Sonic Matter: Auf den Klang kommt es an

Sonic Matter – Festival für experimentelle Musik findet dieses Jahr vom 1. bis zum 4. Dezember in Zürich zum zweiten Mal statt. Unter dem vieldeutigen Motto Rise weist das Festival über das Festival hinaus. Ein Schwerpunkt ist dabei das Musikschaffen in Subsahara-Afrika.

Friedemann Dupelius
„It matters what matters we use to think other matters with“, schreibt die Philosphin Donna Haraway. Sinngemäss übersetzt kommt es also darauf an, mit welchen Mitteln wir über etwas anderes nachdenken. Das Zürcher Festival Sonic Matter versteht Klang als so etwas, auf das es ankommt. Mit Klang und Musik können wir über Dinge nachdenken, die wiederum darüber hinausgehen. Sound kann ein Tor zur Welt sein, Zuhören eine Art der Reflexion und Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. In der zweiten Ausgabe des Festivals, das 2021 die Nachfolge der Zürcher Tage für Neue Musik angetreten hat, wird diese Perspektive deutlich.

Aufnahmen für “Play the Village” mit Manon Fantini, Léo Collin und Menschen aus Horgen bei Zürich

Mit Rise gibt nun das Mittelwort der Motto-Trias Turn – Rise – Leap den leitenden Gedankenimpuls: „Das kann im Sinne von Wachsen oder Entstehen begriffen werden – oder auch als etwas Widerständiges, Aufbegehrendes, als etwas, das Grenzen erweitern will“, erläutert Lisa Nolte. Auch sie ist Teil einer Trias. Neben der Kulturmacherin gehören die Komponistin Katharina Rosenberger und die Künstlerin und Kuratorin Julie Beauvais zu dem Kernteam, das Sonic Matter seit 2021 konzipiert. Zweierlei verdeutlicht der Untertitel „Plattform für Experimentelle Musik“: Sonic Matter denkt über die Grenzen eines Festivals hinaus. Es ist nicht nach vier dichten Veranstaltungstagen vorbei, sondern begreift sich als ein Prozess, der kontinuierlich andauert. Ausserdem signalisiert der Begriff des Experimentellen eine ästhetische Breite. Es gehe darum, „möglichst viel Spielraum für klangbasierte aktuelle Kunstformen zu haben“, so Lisa Nolte. Einerseits gibt es Formate mit zeitgenössischer Musik, wie sie sich in Europa etabliert hat – zum Beispiel im Konzert des Tonhalle-Orchesters mit Musik von Peter Ruzicka und George Enescu, oder wenn das Collegium Novum Zürich Iannis Xenakis’ Φλέγρα (Phlegra) neben einer Uraufführung von Laure M. Hiendl spielt. Doch sagt Lisa Nolte auch: „Oft geht es bei der Neuen Musik um eine ganz bestimmte Vorstellung von Qualität, die man aber nicht überall teilt. Andere Ansätze können sehr bereichernd sein.“


Iannis Xenakis – Φλέγρα (Phlegra) (1975), gespielt vom Ensemble Phoenix Basel

Hören, Denken und Träumen mit Archiven

Diese Ansätze können aus anderen Musik- und Kunstformen kommen, oder auch aus lange zu wenig beachteten Orten auf der Welt. Das Duo Listening at Pungwe aus Südafrika und Simbabwe etwa hat eine ganz eigene künstlerische Umgangsweise mit Klang. Memory Biwa und Robert Machiri sammeln Musik und Fieldrecordings aus ihren Heimatregionen. Dieses Material begreifen sie als klingendes Archiv, dessen Inhalte sie in Performances und Listening Sessions neu kontextualisieren. Der namensgebende Begriff „Pungwe“ erinnert an das Ritual einer Totenwache, während der die Anwesenden in einem besonders wachsamen Zustand sind – ein Zustand, der es auch ermöglicht, von einer besseren Zukunft zu träumen oder sich für die Revolte zu motivieren.

 

Eine Live-Session von Listening at Pungwe in Kapstadt 2017

Klang- und Musik-Archive sind so ein „Matter“ (Mittel), mit dem über andere „Matters“ (Dinge, Themen) nachgedacht werden kann. In gesammelten Tonaufnahmen stecken Informationen über Geschichte, soziale und politische Umstände und vieles mehr. Und: Sie bieten Möglichkeit zur Imagination, zum Träumen davon, wie die Welt auch sein könnte. In diesem Sinne haben die Schüler:innen im Projekt Once Upon A Sound mit Roman Bruderer, Peter Nussbaumer und Iva Sanjek eigene Klangarchive angelegt, die sie beim Festival in Listening Sessions und DJ-Sets präsentieren.

Auch die Menschen aller Altersgruppen, die mit den Künstler:innen Léo Collin und Manon Fantini arbeiteten, schärften ihre Ohren auf die Klänge ihrer Umgebungen. Daraus entstand die Installation Play The Village. In den gemeinsamen Listening Sessions mit dem lauschigen Titel Weiche Kissen – heisse Ohren steht ebenso das gemeinsame Hören im Fokus. Eine ganze Symphony Of Archives lässt der marokkanische Künstler Abdellah M. Hassak im Kunstraum Walcheturm erschallen. Sonic Matter ist also auch eine riesige Ansammlung von archivierten Klängen, die in verschiedenen Veranstaltungsformaten für die offenen Ohren des Publikums zugänglich gemacht werden.


Noémi Büchi spielt am 3.12. “live from the Listening Lounge” im Kunstraum Walcheturm

Ein weiterer Schwerpunkt von Sonic Matter 2022 ist die Region Subsahara-Afrika. Neben Pungwe sind insbesondere Künstler:innen des ugandischen Musikfestivals und Labels Nyege Nyege in Zürich dabei. So steht Labelgründer Rey Sapienz hinter den Decks bei der Party in der Gessnerallee, wenn klar wird, was Lisa Nolte schon weiss: „Hören ist etwas Aktives. Das zeigt sich auch, wenn man von Musik direkt in körperliche Bewegung versetzt wird.“ Auch Tanzen ist Sonic Matter – ein klangliches Matter („Angelegenheit“) und der Moment, in dem Klang selbst als Matter („Materie“) ganz körperlich wird. Von Träumen und Sehnsüchten nach der verlorenen afrikanischen Heimat erzählen Latefa Wiersch, Rhoda Davids Abel und Dandara Modesto in ihrer interdisziplinären Performance Neon Bush Girl Society. Dabei greifen sie Legenden der geflohenen Volksgruppen Nama und Damara aus dem südlichen Afrika auf.

Neon Bush Girl Society

Sonic Matter ist immer

Auch im Sonic Matter Open Lab ist Subsahara-Afrika 2022 schwerpunktmässssig vertreten. Mit diesem dauerhaften Format unterstreicht Sonic Matter, dass es an 365 Tagen im Jahr stattfindet. Beim Open Lab arbeiten Expert:innen aus Kunst, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam an dringenden Fragen ihrer jeweiligen Region auf der Welt. Die Einzelprojekte beschäftigen sich u.a. mit indigenen Völkern in Uganda und Mosambik, mit dem kulturellen und politischen Leben südsudanesischer Flüchtlinge in Kenia oder historischen Sounds in Johannesburg. Fortlaufend wird die Online-Plattform upgedatet. Und auch das Sonic Matter Radio hält die Klang- und Denkprozesse rund um die Uhr am Laufen. Sonic Matter, das sind also nicht nur vier spannende Tage voller Musik, Klang und Kunst in Zürich – es ist auch ein Dauerzustand des Hinhörens, Nachdenkens und Erzählens rund um den Globus. Ganz nach Donna Haraway, denn Erzählungen erschaffen die Welt: „It matters what stories make worlds, what worlds make stories“.
Friedemann Dupelius

Sonic Matter: 1.-4.12.2022 in Zürich
Sonic Matter RadioSonic Matter Open Lab

Partner-Festival 2022:
Nyege Nyege (Uganda)

SRF 2 Kultur:
Sonic Matter 2021 auf dem neoblog @neo.mx3
SRF-Bericht über Sonic Matter 2021

Donna Haraway, Roman BrudererLaure M. Hiendl, Latéfa Wiersch, Manon Fantini, Rey Sapienz, Listening at Pungwe

neo-Profile:
Sonic MatterKatharina RosenbergerIannis XenakisLéo CollinCollegium NovumTonhalle-Orchester ZürichOlga KokcharovaNoémi Büchi

 

Das Lucerne Festival Forward nimmt “ein sauberes Ende”

Jaronas Scheurer
Vom 18. bis 20. November 2022 findet in Luzern das Lucerne Festival Forward statt. Neben grosse Namen der internationalen zeitgenössischen Musik-Szene wie Anna Thorvaldsdottir, Patricia Kopatchinskaja und Tito Muñoz steht auch die kollektive Intervention Ein sauberes Ende zum Schluss des Festivals auf dem Programm.

 

Der Luzerner Komponist, Musiker und Experte für Reinigungsmaschinen Urban Mäder, zVg. von Urban Mäder.

 

Der Luzerner Komponist und Musiker Urban Mäder bezeichnete sich im Interview als Experte für die verschiedensten Reinigungsmaschinen – und das hat gute Gründe. Denn für den Schlusspunkt des diesjährigen Lucerne Festival Forward (LFF) stehen für einmal nicht die Musiker:innen des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LCFO) im Rampenlicht, sondern unter anderem das Reinigungspersonal des KKL mitsamt ihren verschiedenen Staubsaugertypen, Nasswischern und Reinigungsmaschinen.

 


Urban Mäder und Peter Allamand: Klanginstallation ‘Balgerei’ im Rahmen des Festivals Alpentöne, Altdorf 2015.

 

Recherchearbeit um 6 Uhr morgens

Nach der ersten Ausgabe des LFF letztes Jahr und der in diesem Rahmen stattfindenden Aufführung des Stücks Ricefall von Michael Pisaro durch 49 Lai:innen aus der Bevölkerung, findet auch dieses Jahr am LFF eine partizipative Aktion statt: Ein sauberes Ende. Eine kollektive Intervention nennt sich die Aktion und dahinter stecken Urban Mäder, Nora Vetter, Pia Matthes und Peter Allamand. Und diese kollektive Intervention findet als Schlusspunkt des letzten Konzerts des vom 18. bis am 20. November stattfindenden LFF statt. Nun, was gibt es am Ende eines Festivals oder eines Konzertes zu tun: Putzen, damit das Ganze auch ein sauberes Ende nimmt. Von dieser Prämisse gingen die vier Künstler:innen aus und beschäftigten sich intensiv mit dem ganzen Putzequipment, das dafür zum Einsatz kommt. Denn, nach jedem Konzert im Kultur- und Kongresszentrum Luzern trabt am nächsten Morgen um 6 Uhr das fünfzehnköpfige Reinigungspersonal der Firma Vebego an und bringt den Konzertsaal, das Foyer, die Toiletten und alle Räumlichkeiten wieder auf Hochglanz. Die Mitarbeitenden benutzen dafür jedoch nicht Eimer und Besen, sondern etliche topmoderne Reinigungsmaschinen. Das Team hinter der Intervention Ein sauberes Ende habe sich intensiv mit den verschiedenen Maschinen beschäftigt und genau untersucht, was für Klänge aus all dem unterschiedlichen Reinigungsequipment herauszuholen seien, wie Urban Mäder berichtete. Sie hätten sich auch um 6 Uhr morgens mal ins KKL begeben, um dem Vebego-Team bei der Arbeit zuzuschauen. Aus dieser Recherchearbeit entstand dann eine Art Komposition für eine Gruppe von Lai:innen, die sich auf einen Aufruf des LFF hin als Performer:innen gemeldet haben.

