Klangkunst und Musik von Martina Lussi

Die Luzernerin Martina Lussi hat Kunst studiert. Über das Hören kam sie dazu, selbst Klangkunst und Musik zu produzieren. Mit Mikrofonen und Audiorekorder bewegt sie sich durch Natur und Alltag und geht mit ihren Eindrücken zurück ins Studio. Dort verdichtet sie ihre Hörerlebnisse in Installationen, Performances und Studioalben, aber auch in Fieldrecordings und Soundwalks.

Friedemann Dupelius
Am Anfang unseres Zoom-Gesprächs gesteht Martina Lussi ein, dass sie sich etwas unsortiert fühlt. Sie arbeitet gerade viel in einer Kunst-Bibliothek, so fehle momentan die Zeit, die für sie so wichtig ist: Zum Hören, sich auf Klänge einzulassen. „Hören ist etwas sehr Langsames. Man kann nicht einfach in etwas hineinhören – man muss von vorne beginnen und sich darin absorbieren, sonst verliert man den Zusammenhang. Wer hat denn heute noch wirklich Zeit zu hören?“

Martina Lussi © Calypso Mahieu

Um sich auf unsere Unterhaltung einzustimmen, hat sie an diesem Morgen ihre Routine-Route am Vierwaldstätter See zu einem Soundwalk gemacht – zu einem Spaziergang also, bei dem man aktiv auf die Umgebung hört. Sie liest mir ihr Hör-Protokoll wie eine Einkaufsliste vor: „Rollkoffer, Gespräche, vorbeirennende Joggerin, meine Jacke, Atmen eines Hundes, Schiffsmasten, ein Mensch ahmt eine Ente nach…“ Wir merken beide, dass wir uns zwar die einzelnen Geräusche vorstellen können, dass solch einer Beschreibung aber eines abgeht: Die Räumlichkeit und Gleichzeitigkeit der Szenerie. „Meine Musik lebt davon, dass sich viele unterschiedliche Geräusche miteinander verbinden und ineinander fließen. Sie ist wie ein Stream, in dem Klänge plötzlich ganz nahe sind, um sich dann wieder in etwas aufzulösen.“

Frösche oder Holz?
Ende 2019 war Martina Lussi auf einer Residency im brasilianischen Regenwald und konnte dort in eine unbekannte Klangwelt eintauchen. „Manche Sounds waren beunruhigend, weil ich sie nicht kannte, vor allem nachts. Und es gab einen Frosch, der wie Holz klingt – das musste mir erst jemand erklären.“ Ihre Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk basiert auf einem Hörspaziergang in dem gleichnamigen Ort.

Hören als gemeinsame Erfahrung: Martina Lussi und ihre Soundwalk-Gruppe im Regenwald von Brasilien, © Karina Duarte

Schritte einer Gruppe von Menschen knirschen auf unebenem Untergrund und geben den Rhythmus vor, über dem die Stimmen verschiedener Vögel zirpen. Allmählich steigt eine Synthesizer-Klangfläche wie Nebelschwaden aus der Geräuschkulisse des Regenwaldes und geht über in sanften tropischen Regen, bis irgendwann die Frösche klappern. Es geht Martina Lussi nicht darum, die Umwelt wiederzugeben, wie sie scheinbar real klingt – sie fügt künstliche Klänge hinzu und erzeugt so neue Klangräume, wie traumhafte Erinnerungen. Auch den Wind, der manchmal in den Audiorekorder pustet, hat sie nicht herausgeschnitten. Manche Fieldrecording-Purist:innen würden das für eine schlechte Aufnahme halten. Martina Lussi nicht.


Die Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk erschien 2020 auf Vinyl beim Label Ōtium, zusammen mit einem Stück von Loïse Bulot.

