2022, der Tag an dem Russland den Krieg gegen die Ukraine begann, einen Wendepunkt dar. Es gäbe für sie eine Zeit davor und eine Zeit danach und sie sei sich gerade noch am neu sortieren und könne noch nicht sagen, wie das Danach überhaupt aussehen werde. Die russische Invasion betrifft auch ihre Münchener Produktion namens «s p u r e n». Der grosse Teil der Arbeit sei vor dem 24. Februar entstanden, aber die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine könnten nicht spurlos an ihrer Produktion vorbeigehen. Wie genau sich das im Resultat, das vom 12. bis 18. Mai an der Münchener Biennale gezeigt wird, niederschlagen wird, wisse sie jedoch noch nicht.

 


Polina Korobkova: flashbacks to perform i, UA: 2021: in der Zürcher Hochschule der Künste.


Verloren im Luftschutzbunker

Ihre Produktion «s p u r e n» ist konzeptuell auf jeden Fall so angelegt, dass der Thematisierung des Ukraine-Kriegs nichts im Wege steht. Die Produktion wird in den Kellerräumen der Hochschule für Musik und Theater in München gezeigt. Das Gebäude hat Adolf Hitler als «Führerbau» in den 1930er Jahren errichten lassen und die Kellerräume waren als Luftschutzbunker gedacht. Ab 1943 boten die Kellerräume, in denen «s p u r e n» spielt, jedoch nicht Menschen Schutz, sondern über 600 grösstenteils geraubten Gemälde, die Hitler in seinem «Führermuseum» in Linz ausstellen wollte. Davon sieht man heute jedoch keine Spur mehr. Die Kellerräume sähen, so Korobkova, alle gleich aus und böten äusserlich keinerlei Hinweise auf Zeit, Land oder ihre Geschichte. Nur ein ungutes, klaustrophobisches Gefühl aufgrund des fehlenden Tageslichts und der dicken Kellerluft bekäme man. Man fühle sich sehr verloren da unten.

Korobkova bespielt die Kellerräume mit einem Popsong, dessen Fragmente von fünf Sängerinnen live gesungen werden. Dieser Song klänge wie ein ganz normaler Popsong, auch der Text sei typisch. Doch aufgrund der persönlichen Geschichte dahinter – Korobkova schrieb diesen Popsong, als sie zwölf Jahre alt war – sei das auch sehr persönlich und intim. Durch die Platzierung dieses Popsongs in den vereinheitlichten, klaustrophobischen Kellerräumen entsteht ein starker Kontrast. Ein ganz anderes Setting als ein konventionelles Konzert – sowohl was die Räumlichkeiten, als auch was das Format betrifft. Denn Korobkova bespielt den ganzen Luftschutzbunker. Das Publikum wird durch die Anlage geführt und sitzt nicht auf zugewiesenen Stühlen.

 


Polina Korobkova: anonymous material i, UA 2020: in Apeldoorn (Holland) durch das Orkest De Ereprijs.

 

Unzählige historische Spuren

Zu dem Popsong und den fünf Sängerinnen gesellt sich die Aufnahme einer 36-tönigen Orgel, die durch einen vorprogrammierten Roboter bespielt wird. Diese Orgel namens Arciorgano steht an der Musik Akademie Basel und ist ein Nachbau nach einer Beschreibung des Komponisten und Musiktheoretikers Nicola Vicentino. Er war im 16. Jahrhundert tätig. Vicentino wollte mit dieser Orgel alle Stimmungsprobleme lösen, die damals ausführlich diskutiert wurden: er entwarf eine Art Super-Orgel, die die Idee der “Universalharmonie”, ein wichtiger Bezugspunkt für die Musikphilosophie der Renaissance, mit der immer komplexer werdenden Harmonik vereinen sollte. Vicentino hat also die überbordende Musikpraxis der Zeit mit einem fixen, übergeordneten System zu bändigen versucht. Für Korobkova steht diese Orgel auch für den leicht diktatorischen Versuch, die wild wuchernde Welt der Musik in ein fixes System zu zwängen; daher auch die mechanische Spielweise und die Megafon-Lautsprecher, die an politische Repression egal welcher Couleur erinnern und über die die Orgelaufnahmen abgespielt werden.

Diktatorisch anmutende Megafon-Lausprecher, aus denen die mechanisch klickende Aufnahme einer Super-Orgel aus dem 16. Jahrhundert plärrt; fünf Sängerinnen, die den 08/15-Popsong eines Teenagers singen, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufwuchs; die klaustrophobischen, identitätslosen Kellerräume, in denen vor knapp 80 Jahren die Nazis massenhaft Raubkunst lagerten: In
«s p u r e n» von Polina Korobkova fliessen sehr unterschiedliche historische Zeitschichten zusammen, unzählige Spuren sind darin angelegt. Doch alle kreisen irgendwie um die Problematik von fixen Systemen– seien sie nun musiktheoretischer oder politischer Natur. Und dieses Hinterfragen von fixen Gewissheiten und Systemen ist auch ihr kompositorischer Antrieb. Sie frage sich bei jedem Stück immer und immer wieder, wieso sie eigentlich komponiere und wo ihr Platz in der Kunst- und Musikwelt überhaupt sei.
Jaronas Scheurer

Münchener BiennaleManos Tsangaris, Isabel Mundry, Caspar Johannes WalterMartin SchüttlerNicola Vicentino, Arciorgano,  Arciorgano des Studio 31+Führerbau

Erwähnte Veranstaltungen
Die Münchener Biennale findet vom 7. bis 19. Mai 2022 an verschiedenen Orten in München statt.

«s p u r e n» von Polina Korobkova wird vom 12. bis 18. Mai 2022 im Luftschutzbunker der Hochschule für Theater und Musik an der Arcisstrasse 12 in München aufgeführt.

 

Profile neo-mx3:
Polina Korobkova, Daniel Ott, Isabel Mundry

“Schweizer Tage für neue Kammermusik an der Ruhr”

Vom 6. bis 8. Mai stehen an den Wittener Tagen für neue Kammermusik Arbeiten von Komponist:innen aus 17 Nationen auf dem Programm. Beinahe ein Drittel der Stücke stammen aus der Hand von Schweizer Komponierenden.

Peter Révai
Die Wittener Tage für neue Kammermusik gelten landauf landab als das renommierteste Festival für avanciertes Musikschaffen. Wer den aktuellen Stand der Dinge in Sachen zeitgenössisches Musikdenken erfahren respektive sich anhören will, reist wie vor der Pandemie für ein Frühlingswochenende in den Südosten des Ruhrgebietes im Land Nordrhein-Westfalen. Das Festival wird seit 1969 von der Stadt Witten und dem Westdeutschen Rundfunk WDR gemeinsam veranstaltet. Sein Renommee hat es dem WDR-Musikredaktor Harry Vogt zu verdanken.  Künstlerischer Leiter seit 1990, ist es ihm stets gelungen, durch seine kenntnisreiche Auswahl die Spreu vom Weizen zu trennen und das Relevanteste des aktuellen Musikgeschehens vorzuführen. Die Pointe daran ist, dass es sich bei den Stücken meistens um Auftragswerke handelt, die weltweit erteilt werden, hier zu Ihrer Uraufführung gelangen und in der Regel von ständigen Sprengungen der Sparte Kammermusik zeugen, indem bisherige Regeln radikal gebrochen werden. Eine weitere Spezialität von Vogt: Er lässt die Stücke jeweils von den bestmöglichen InterpretInnen spielen. Zum grossen Bedauern der Szene gibt Vogt mit der diesjährigen Ausgabe die Leitung altershalber ab.

 

Portrait Harry Vogt © WDR / Claus Langer

 

Helvetier ante portas

Zum hohen Anteil an Beteiligten aus der Schweiz an dieser Ausgabe lässt Vogt den Spruch fallen, dass das diesjährige Festival fast schon als »Schweizer Tage für neue Kammermusik an der fernen Ruhr durchginge«. Auch in der Schweiz als Dozierende wirkende Musiker:innen mit ausländischem Hintergrund sind diesmal zahlreich vertreten wie etwa der E-Gitarrist Yaron Deutsch, der ab Herbst an der Basler Musikhochschule den Bereich zeitgenössische Musik leiten wird, die ebenfalls dort unterrichtende Sopranistin Sarah Maria Sun oder die in Lugano geborene Dirigentin und Arturo-Tamayo-Schülerin Elena Schwarz. Sie absolviert als Leiterin des Ensemble Moderne ein Monsterprogramm mit drei Konzerten mit Werken u.a. des Altmeisters Georges Aperghis oder der als Composer-in-Residence eingeladenen 38 Jahre alten Serbin Milica Djordjevic. Sie lebt in Berlin, ist u.a. Schülerin von Kyburz gewesen, und sorgte erstmals in Witten 2017 mit quirlliger Klangbehandlung in ihrem verdoppelten Streichquartett für Furore.