 

Die Bratschistin, Komponistin und Performerin Nora Vetter, zVg. von Nora Vetter.

 

Das Team hinter Ein sauberes Ende

Hinter Ein sauberes Ende stecken neben dem Luzerner Komponist und Dozent für Improvisation Urban Mäder die Bratschistin, Komponistin und Performerin Nora Vetter, die Künstlerin und Szenografin Pia Matthes, die eine starken Affinität zur Klangkunst besitzt, und der langjährige Kollaborateur von Urban Mäder, Peter Allamand. Jede:r der vier Künstler:innen bringt eine andere Sichtweise mit hinein, so Nora Vetter im Gespräch. Urban Mäder besitze eine ganz eigene Klangsprache und einen unglaublichen Erfahrungsschatz in diesem Bereich, Pia Matthes habe ein sehr gutes Gefühl für Dramaturgie und, als ausgebildete Produktdesignerin, ein Auge für das Visuelle, Peter Allamand wisse wahnsinnig viel über das Funktionieren der Dinge und habe eine grosse Lust und Freude am Ausprobieren und Rumtüfteln. So habe er beispielsweise zu einer Sitzung der Vier einen Laubbläser mitgebracht, damit sie im Café, wo sie sich trafen, direkt ausprobieren konnten, wie so ein Ding klingt und funktioniert. Und für sie selbst, sagt Nora Vetter, sei, neben dem Fokus auf den klanglich-kompositorischen Aspekt, den sie mit Urban Mäder teile, die politische Dimension in dieser Arbeit von grosser Bedeutung. So sei es für sie wichtig gewesen, dass auch das tatsächliche Reinigungspersonal auftritt. Es haben sich daraufhin vierzehn der fünfzehn angestellten Reinigungskräfte gemeldet.

Während die Musiker:innen auf der Bühne aus aller Welt kommen und zu Recht für ihre Leistungen kräftig gefeiert werden, bleibt das häufig migrantisierte Reinigungspersonal im Verborgenen. Des Weiteren haftet dieser Tätigkeit das Klischee an, dass den Putzenden leider nichts anderes übrigbleibe. “Doch” so Nora Vetter “am Ende des Tages ist sowohl Musik machen als auch Putzen einfach Arbeit und beides ist gleichermassen notwendig dafür, damit ein Festival wie das LFF überhaupt durchgeführt werden kann.”

 


Nora Vetter: ‘Dream Paralysis’, latenz ensemble, Zürich 2021.

 

Ernst nehmen

Ernst nehmen – unter diesem Stichwort lassen sich vielleicht die verschiedenen Anliegen hinter der kollektiven Intervention Ein sauberes Ende versammeln: Ernst nehmen der Menschen, die die so wichtige, aber unsichtbare Arbeit des Putzens und Aufräumens übernehmen. Und ernst nehmen des klanglichen, ja gar musikalischen Potentials des Putzequipments.

 

Der Konzertsaal des Kultur- und Kongresszentrums Luzern, der am 20. November beim “sauberen Ende” gereinigt wird. ©KKL Luzern

 

Das Ziel der Aktion sei nicht, eine lustige Show abzuziehen, sondern die klanglichen Möglichkeiten der Reinigungstätigkeit und der Putzgeräte ernst zu nehmen, so Urban Mäder. Ihre Intervention basiere auf einer klaren musikalischen Vorstellung, das sei vergleichbar mit klassischen Kompositionen. “Wenn man ein Orchesterstück schreibt, kennt man sich mit der Zeit aus bei den Holzbläsern, den Blechbläsern, den Perkussionsinstrumenten usw. Wir kennen uns jetzt halt aus bei all den Putzmaschinen und wie die klingen.” Und vor allem – sieht das Publikum auch endlich mal die Menschen, die dafür sorgen, dass sich das KKL bei jedem Konzert von Neuem sauber, aufgeräumt und in tadellosem Zustand präsentiert, und kann sich dafür bei diesen meistens unsichtbaren Personen mit dem gebührenden Applaus bedanken.
Jaronas Scheurer

 

Trailer zur Intervention “Ein sauberes Ende” von Urban Mäder, Nora Vetter, Peter Allamand und Pia Matthes. Lucerne Festival Forward, 20. November 2022, KKL Luzern.

 

Das Lucerne Festival Forward fand vom 18. bis am 20. November in Luzern statt.
Die kollektive Intervention Ein sauberes Ende wurde im Rahmen des Abschlusskonzerts am 20. November im Konzertsaal des KKL uraufgeführt.
Neben Urban Mäder und Nora Vetter gehörten auch Pia Matthes und Peter Allamand zum Team hinter Ein sauberes Ende.

Neo-Profile:
Urban Mäder, Nora Vetter, Patricia Kopatchinskaja, Lucerne Festival Contemporary Orchestra

Vom Loop zum Bordun: Drehmomente von Janiv Oron

Friedemann Dupelius
Es hat etwas Putziges an sich, wie Staubsaugroboter über den Boden tänzeln. Stets auf der Suche nach ungereinigten Winkeln im Raum kreiseln sie umher, drehen sich um ihren Mittelpunkt, ruckeln vor und zurück, nach links und rechts. Die Jagd nach dem letzten Staubkorn orchestrieren sie mit einem unnachgiebigen Summen. Vergangenen Sommer packte Janiv Oron kleine Lautsprecher auf zwei dieser modernen Haushaltshilfen. In der Istanbuler Kunstgalerie Öktem Aykut schrubbten sie sich zwischen den Besucher:innen auf dem Parkett vorbei und spielten einen mobilen Soundtrack für die Gemälde von Renée Levi an den Wänden, bestehend aus Fragmenten von Kompositionen Janiv Orons und dem Surren der kleinen Sauger.

 

Janiv Oron © Flavia Schaub

 

Es scheint, als hätte Karlheinz Stockhausens Rotortisch mit seinem drehenden Lautsprecher gut 60 Jahre später die Mobilität entdeckt. Oder aber die Party-Lastzüge, wie man sie von der Zürcher Streetparade kennt, hätten die Orientierung verloren. Janiv Oron wären wahrscheinlich beide Interpretationen recht. Der Basler Musiker und Soundkünstler bewegt nicht nur seine Klangquellen, sondern auch sich selbst zwischen verschiedenen musikalischen Fixpunkten und wirbelt dabei den Staub der Gewohnheiten durcheinander. Als Teil des DJ-Duos Goldfinger Brothers spielt er seit über zwei Jahrzehnten an Partys zum Tanz auf. Im Studium der Musik und Medienkunst an der Hochschule der Künste Bern kam er in Kontakt mit Klangkunst und zeitgenössischer Komposition. Seither erweitert Oron seine Klangsprache und denkt die Werkzeuge, mit denen er in der Clubkultur gross geworden war, auf seinen neuen Pfaden weiter. Den Plattenspieler und die Vinylscheibe verwendet er als Instrumente zur Komposition und Live-Performance. Lautsprechersysteme setzt er ein, um klanglich auf Räume zu reagieren und darin neue Klangräume zu gestalten. Damit ist er nicht nur zu Gast in Galerien, sondern hat in den vergangenen Jahren auch zahlreiche Kollaborationen mit Klangkörpern der zeitgenössischen Musik und mit Tanzcompagnien entwickelt.

 


Im Mai 2022 erschien Janiv Orons erstes Solo-Album „Easel“ beim Zürcher Label Light From Other Days. Die Stücke darauf spielte Janiv Oron mit dem analogen Synthesizer „Easel“ von Buchla ein.

 

 

Alles dreht sich

Das Motiv der Rotation ist in vielen Arbeiten von Janiv Oron augen- und ohrenfällig: „Der Mix, unendliche Loops, Umdrehungen des Geistes, Geschwindigkeit, Phasenverschiebung, allgemeine Formen der Wiederholung oder raumzeitliche Versetzung“, so beschreibt er seine Faszination für alles Drehende in der Musik. „Das sind Geräuschestrudel aus Zeit und Raum. Sie erzeugen eine dynamische oder kinetische Fülle.“ Rotierende Lautsprecher, performende Saugroboter und drehende Plattenteller kreisen durch die Kunst von Janiv Oron. Die ist bei aller kompositorischer Abstraktion stark vom Körper im Raum und von körperlichen Wahrnehmungen informiert: „Sound wandert auf die Haut und die Haut beginnt, für dich zu hören.“ Janiv Oron weiss aus dem Club, wie es sich anfühlt, von subkutanen Bässen im Zwerchfell gekitzelt zu werden.

 

Janiv Oron bei Nachtstrom 94 im Gare du Nord, Basel

 

Für sein Konzert mit der Basel Sinfonietta im Juni 2022, zum Abschluss deren Jubiläumssaison „40+1“, brachte er ein Soundsystem, das ein Freund von ihm gebaut hatte, mit in die Halle des Sportzentrum Pfaffenholz. Die zwei hohen Lautsprechertürme waren nötig, um den „Soundclash“ mit den 80 Musiker:innen des Orchesters aufnehmen zu können. Zugleich galt es, eine große Sporthalle adäquat zu beschallen. Die Sinfonietta spielte in diesem Konzert Flowing down too slow von Fausto Romitelli und Christophe Bertrands Mana. Aus diesen beiden Kompositionen sampelte Janiv Oron 64 kleine Ausschnitte, teils nur wenige Sekunden kurz, und liess sie durch verschiedene Computer-Algorithmen laufen. Das Ausgangsmaterial wurde dadurch gedehnt, verzerrt und aus seinem ursprünglichen Kontext entnommen. „Im Sampling isoliere ich Fetzen von einer Geschichte und setze sie in eine neue Erzählung ein“, erklärt er. In einem nächsten Schritt instrumentierte der Komponist Oliver Waespi 21 ausgewählte Remix-Fragmente von Janiv Oron wiederum für die Basel Sinfonietta. Oron spielte schließlich live an den Turntables mit dem Orchester. Die Schallplatten dienten hierbei, an eine Software angeschlossen, als Steuereinheit für die einzelnen Orchestersamples.
Der Titel dieser Re-Re-Komposition lautet Datendieb: „Ich arbeite in meiner Musik sehr oft mit bereits bestehendem Material. Beim Sampling ist man ein Zeitengel. Man stiehlt in der Vergangenheit, bearbeitet im Moment und denkt das Material in die Zukunft weiter.“

 

Janiv Oron mit der Basel Sinfonietta

 

Atmender Klangkern, Tanzender Tod

Ähnlich zwischen den Zeiten oszilliert auch der Loop – die (oft) auf Schallplatte gepresste Keimzelle elektronischer Tanzmusik, der sich Janiv Oron weiterhin verbunden fühlt. Im Lauf der Jahre entwickelte er dazu eine Faszination für den Bordun – in der elektronischen Musik meist als Drone bezeichnet. Im Drone kulminiert der Loop in einer Art ewiger Bewegung, die wie Stillstand anmutet, aber im Kern atmet und vibriert. Mit analogen oder digitalen elektronischen Instrumenten haucht Oron seinen Drones Leben ein und spielt sie unter anderem in Kollaborationen wie mit Christoph Dangel (Cello), Stefan Preyer (Kontrabass), Thomas Giger (Lichtkunst) und dem Kammerorchester Basel.