Jacke oder Vögel?
Im Gegenteil: Immer wieder lässt sie in ihren Arbeiten ungewollte Nebengeräusche mit in die Kompositionen einfließen. In ihrem Stück The Listener werden diese sogar zum einzigen Klangmaterial. Es besteht ausschließlich aus den Geräuschen von Jacken. Die gerieten in Martina Lussis Fokus, als sie im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Vogelklängen Aufnahmen in der Natur machte: „Man stellt sich das so idyllisch vor, aber frühmorgens ist es oft so kalt, dass ich friere und mich ständig bewegen muss. Und in einer dicken Jacke eingepackt, klingt diese eben mit.“ Ihr fiel auf, dass diese Klänge oft selbst wie die Stimmen oder auch die Flügelschläge von Vögeln anmuteten. Sie nahm vier Jacken, improvisierte mit jeder für zehn Minuten und erstellte daraus eine Vierkanal-Installation und eine Komposition.


Das Stück The Listener ist Teil der Compilation Synthetic Bird Music und 2023 auf dem Label mappa als Kassette erschienen

Die 4-Kanal-Klanginstallation „The Listener“ wurde 2022 im Kunstraum sic! Elephanthouse in Luzern gezeigt, © Andri Stadler

Martina Lussi schärft ihre Ohren nicht bewusst mit Hörübungen, bevor sie sich ins Feld begibt: „Das passiert ganz beiläufig. Wenn ich in den Wald gehe, rieche ich die Öle der Bäume, ich sehe nicht weit, da komme ich automatisch in einen aufmerksamen Zustand, auf den ich mich gar nicht vorbereiten muss.“ So eindringlich, wie sie Jahre später noch vom brasilianischen Regenwald erzählt, wird klar: Hören geht über den Moment hinaus. Es erzeugt Erinnerungen, die lange nachwirken und von denen man auch in unruhigeren Zeiten zehren kann.
Friedemann Dupelius

Portrait Martina Lussi © Johanna Saxen

Martina LussiMartina Lussi auf BandcampSerrinha Do Alambari (Vinyl)Forschungsprojekt „Birdscapes“Kunstraum sic! Elephanthouse in LuzernCompilation: „Synthetic Bird Music“

Kommende Veranstaltungen:
18.05.2024 – Konzert in Tbilisi (Georgien), Left Bank
24.05.2024 – Moa Espa, Genf (Soundwalk)
18.06., 19:30 Uhr – Dampfzentrale Bern (UA Proximity mit dem Ensemble Proton, + Offene Probe am 17.06.)
23.06., 17 Uhr – Postremise Chur

neo-Profil: Martina Lussi

Entschleunigt fliesst der Atem – Pianistin Judith Wegmann

Die Bieler Pianistin Judith Wegmann geht der musikalischen Zeit auf den Grund. So tief, dass sie fast aufhört, zu existieren. Ob in Werken von Morton Feldman, in eigenen Improvisationen oder einer regen Ensemble-Tätigkeit: Für Judith Wegmann sollte man sich Zeit nehmen.

 

Portrait Judith Wegmann © Simone Haug

 

Friedemann Dupelius
„Ich habe früher nie etwas eingespielt, sondern mich immer ganz dem Live-Moment hingegeben“, erzählt die Musikerin, die im Kanton Zug geboren ist und in Biel lebt. „Das veränderte sich 2016, als ich über mehrere Wochen im Krankenhaus war und daher über Monate nicht Klavier spielen konnte. Die Musik als täglicher Lebensinhalt, als meine Sprache fehlte mir sehr.“ Als Musikerin, die sonst täglich die Beziehung zu ihrem Instrument pflegt, muss sich dieses halbe Jahr schier endlos angefühlt haben. „So entwickelte ich eine Strategie, um mich trotzdem mit Musik beschäftigen zu können und meine Gedanken in eine positive Richtung zu leiten und entwarf innerlich Konzepte für mein Album Le souffle du temps. Als ich nach Monaten endlich wieder in mein Atelier gehen konnte, habe ich mich gleich mehrere Wochen zurückgezogen, um das Album zu realisieren. Ohne viel Vorerfahrung habe ich selbst eingespielt und gemischt.“

 


In Ihrer Improvisation Reflexion IV aus dem Jahr 2019 spinnt Judith Wegmann Ihr Projekt Le souffle du temps als Eigenkomposition aus dem Moment weiter.