 

Portrait Elena Schwarz, Luzern, 19.03.2016 ©: Elena Schwarz/ Priska Ketterer

 

Daneben hat auch der in Biel lehrende Teodoro Anzelotti einen Spezialauftritt. Für Witten hat er, für den mehr als 300 Solostücke entstanden sind, sich nun auch ein wegen den Covid-19-Massnahmen längst überfälliges Solo-Akkordeon-Stück des in Berlin lebenden Hanspeter Kyburz vorgenommen. Für das Werk seien sie, berichtet Anzelotti, seit gut 15 Jahren im Gespräch.

Anzelotti erwartet viel davon, zumal es, so der Musiker, wenige Kompositionen gäbe, in denen sich die Grundelemente Strukturdenken und Klangsinnlichkeit so gut miteinander verbänden. Wie der Komponist wissen lässt, heisst das Stück Sisyphe heureux nach dem existentialistischen französischen Autor Albert Camus, nur um zum Schluss nachzuschieben, dass man sich Sisyphos glücklich vorzustellen habe – »il faut imaginer Sisyphe heureux«.

Auch das neue Trio von Beat Furrer hat eine längere Genese hinter sich. Ins Offene hätte bereits 2018 fertig sein sollen, verzögerte sich aber wegen seiner Oper Violetter Schnee, deren Uraufführung 2019 in Berlin erfolgte. In den darauf folgenden zwei Jahren wütete bekanntlich das Virus. Furrer hat das Stück dem Trio Accanto mit dem Basler Saxophonisten Marcus Weiss auf den Leib geschrieben. Seine Grundlage ist wie bei vielen Werken Furrers die Idee der Metamorphose. Die permanente, organische Verwandlung vollzieht sich auf mehreren Ebenen, die durch Schnitte und Kontraste plötzlich durchbrochen werden, was zu hohen emotionalen Qualitäten und körperlichen Momenten führt.

 


Beat Furrer, Il mia vita da vuolp, Marcus Weiss, Saxofon, Rinnat Moriah, Sopran, UA, Festival Rümlingen 2019, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Furrers jüngere Arbeiten thematisieren in besonderer Weise das Problem der Prozessualität. Furrer meint dazu: »Das Phänomen des Verdoppelns, aber auch des Verzerrens in einem Schattenbild hat mich interessiert, und resultierend aus einem Ineinanderschneiden von Stimmen das Entstehen von Prozesshaftem«.

Weitere Uraufführungen betreffen Konzerte mit Werken der Komponistinnen Betsy Jolas, Sarah Nemtsov, Rebecca Saunders (in Kooperation mit Enno Poppe) und der iranischen Elnaz Seyedi. Trotz ihren 96 Jahren wartet gerade das Werk von Jolas, das sich stets gegen die serielle Abstraktion der französischen Zeitgenossen entgegen stellte,  im deutschsprachigen Raum auf seine gebührende Rezeption. Die Schülerin von Darius Milhaud und Olivier Messiaen war lange am Radio, danach als Nachfolgerin von Messiaen Dozentin für Analyse und Komposition am Conservatoire de Paris tätig. Ihres und das Stück von Nemtsov führt das Trio Catch mit der Zürcher Cellistin Eva Boesch auf.

 

 Ricardo Eizirik, Trio Catch: obsessive compulsive music UA 2019

 

Im Park

Seit mehreren Jahren gehören Klanginstallationen zum unverzichtbaren Bestandteil des Festivals. Dafür werden jedes Jahr verschiedene Ecken und Orte Wittens in Beschlag genommen. Diesmal ist es ein Park, der 1906 für Schwestern einer evangelischen Ordensgemeinschaft, die im Krankenhaus arbeiteten, als Ort der Erholungen konzipiert wurde. Sie sollten dort »Licht und Luft« bekommen. Nun bietet er Platz für zwölf Klanginstallationen und Interventionen. Von den zwölf beteiligten KlangkünstlerInnen sind allein vier mit der Schweiz verbunden. Die Freuden und Sehnsüchte der Schwestern von damals versucht die an der BKHS in Bern dozierende bildende Künstlerin und Performerin Lilian Beidler zu ergründen.

 


Lilian Beidler, Art Mara – Women’s ground 2018

 

In ihrer Arbeit Lustwurzeln und Traumrinden wolle sie die »Natur abhören«, lauschen, ob die vertraulichen Gespräche der »lustwandelnden« Schwestern noch in alten Bäumen steckten, in den Boden gesickert seien oder im Bach murmelten, beschreibt SRF-Redaktorin Cécile Olhausen die Arbeit. Demgegenüber steuert der Performance-Fuchs Daniel Ott eine durchlässige Intervention für Trompete, Steeldrums und Stimmen ad libitumunter seiner Leitung bei.

 

Um ganz andere Naturtöne geht es bei der Live-Installation Mum Hum des Zürchers Mauro Hertig: Basismaterial sind Klänge des Ensemble Garage. Sie sollen solchen entsprechen, die ein ungeborenes Kind in einem Mutterleib hören könnte. Hertig liefert ein Installation-Setting, in dem die eine Seite eines Telefons die Aussen­welt repräsentiert und die andere die Geräusch­kulisse des Fötus im Bauch von Hertigs Lebenspartnerin, der Künsterin Camille Henrot.

 

Mauro Hertig: The great mirror, Version Royaumont 2019

 

Von der in Basel lehrenden Andrea Neumann stammt die Musik-Choreografie Überspringen für vier Performende und vier mobile Lautsprecher. Seit 1996 entwickelt die Freiburgerin mit dem sogenannten Innenklavier ein eigenes Instrumentarium, mit dem sie Schönheiten in Geräuschen auf der Spur ist.

Was ist der Grund für eine solche Anballung von Arbeiten Schweizerischer Provenienz? Zum einen dürfte dies dem »Aufführungsstau« in Folge der Lockdown-Massnahmen geschuldet sein. Es gab in den letzten zwei Jahren auch in Witten – abgesehen von einigen Streaming-Übertragungen – keine Live-Konzerte mehr. Zum anderen dürften viele helvetische Komponist:innen wie Furrer und Kyburz gut zum »Beuteschema« des scheidenden intendanten passen: Denn sie kreieren Stücke, in denen technische Raffinesse mit grossen emotionalen Qualitäten verbunden werden; etwas, das beispielsweise Arnold Schönberg mit „Triebklänge“ umschrieben hatte.
Nicht zu unterschlagen ist ausserdem die nicht unwesentliche »Mitgift« aus der Schatulle der helvetischen Förderinstitution Pro Helvetia.
Peter Révai

 
Die diesjährige Ausgabe der Wittener Tage für neue Kammermusik finden von 6. bis zum 8. Mai statt. Die Konzerte werden live oder zeitversetzt vom WDR übertragen.
Teodoro Anzellotti, Hanspeter Kyburz, Trio Accanto, Arturo-Tamayo, Elena Schwarz, Georges Aperghis, Rebecca Saunders, Sarah Nemtsov, Betsy Jolas, Enno Poppe, Elnaz Seyedi, Camille Henrot, Andrea Neumann, Milica DjordjevicYaron Deutsch

neo-Profile:
Marcus Weiss, Beat Furrer, Lilian Beidler, Mauro Hertig, Sarah Maria Sun, Daniel OttTrio Catch, Ensemble Modern

Offen für Menschen und Musik

Friederike Kenneweg
„Es fällt gerade schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren“, sagt die Pianistin Tamriko Kordzaia, als ich sie Anfang März zu einem Zoom-Gespräch treffe. Wir sind beide erschüttert vom Krieg, der in der Ukraine begonnen hat. Aber für die Georgierin Kordzaia hat das Geschehen noch eine andere Bedeutung. „Ich bin hier natürlich auch gleich auf der Demo gewesen, und das hat gut getan, aber wenn danach alles wieder einfach so weiter geht, fühle ich mich hier auf einmal einsam…“