 


„Don Boscos Garden 1“ – mit Janiv Oron, Christoph Dangel, Stefan Preyer & Thomas Giger

 

Mit dem Kammerorchester hat Oron schon mehrfach genreübergreifende Projekte realisiert hat, etwa die drei Teile von Don Boscos Garden. Im neuesten, Ende Oktober 2022 realisiert, mischte er die vereinzelt im Don-Bosco-Gebäude spielenden Instrumentalist:innen des Kammerorchesters zu einem Remix von Mahlers 4. Sinfonie zusammen.


„Don Boscos Garden 2″ – mit dem Kammerorchester Basel, Giulia Semenzato & Anne-May Krüger

 

Im November 2022 steht eine weitere Kollaboration an. Für die Basler Tanzcompagnie MIR komponiert Janiv Oron gemeinsam mit dem Organisten Filip Hrubý eine Musik zwischen Ambient, Orgelklängen und Elektronik. Beide Orgeln der Basler Predigerkirche kommen dabei zum Einsatz. Das Stück Now here – no where. Ein Totentanz für das 21. Jahrhundert nähert sich dem abstrakten Phänomen des Todes und der eigenen Sterblichkeit an. Hierzu wurden auch acht Tanz-Laien aus Basel als „Expert:innen des Alltags“ in den Entwicklungsprozess einbezogen; eine von ihnen wird live auf der Bühne mittanzen. Auch wenn sich Janiv Oron bezüglich musikalischer Details noch bedeckt hält, kann man davon ausgehen, dass hier kein endgültiges Lied vom Tod gespielt wird. Denn: Alles dreht sich und kommt in veränderter Form wieder.
Friedemann Dupelius


Now here – no where. Ein Totentanz für das 21. Jahrhundert
9.-20.11., Predigerkirche Basel

Janiv Oron
MIR Compagnie
Christoph Dangel
Stefan Preyer
Thomas Giger

neo-Profile:
Basel Sinfonietta, Kammerorchester Basel, Oliver Waespi

Die Komponistin mit dem Lötkolben

Sie lebt mit ihrer Familie auf der schwedischen Insel Gotland, wenn sie nicht gerade unterwegs ist mit Ihrer Musik, die inzwischen von den wichtigsten Ensembles für zeitgenössische Musik und grossen Sinfonieorchestern gespielt wird. Lisa Streich erschafft mit modernsten Kompositionstechniken eine universelle Musiksprache, die das Publikum direkt anspricht und den heutigen Zeitgeist trifft, ohne anbiedernd zu sein. Wie sie das schafft, versucht Annelis Berger im Gespräch mit ihr herauszufinden.

 

Portrait Lisa Streich zVg. Lisa Streich

 

Annelis Berger
Kontraste, immer wieder diese Kontraste: Scharfe Peitschenschläge dringen ans Ohr, und in den Lücken – diesen entsetzlichen Lücken zwischen den Schlägen – schweben seltsam entrückte Pianissimo-Akkorde, bei denen man nicht weiss, ob das Ohr sich täuscht oder ob da tatsächlich die Orchestermusiker:innen leise mitsingen. Staunend sitzt man da und taucht ein in eine überraschende Musiksprache, die irgendwie «einleuchtet», Sinn ergibt, obgleich sie komplex und vielschichtig ist. Segel heisst das Stück von Lisa Streich, das 2018 am Lucerne Festival uraufgeführt wurde.

Es ist mein erster Kontakt mit der Musik der schwedischen Komponistin. Später wird mir klar, dass diese Musiksprache typisch ist für die Werke von Lisa Streich: sie überraschen, gleichzeitig sprechen sie die Hörer:innen direkt an. Man fühlt sich nicht ausgeschlossen, auch beim ersten Hören nicht. Da ist kein hermetischer Überbau, an dem man sich erst mal abarbeiten muss, um Zugang zu dieser Musik zu finden. Und dies, obwohl in jedem der Stücke sehr aufwändige intellektuelle, künstlerische und handwerkliche Arbeit steckt.

 


In Segel aus dem Jahr 2017 setzte Lisa Streich erstmals eine «spektrale Tonalität» ein.

 

Lisa Streich, geboren 1985 in Schweden, hat sich zur Organistin ausbilden lassen und dann in Berlin, Stockholm, Salzburg, Paris und Köln Komposition studiert. Sie meidet das Scheinwerferlicht, die Bühne ist nicht ihr Ding. Auf der Empore aber, allein an der Orgel, diesem «atmenden Geschöpf, das dir nicht gehört und das in jeder Kirche anders riecht», dort fühlt sie sich wohl. Ebenso beim Komponieren zu Hause auf der Insel Gotland, die an der Ostsee zwischen dem Baltikum und Schweden liegt und wo sie, nahe am Meer und inmitten einer malerischen Insellandschaft, sich abwechselnd mit ihren Kindern beschäftigt oder komponiert. Dazu gehört auch tüfteln, basteln, Geräte bauen. Irgendwann hat Lisa Streich nämlich angefangen, Elektronik in ihre Musik einzubauen, kleine Maschinen, die sie in einem alten Schuppen neben ihrem Wohnhaus herstellt: Sie lötet, baut, fügt zusammen, um dann z.B. im Stück Pietà für motorisiertes Cello und Ensemble einen fast mechanischen Sound zu erzeugen, der gerade darum so aufregend ist, weil er durch die maschinelle Anonymität universell wird.

Pietà endet leise. Lisa Streichs Stücke enden alle, ohne Ausnahme, im Piano. Sie habe es sich bis jetzt untersagt, laute Schlüsse zuzulassen, ein Fortissimo-Finalschluss komme ihr vor wie ein Plagiat, abgenutzt, ein billiger Effekt. So sagt mir Lisa Streich im Interview. Solche Sätze sind typisch für die schwedische Komponistin, die perfekt deutsch spricht. Sie hat einen hohen, fast moralischen Anspruch, mit ihrer Musik ehrlich zu sein. Darum beschäftig sie eine Aussage des französisch-griechischen Komponisten Georges Aperghis bis heute, demzufolge ein Künstler ein guter Lügner sein müsse. Irgendwie leuchte ihr ein, was er damit meine. Aber für sie funktioniere das nicht, meint sie.

Nein, für Lisa Streich funktioniert das nicht. Was ihre Musik stattdessen auszeichnet, ist spielerische Spiritualität. Und die erreicht man nicht durch Blendwerk, sondern durch Authentizität, Ehrlichkeit, keine moralinsaure, sondern eine sinnliche Wahrhaftigkeit. Wie sie das schafft, bleibt ein Geheimnis, allerdings, so sagt sie, fange sie vielleicht mit ihrer Musik ein bestimmtes Zeitgefühl ein, was dem heutigen Publikum entspreche. Die Kontrolle darüber habe man naturgemäss nicht. Aber manchmal schleiche sich in einem Werk etwas ein, was genau den Kern unserer Zeit treffe.

 

Portrait Lisa Streich zVg. Lisa Streich

 

Was sind denn nun die wichtigsten kompositorischen Mittel, die Lisa Streichs Stücke so authentisch, spannend und «heutig» machen?

 

Spektrale Tonalität und elektronische Klänge

Da gibt es zum Beispiel die sogenannte spektrale Tonalität, die Lisa Streich zum ersten Mal im oben erwähnten Werk «Segel» anwandte. Um solch schwebende Akkorde zu schaffen, sucht sie nach Aufnahmen von Amateurchören, die naturgemäss nicht perfekt sind. Sie nimmt Akkorde von diesen intonatorisch nicht ganz sauberen Aufnahmen und macht eine spektrale Analyse davon. Mit diesem Spektogramm arbeitet die Komponistin; das Ergebnis ist mikrotonale oder eben «spektrale Tonalität». Lisa Streich sagt dazu, dass sie tonale Musik liebe, aber durch häufiges Spielen und Hören allmählich nichts mehr dabei fühlte. Hingegen habe sie, wenn sie Laienchöre höre, die nicht ganz sauber intonierten, Moll und Dur neu erlebt. Sprich: Wenn gewohnte Akkorde eine Spur falsch sind, kann man Dur und Moll wieder neu erfahren

Ein weiteres kompositorisches Mittel in der Musik von Lisa Streich sind elektronische Klänge, die sie erzeugt, indem sie kleine Geräte am Instrument anbringt. Dadurch entsteht eine sehr eigene, beseelt-maschinelle Atmosphäre – oft im Kontrast mit scharfen Ensembleklängen, die auf diese mechanischen «Olimpia-Welten» (E.T.A. Hoffmann) prallen.

 

Anklänge an die römische Mehrchörigkeit

Und schliesslich gibt es diese Affinität zur menschlichen Stimme und zur Chortradition, die sich durch Lisa Streichs Oevre hindurchzieht. Zum Beispiel im wunderbaren Werk Stabat für 32 Stimmen und vier Chöre. Es ist in Rom entstanden, während Streichs Aufenthalt in der Villa Massimo. Es ist eins ihrer längsten Stücke und inspiriert von der römischen Mehrchörigkeit. Diese wird im Gegensatz zur venezianischen kaum mehr gepflegt, da es sehr aufwändig ist, diese 400 Jahre alte, mehrchörige Musik aufzuführen. Damals haben Knaben auf den Balkonen und sogar in der Kuppel des Petersdoms gesungen, nur durch Luken mit dem Dirigat verbunden. Zwölf Balkone gibt es zum Beispiel in der KircheS. Giovanni in Laterano, wo das Chorwerk uraufgeführt wurde. Mit dieser Vielchörigkeit stellte man damals eine Art unplugged Dolby-Surround-Tonsystem her. Das hat Lisa Streich fasziniert und sie versuchte, in einem vierchörigen Werk diesen Klang ins 21. Jahrhundert zu holen. Das Stück Stabat, das daraus entstand, ist eine Art Meditation für Chor, die eine weite Landschaft suggeriert, oder eine zeit- und raumlose Ebene, in die man sich fallen lassen kann, ohne weich oder hart zu landen. Man IST einfach.

 


32 Stimmen, verteilt auf vier Chöre sind in Stabat von Lisa Streich aus dem Jahr 2017 zu hören. Hier übersetzt sie die 400 Jahre alte römische Mehrchörigkeit ins 21. Jahrhundert

 

Die Frage nach dem religiösen Gehalt solcher Werke, die schon vom Titel her auf eine kirchliche Tradition verweisen, beantwortet Lisa Streich zögernd. Ja, die Religion habe früher in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt. Heute weniger, aber sie sei immer noch wichtig. Allerdings weniger geknüpft an eine bestimmte Religion. «Dass es eine Welt gibt, die unsichtbar ist, aber stärker und grösser als unsere sichtbare Welt, da bin ich mir sicher.  Auch die Musik lässt uns ja Dinge erleben oder spüren, die vielleicht gar nicht von dieser Welt sind.»