 

Bereits in den Jahren zuvor hatte sich Judith Wegmann intensiv mit der Zeit in der Musik beschäftigt. Seit über zehn Jahren ist das ein Schwerpunkt ihres Schaffens. Musik ist Zeitkunst, wir wissen das alle. Wegmanns chronopoetische Tiefenbohrung führt sie jedoch auf eine Weise zum Kern dieser einfachen Wahrheit – bis dorthin, wo Zeit aufhört, gemessene Zeit, strenge Taktung zu sein
„Ich habe begonnen, sehr lange Konzerte zu spielen – zwei Stunden im Schnitt. Mir ist es wichtig, einen Kosmos für das Publikum und für mich zu schaffen, in dem man für einen Moment entschleunigen und das Drumherum vergessen kann.“ Das Tempo im Zeitalter der sozialen Medien ist hoch. Konzerte können für Wegmann ein ruhiger Gegenpol dazu sein.

 

Der Atem der Zeit
Judith Wegmann ist ein Nachtmensch. Ab Nachmittag wird sie aktiv und verbringt ganze Abende und Nächte am Flügel spielend im Atelier. „Das ist für mich seelischer Balsam – Erholung und Entschleunigung. Das Studio liegt im 2. Untergeschoss, dort gibt es keinen Empfang, man kann mich nicht erreichen. Wenn ich spiele, denke ich nicht mehr.“

 

 

Portrait Judith Wegmann @ Algis Jakstas

 

Zeitdehnung und Entschleunigung sind das eine prägende Element im Schaffen der Bielerin – zwischenmenschliche Beziehungen das andere, nicht minder wichtige. Mit dem Projekt Réflexion ging Le souffle du temps in die zweite Runde. Sie bat Komponist:innen, die sie persönlich schätzt, auf die Musik zu reagieren. Da ist zum Beispiel Edu Haubensak, den Judith Wegmann hoch schätzt.

 


Edu Haubensak hat mit Manga eine Réflexion (2019) für Judith Wegmann geschrieben. Die Kollaboration der beiden wird 2024 weitergehen.

 

Und es wurde auch ein generationenübergreifendes Projekt. Der 86-jährige Daniel Andres ist nicht nur Wegmanns Nachbar in Biel, „sondern auch ein wunderbarer und inspiererender Komponist. Ich habe ein Bauchgefühl dafür, mit wem ich gut zusammenarbeiten kann. Das täuscht mich fast nie. Es braucht einfach eine gemeinsame Ebene im Grundverständnis vom Leben, so individuell auch alle Menschen sind.“

 


Auch Daniel Andres’ Zyklus: Souvenir d’un instant entstand als Reaktion auf Le souffle du temps von Judith Wegmann.

 

Morton Feldman konnte Judith Wegmann nie kennen lernen. Es ist also eine abstrakte Beziehung, die sich ausschliesslich aus der von Feldman hinterlassenen Musik speist. Auch hier zentral: Die Zeit, und wie man sie aushebeln kann. „Ich habe auch schon mit dem Taschenrechner versucht, die komplexe rhythmische Struktur von Feldmans Musik mathematisch zu analyiseren und verstehen zu lernen, sodass ich sie überhaupt verkörperlichen konnte. Letztendlich kann ich sie aber doch kaum erklären. Es gibt zahlreiche Wiederholungen in dieser Musik mit ihren immensen Dauern. Es ist unglaublich, wie man diese selbst während den Konzerten erlebt und welche körperlichen Veränderungen dabei entstehen.“

Intensiv hat sich Judith Wegmann auch damit beschäftigt hat, einen adäquaten Tasten-Anschlag für Feldmans Werke zu finden, die zwischen feinsten Piano- und Pianissimo-Abstufungen changieren. Obwohl das Klavierpedal stets gedrückt bleibt, braucht es präzise gesetzte Anschläge, um die einzelnen Töne klanglich zu formen.