 

Die Pianistin Tamriko Kordzaia sitzt am Flügel und spielt konzentriert, vor ihr die aufgeschlagenen Noten.
Portrait Tamriko Kordzaia © Lorenzo Pusterla/ Kunstraum Walcheturm

 

Brücken zwischen Georgien und der Schweiz

Und dabei ist Tamriko Kordzaia schon lange als eine Art musikalische Botschafterin zwischen der Schweiz und Georgien unterwegs. Seit 2005 leitet sie das Festival Close Encounters, das sich zur Aufgabe gemacht hat, zeitgenössische Musik beider Länder gemeinsam zur Aufführung zu bringen. Alle zwei Jahre findet das Festival in der Schweiz und in Georgien statt. Dabei geht es Tamriko Kordzaia zum einen darum, die Musik zeitgenössischer Komponist:innen beider Länder gemeinsam zu präsentieren und so Begegnungen zu schaffen. In Georgien geht es aber auch darum, zeitgenössische Musik in ländliche Regionen weit abseits des hauptstädtischen Zentrums zu bringen. „Das ermöglicht allen Beteiligten – Musiker:innen wie Zuhörenden – immer wieder einmalige Erfahrungen“, betont Kordzaia.

In diesem Jahr werden zu Werken von Peter Conradin Zumthor und Cathy van Eck junge georgische Komponist:innen mit neuen Stücken vorgestellt. Und mit Alexandre Kordzaia (*1994) ist auch der Sohn der Pianistin beim Close Encounters Festival vertreten. Er kann selbst als vermittelnder Grenzgänger zwischen der Schweiz und Georgien gelten, aber auch zwischen klassischer und elektronischer Musik. Denn er komponiert nicht nur Kammermusikwerke, sondern ist unter dem Namen KORDZ auch als Clubmusiker bekannt.

 

Engagiert für einen vergessenen Komponisten

Es sind allerdings nicht nur die jungen georgischen Komponist:innen, die Tamriko Kordzaia bekannter machen will. In Zusammenarbeit mit zwei weiteren georgischen Pianistinnen hat sie sich auch der Wiederentdeckung des in Vergessenheit geratenen Komponisten Mikheil Shugliashvili (1941-1996) gewidmet. Im Jahr 2013 brachten die drei Pianistinnen die Grand Chromatic Fantasy (Symphony) von Shugliashvili zur Aufführung und veröffentlichten die erste Aufnahme des beeindruckenden Werks für drei Klaviere auf CD.

 

Ausschnitt einer Aufführung des Stückes Grand Chromatic Fantasy (Symphony) von Mikheil Shugliashvili beim Musikfestival Bern 2020

 

Brücken bauen zwischen Formationen, Epochen und Genres

Tamriko Kordzaia ist als Pianistin in ganz unterschiedlichen musikalischen Formationen aktiv. Sie spielt Soloauftritte, konzertiert im Duo mit Dominik Blum von Steamboat Switzerland oder mit der Cellistin Karolina Öhman, und ist seit 2008 Mitglied des Mondrian Ensembles, das selbst alle möglichen Kombinationen, die ein Klavierquartett ermöglicht, mit seinen Programmen abdeckt.

 

Die vier Musikerinnen des Mondrian Ensembles. Foto: Arturo Fuentes
Tamriko Kordzaia spielt schon seit 2008 im Mondrian Ensemble, zusammen mit Karolina Öhman, Ivana Pristašová und Petra Ackermann. Foto: Arturo Fuentes

 

Und schon lange ist Tamriko Kordzaia nicht nur eine Grenzgängerin zwischen den Ländern und Formationen, sondern auch zwischen den Epochen. Zu Beginn ihrer Karriere in Georgien hatte sie sich zunächst mit ihren Interpretationen von Mozart und Haydn einen Namen gemacht. Als sie aber an der Zürcher Hochschule der Künste ihre Studien fortsetzte, begann ihre Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik. Zum Beispiel mit den Werken des Schweizer Komponisten Christoph Delz (1950-1993), dessen sämtliche Klavierwerke Kordzaia im Jahr 2005 einspielte. Das Mondrian Ensemble, in dem Kordzaia Mitglied ist, hat es sich explizit zur Aufgabe gemacht, in seinen Programmen alte und neue Musik gemeinsam zu spielen und dadurch ungewöhnliche Zusammenhänge hörbar zu machen. Das Ensemble setzt in seinen Programmen auch Konzepte um, in denen Raum, Bühne oder Film eine Rolle spielen, und hat auch keine Berührungsängste bei der Zusammenarbeit mit Vertreter:innen des Jazz oder der Clubmusik.

 

Aufnahme des Mondrian Ensembles von Plod on von Martin Jaggi.

 

Über die lange Zeit, die Tamriko Kordzaia jetzt beim Mondrian Ensemble dabei ist, haben sich feste und regelmäßige Arbeitsbeziehungen ergeben, u.a. mit Komponisten wie Dieter Ammann, Felix Profos, Antoine Chessex, Martin Jaggi, Jannik Giger, Roland Moser und Thomas Wally.

 

sieben sonnengesichter

Ein besonderes Verhältnis hat Tamriko Kordzaia allerdings zur Musik von Klaus Lang, dessen Stücke schon in einige Programme des Mondrian Ensembles Eingang gefunden haben. Als die Corona-Pandemie das Konzertleben jäh zum Stillstand brachte, war es das Stück sieben sonnengesichter von Klaus Lang, mit dem sich Kordzaia, auf sich selbst zurückgeworfen, endlich einmal ausführlicher beschäftigen wollte. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung erschien 2021 auf CD.

 


Video von den CD-Aufnahmen der sieben sonnengesichter von Klaus Lang mit Tamriko Kordzaia am Klavier.

 

Arbeit mit der jungen Generation

Etwas, das Tamriko Kordzaia schon seit ihren Anfängen in der Schweiz begleitet, ist die Arbeit mit jungen Musiker:innen – eine Tätigkeit, die sie heutzutage richtig glücklich macht. An der Zürcher Hochschule der Künste gibt sie Klavierunterricht und hilft den Studierenden, den Weg zur eigenen Stimme bei der Interpretation nicht nur klassischer, sondern auch zeitgenössischer Werke zu finden. Und dort kommt sie auch mit jungen Komponist:innen in Kontakt, denen sie bei der Entwicklung ihrer Stücke beratend zur Seite steht. „Das ist so toll zu sehen, was diese jungen Leute für Ideen haben und wie sie weiter kommen. Das gibt mir immer Sinn und hilft mir weiter zu machen, auch wenn drumherum alles schwierig ist.“
Friederike Kenneweg

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Close Encounters:
Dienstag, 26.4.22 Kunstraum Walcheturm – Favourite Pieces
Donnerstag, 28.4.22 Stanser Musiktage – Georgische Musik mit dem Gori Frauenkammerchor
Freitag, 29.4.22 Feilenhauer Winterthur – Georgische Musik mit dem Gori Frauenkammerchor
Samstag, 30.4.22 GDS.FM Club Sender Zürich – Tbilisi Madness

10 PIECES TO DESTROY ANY PARTY:
Im nächsten Programm des Mondrian Ensembles kommt das gleichnamige Stück von Alexandre Kordzaia zur Uraufführung, eine „Oper ohne Libretto in 6 Sätzen“ für Klavierquartett und Elektronik. Das Stück erzählt die Geschichte von drei Prinzessinnen, die angesichts ihrer Hochzeit anfangen zu zweifeln und schließlich ihr eigenes Fest sabotieren. Dazu kombiniert: Werke von Mauricio Kagel, Cathy van Eck und Bernd Alois Zimmermann.
Dienstag, 3.5.22 Gare du Nord, Basel
Mittwoch, 4.5.22 Kunstraum Walcheturm, Zürich
Donnerstag, 5.5.22 Cinema Sil Plaz, Ilanz

Erwähnte CD-Einspielungen:
Klaus Lang / Tamriko Kordzaia, sieben sonnengesichter: CD domizil records 2021.
Mikheil Shugliashvili/Tamriko Kordzaia, Tamara Chitadze, Nutsa Kasradze, Grand Chromatic Fantasy (Symphony) For Three Pianos: CD, Edition Wandelweiser Records, 2016.
Christoph Delz: Sils „Reliquie“ – 3 Auszüge aus „Istanbul“, CD, guildmusic, 2005.