Tatsächlich bietet Lisa Streichs Musik die Möglichkeit für spirituelle Öffnungen, wenn man sich denn darauf einlässt. Vielleicht liegt gerade darin die Anziehung im Werk der Komponistin, nicht als Programm, sondern als untergründiger Strom, den man bewusst oder unbewusst wahrnimmt.
Annelis Berger

 

Am Samstag, 8. Oktober, 19:30h, bringt das Collegium Novum Zürich in der Zürcher Tonhalle ihr neues Stück OFELIA zur Uraufführung.

Georges Aperghis

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 12.10.22, 20h / 15.10.22, 21h: Im Innern der Orgel: Lisa Streich, Komponistin und Organistin, Redaktion Annelis Berger

 

Neo-Profile: Lisa Streich, Collegium Novum Zürich,

 

 

 

100 Jahre IGNM – Eine Verbindung von Schicksalsgefährten

Vor 100 Jahren entstand die «Internationale Gesellschaft für Neue Musik IGNM» mit Ziel, Neue Musik aus der ganzen Welt zu vernetzen und sichtbar zu machen. Die Schweizer Sektion, die SGNM, formierte sich im Oktober desselben Jahres in Winterthur. Sie veranstaltete sechs der jährlich stattfindenden «World Music days» – 2004 fuhr die Neue Musik sogar im Zug durch die Schweiz.
Ein Portrait der SGNM von Thomas Meyer.

 

Zur UA kamen 2016 in Tongyeong, Südkorea, zwei Werke aus der Schweiz: Claude Berset (La Ménagerie de Tristan, eine halbszenische Kammer-Suite für Kinder auf Gedichte des Surrealisten Robert Desnos) und von Iris Szeghy (Gratia gratiam parit für Chor a cappella)

 

Thomas Meyer
Es war in der Kirche Boswil, als damals, vor nun 31 Jahren, das ensemble für neue musik zürich ein aufregendes Programm spielte, u.a. Werke der Japanerin Noriko Hisada und der Australierin Liza Lim. Die beiden Komponistinnen, noch keine dreissig Jahre alt, war hierzulande unbekannt – aber sie sollten es nicht lange bleiben, denn das ensemble blieb dran, war begeistert, gab den beiden Aufträge, mehrere über die Jahrzehnte. CDs entstanden und eine lange Freundschaft. Das Konzert wurde für mich zu einem schönen Beispiel dafür, was sich in der Begegnung bei den sogenannten «Weltmusiktagen» ereignen konnte.

 


Voodoo Child von Liza Lim von 1990, in einer Aufnahme mit dem ensemble für neue musik zürich dirigiert von Jürg Henneberger mit der Sopranistin Sylvia Nopper, im Kunsthaus Zürich 1997, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Bei diesem Festival, das 1991 in Zürich stattfand, kamen nämlich MusikerInnen aus der ganzen Welt zusammen – und an einem Nachmittag eben wurden die Gäste in die Idylle des Freiamts geführt. Diese «World Music Days» erfüllten damit genau den Zweck, Neue Musiken aus allen Ländern über die Meere und Kontinente hinweg miteinander in Verbindung zu bringen. Mit dieser Botschaft war die Veranstalterin des Festivals einst angetreten: die «Internationale Gesellschaft für Neue Musik IGNM» oder englisch: «International Society for Contemporary Musik ISCM». Die Anregung stammte von den Komponisten Rudolf Réti und Egon Wellesz. Am 11. August 1922 traf sich im Café Bazar in Salzburg eine illustre Schar. Anwesend waren etwa Béla Bartók, Paul Hindemith, Arthur Honegger, Zoltán Kodály, Darius Milhaud und Anton Webern, viele andere hatten sich entschuldigt.

Der Zeitpunkt ist hochinteressant, unmittelbar nach dem grossen, alle Ordnung zersetzenden Weltkrieg, da nichts mehr selbstverständlich war. Die Neue Musik fand sich in einer veränderten Kultur wieder. Erschöpft durch den Krieg, aber auch durch die heftigen Skandale des Jahrs 1913 begann sie sich zurückzuziehen und sich insiderhaft zu organisieren. Arnold Schönberg und sein Kreis organisierten sich in Wien 1918-21 im «Verein für musikalische Privataufführungen». Edgard Varèse gründete 1921 in New York die «International Composers’ Guild» , um moderne Musik aufzuführen. Gleichenjahrs wurden in Donaueschingen erstmals die «Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst» durchgeführt. Der Name ist bezeichnend Die Neue Musik musste etwas für sich tun und sich neu formieren.

Bei der Gründung der IGNM wirkte Richard Strauss als Präsident mit, er gab dieses Amt aber schon bald an den englischen Musikwissenschaftler Edward Dent ab. Von den Österreichern stammte zwar der erste Impuls, aber bald übernahmen Briten die Leitung und das Sekretariat. Landessektionen entstanden. Schon im Oktober meldete sich der Winterthurer Mäzen Werner Reinhart aus der Schweiz und kündigte eine helvetische Sektion an. Er hatte Geld und Interesse an Neuer Musik, und so nahm die Sektion ihren Sitz am Rychenberg. 1926 fanden die Weltmusiktage erstmals in Zürich statt, wo etwa Weberns Fünf Orchesterstücke op. 10 uraufgeführt wurden, 1929 folgte Genf. Das IGNM-Schiff nahm Fahrt auf und durchquerte im Lauf des Jahrhunderts für seine Feste die Kontinente.

 

Weltmusikfeste stehen für Kommunikation und Austausch zwischen den Ländern

Die Weltmusikfeste sind das Herzstück der Organisation. Sie versuchen etwas Völkerverbindendes – auch wenn es nur Ansätze sein können. „Kein Musikfest, keine Kunstgemeinschaft würde Katastrophen verhindern können, wie deren 1914 eine ausgebrochen ist“, schrieb der österreichische Musikhistoriker Paul Stefan nach dem Genfer Fest. „Aber jedes Band wird seither fester geschlossen, und ganz anders als früher sind die Künstler von heute Schicksalsgefährten geworden.“ Was wenige Jahre später freilich wieder in Konflikt ausartete, als 1934 auf Initiative von Richard Strauss eine Gegenorganisation, der nazinahe «Ständige Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten», den Einfluss der IGNM untergraben sollte. 1939 wurde es zum Beispiel tschechoslowakischen Musikern verboten, zum Weltmusikfest nach Warschau zu fahren.

Für die Westmusikfeste schlagen alle Mitgliedsländer Kompositionen vor, die dann von einer Jury vor Ort ausgewertet und mit Programmideen von lokalen Organisatoren ergänzt werden. Fifty-fifty etwa sollte das Verhältnis zwischen den beiden Teilen sein. Das Programm ist bunt und hat meistens keinen gemeinsamen Nenner. Beachtet man aber die Liste der aufgeführten Werke so findet man etliche Meisterwerke darunter. So wurde 1957 in Zürich Schönbergs Moses und Aron uraufgeführt. Manches geht vergessen, aber dabei entstehen doch Verbindungen, die anhalten. Und das ist das Wesentliche an der IGNM: die Kommunikation und der Austausch zwischen den Ländern.

 


Gemini, Konzert für zwei Violinen und Orchester von Helena Winkelman, Uraufführung mit dem Sinfonieorchester Basel und Ivor Bolton, an den Geigen Patricia Kopatchinskaja und Helena Winkelman: sie vertrat 2015 als erste Frau die Schweiz an den World Music Days in Ljubljana, wo ihr Stück Bandes dessinées zur Uraufführung kam.

 

1970 fanden die Weltmusiktage in Basel statt, 1991 in Zürich, und 2004 fuhr die IGNM-Delegation mit der Bahn durch die ganze Schweiz. Diese ungewöhnliche Idee unter dem Titel Trans-it wurde von einem Team um den Komponisten Mathias Steinauer entwickelt. Es war ein ganz neuartiger Impuls.

 


Steinschlag (1999) von Mathias Steinauer wurde an den «World Music days» 2004 im Infocentro der NEAT gespielt. Hier in der Version von Christian Dierstein 2013.

 

Das waren Höhepunkte, aber eigentlich war die helvetische Sektion, die SGNM, sonst ein eher stiller Verein. Er ist im Lokalen verankert. Die nationale Gesellschaft besteht aus derzeit acht Ortsgruppen. Angeschlossen sind ihr als Mitglieder auch einige Festivals und Ensemble für Neue Musik. Sie alle führen Konzertreihen durch und machen oft noch unbekannte Musik hierzulande bekannt.

Neben diesem Courant normal jedoch ist die nationale Sektion in den letzten Jahren wieder bedeutend aktiver geworden. Der Walliser Sänger, Performer und Komponist Javier Hagen hat als Präsident seit 2014 einige Akzente gesetzt.

 

Der Walliser Sänger, Performer und Komponist Javier Hagen ist seit 2014 Präsident der SGNM

 

Das betrifft zunächst mal die Aufarbeitung der Geschichte. Manches war falsch überliefert und musste richtiggestellt werden – was gerade in Hinblick aufs Hundertjahrjubiläum wichtig war.  In Winterthur fand man wertvolle Korrespondenzen zur Gründungszeit. Dokumentation ist notwendig, weil vieles verloren gegangen ist und sich nur mühsam wiederfinden lässt. Zum Glück hat der ehemalige SGNM-Präsident, der Zürcher Kritiker und Organist Fritz Muggler, ein so reichhaltiges Archiv.

 

66 IGNM-Sektionen aus 44 Ländern

Dokumentiert werden auch die Weltmusikfeste. Nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart wird dabei lebendig. Selbst wenn man jedes Jahr zu den Festen fahren und dort jeweils runde 120 Werke hören sollte, würde das doch nicht ausreichen, einen Überblick darüber zu erhalten, was in den 66 Sektion aus 44 Ländern läuft. Deshalb macht die SGNM im Internet  Collaborative Series regelmässig Musik von überall auf der Welt hörbar.

Zum Jubiläum organisierten die Schweizer gemeinsam mit den Basken, Letten und Esten einen Chorwettbewerb in vier Kategorien – Zeichen dafür, dass sie sich auch für andere Kreise öffnen möchte. 108 Kompositionen aus 78 Ländern trafen bei der SGNM ein. Der Luxemburger Luc Goedert und der Schweizer Cyrill Schürch erhielten es aequo den ersten Preis.

 


Cyrill Schürch, Nihil est toto – Metamorphosen für Chor a capella, UA mit der Zürcher Sing-Akademie und Florian Helgath, Zürich 2018, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Und auch innerhalb des Muttervereins, der ISCM, ist eine Öffnung erfolgt. Auf Anregung Javier Hagens wurde die Zahl der offiziellen ISCM-Kommunikationssprachen – bislang Deutsch, Englisch, Französisch – um Arabisch, Chinesisch, Russisch und Spanisch erweitert. Die Welt öffnet sich – und mit ihr die Weltmusik. Zeichen dafür ist auch, dass die IGNM sich nächstes Jahr erstmals in Südafrika, in Johannesburg/Soweto trifft.
Thomas Meyer

Für gründlichere Informationen über die ersten sechs Dekaden sei der dicke Band IGNM – Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik des Schweizer Musikwissenschaftlers Anton Haefeli empfohlen.

Auf der SGNM-Homepage sind zahlreiche Ton- und Bildzeugnisse zugänglich.

Die SGNM setzt sich für die Schweizer Musikedition SME (Vertrieb von Partituren) und die Datenbank musinfo ein, zwei wichtigen Werkzeugen der Verbreitung einheimischer Musik.