Klaus Lang, Mikheil Shugliashvili, KORDZ, Christoph Delz

neo-Profile:
Tamriko Kordzaia, Festival Close Encounters, Mondrian Ensemble, Karolina Öhman, Petra Ackermann, Alexandre Kordzaia, Cathy van Eck, Peter Conradin Zumthor, Jannik Giger, Dieter Ammann, Martin Jaggi, Roland Moser, Felix Profos, Antoine Chessex, Zürcher Hochschule der Künste, Musikfestival Bern

Holz, Mund, Ritual – Erzählen am Festival Archipel

Gabrielle Weber
‘Holz, Mund, Ritual, Besitz’. Keine übergreifende Gesamtthematik, sondern einzelne Motive prägen die diesjährige Ausgabe des traditionsreichen Genfer Neue Musik-Festival Archipel. Die künstlerischen Leitenden, Marie Jeanson und Denis Schuler, wollen Geschichten erzählen und unerwartete Begegnungen schaffen. Ein spielerischer, heiterer Zugang und das gemeinsame Erleben stehen dabei im Vordergrund.

Jeanson, Veranstalterin aus der experimentellen und improvisierten Musik, und Schuler, Komponist, kuratierten ihre erste gemeinsame Festivalausgabe 2021. Mitten in der Pandemie online, zwar (erfolg-)reich an Konzerten und Begegnungen von Musikschaffenden, aber ohne Live-Publikum. Dieses Jahr wird nun das Stammhaus des Festivals, die ‘Maison communale de Plainpalais‘, an zehn Tagen rund um die Uhr be-spielt und gleichzeitig zum Ort der Begegnung. Nebst dem umfangreichen Konzertprogramm – mit Composer in residence Clara Jannotta oder einem Fokus Alvin Lucier- gibt es Klanginstallationen, gemeinsame, von Musikschaffenden zubereitete Mahlzeiten, nächtliche salons d’écoute, wo Mitwirkende ihre Lieblingsstücke über Dolby-Surround-System vorstellen, oder Talkrunden und Vermittlungsateliers. Daneben ist ein durchgängiges Festivalradio zu hören und gibt es zahlreiche weitere Veranstaltungen, verteilt über die ganze Stadt.

 

Die Motive ziehen sich dabei als verborgener roter Faden durchs gesamte Festival. Eng in die Festivalkonzeption involviert sind verschiedene Komponierende. Sie spinnen aus den Motiven ihre je eigenen Geschichten. Beispielsweise die Genfer Komponistin Olga Kokcharova. Mit ihr unterhielt ich mich in Genf zu ihrem mehrteiligen Festivalprojekt ‘sculpter la voûte‘ – den Harz formen.

 

Portrait Olga Kokcharova, zVg. Festival Archipel

 

 

“Wir haben die Verbindung zur Umwelt verloren – durch Klang lässt sich diese wiederherstellen”, sagt Olga Kokcharova. Die zarte, fast scheu wirkende Komponistin klangmächtiger Natur-Soundscapes widmet sich in ihrem zentralen Festivalprojekt dem Motiv des Holzes.

Sculpter la voûte basiert auf mehrjährigen Forschungen, in denen sich Kokcharova mit dem Wachstum von Bäumen in Tessiner Wäldern beschäftigte. Dabei nimmt sie sowohl Holz als Klangerzeuger als auch den Wald als Bedingung für menschliche Kultur unter die Lupe.

Im Frühling 2021 zeichnete Kokcharova in einem Naturreservat im Tessin Klänge auf. Da hört man die physiologische Aktivität der Bäume. Das sind fast brutale, rohe Klänge – tiefe Sonoritäten, Knacken. Man spürt, dass da Kräfte im Spiel sind, die weit über das Menschliche hinausgehen”, sagt Kokcharova.

Kokcharova stammt ursprünglich aus Sibirien und wanderte im Alter von 16 Jahren in die Schweiz aus. Sie habe da einen regelrechten Kulturschock erlebt, aber auch einen Inspirationsschub. Denn in Sibirien sei sie von Natur umgeben, fern von Städten aufgewachsen und hätte nichts über die europäische Kultur erfahren.

In Genf studierte sie zunächst Architektur, Design und Bildende Kunst, dann Klavier und Komposition. Klang sei ihr von Anfang an wichtig gewesen. Heute arbeitet sie insbesondere mit Klängen aus der Natur, mit field recordings, und integriert diese in Konzertkompositionen, in Installationen, Soundwalks, Klangperformances oder auch in Filmmusik, für Festivals und Institutionen im In- und Ausland.

 


Olga Kokcharova und Antoine Läng, Venera, 2018

 

Kokcharova geht es in ihren Arbeiten immer um grössere Zusammenhänge, um die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Umwelt.

 

Knacken von Bäumen beim Wachstum – rohe, brutale Klänge

 

In der Uraufführung von Sculpter la voûte– ‘altération’ (Veränderung) für verstärktes Lautsprecherdispositiv, einer Auftragskomposition des Festivals und gleichzeitig dem ersten Teil ihres Projekts, führt sie die im Tessin aufgenommenen Klänge in einem Lautsprecherorchester zusammen. Realitätsnah verräumlicht wird der Waldklang dabei durch ein Ambisoniksystem, einen raumumspannenden ‘Dom an Lautsprechern’, erstellt in Zusammenarbeit mit der ZHdK Zürich. Dieses wird am Festival auch für andere Konzerte eingesetzt, bspw. für die Schweizer Erstaufführung von Luis Naóns Streichquartett mit électronique ambisonique, aufgeführt durch das Quatuor Diotima am Vorabend.

Kokcharova ergänzt diese ambisonics hingegen durch ein Akusmonium, ein System aus zusätzlichen Lautsprechern, wodurch sie den Klang mit ‘altérations’ stark verfremdet.

“Es ist, wie wenn ich den Wald auferstehen lasse. Man ist direkt in Kontakt mit dem Klang des Lebens, das ihn bevölkert: man fühlt sich mittendrin.”

 

Der Wald ist für Kokcharova kein Ort der Erholung, sondern im Gegenteil ein Ort der höchsten Konzentration, ein Ort, der die Verbindung schafft zu Dingen, die wir nicht verstehen. Darauf macht sie durch die Verfremdungen in ihrem Stück aufmerksam.

 


Olga Kokcharova, Mixotricha Paradoxa – part II, 2019

 

 

Performance installatique et sensorielle

 

Als Performance installatique et sensorielle betitelt Kokcharova den zweiten Teil von Sculpter la voûte –  ‘auscultation‘ (Auskultivierung), eine Zusammenarbeit mit dem Ensemble Contrechamps Genève. Kokcharova zeichnet in ihrer Installation den Klangweg des Holzes nach: vom lebenden Baum, der durch die Zirkulation des Safts in Schwingung versetzt wird, bis hin zum Tonholz, das in den Händen des Geigenbauers zum Instrument wird und dann gemeinsam mit dem Körper eines Musikers vibriert. Und das spürbar, im wahrsten Sinne des Wortes. Je eine ‘Musiker:in des Genfer Ensemble Contrechamps spielt jeweils für eine einzelne Zuhörer:in. Diese:r kann dabei das Instrument ertasten, seinem Klang und seiner Vibration nachspüren, und so ihre je eigene expérience vibratoire erleben.

 

 

Pour entendre le son on a besoin de la matière..

 

Klang, das ist Vibration: das ist unsere Verbindung zur Welt, meint Kokcharova. Und um Klang zu hören, brauche es Materie, bspw. Holz: diese Verbindung schafft für Kokcharova auch einen grösseren Zusammenhang, der uns im Verborgenen präge: «Wenn man über die Menschheitgeschichte spricht, geht es immer um den Menschen mit Werkzeugen und Tieren. Pflanzen werden nicht erwähnt – aber ohne die Pflanzen wäre der Mensch nichts”. Ihr gehe es darum auf zu zeigen, wie andere Lebensformen -in diesem Falle die Bäume-  alle Facetten unseres Lebens, und auch unsere kulturelle Produktion beeinflussen.

Mensch und Natur stehen seit jeher in Beziehung, sagt Kokcharova. Und so erzählt sie in ihrem Festivalprojekt eine etwas andere, sehr persönliche Geschichte vom Holz und vom Menschen.
Gabrielle Weber

 

Olga Kokcharova, Lutherie Guidetti, Locarno

 

Festival Archipel Genève: 1.-10.April Genf

Clara Ianotta, italienische Komponistin ist artist en residence und am gesamten Festival anwesend.

Alvin Lucier, dem 2021 verstorbenen US-Elektropionier ist eine Hommage mit drei Performance-Installationen gewidmet.

Antoine LängQuatuor Diotima, Denis Schuler, Marie Jeanson

 

Erwähnte Veranstaltungen:
Samstag, 2.4.: UA Olga Kokcharova ‘Sculpter la voûtealtération’, und’Mycenae Alpha‘ von Iannis Xenakis (1978), zu Ehren von dessen 100jährigem Geburtstag, Olga Kokcharova am’système ambisonique‘.

3.-10.April: Olga Koksharova: Sculpter la voûte –  ‘auscultation‘:

Samstag, 9.4., 14h: Gespräch ‘arbre, bois, vibration, transmission‘ mit Ernst Zürcher, Schriftsteller, und Christian Guidetti, Laute.

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
in: Musikmagazin, Sa, 2.4.22, 10h /So, 3.4.20h, von Benjamin Herzog: Café mit Olga Kokcharova, Redaktion Gabrielle Weber
Musik unserer Zeit, Mi, 22.6.22, 20h/Sa, 25.6.22, 21h: Erzählen am Festival Archipel Genève 2022, Redaktion Gabrielle Weber

Profile neo-mx3:
Festival Archipel, Olga Kokcharova, Contrechamps, Luis Naon

Der Wahnsinn der Welt

Cécile Olshausen
“Manchmal habe ich das Gefühl, ich wohne im Zug», lacht Helga Arias. Die Komponistin kommt aus dem spanischen Baskenland, ist 1984 in Bilbao geboren und lebt in der Schweiz. Sie selbst bezeichnet sich als Nomadin, denn seit ihrer Kindheit ist sie ständig unterwegs und hat schon an vielen verschiedenen Orten gelebt. Im Frühling 2020 aber steht plötzlich alles still, wegen Corona.

 

Portrait Helga Arias zVg Helga Arias

 

Stundenlange Video-Calls

Helga Arias hatte eigentlich einen längeren Aufenthalt in den USA geplant; das International Contemporary Ensemble(ICE), ein Künstlerkollektiv aus New York, hatte sie eingeladen als composer in residence. Aber die Komponistin muss wegen der Pandemie in Europa bleiben. Und auch die Musiker:innen des ICE in New York sind isoliert und können sich wegen des Lockdowns nicht zu Proben treffen. Dieser Stillstand setzt bei Helga Arias kreative Energien frei. So entsteht das Werk I see you für verstärktes Streichquartett und Live-Video, das am Eröffnungskonzert des Festival SONIC MATTER im Dezember 2021 in Zürich uraufgeführt wurde.

Weil also weder reale Begegnungen noch die geplanten kollektiven Arbeitsformen möglich sind, führt Helga Arias das Ensemble per Video-Call zusammen. Zuerst verbindet sie sich  einzeln mit jedem Mitglied, nimmt stundenlang Klänge und Töne auf, aber auch Gespräche über Kunst und Geschmack, über Musik und seelisches Befinden. Das audio-visuelle Material fügt sie zusammen und verteilt es dann wieder unter den Quartett-Mitgliedern. So verwebt sie alle miteinander, obwohl jeder einzeln zu Hause festsitzt. Eine künstliche, aber auch kunstvolle Form der Kommunikation.

Erst wenige Stunden vor der Premiere in Zürich haben sich die Komponistin und das Quartett schliesslich persönlich kennengelernt und konnten vor Ort die virtuell geschaffene Video- und die Quartett-Partitur von I see youzusammensetzen. In der Corona-Pandemie ist also ein kreatives und variables Modell der Zusammenarbeit entstanden. Ein Modell, bei dem alle Beteiligten, sowohl Komponistin als auch die Spielenden gleichberechtigt künstlerisch involviert sind.

 

Helga Arias, I see you, International Contemporary Ensemble, UA Festival Sonic Matter Zürich, 2.12.2021 / Sound-recording: Eigenproduktion SRG/SSR

 

Im Rausch der Reize

Helga Arias ist eine sensible Zeitgenossin. Sie beobachtet alles und blendet beim Komponieren die Welt, auch die virtuelle Welt der digitalen Medien nicht aus: Hatespeech, Me Too-Debatte und Fake News sind Elemente ihrer Musik. «Der Kontakt mit der Gesellschaft ist mir sehr wichtig», sagt sie, «es heisst ja zeitgenössische Musik, also muss sie auch zeitgenössisch sein. Was in der Welt passiert, das hat auch eine Wirkung auf meine musikalischen Ideen.»

In ihrer Performance Hate-follow me – die Uraufführung fand am Musikfestival Bern im September 2021 statt – mischt Arias die vokalen Klänge von vier Sopranistinnen mit den aufdringlichen Signalen von Handys und per Video rauschen dazu Bilder aus Social Media vorbei: Gehässige Beleidigungen wechseln ab mit aufdringlichen Körperposen, eine Mischung aus sinnentleerter Verführung und Hass. Begleitet von unaufhörlichem Vibrieren, Klingeln, Zwitschern und Piepen.

 

Helga Arias: Hate-follow me, UA Musikfestival Bern, UA 5.9.2021

 

Dieses bedrängende Übermass an akustischen und visuellen Reizen ist dabei das Ziel der Komponistin. Helga Arias macht auf diese Weise aufmerksam auf den Wasserfall an Meldungen, der tagtäglich auf uns einprasselt. Selbst wenn wir eine Nachricht lesen könnten, wird sie sofort von der nächsten verdrängt. Die einzelne Information verliert jede Bedeutung. Dabei verdichtet die Komponistin Klang und Bild auf erschreckend faszinierende Weise und man beginnt zu ahnen, wieso gerade Hass-Nachrichten eine so schnelle und grosse Verbreitung finden.

 

«So sorry»

Hate-follow me zeigt drastisch auf, dass der unbegrenzte Raum des World Wide Web nicht für ein Maximum an Offenheit und Diversität genutzt wird. Vielmehr verengt sich die Perspektive, wenn Influencerinnen und Blogger normierte Klischees verbreiten und alte Rollenbilder zementieren. Und anstatt im Internet differenzierte Vielstimmigkeit zu feiern, lässt ungehemmte Hassrede viele verstummen. Hate-follow me endet – nach einem medialen Kollaps – in einem Schwall von Entschuldigungen. Versöhnlich aber ist das nicht. Denn auch die tausendfachen «Sorrys» wirken klebrig und scheinheilig. Dieses Stück ist ein erstaunliches Paradox: Helga Arias komponiert eine Musik, die uns nicht loslässt, aber eigentlich auffordert, sie abzustellen. Wenn wir es tun, entziehen wir uns dem Wahnsinn der Welt, wenn wir es nicht tun, unterwerfen wir uns ihm.

Für Helga Arias sind Werke wie Hate-follow me oder I see you Möglichkeiten, über ihre eigene Rolle als Komponistin und ihre Beziehung zu Interpret:innen und Publikum nachzudenken: «Die Interpreten meiner Musik sind keine Spielmaschinen und ich bin kein Chef, der sagt: du machst das! Vielmehr geht es um komplexe Interaktionen.» Auch mit dem Publikum. Und so vermittelt Helga Arias auch keine Botschaft. Wir Zuhörenden müssen selbst herausfinden, wie wir mit den Widersprüchen und Verrücktheiten klarkommen.
Cécile Olshausen

 

Portrait Helga Arias zVg Helga Arias

 

International Contemporary Ensemble

Am 26. März ist Helga Arias in Ascona in einer conferenza-concerto im Rahmen des Festival Ticino Musica zu erleben.

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit: I see you – die Komponistin Helga Arias, Redaktion Cécile Olshausen, Mittwoch, 9.2.22, 20:00h / Samstag, 12.2.22, 21:00h
SRF-online, 14.2.22: Komponistin Helga Arias – Sie macht auch Hate Speech zu Musik, Text Cécile Olshausen

neo-Profile:
Helga Arias, Festival Sonic Matter, Musikfestival Bern, Ticino Musica

 

Ein Pilzgeflecht aus Klängen und Beziehungen

Vom 18. bis zum 27. März 2022 findet in Berlin das Festival MaerzMusik statt. Ein Schwerpunkt widmet sich dem Werk von Éliane Radigue anlässlich des 90sten Geburtstags der Komponistin. Friederike Kenneweg sprach mit dem französisch-schweizerischen Musiker François J. Bonnet. Er ist als Klangregisseur für die Aufführungen des elektronischen Gesamtwerks von Radigue am Festival verantwortlich.