 

Neo-Profile:
ISCM SwitzerlandJavier HagenMathias Steinauer, Helena Winkelman, Liza Lim, ensemble für neue musik zürichCyrill Schürch, Patricia Kopatchinskaja

Improvisierte Musik in Genf – Die Welt der AMR

Die AMR (l’Association pour l’encouragement de la Musique impRovisée) aus Genf ist die älteste Schweizer Institution für improvisierte Musik. 1973 gegründet, hat sie sich von Anfang an nicht nur für improvisierte Konzerte, sondern auch für Probemöglichkeiten und Unterricht in improvisierter Musik eingesetzt. Ihr beinahe 50-jähriges Engagement wird nun mit dem Spezialpreis Musik 2022 gewürdigt.

Das “Sud des Alpes” der AMR

Jaronas Scheurer
Gerade in Nischen-Genres wie z.B. der improvisierten Musik geschieht die meiste Arbeit ehrenamtlich. Die Gagen für die Musiker:innen sind tief, die Arbeit hinter den Kulissen basiert auf Good Will, das wenige Stiftungsgeld für die Veranstalter:innen ist knapp. Die Corona-Pandemie, während der über Monate keine Konzerte durchgeführt werden konnten und noch länger keine Planungssicherheit existierte, hat diesen Missstand noch verschärft. Nicht so in Genf – die AMR, l’Association pour l’encouragement de la Musique impRovisée, zahlte sowohl den Musiker:innen, die gebucht waren, aber nicht spielten konnten, als auch den Techniker:innen und den Barleuten, die nicht arbeiten konnten, trotzdem Lohn. Das ist nicht nur äusserst löblich, sondern auch ziemlich ungewöhnlich. «Das Geld hatten wir und wir hatten sie ja gebucht; und die Musiker:innen waren schlechter dran als wir Organisator:innen.», erklärt Brooks Giger, Sekretär der Programmkommission der AMR und selber Kontrabassist.

 


John Menoud: Which way does the blood red river flow? Nouvel Ensemble Contemporain und der Trompeter Mazen Kerbaj, 2017. John Menoud ist Mitglied der Programmkommission der AMR.

 

Fixstern der kulturellen Landschaft Genf

Die AMR gibt es nun schon seit 1973, seit beinahe fünfzig Jahren. In den 70er-Jahren brodelte die Free Jazz-Szene in Europa. Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald & Co. in Deutschland, Irène Schweizer und Pierre Favre in der Schweiz. In England gab es John Stevens und sein «Spontaneous Music Ensemble» oder das Improvisationsensemble AMM. Und in den USA ging sowieso die Post ab: Charles Mingus, Alice und John Coltrane, Ornette Coleman, Sam Rivers usw. In Genf fanden sich damals ein paar Musiker:innen zusammen, die sich dieser Musik hingaben. So entstand die Idee der AMR. Schon bei der Gründung der AMR 1973 war den Mitgliedern klar, dass es nicht nur darum geht, der improvisierten Musik eine Bühne zu bereiten und Konzerte zu veranstalten. «Da war diese grosse Lust der Gründungsmitglieder der AMR, etwas zu haben, wo sie sich wiederfinden. Wo sie zusammen arbeiten und kreieren können. Wo sie diese Musik in Konzerten hören und im Unterricht weitergeben können.» – so Brooks Giger. Die AMR wollte von Anfang an nicht nur Konzertveranstalterin, sondern auch Musikschule und Vermieterin von Proberäumen sein. Mit diesem Konzept stiess sie bei der Stadt Genf auf offene Ohren und schon bald erhielt sie ein finanzielles Fundament zur Verwirklichung ihrer Idee. «Wir hatten auch einfach sehr, sehr viel Glück, dass wir in den 70er die Unterstützung von der Stadt erhielten und sie bis heute erhalten», bemerkt Brooks Giger zur Sondersituation Genf. 1981 konnte die AMR dann ein Gebäude an der Rue des Alpes mieten, das «Sud des Alpes»; bis heute Zentrum und Sitz der AMR. Bis 2006 wurde das «Sud des Alpes» schrittweise umgebaut. Und heute befinden sich dort nicht nur die Büros der AMR, sondern auch 13 Proberäume (inklusive zwei grosse für grössere Ensembles) und zwei Konzertsäle, einer im Keller für 50 Personen und einer im EG für 120 Personen. Inzwischen gehört die AMR fest zur kulturellen Landschaft der Stadt Genf. Brooks Giger beschreibt das so: «Wenn jemand in den Hotels der Stadt fragt, wo man Jazz hören kann – AMR. Wenn jemand Musiker:innen für einen Gig sucht – AMR.» Sie seien inzwischen eine feste Grösse für Jazz und improvisierte Musik in Genf, dadurch bekämen sie immer noch Geld von der Stadt – «on croise les doigts» meint Brooks Giger dazu.

Aus der Gründungszeit der AMR 1973

 

Konzertprogramm zwischen lokaler Szene und internationalen Grössen

Die finanzielle Unterstützung der Stadt Genf ist auch an Bedingungen geknüpft, so müssen mindestens 60 Prozent der auftretenden Musiker:innen in der Region zuhause sein. Das Programmieren der 250 bis 300 jährlichen Konzerte und der zwei Festivals ist also immer auch ein Balanceakt zwischen lokalen Künstler:innen, nationalen Grössen und internationalen Gäste. Auch die am AMR durchgeführten Workshops zeigen das Gelernte in regelmässigen Konzerte. So kann es gut sein, dass in derselben Woche der New Yorker Starsaxofonist Chris Potter mit seinem Quartett, eine südafrikanisch-schweizerische Combo, eine lokale Jazzband und der Funk-Workshops der AMR auftritt. Nicht nur durch das Konzertprogramm weht ein fairer Wind: So sind die Angestellten der AMR allesamt selbst Musiker:innen. Dank der Teilzeit-Anstellung zwischen 30-60% in der AMR ist ihnen eine feste Existenzgrundlage gewiss. Auch auftretende Musiker:innen, die in der Schweiz wohnhaft sind, können sich von der AMR anstellen lassen, was gewisse Sozialleistungen sicher stellt. Die Eintrittspreise sind moderat, so dass sich auch nicht so vermögende Menschen das AMR-Konzert leisten können. Und vor einigen Jahren hat sich eine Gruppe gegründet, die sich für ein geschlechtlich ausgeglichenes Konzertprogramm einsetzt.

 

Die Genfer Band Noe Tavelli & The Argonauts am AMR Jazz Festival 2022

 

Ein Genfer Bijou für improvisierte Musik

Die AMR steht im Jahr 2022 auf festen Beinen: Sie hat einen Ort mit den benötigten Räumlichkeiten für Unterricht, Konzerte und Proben, die finanzielle Unterstützung scheint längerfristig gesichert, die AMR ist gut durch die Coronapandemie gekommen und präsentiert nun wieder ein buntes, interessantes Konzertprogramm. Vor allem aber hat die AMR eine lebendige und engagierte Musikszene im Rücken. Das Engagement der AMR für improvisierte Musik wurde nun auch durch das Bundesamt für Kultur mit dem Spezialpreis Musik 2022 gewürdigt: «Der Verein ist ein Mikrokosmos der Kultur, der Gleichstellung, der Auseinandersetzung und des Wachstums.» schreibt das BAK als Begründung.

 

Nasheet Waits Equality Quartet am AMR Jazz Festival 2013, ©Juan Carlos Hernandez

Brooks Giger sieht Wachstum jedoch nicht als oberste Priorität. «Wir machen schon so viel mit den Konzerten, den Festivals, den Workshops und den Proberäumen. Man braucht nicht unbedingt mehr zu machen. Was wir haben, ist schon ein Bijou, ein Diamant. Den müssen wir auch einfach weiterhin polieren und pflegen.»

Nächstes Jahr wird die AMR 50 Jahre alt. Da wird es natürlich auch noch einige Besonderheiten geben, so sind eine Fotoausstellung in den Bains de Pâquis in Genf und eine Publikation mit Fotos und Essays geplant. Des Weiteren ist ein Dokumentarfilm über die AMR gerade in der Mache. Und natürlich gibt’s im «Sud des Alpes» auch weiterhin einfach viel gute, improvisierte Musik aus Genf, der Schweiz und aller Welt zu hören.
Jaronas Scheurer

 

Die Website der AMR und ihr Konzertprogramm.
Die Laudatio der Jury des Schweizer Musikpreis 2022 für die AMR.
Der YouTube-Kanal der AMR.

Neo-Profile:
John Menoud, d’incise, Alexander Babel, Daniel Zea

Zwischen Schaltungen und Schlagwerk

Als Schlagzeuger und Perkussionist hat Martin Lorenz angefangen. Seine Neugier führte ihn erst zu Experimenten mit Schallplatten und schließlich zur elektronischen Klangerzeugung mit Synthesizern. Und immer häufiger wendet er sich dem Komponieren zu. Mit dem Synthesizer-Trio Lange/Berweck/Lorenz spielt er im September beim KONTAKTE-Festival in Berlin und im Kunstraum Walcheturm in Zürich.

 

Der Schlagzeuger Martin Lorenz, konzentriert mit diversen Schlegeln in der Hand. Foto: Heidi Hiltebrand
Portrait Martin Lorenz © Heidi Hiltebrand

 

Friederike Kenneweg
Groß und schlaksig wirkt Martin Lorenz und so, als müsste er sich immer ein wenig zu allen herunterbeugen. Wenn er von der Suche nach besonderen Sounds erzählt, davon, wie sich das Geräusch von Kies auf einer Auffahrt mit Synthesizern erzeugen lässt oder der Klang einer sich schließenden Fahrstuhltür, dann leuchtet ihm die Begeisterung aus dem Gesicht.

Eine solche Begeisterung für die Klangsuche ist auch notwendig, wenn man als Schlagzeuger oder Perkussionist für Neue Musik arbeitet.

 

Suche nach dem richtigen Klangmaterial

Oft müssen Perkussionist:innen nicht nur das gewohnte Schlagwerk-Instrumentarium spielen, sondern für ein Musikstück die erforderlichen Gegenstände mit dem richtigen Sound – Steine, Holzstücke, Tassen o.ä.-  überhaupt erst ausfindig machen. Teilweise übernehmen sie damit eine große Mitverantwortung dafür, wie ein Stück am Ende klingt, denn nicht immer schreiben die Komponist:innen genau auf, was sie sich vorstellen oder welche Tonhöhe eine bestimmte Trommel oder gar ein Stein eigentlich haben soll.

 

Die stetige Suche nach neuen Klängen brachte Martin Lorenz dazu, sich auch mit den Möglichkeiten von Schallplatten zu beschäftigen.  Die Spezialität, die er für eigene Turntable-Performances entwickelte: mit einem Messer während einer Live-Performance Schnitte in die Schallplatten ritzen, so dass beim Abspielen ganz bestimmte Rhythmen und Loops entstehen.

 

Schnitte in Vinyl

Aber natürlich ist es entscheidend dafür, wie die Loops am Ende klingen, was auf der zerschnittenen Platte aufgezeichnet ist. So war es für Lorenz naheliegend, sich selbst Schallplatten mit eigenen Sounds pressen zu lassen – und sich darum mit Synthesizern zu beschäftigen. Zu dieser Zeit gründete er auch in Zürich sein Label DUMPF Edtion, wo er eigene oder fremde Produktionen experimenteller Musik veröffentlicht. Eigentlich immer noch am liebsten auf Schallplatte. Aber als kleines Label auf Vinyl zu setzen, macht schon seit einer Weile keinen richtigen Spaß mehr, sagt Lorenz.
“Es gibt da einfach zu lange Wartezeiten, dann wieder Lieferschwierigkeiten, es ist nicht verlässlich, und dann dauert es ewig, bis eine Aufnahme endlich veröffentlicht wird.”

 

 

Lange hält Lorenz sich aber nicht bei solchen Problemen auf. Eher sucht er nach Möglichkeiten, Frustrationen aufzulösen und fruchtbar zu machen – wie sich auch an seinem Weg hin zum Komponieren zeigt. Da verspürte er nämlich immer wieder eine gewisse Enttäuschung, wenn das Ensemble, in dem er als Schlagzeuger beschäftigt war, an Komponist:innen Auftragswerke vergab und das Ergebnis, das diese vorlegten, so gar nicht seinen Erwartungen entsprechen wollte.
“Da habe ich mir irgendwann gesagt, wenn ich so genaue Vorstellungen von so einem Stück habe, vielleicht sollte ich die einfach mal aufschreiben und selber meine eigenen Stücke komponieren.”

 

Feedback und Raumklang

Eine Werkreihe von Martin Lorenz für Instrumente und Live-Elektronik heißt “Oscillations”. Darin arbeitet er mit dem Feedback, das entsteht, wenn Instrumente live im Raum aufgenommen und wieder eingespielt werden, und das er für komplexe Strukturen der Klangüberlagerung nutzt.

Im Jahr 2021 entstand für das im selben Jahr neu gegründte Ostschweizer Ensemble Orbiter die Komposition Swift Oscillations. Martin Lorenz spielt darin selbst das Vibraphon.

 


Das Kammermusikstück Swift Oscillations von Martin Lorenz aus dem Jahr 2021, gespielt vom Ensemble Orbiter im Kultbau St. Gallen.

 

Martin Lorenz arbeitete sich neben seiner Tätigkeit als Schlagzeuger und Komponist immer mehr in elektronische Klangerzeugung, Live-Elektronik und die Funktionsweise analoger und digitaler Synthesizer ein. Mit dem Projekt “Reviving Parmegiani” schließlich betrat er im Jahr 2014 gemeinsam mit den Pianist:innen Sebastian Berweck und Colette Broeckaert die komplexe Welt der historischen Aufführungspraxis elektronischer Musikwerke. Elektronische Musik zu einem späteren Zeitpunkt mit anderen Performer:innen wieder aufzuführen, ist nämlich häufig gar nicht so einfach. Teils werden die verwendeten Synthesizer nicht mehr hergestellt, es gibt keine Updates mehr, oder das Computerprogramm, mit dem gearbeitet wurde, kann auf neuen Computern nicht mehr gestartet werden.

 

Historische Aufführungspraxis: Stries von Bernard Parmegiani

Weil den Ausführenden die Probleme der Zukunft häufig nicht bewusst sind, machen sie keine oder nur unzureichende Aufzeichnungen dazu, welche Sounds sie eingestellt haben und welche Synthesizer oder elektronischen Effekte sie verwendet haben. In “Reviving Parmegiani” war es das Stück Stries des französischen Komponisten Bernard Parmegiani (1927-2013) aus dem Jahr 1980, das wieder spielbar gemacht werden sollte. Parmegiani hatte das Stück für das Synthesizer-Trio TM+ aus Paris geschrieben. Von dem Stück gab es sogar verhältnismäßig gute Notate und eine Aufnahme, die als Klangreferenz dienen konnte. Trotzdem mussten sich die drei Performer:innen auf eine detailreiche Suche begeben, wie die entsprechenden Sounds jeweils erzeugt worden waren und wie sich die Klänge im Heute neu realisieren lassen.

“An einigen Stellen haben wir bis heute nicht herausgefunden, wie TM+ das genau gemacht haben”, sagt Martin Lorenz. “Manchmal ist es ja auch irgendeine schlecht verlötete Stelle in irgendeinem analogen Effekt oder Synthesizer – und das bleibt dann einfach für immer ein Rätsel.”

 

Martin Lorenz hat ein Gerät, vielleicht ein Mischpult, auf dem Schoß und widmet sich vertieft den bunten Kabeln und Knöpfen.
Portrait Martin Lorenz © Florian Japp

 

Die langwierige und zugleich höchst faszinierende Arbeit an Stries< wurde zum Startpunkt für das Synthesizer-Trio Lange/Berweck/Lorenz, mit dem Martin Lorenz bis heute regelmäßig zusammenspielt. Die drei Musiker:innen Silke Lange, Sebastian Berweck und Martin Lorenz vergeben immer wieder Kompositionsaufträge an zeitgenössische Komponist:innen, um das Repertoire für die ungewöhnliche Kombination von drei Synthesizern zu erweitern.

Dabei ist es ihnen wichtig, längerfristig mit den Komponist:innen zusammen zu arbeiten. “So eine erste gemeinsame Arbeit ist ja oft eher ein Herantasten”, sagt Martin Lorenz. “Erst bei einem zweiten Mal ist klar, was von uns zu erwarten ist, was wir gut können, und womit man uns vielleicht auch gut herausfordern kann.”

Und Herausforderungen sind etwas, das Martin Lorenz immer wieder aufs Neue sucht.
Friederike Kenneweg

 

Lange/Berweck/Lorenz, Silke Lange, Sebastian Berweck, Martin Lorenz, Akademie der Künste Berlin, KONTAKTE Festival,

Erwähnte Veranstaltungen:
23.09.2022 Konzertprogramm von Lange/Berweck/Lorenz beim KONTAKTE-Festival, Akademie der Künste, Berlin
28.09.2022 Lange/Berweck/Lorenz im Kunstraum Walcheturm Zürich

Erwähnte CD-Veröffentlichung:
“Bernard Parmegiani: Stries. Broeckaert/ Berweck/Lorenz”, ModeRecords, 2021

neo-profile:
Martin Lorenz, Ensemble Orbiter, Kunstraum Walcheturm Zürich

 

 

Thomas Adès, der Alchimist

Thomas Adès, einer der erfolgreichsten und meistgespielten Komponisten unserer Zeit ist im Sommer 2022 «Composer in residence» bei Lucerne Festival. Der 51-jährige Adès passt in vielerlei Hinsicht perfekt zum diesjährigen Motto «Diversity».

Moritz Weber
Allzu häufig ist es heutzutage nicht mehr, dass ein vielbeschäftigter und international aktiver Komponist auch noch regelmässig als Dirigent und Instrumentalist auftritt. Der Brite Thomas Adès aber tritt in der Musikwelt auf vielfältige Weise in Erscheinung: Neben seinem kreativen Schaffen gibt er Konzerte als Pianist, Kammermusiker und Liedbegleiter, spielt Werke ein, und er dirigiert zudem neben eigenen Werken auch das klassisch-romantische Repertoire.

 

Portrait Thomas Adès ©Marco Borggreve

 

 

In seinem Berufsalltag verwendet er die meiste Zeit fürs Komponieren, «denn ausser mir selbst kann niemand meine Stücke komponieren», sagt Thomas Adès lakonisch mit seiner tiefen Bassstimme.

Auch am Lucerne Festival tritt er in allen drei Rollen auf, sowie zusätzlich als Dirigier-Dozent. Spielen, dirigieren und komponieren vertragen sich bei ihm offenbar sehr gut, sagt er im Gespräch: «Das Klavierspielen läuft sozusagen immer mit, da ich am Klavier komponiere. Aber ich kann mich während der einen Tätigkeit auch gut von der anderen erholen. Im Gegensatz zum kreativen Prozess stehen beim Spielen etwa eher motorische Abläufe im Vordergrund. Die Finger müssen zudem fit bleiben, man muss sie trainieren wie ein Rennpferd», sagt Adès und zeigt seine eindrücklichen Pranken.

 

Zeit am Klavier für Imagination und Träume

Wenn er Zeit für sich hat, nicht für ein Konzert übt oder komponiert, nimmt er gerne irgendein Notenheft aus seinem Regal und spielt, worauf er gerade Lust hat. «Das stimuliert die Vorstellungskraft und das Träumen. Ich liebe es, die Musik Anderer zu spielen, ihre Gestalt und Form in der Zeit zu spüren.» Besonders oft ist es dann Schumann, und auch die Beethoven-Noten «schaffen es meistens nicht zurück ins Regal». Aber Adès nimmt auch die Werke von anderen grossen Komponisten wie Chopin, Haydn, Mozart oder Couperin immer wieder gerne hervor.

Auf François Couperin bezieht er sich denn auch explizit in drei seiner Werke, in der Sonata da Caccia (1993) für Horn, Barockoboe und Cembalo, Les baricades mistérieuses (1994) für Kammerensemble oder in den Three Studies from Couperin(2006) für Kammerorchester.

 


Thomas Adès, Three studies for Couperin for chamber orchestra, Tonhalle-Orchester, Dir. Alan Gilbert, 2006, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Adès lässt sich generell gerne von bereits existierender Musik inspirieren. Wie viele zeitgenössische Komponierende bezieht er sich auf diverse Stile und Epochen und ist kein Avantgardist im engen Sinn, der sich den radikalen Bruch mit jeglicher Tradition auf die Fahne geschrieben hat. Igor Strawinsky beispielsweise war und ist für Adès in mancher Hinsicht ein «Leitstern», eine Art «Vaterfigur».

 

Vielfältige, brillante Musik

 

Schon in seinen frühen 20ern gelang Thomas Adès der internationale Durchbruch. Kompositionen wie Still Sorrowing (1992) für präpariertes Klavier ernteten Lobeshymnen, und seine steile Karriere wurde unter anderem dadurch weiter befeuert, dass er für sein erstes grosses Orchesterwerk Asyla (1997) mit dem renommierten Grawemeyer Award ausgezeichnet wurde – Adès war damit der jüngste Komponist, der diesen Preis erhielt.

 

Oper über eine Ausgestossene

Kühn war seine Stoffwahl für sein erstes abendfüllendes Bühnenwerk, die Kammeroper Powder her face (1995). «Ich setzte mich mit dem Autor Philip Hensher zusammen und sagte ihm, dass ich gerne eine Oper schreiben würde über eine Person, die durch äussere Kräfte zu Fall gebracht wird. Dies würde gut zu meiner musikalischen Sprache passen.» Hensher schlug umgehend die medial breit ausgeschlachtete Skandal-Scheidung der Society-Lady Margaret Campbell vor. «Das können wir nicht machen», war Adès’ erste Reaktion, doch flugs kamen den beiden schon Ideen für einzelne Szenen.

In der daraus entstandenen tragikomischen Groteske über die Liebschaften der hedonistischen und lebenslustigen Duchess of Argyll konnte der Komponist seine humorvolle Seite einbringen. Aber nicht nur: «Es war eigentlich auch eine Geschichte über uns: zwei heranwachsende schwule Männer im London der 90-Jahre vor dem Hintergrund der Aids-Krise. Wir fühlten, dass die Gesellschaft, in der wir lebten, auch uns als skandalös, frevelhaft und sogar gefährlich ansah – eine Gesellschaft, die empört so tat, als hätte sie noch nie was von Oralsex gehört. Dies und die Scheinheiligkeit wollten wir ins Zentrum meiner ersten Oper stellen. Denn auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Die eine oder andere Eigenschaft dieser Gräfin steckt wohl in den meisten von uns.»