 

Schwarzweissbild von den abstrakten Verbindungslinien eines Pilzmyzels
Das Art Work zum Programm der Maerzmusik 2022

 

Friederike Kenneweg
Das Kuratoren-Team aus Berno Odo Polzer und Kamila Metwaly nimmt bei der Programmgestaltung des Festivals 2022 die sichtbaren und unsichtbaren Beziehungen in den Blick, die uns alle, in der Musik und darüber hinaus, zusammen halten. Als Metapher dafür dient ihnen ein Phänomen aus der Natur: das Myzel der Pilze. Sichtbar sind vor allem die Fruchtkörper, die wir landläufig Pilze nennen. Doch zum Pilz gehören auch die teils über große Flächen im Untergrund hinweg verlaufenden, vielgestaltigen Verflechtungen des Myzelliums. Der Einfluss, den diese Verbindungen auf ihre Umwelt haben, ist auch der Wissenschaft zu einem großen Teil noch ein Rätsel.

Ein solch unüberschaubares Netz aus Verbindungen bildet auch das Festivalgeschehen selbst, das sich durch Bezirke, Wohnungen, Cafés, Kneipen und Veranstaltungsorte zieht und so unterschiedliche Orte wie die Philharmonie im Tiergarten, das Zeiss-Großplanetarium in Prenzlauer Berg und das Kulturquartier silent green im Wedding miteinander verbindet.

 

Die Komponistin Éliane Radigue wird 2022 90 Jahre alt. Foto: Éleonore Huisse

 

Das Bild des untergründigen Geflechts passt auch zur Musik von Éliane Radigue, deren elektronisches Gesamtwerk live im Rahmen der Maerzmusik präsentiert wird. Denn diese wirkt zunächst wie eine unendliche, geradezu statische Klangfläche, obwohl sich untergründig im musikalischen Geschehen feine Veränderungen vollziehen.

 

Sich auf eine andere Wahrnehmung einlassen

 

Wer zu den Konzerten kommt, sollte sich ganz auf die Wahrnehmung dieser feinen Veränderungen der  Stücke einlassen, empfiehlt der Klangregisseur François J. Bonnet. Dann könne sich für die Zuhörer:innen ein ganz neuer Erfahrungshorizont öffnen. Es sind ganze 17 Veranstaltungen, die Bonnet zu betreuen hat. Sie decken die Werke der Komponistin von 1971 bis zum Jahr 2000 ab. François J. Bonnet, der unter dem Namen Kassel Jaeger auch selbst Musik macht, ist der heutige Direktor des INA GRM (Institut national de l’audiovisuel / Groupe de Recherches Musicales). Damit steht er der heutigen Variante der legendären Institution vor, die Pierre Henry und Pierre Schaeffer, die Gründerväter der „musique concrète“, in den 1940er Jahren ins Leben gerufen haben. Auch Radigue arbeitete lange Zeit mit Schaeffer und Henry zusammen. Heute ist ihr Name vor allem mit ihrer Arbeit mit dem ARP 2500 Synthesizer verbunden, mit dem sie in den 1970er Jahren als eine der ersten arbeiten konnte.

 

François J. Bonnet. Ein bärtiger Mann im blauen Pullover vor einer Mauer aus brüchigem Stein. Foto: Éléanore Huisse
François J. Bonnet ist der Klangregisseur bei der Aufführung des elektronischen Gesamtwerks von Éliane Radigue im Rahmen des Festivals Maerzmusik 2022. © Éléanore Huisse

 

Dass François J. Bonnet sich heute so gut mit den Stücken von Radigue auskennt, liegt daran, dass er mit ihr gemeinsam eine umfangreiche Edition ihrer elektronischen Werke herausgab. Daraus entwickelte sich ein enges Vertrauensverhältnis, und er hat ein genaues Gespür dafür, wie die Komponistin arbeitet und was ihr bei jeder einzelnen Komposition wichtig ist.

 

Die unterschätzte Bedeutung der Klangregie

Heute entscheidet Bonnet für jeden Veranstaltungsort neu, wie die Abspielposition aussehen soll, filtert bestimmte Frequenzen heraus oder betont sie während der Aufführung – ganz nach den Erfordernissen des Raumes. Auch wenn die Werke als Aufnahmen fertig gemischt sind, hebt er während der Aufführung bestimmte Stellen noch an oder verleiht ihnen einen gewissen Glanz. Dieses Einwirken kann dazu führen, dass ein und dasselbe Stück an einem anderen Ort ganz anders klingt. Einmal sei sogar Éliane Radigue nach dem Konzert zu ihm gekommen und habe gesagt, so wie heute habe sie ihr Stück selbst zum ersten Mal gehört.

 

Akustische Musik, mündlich überliefert

Nach der langen Periode der Arbeit mit dem Synthesizer wandte sich Éliane Radigue in ihrem Spätwerk ab dem Jahr 2000 der rein akustischen Musik zu, die sie mit ihren jeweiligen „Musiker-Kompliz:innen“ erarbeitete. Occam Océan entstand im Jahr 2015 in Zusammenarbeit mit dem Ensemble ONCEIM (l’Orchestre de Nouvelles Créations, Expérimentations et Improvisation Musicales) aus Paris.

 


Éliane Radigue, Occam Occéan, Uraufführung 26.9.2015, Festival CRAK Paris

 

Das Besondere: es gibt keine Verschriftlichung des Orchesterwerks, sondern das Stück wird nur mündlich und über das Hören überliefert. In einem weiteren gemeinsamen Übertragungsprozess gibt das Ensemble ONCEIM die Komposition an das Klangforum Wien weiter und bringt Occam Océan in einer gemeinsamen Aufführung im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie zu Gehör.

 

Furche, Rille, Spur

Im Rahmen dieses Konzerts wird das Ensemble ONCEIM auch Sillon für 27 improvisierende Musiker*innen von Patricia Bosshard aus dem Jahr 2018 aufführen. Sillon, das bedeutet Furche, Rille, Spur. In dem repetitiven Stück geht es um Bewegungen von der individuellen Stimme hin zum Gesamtklang, und um Verbindungslinien zwischen den Instrumentengruppen durch das musikalische Material, Timbre und Sound.

 

Auch in Patricia Bosshards Foumiliere mit dem Orchestre du Grand Eustache aus dem Jahr 2018 steht eher gemeinsames Praktizieren und Hören als um Verschriftlichung im Zentrum.

 

Musikalische Spuren wie in Sillon werden sich ausgehend vom Festival MaerzMusik auch durch die Menschen ziehen, durch die Stadt, durch die Welt – die Musik als Myzel, das uns alle auf die eine oder andere Art miteinander verbindet.
Friederike Kenneweg

 

Berno Odo Polzer, Kamila MetwalyZeiss-Großplanetarium Berlinsilent green Kulturquartier Berlin, Philharmonie BerlinOccam Océan, Pierre Henry, Pierre Schaefer, INA GRMEnsemble ONCEIM, Klangforum Wien

MaerzMusik 18.3.-27.3. 2022

Ausgewählte / erwähnte Konzerte:
21.3.2022 Zeiss-Grossplanetarium: Éliane Radigue: The Electronic Works 1: Trilogie de la Mort I. Kyema (1988)

22.3.2022 Zeiss-Grossplanetarium: Éliane Radigue: The Electronic Works 4: Adnos (1974)

23.3.2022 Philharmonie Berlin: Occam Océan, Klangforum Wien und Ensemble ONCEIM

 

neo-profiles:
François J. Bonnet, Patricia Bosshard

 

Poetischer Norden, Elektronische Nacht

Friedemann Dupelius
„Man muss schon eine Poetin sein, um im Norden zu leben“, sagt Cosima Weiter und lacht laut. Die Frankoschweizerin muss wissen, wovon sie spricht, hat sie doch mehrmals den hohen Norden Europas bereist – und sich dabei ziemlich wohl gefühlt. Kein Wunder, sie ist ja auch Poetin, Soundpoetin, um genau zu sein. „Ich will das aber nicht idealisieren“, räumt sie ein. Eine besondere Mentalität hat sie jedoch ausmachen können, als sie die nördlichen Regionen Finnlands und Norwegens bereiste, um den szenischen Kaija Saariaho-Abend Nord mit dem Ensemble Contrechamps vorzubereiten. Gemeinsam mit dem Video-Künstler Alexandre Simon fing Cosima Weiter nicht nur Bilder und Klänge, sondern auch Eindrücke von den Menschen ein, die dort leben, wo Nord spielen wird. „Wenn du in der Großstadt lebst und jemanden Neues triffst, den du nicht magst, gehst du einfach weiter. Dort aber, wo so wenige Menschen leben, strengst du dich an, die andere Person zu verstehen. Weit weg von allem zu sein heißt, offen zu sein“, erzählt Weiter.