So entstand eine freche, schwungvolle und äusserst bühnenwirksame Kammeroper voller hinreissender Anklänge an Tango und Music Hall, inklusive einer musikalisch sehr expliziten Fellatio-Arie der Gräfin.

 


Thomas Adès, Powder her face, Ópera de Cámara Teatro Colón 2019

 

Gegen Ende des Stücks fand der Komponist andererseits auch einen berührenden Tonfall für die an der vorgegebenen Prüderie und Grausamkeit der Gesellschaft zugrunde gehenden Gräfin. Mitgefühl und Identifikation mit seiner Figur spricht dort aus jeder Note.

Zwei weitere abendfüllende, grösser besetzte Opern folgten nach diesem ersten Coup: Die moderne Shakespeare-Oper The Tempest (2003) und die von Luis Buñuels gleichnamigem Film inspirierte, übernatürlich-gruslige Oper The Exterminating Angel(2016).

 

Die Schöpfungsgeschichte als Klavierkonzert

Am diesjährigen Lucerne Festival wird auch eines der wenigen multimedialen Werke von Thomas Adès gespielt, ein Klavierkonzert über die Schöpfungsgeschichte mit dem Titel In Seven Days (2008) mit Visuals seines damaligen Lebenspartners, des Filmemachers und Videokünstlers Tal Rosner. Formal sind es Variationen über eine Akkordfolge, welche der Komponist schon für The Tempest im Sinn hatte, dort aber dafür keinen gebührenden Platz fand. Einer der besonders reizvollen Momente in diesem Konzertstück ist der fünfte Teil: Eine vertrackte Fuge, mit welcher Adès die Schaffung der Tiere und deren Auswuseln in die Welt darstellt.

 

Portrait Thomas Adès Photo © Marco Borggreve

 

Uraufführung des neuen Werks für Violine und Orchester mit Anne-Sophie Mutter

Die diesjährige Auftragskomposition der «Roche Commissions» ist ein Werk für Solist:in und Orchester: es heisst ganz schlicht «Air» (Arie bzw. Luft) und kommt im Konzert mit der Violinistin Anne-Sophie Mutter zur Uraufführung. Ganz anders als das erste, sich in wirbelnden Figuren hochschraubende 1. Violinkonzert Adès’ wirkt der Satz nach einem ersten Blick in die Partitur hier konzentrierter, ja fast reduziert. Hauptsächlich in ruhigen Viertelnoten entfaltet sich ein endlos scheinender Gesang, welcher während fast 15 Minuten in vom Komponisten so sehr geliebten ätherischen Höhen schwebt. «Die Ausdauer, die Konzentration, die Reinheit und die Klarheit ihres Spiels haben mich zu dieser Musik inspiriert» sagt der Komponist. «Musikalisch verschieben sich mehrere Linien in einem engen Kanon gegeneinander. Inhaltlich ist es ausserdem eine Kontemplation darüber, was wir während dieser Pandemie erlebt haben, eine Art Lamento. Ich habe während der Komposition die Textur immer mehr verdichtet, vieles weggestrichen – wie ich es oft tue – bis ich schliesslich zur Essenz der Musik vorgedrungen war.»

 

Ältere und neue Kammermusik

Die breit gefächerte Schau des Schaffens von Thomas Adès wird am Lucerne Festival mit Kammermusik abgerundet: Das Quatuor Diotima spielt das frühe Streichquartett Arcadiana (1996) und zusammen mit dem Klarinettisten Mark Simpson das im letzten Jahr uraufgeführte Klarinettenquintett Alchymia. Dieser Titel verweist auf die Alchimisten im London der Elisabethanischen Ära um 1600: «Ich denke alle kreativen Künstler:innen, und so auch ich, agieren sozusagen alchimistisch. Wir erwecken quasi regloses Material zum Leben, und wir verwandeln es durch eine Art Magie bestenfalls in Gold. In Alchymia konnte ich auf sehr intime Weise ausdrücken, wie ich mich persönlich fühle und was ich über die Welt denke.»
Moritz Weber

 

 

Thomas Adès, faber musicTal Rosner, Philip Hensher

Thomas Adès am Lucerne Festival – erwähnte Konzerte
20.8.22., 22h, Luzerner Saal KKL, Lucerne Festival Contamporary Orchestra, Dir. Elena Schwarz, u.a. In Seven Days
27.8.22., 19:30h, Konzertsaal KKL, Anne-Sophie Mutter, u.a. Air
4.9.22., 16h, Musikhochschule Salquin Saal, Kammermusik Quatuor Diotima

Sendungen SRF 2 Kultur
Musik unserer Zeit, 7.9.22, Redaktion Moritz Weber
Weltklasse live aus Luzern, 27.8.22, u.a. UA “Air”, Moderation Florian Hauser
MusikMagazin
, 10.9.22 Thomas Adès im Gespräch mit Moritz Weber
SRF-online-Text: Früher gemobbt, heute berühmt: Thomas Adès steht für Vielfalt, Autor Moritz Weber

Neoprofile
Thomas AdèsLucerne Festival Contemporary Orchestra

 

 

Natur und Kultur sind eng verwoben

String Creatures, Liza Lims neues Stück für das Jack Quartet aus den USA, kommt am Lucerne Festival am 14. August zur Uraufführung. Natur und Kultur in ihrem Verhältnis und das Zusammenspiel verschiedener Kulturen sind zentrale Themen im Werk der australischen Komponistin. Mit ihrem Blick auf die schwindende Schönheit der Natur sensibilisiert sie für ökologische Themen.
Ein Portrait.

 

Portrait Liza Lim ©Ricordi/Harald Hoffmann

 

Gabrielle Weber
Transkulturelle Ideen und Kollaboration, Schönheit der Natur, Wahrnehmung von Zeit, Ritual und ökologische Verbindungen – so beschreibt Liza Lim ihre künstlerischen Anliegen. Ihre Homepage mit eigenen blog zieren Aufnahmen von Natur – immer in Verbindung mit dem Menschen: im neusten post sind das Impressionen von Berliner Naherholungszonen, gerahmte Blicke aus dem Fenster, Ansichten von Häuserfassaden nachts im Grünen.

 

Die Aussicht aus Liza Lims Arbeitszimmer in Berlin ©Liza Lim

 

2021/22 war Liza Lim für ein Jahr lang composer in residence beim Wissenschaftskolleg (WIKO) in Berlin. Nach zwei Jahren pandemiebedingter drastischer Einschnitte ins Konzertleben sei sie vom lebendigen Berliner Konzertleben und den zahlreichen Begegnungen am WIKO euphorisiert gewesen, schreibt Lim. Die Schatten von Covid, der Kriegsausbruch in der Ukraine, die Unterstützung geflüchteter Kulturschaffender aber auch die emotionale Komplexität im Umgang mit Musiker:innen aus der Ukraine und Russland in Berlin hätten sie schwer beeindruckt. Die Stimmung sei in ihre neuen, dort entstandenen Stücke eingeflossen.

Der Blick aus dem Berliner Fenster hat einen inneren Zusammenhang mit ihrem künstlerischen Schaffen. Lim sieht Natur immer in Verbindung zum Menschen. Sie lebt eng auf die Natur bezogen. Und ihre Musik thematisiert Ökologie, Klimaschutz und die Veränderung der Umwelt durch den Menschen im Anthropozän, dem vom Menschen bestimmten Erdenzeitalter.

In Australien in der Grossstadt Perth am Indischen Ozean 1966 geboren, wuchs Lim in Brunei auf der Insel Borneo auf, bevor sie für die Ausbildung wieder nach Australien zurückkehrte. Die frühe Kindheit im Tropenparadies und das Verhältnis von westlicher und indigener Kultur und Natur in Australien prägen ihr Sensorium für Natur und Kultur, aber auch für das Zusammenspiel verschiedener Kulturen. Seit 2017 Professorin am Sydney Conservatorium of Music, schrieb Lim nebst Solo-, Kammermusik und Ensemblewerken u.a. vier Opern, bspw. Tree of Codes (2016), ein Musiktheater über Herkunft und Erinnerung und Zeit. Daneben arbeitet sie auch immer wieder genreübergreifend und installativ, wie 2011 zusammen mit dem Licht-Künstler Carsten Nicolai in Escalier du chant, einer architektonischen Intervention mit Performance, uraufgeführt mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart in der Münchner Pinakothek.

In Berlin entstanden mehrere Werke, in denen sie ihre aufwühlenden Eindrücke verarbeitete. Bspw. das Klavier-Orchesterwerk World as Lover, world as self, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 2021.

 

Liza Lim, World as lover world as self for piano and orchestra, UA Donaueschingen 15.10. 2021, Orchestre philharmonique de Luxembourg, Dirigent Ilan Volkov, Tamara Stefanovich, Klavier.

 

World as lover, world as self ist geprägt vom Motiv der Trauer. Der Titel bezieht sich auf eine Publikation der Umweltaktivistin, Ökologin und Buddhistin Joanna Macy, deren Gedankengut Lim seit langem begleitet. Nach Macy könnten aus Trauer und einem tiefen Mitempfinden ein neuer Bezug zum Leben und umso grössere innige Freude entstehen.

 

Magische Seiltricks

 

Während ihres Berliner Jahres entwickelte Lim auch ihr neues 30minütiges Streichquartett String Creatures für das Jack Quartet. Auch String creatures befasst sich mit der Dualität von Trauer und Freude.

 

Workshop Jack Quartet, WIKO Berlin Januar 2022 ©Liza Lim: Hier setzt der Bratschist John Richards sein Instrument Seiltricks aus.

 

Das Quartett versteht Lim als lebendiges Ganzes, als hybriden mehrköpfigen Organismus. Die Streichersaiten haben für Lim etwas Magisches, sie seien als Material lebendig und beseelt. In einer Eingangssequenz mit Titel «Cats Craddle: 3 diagrams of griev» – Katzennest – drei Diagramme der Trauer befragt Lim die Streichersaiten als natürliches Material, das mittels Verknoten, Flechten oder Weben als Ursprung von Gewebe dienen könnte. An einem Workshop mit dem Quartett im Januar experimentierte sie mit magischen Seiltricks. Und Lim erwähnt im Gespräch als Inspiration auch Finger-Fadenspiele, wie sie Kinder miteinander spielen. Beides fand im übertragenen Sinn Eingang ins Stück, in ein sich immer wieder neu verflechtendes Klanggewebe.

String Creatures endet mit der Metapher des Baus eines Nests, des Inbegriffs von Geborgenheit: A nest is woven from the inside out – ein Nest wird von innen nach aussen gewoben. Der Vogel baut es rund um den eigenen Körper.

 

Nonverbale Kommunikation

 

Streichinstrumente spielen in Lim Oeuvre schon immer eine zentrale Rolle. Der Streicherklang steht für subtile nonverbale Kommunikation.  In ihrem grossen Ensemblewerk Extinction Events and Dawn Chorus (2018), unternimmt eine Geigerin in einer intimen Schlüsselszene den Versuch, einem Perkussionisten auf seinem Tamburin das Geigenspiel beizubringen. Die resultierenden Klänge haben eine eigene Schönheit, voll kratzender Harmonie. Die Kommunikation verläuft auf anderer Ebene als die Musik-sprachliche.

 


Liza Lim: Extinction, Events and Dawn Chorus, Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO),Forward 2021, Dir. Mariano Chaicchiarini, Luzern 2021, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Liza Lim versteht es, Gegensätze in Schönheit zu verweben und dennoch ihr gelebtes Anliegen geltend zu machen. Wir Menschen sind verantwortlich für die Natur und für unser Zusammenleben. Das Schicksal des Planeten liegt in unserer Hand. Damit ist sie wegweisend für eine jüngere Komponist:innengeneration, die sich über Musik hinaus um die Konsequenzen unseres Handelns und die Zukunft unserer Welt sorgt.
Gabrielle Weber
Lucerne Festival, Konzert Sonntag, 14.8., 14:30hString creatures, UA Liza Lim &Jack Quartett,
Liza LimJoanna Macy, Carsten Nicolai, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Wissenschaftskolleg zu Berlin

Lucerne Festival, 8.8.-11.9.2022, widmet diese Ausgabe unter dem Motto Diversity insbesondere dem im Klassikbetrieb nach wie vor vernächlässigten musikalischen Schaffen von people of colour.

String Creatures geht nach Luzern auf Tournee in New York, Berlin, Schwaz und Melbourne.

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 14.9.2022: Liza Lim – Verwebung von Natur und Kultur, Redaktion Gabrielle Weber

Musik unserer Zeit, 1.12.2021: Lucerne Festival Forward – neue Hörsituationen für neue Musik, Redaktion Gabrielle Weber


Neo-Profiles:
Liza Lim, Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)

Fritz Hauser – Perkussionist und verkappter «Synästhetiker»

Fritz Hauser, Perkussionist und Komponist erhielt einen der Schweizer Musikpreise 2022. Florence Baeriswyl traf ihn zum Gespräch.

 

Foto: Andreas Zimmermann

 

Florence Baeriswyl
Fritz Hauser, die Schweizer Musiklandschaft haben Sie seit langem mitgeprägt. Gab es schon Momente, in denen Sie das alles hinschmeissen wollten?

Ja, solche Momente gibt es immer wieder. Es hat viel weniger mit der Musik zu tun, als mit den Umständen. Es ist ein steiniger Weg, wenn man als selbständig erwerbender, freischaffender Künstler unterwegs ist. Manchmal sehnt man sich nach einer schön geregelten 5-Tage-Woche mit bezahlten Ferien. Aber: es ist ein grandioser Beruf und ich mache ihn wahnsinnig gerne.

Was hält sie in diesen Momenten an der Musik?

Ich bin ein verkappter «Synästhetiker». Ich interessiere mich enorm für andere Ausdrucksformen, sei es Malerei, Tanz, Film, Fotographie, oder Literatur. Ich sehe es ein bisschen wie der englische Regisseur Stanley Kubrick: Nichts ins inspirierender als Inspiration. Wenn ich wirklich nicht mehr weiterweiss, gehe ich ins Kino oder ins Museum oder lese ein Buch und dann fällt mir immer wieder etwas ein.

Perkussion ist Freiheit

 

In Ihrer Musik haben sie stehts den Austausch gesucht. Bei dem Projekt «Chortrommel», zum Beispiel, singen zwei Chöre zusammen mit Perkussion. Warum haben Sie sich für Chöre entschieden?

Das Schlagzeug ist ein sehr abstraktes Instrument. Es ist ein freies Feld, wo man mit Geräuschen und Klängen und Obertönen arbeiten kann, da die Trommeln und Becken keine Konnotation zu Melodie und Harmonie haben. Die Stimme kann sich gut anpassen und in dieses Feld eintauchen – dabei entstehen spannende Klangsymbiosen.

Perkussion ist also Freiheit?

Unbedingt. Ich kann auf Kleinstinstrumenten spielen, aber ich kann mir auch ein riesiges Instrumentarium zusammenstellen. Ich kann mich über freie Formen der Musik bis zu ganz klassischen Formen bewegen. Ich kann rhythmisch oder klanglich spielen, ich kann abstrakte Geräusche machen. Kurzum: ich kann aus allem schöpfen, was sich anbietet.

Die Klangflächen, von denen Sie sprechen, werden bei manchen Projekten sehr gross. Bei einer Kollektivperformance im Luzerner KKL, «Schraffur», haben 100 Teilnehmende mit Schlagzeugstöcken und Essstäbchen das Gebäude beschallt. Was gefällt Ihnen an solchen Grossformationen?

Ich liebe es, in grösseren Formationen zu arbeiten, denn der Klang wird immer abstrakter. Ich finde drei Schlagzeuge schon interessant, aber 50 Schlagzeuge sind spektakulär. Dazu kommt, dass ich gerne die Zusammenarbeit mit verschiedenen Arten von Ensembles suche. Ich fühle mich von verschiedenen Altersklassen und Kulturkreisen inspiriert.

 

“Für mich geht es primär um Reduktion.”

 

Sie sind aber oft auch fast ein Minimalist. Ist das nicht ein Gegensatz?

Ich habe Stücke geschrieben, die minimal sind, aber ich zähle mich nicht zu den Minimalisten. Für mich geht es primär um Reduktion. Es ist eine Art ‘Eindampfen.’ Das ist eher minimal maximal: Ich versuche aus kleinen Dingen das Grösste rauszuholen, und dadurch Klangflächen zu gestalten, die zeitlos sind.

 


Fritz Hauser, Schraffur für Gong und Orchester, Basel Sinfonietta, UA Lucerne Festival 2010

Der Raum als Partner der Musik

 

Ihr Soloprojekt «Spettro» nennen Sie «Eine Geisterverschwörung für Schlagzeug.» Was hat es damit auf sich?

Seit über 30 Jahren besitze ich ein Haus in Italien, welches in der Nachbarschaft «La casa delle masche», also «Das Geisterhaus» genannt wird. Glücklicherweise machen mir die Geister nichts, sie inspirieren mich eher. Zusammen mit der Regisseurin Barbara Frey haben wir für dieses Projekt die Energie des Hauses genommen, um eine Art Schlagzeug-Ritual entstehen zu lassen. Wir haben uns mit den Geistern verschwört, um die Art von Musik zu machen, welche die Geister wahrscheinlich in meiner Abwesenheit spielen.

 

“La casa delle masche” (“Das Geisterhaus”) Foto: Fritz Hauser

 

«Spettro» haben sie später auch im Konzertsaal von Zaragoza aufgenommen – der hat einen besonderen Klang. Was verbindet in Ihren Augen die Musik mit dem Raum?

Der Raum ist der Partner in der Musik. Vor vielen Jahren habe ich als Schlagzeuger in einer Rockband angefangen. Damals haben wir versucht, unsere Klangästhetik den Räumen aufzuzwingen. Als ich dann begonnen habe, solo zu spielen, wurde mir klar: ich kann den Raum nicht bezwingen, sondern der Raum spielt mit. Besonders gefällt es mir, wenn der Raum hallt. Ich habe in Kirchen und Kathedralen gespielt, sogar in Parkgaragen. Aber auch eine kleine Telefonkabine kann interessant sein.

 


Fritz Hauser, Spettro – Solo für Schlagzeug, Fritz Hauser Schlagzeug, Regie Barbara Frey, Licht Brigitte Dubach, Ausschnitt, UA Lucerne Festival 2018

 

Mit dabei in Zaragoza war der Architekt Boa Baumann. Mit ihm arbeiten und reisen sie schon lange zusammen – sie haben zum Beispiel zusammen Ihr Haus in Italien designt.

Mit Boa Baumann verbindet mich eine lange Freundschaft und eine Gemeinsamkeit in Ästhetik und verschiedensten Fragen der Kultur. Seit gut 30 Jahren arbeiten wir zusammen und versuchen, jenseits der professionellen Kompetenz die Inspiration wirken zu lassen. Das heisst, ich mische mich in seine Projekte, er mischt sich in meine. Ich lasse mich von seiner Idee von Raum und Zeit und Gestaltung inspirieren.

Zum Beispiel?

Vor einigen Jahren habe ich ein Soloprogramm angedacht, bei dem ich mit vielen Becken arbeiten wollte. Als Schlagzeuger stellt man normalerweise seinen Stuhl hin und arrangiert die Instrumente einfach im Kreis um sich herum. Boa hat das gar nicht gefallen. Er schlug vor, auf einem acht Meter langen Tisch eine Becken-Landschaft zu bauen. Das sah aus wie eine Skyline von einer amerikanischen Grossstadt. Ich konnte räumlich ganz anders denken und die Dynamik der Körperbewegung einbringen. Dadurch ist eine andere Musik entstanden.

 

Fritz Hausers Beckenlandschaft erdacht von Boa Baumann © Christian Lichtenberg

 

Nebst dem Raum habe Sie sich auch viel mit Licht beschäftigt. Brigitte Dubach, die Emmentaler Lichtgestalterin, begleitet oft ihre Projekte. Wie passen die Musik und ihr Licht zusammen?

Wenn Brigitte mit Lichtdesign meine Programme begleitet, dann ist sie wie eine Musikerin, die mitspielt. Sie hat ein unglaubliches Gefühl für Farben und Verläufe von einer Stimmung in die andere. Das passt sehr gut zu mir, denn ich habe eine metamorphische Art, Schlagzeug zu spielen: etwas entwickelt ins andere und aus dem anderen entwickelt sich wieder was Neues. Besonders bei improvisierten Ansätzen muss Brigitte die Musik natürlich mitfühlen und entsprechend mit ihrem Licht Einfluss nehmen. Das macht sie auf wunderbare Art und Weise.

Woran arbeiten Sie im Moment?

Jetzt habe ich gerade eine Aufführung gemacht mit einer Weiterentwicklung meines Projektes «Point Line Area». Das habe ich letztes Jahr an der Ruhrtriennale realisiert mit 53 Schlagzeuger, verdichtet auf «nur» noch 20. Dafür haben wir zwölf Sängerinnen dazu komponiert. Dann geht es weiter Richtung kleinere Konzerte. Ich spiele am ‘überschlag’, einem internationalen Festival für Schlagzeug in Hannover Ende des Sommers ein Duo-Konzert – zusammen mit Johannes Fischer, einem Kollegen aus Deutschland. Wir dürfen eine Kirche bespielen und uns auch Zeit lassen, um verschiedene Experimente zu machen. Dieses Jahr werde ich noch verschiedene grössere Projekte realisieren, ich bin aber auch schon am Planen fürs nächste Jahr. Wenn alles klappt, dann bin ich nach wie vor sehr beschäftigt – obwohl ich ja offiziell schon schwer im AHV-Alter herumstiefle.
Florence Baeriswyl

überschlag – internationales Schlagzeug Festival 17.-21.8.22, Hannover und Niedersachsen
19.8.22,  22h: Performance Anima Fritz Hauser und Johannes Fischer
20.8.22: Meisterkurs Improvisation mit Fritz Hauser

 

Boa Baumann, Brigitte Dubach, Barbara Frey, Ruhrtriennale, Johannes Fischer

Sendung SRF 2 Kultur:
Kultur Kompakt, 20.8.18: Inszeniertes Konzert von Fritz Hauser beim Lucerne Festival,  Moderation Irene Grüter

Neoprofil:
Fritz Hauser