 

Vier Stücke von Kaija Saariaho sind Teil der Inszenierung “Nord” von Cosima Weiter & Alexandre Simon © Andrew Campbell

 

In Nord bricht eine Frau in Finnland auf, um eben dort hin zu wandern, wo man weit weg von allem ist: in den Norden. Während dieses durch und durch romantischen Unterfangens begegnet sie unterschiedlichen Menschen, die verschieden auf sie reagieren. Die einen lässt sie neidisch, andere voller Bewunderung, und einen sogar mit Liebes-kummer zurück. „Ich wollte die Geschichte eigentlich feministisch erzählen“, sagt Cosima Weiter, „und dass es als Frau nicht einfach ist, alleine ins Nirgendwo zu wandern. Aber als ich im Norden war, musste ich das verwerfen – dort sind alle gleich. Das kennen wir hier in Mitteleuropa so nicht. Es kümmert keinen, ob du eine Frau bist, du kannst tun und lassen, was du willst.“

 

Zeit, Raum, Klang

Eine Frau, die seit Jahrzehnten tut und komponiert, was sie möchte ist die Finnin Kaija Saariaho. Ihre Musik steht im Zentrum der szenischen Erzählung, die von drei Schauspieler:innen vor einer großen Film-Leinwand verkörpert wird. „Es war uns sehr wichtig, dass Saariahos Musik in dem Stück respektiert und nicht gekürzt wird, dass sie einen großen Raum erhält.“ Mit Nocturne (1994) in der Fassung für Solo-Viola, Aure (2011) für Cello und Viola, Petals (1988) für Cello und Elektronik sowie Fleurs de neige (1998) in der Fassung für Streichquartett bilden vier Saariaho-Kompositionen die musikalische Basis für die Erzählung. (So schwer deren Reminiszenz an das Winterreisen-Topos zu ignorieren ist: Ironischerweise gibt Cosima Weiter zu, erst mit dem Interview für neo.mx3 daran zu denken.) Um die langsame, behutsame Musik herum tut sich eine Klanglandschaft auf, die Weiter und Simon gemeinsam mit Lau Nau und Bertrand Siffert aus eigenen Aufnahmen und Einsprengseln anderer Musik gestaltet haben. „Es gibt drei Dinge, die mich in der Musik und der Poesie interessieren: Zeit, Raum und Klang“, sagt Cosima Weiter, „und in Saariahos Musik finde ich das alles.“ In Nord leiht die Soundpoetin der Protagonistin ihre Stimme, entkörperlicht wiedergegeben über Lautsprecher.
Man muss schon eine Poetin sein, um vom Norden zu erzählen.

 


Kaija Saariaho, Graal Théâtre, Contrechamps, Eigenproduktion SRG/SSR 2009

 

Nuit de l’électroacoustique

Eine ganz andere Erzählung spinnt Contrechamps am 19.3., wenn das Ensemble zu seiner ersten Nuit de l’électroacoustique lädt. Fast wäre sie ausgefallen: Aufgrund von Lieferengpässen konnte die Renovierung der postindustriellen Räumlichkeiten, die Contrechamps künftig als Arbeits- und Begegnungsort beziehen wird, nicht rechtzeitig abgeschlossen werden. Eigentlich hätte das Les 6 Toits auf dem Genfer ZIC-Gelände mit der Nuit eingeweiht werden sollen. Dankbarerweise fand man kurzfristig Exil im Pavillon ADC, einem Zentrum für zeitgenössischen Tanz in Genf. Von Beginn an in die Kuration und Organisation mit eingebunden war auch der Genfer Subkultur-Club Cave 12, der gemeinsam mit Contrechamps die Nuit de l’électroacoustique präsentiert. Dass nun auch noch der Pavillon ADC mit von der Partie ist, sollte einer gesunden Durchmischung des Publikums nur zuträglich sein.

 


Heinz Holliger, Cardiophonie, Contrechamps, Oboe: Béatrice Laplante, Eigenproduktion SRG/SSR 2018

 

„Teile unseres Stammpublikums werden sicher mit Heinz Holliger vertrauter sein“, vermutet Serge Vuille, der künstlerische Leiter von Contrechamps. Holliger ist mit Cardiophonie für Oboe und Elektronik vertreten. „Andere Leute, die aus der elektronischen Musikszene kommen, können wir bspw. mit Phill Niblock, Jessica Ekomane oder Beatriz Ferreyra locken.“ Bereits mit den zwei letztgenannten Namen spannt sich ein großer Bogen: Hier die junge Künstlerin, die seit wenigen Jahren mit scharfsinnigen Performances auf sich aufmerksam macht, etwa neulich beim Festival MaerzMusik Berlin – da die 84-jährige Pionierin, die schon in den 1960ern mit Pierre Schaeffer gearbeitet hat. „Wir möchten Verbindungen herstellen“, sagt Vuille, „etwa zwischen rein elektronischer Musik und akustischen Instrumenten in Verbindung mit Elektronik, oder zwischen neuen und alten Tools – wer weiß, vielleicht bringt Beatriz Ferreyra alte Bandmaschinen mit?“

 

Jessica Ekomane spielt bei der Nuit de l’électroacoustique © Camille Blake

 

Lockerheit und Fokus

Für das Kurator:innen-Kollektiv von Contrechamps und Cave 12 war eine Mischung nicht nur aus alt und jung, sondern auch aus internationalen Headlinern und lokalen Akteur:innen der freien Genfer Szene wichtig. Letztere ist mit Performances von Salômé Guillemin und d’incise vertreten. Hinzu kommen drei neue Auftragsstücke für kleine Contrechamps-Besetzungen plus Live-Elektronik – eine Reminiszenz an die IRCAM-Schule, wie Serge Vuille findet.

 


d’incise, Le désir certain, 2019 (Insub.records & Moving Furniture Records)

 

Die Nuit de l’électroacoustique soll aus der Lockerheit heraus zu einem fokussierten Hören verlocken. Das Publikum kann umherwandern. „Wir möchten mit der Veranstaltung zeigen, dass man elektronische Musik auch auf eine konzentrierte Weise hören kann – ob man dabei sitzt oder sich bewegt.“ Und wer möchte, kann sich eine Auszeit vom fünfstündigen Programm an der Bar nehmen. Oder die Virtual Reality-Installation von Raphaël Raccuia und Nicolas Carrel begehen: sie lädt zum Entdecken der Zukunft, denn von der hat elektronische Musik seit ihren Anfängen erzählt.
Friedemann Dupelius

Contrechamps im Frühjahr 2022:
Nord: 7.-20.2., Le Grütli, Genf
Nuit de l’électroacoustique: 19.3., 19-24 Uhr, Pavillon ADC, Genf

ContrechampsCosima Weiter & Alexandre SimonKaija SaariahoBeatriz FerreyraJessica EkomanePhill NiblockLe GrütliPavillon ADCCave 12

Radio-Features SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 9.10.2019: Johannes Knapp und Serge Vuille – zwei junge Querdenker am Ruder, Redaktion Theresa Beyer / Moritz Weber
neoblog, 19.6.19: Ensemble Contrechamps Genève, expérimentation et héritage, Interview mit Serge Vuille von Gabrielle Weber

neo-Profile:
Contrechamps, Heinz Holliger, d’incise, Serge Vuille

Ohne Ohrwürmer! Festival ear we are

Cécile Olshausen
Es ist ein mutiges Festival. Ein innovatives. Ein Festival für neue Hörerfahrungen jenseits des Mainstreams, das ear we are. 1999 in Biel gegründet als Bühne für die freie Improvisation, ist es heute zum international beachteten Festival für Jetzt-Musik geworden. Das Publikum dankt es dem risikofreudigen Festival-Kuratorium und erscheint jeweils zahlreich in der Alten Juragarage am Rande der Bieler Altstadt. Es kommt mit offenen Ohren und der Lust, Unbekanntes zu entdecken: ear we are!

 

Christine Abdelnour & Magda Mayas treten am Festival ear we are 2022 auf ©zVg Festival ear we are

 

Das Festival ear we are ist wie ein gut sortierter Buchladen, wo man – nebst den Bestsellern – Literatur von unbekannten Schriftstellerinnen und Dichtern vorfindet und sich genau diese Lektüre mitnimmt in vollem Vertrauen auf die kluge Vorauswahl der Buchhändlerin. So bringt auch das Kuratorium von ear we are alle zwei Jahre Musikerinnen und Musiker nach Biel, die manchmal bekannte Cracks, oft aber auch Geheimtipps sind. Die vier künstlerischen Leiter des Festivals sind Martin Schütz, Hans Koch, Christian Müller und Gaudenz Badrutt; alle vier ausgewiesene Künstler der freien Improvisation, die dieses Genre in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit ihren eigenen Interventionen weiterentwickelt und in die Zukunft geführt haben.

 

Martin Schütz, Cellist und einer der Co-Kuratoren des Festivals: Solo, live Dezember 2019, zVg. Martin Schütz

 

Ihre Programmarbeit für das Festival ear we are ist ein wesentlicher und wertvoller Prozess: da wird viel Musik zusammen angehört, diskutiert, verworfen, neu bewertet. Das Kuratorium sucht nach kreativen Musikerinnen und Musikern, die Wagnisse eingehen, mit dem Risiko spielen, die im besten Sinne des Wortes improvisieren, also nicht immer schon im Voraus genau wissen, wohin sie der eingeschlagene Weg, die einmal angeschlagenen Töne führen werden. Solchen Kunstschaffenden bietet ear we are einen kreativen Raum. Und so wird jeweils während dreier Tage über musikalische Stilgrenzen hinweg experimentiert und laboriert. In einem dafür passenden Ort: nämlich einer Fabrikhalle, die extra für das Festival leergeräumt wird, die Alte Juragarage, erbaut 1928 im Bauhausstil. Ein spezieller Ort für spezielle Musik. Für Improvisation, aber auch für Konzept-Musik und Komposition. Eben: für Jetzt-Musik.

 

Es ist durchaus kein Zufall, dass ein solch innovatives Musik-Festival so erfolgreich in Biel gedeihen konnte. Denn in Biel ist die Szene der freien Improvisation besonders lebendig. Überhaupt hat die sogenannte «Freie Improvisation» in der Schweiz eine lange Tradition. Es war Anfang der 70er-Jahre, als sich eine ganze Reihe junger Musikerinnen und Musiker eine neue Musik erfand. Jene, die vom Jazz herkamen, wollten nicht mehr Standards und Grooves spielen und sogar der Free Jazz war ihnen ein zu enges Korsett; und jene, die von der Klassik herkamen, wollten nicht mehr akkurat notierte Partituren voller Geräusche und Spezialeffekte stundenlang einüben und nachspielen, sondern sie wollten selbst erfinderisch werden. So entstand die frei improvisierte Musik, und sie entwickelte sich in keinem Land so schnell wie in der Schweiz. Es gab Subventionen und neue Festivals, die Musikschaffenden organisierten sich, und bald schon wurden sie zu grossen internationalen Festivals eingeladen. Längst ist die freie Improvisation auch Teil des institutionellen Ausbildungsprogramms der Musikhochschulen geworden.

 

Improvisation – kollektiv geprägte Kunst

Die freie Improvisation ist eine kollektiv geprägte Kunst; man spielt zusammen, die gemeinsamen Auftritte sind nicht nur musikalische, sondern auch soziale Begegnungen, man gibt aufeinander acht, leiht sich ein Ohr. Diese Kunst des Aufeinander-Hörens ist durchaus ein Qualitätskriterium: Wer nicht hören kann, was die andern spielen oder singen, wer ausschliesslich seine eigene Partitur im Kopf verfolgt, erweist sich letztlich als schlechter Improvisator. Aus all diesen musikalisch-ästhetischen und psychosozialen Prämissen ist ein spezifisches Musikgenre entstanden, das sich durchaus beschreiben lässt: Musikalische Bögen aus dem Nichts ins Nichts, eruptive Momente, das Vermeiden von «normalem» Singen oder Spielen, dafür viele Geräusche, die aus der Stimme heraus erforscht und an den Instrumenten erfunden werden, überraschende Spielmittel wie Stricknadeln, Bürsten oder Drähte, oft auch zahlreiche elektronische Hilfsmittel; und vor allem: die Musik wird aus dem Moment heraus entwickelt, nichts ist vorgeschrieben. Und doch sind dies alles Abmachungen, die natürlich auch eingeübt, gelehrt und gelernt werden. Das kann dazu führen, dass die beabsichtigten Neuerungen und Aufbrüche der improvisierten Musik manchmal etwas vorhersehbar werden und sich die freie Improvisation in ihrer eigenen Freiheit begrenzt.

Doch in der Uhrenstadt Biel werden die Zeiger immer wieder auf Jetztzeit gestellt, auch in der freien Improvisation. Dazu trägt das Festival ear we are viel bei, nicht zuletzt, weil es Musikschaffende aus der ganzen Welt einlädt, die ihre spezifischen Erfahrungen und Hintergründe mit einbringen. Gerade die Ausgabe von 2022, die eigentlich letztes Jahr hätte stattfinden sollen und wegen Corona verschoben wurde, zeigt deutlich, wie sehr sich die Genre-Grenzen auflösen und individuell geprägte Fragestellungen und Experimente im Zentrum stehen.

Da ist zum Beispiel die Schweizer Vokalistin Dorothea Schürch: Ihre Stimme ist ihr Mittelpunkt, ihr Klanglabor, ihr Forschungswerkzeug; dabei kreiert sie ihre Soundlandschaften ganz ohne elektronische Transformationen. Über Stimmexperimente der 1950er Jahre hat sie jüngst eine Dissertation geschrieben.

 


Ensemble 6ix mit Dorothea Schürch, Improvisationen zu Dieter Roth, Kunsthaus Zug 27.11.2014, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Auch die britische Trompeterin, Flügelhornistin und Komponistin Charlotte Keeffe fokussiert auf ihr Instrument. Sie beobachtet fasziniert, wie Maler ihr Werk auf der Leinwand kreieren. So erkundet auch sie in ihren pointierten Improvisationen Farben und Formen und versteht ihr Instrument als eine Art „Klangpinsel“. Oder da sind die betörenden Töne des Australiers Oren Ambarchi zu entdecken. Der in Sydney geborene Musiker, ursprünglich brillanter Schlagzeuger in Freejazz-Bands, hinterfragt die sogenannt professionelle «Beherrschung» eines Instruments: Ohne je eine Unterrichtsstunde genossen zu haben, nimmt er sich die Freiheit und entfaltet auf der Gitarre mit diversen Utensilien seine surreale Musikwelt. Und die amerikanische Dichterin, Musikerin, Künstlerin und Aktivistin Moor Mother setzt eurozentristischen Traditionen, afroamerikanische Kultur und gesellschaftskritischen Rap entgegen: Da werden ganz konkrete politische Positionen laut, die so explizit in der freien Improvisation selten zu hören sind.
Also: Ohren auf für ear we are 2022!
Cécile Olshausen

 

Zu erleben am ear we are 2022: die amerikanische Dichterin, Musikerin, Künstlerin und Aktivistin Moor Mother

 

Das aktuelle Programm von earweare, 3.-5.2.22, kann sich coronabedingt kurzfristig ändern.

Hans Koch, Christian Müller, Gaudenz Badrutt, Charlotte Keeffe, Oren Ambarchi, Moor Mother

 

Sendung SRF2 Kultur:
Musik unserer Zeit / Neue Musik im Konzert 2.3.2022:
Ohne Ohrwürmer! Das Bieler Festival earweare, Redaktion Cécile Olshausen

Musik unserer Zeit, 13.10.2021: Vinyl – Hype, Retro Kult, Gespräch mit Oren Ambarchy, Redaktion Gabrielle Weber

neo-Profile:
Martin Schütz, Dorothea Schürch, Florian Stoffner