 


Judith Wegmann hat fast alle Klavierwerke von Morton Feldman gespielt, auch Triadic Memories (1981). Für die Zukunft hat sie sich noch das Trio For Philip Guston (1984) für Flöte, Schlagzeug und Klavier vorgenommen.

 

Ich frage Judith Wegmann, ob sie im Publikum in den letzten krisenhaften Jahren ein verstärktes Interesse für kontemplative Musik feststellt – was zumindest mir so auffällt. „Es war schon immer ein eher kleines Publikum bei experimentelleren Programmen. Das liegt auch daran, dass ich seit Jahren fast alle meine Konzerte selbst veranstalte. Ich spiele vorwiegend in Kunsthäusern, da passen Feldmans Musik und experimentelle Musikprojekte generell meinem Empfinden nach hin. Das Publikum kann sich frei bewegen. Das nehmen die Leute gerne an und tun das immer auch mit einem Feingespür für die Musik.“

 


Canto Ostinato (1976) von Simeon ten Holt spielt Judith Wegmann mit dem Pianisten Simon Bucher (Probenaufnahme, 2023, Ausschnitt).

 

Grosse Publikumsresonanz fanden Wegmanns Konzerte mit Musik von Philip Glass, klassische Programme – oder auch Konzerte mit Canto Ostinato für Duo-Klavier von Simeon ten Holt. Das 1976 fertiggestellte Stück ist in der niederländischen Heimat des Komponisten eine Art Hit. „Ich bin darauf über die Beschäftigung mit den Etüden von Glass gekommen. Ich finde Canto Ostinato ein sehr schönes Stück, es hat mich in seiner melodischen Einfachheit sehr berührt. Ohnehin gehe ich an so viele unterschiedliche Konzerte – Punk, Garage Rock, Psychedelic, Klassik, ich kann überall etwas herausziehen. Canto Ostinato besteht aus über 100 Zellen, die man in sich so oft wiederholen kann, wie man möchte. Eine Aufführung könnte sechs Stunden gehen, gemeinsam mit meinem Duo-Partner Simon Bucher erreichen wir ungefähr zwei Stunden. Es ist eine sehr intime Spiel-Situation. Der Blickkontakt mit dem Duo-Partner entscheidet, wann das nächste Pattern beginnt. Das Stück erfordert hohe Konzentration beim Spielen und ist dennoch sehr ruhig zum Zuhören.“ Angesprochen auf Simon Bucher, mit dem sie ten Holt spielt, gerät Wegmann ins Schwärmen: „Er hat so einen schönen Klang! Die Zusammenarbeit mit ihm ist musikalisch und menschlich sehr bereichernd.“

 

Judith Wegmann & Simon Bucher © Judith Wegmann (Screenshot aus Video)

 

Auf demselben Ton gelandet
Nicht weniger warme Worte findet sie für ihre Kölner Kollaborationspartnerin, die Pianistin Marlies Debacker. Ein Veranstalter hielt es für eine gute Idee, die beiden unbekannterweise für eine Duo-Improvisation an zwei Flügel zu setzen.

 


Judith Wegmann und Marlies Debacker auf dem gemeinsamen Album things in between, aufgenommen 2021 in Biel.

 

Und die Idee war hervorragend: „Am Ende landeten wir beide auf demselben Ton. Es brauchte keine Worte, das kam erst hinterher. Marlies ist wie ich musikalisch vielseitig. Sie macht Klassik, Jazz, neue Musik. Sie hat ein gutes Gespür für Bögen. Für mich war es von Beginn an wie eine Symbiose. Als wir eine gemeinsame Aufnahme anhörten, konnte ich gar nicht immer sagen, wer gerade was gespielt hat.“
Friedemann Dupelius

 

Judith Wegmann & Marlies Debacker

 

Canto Ostinato (1976) von Simeon ten Holt, interpretiert von Judith Wegmann, in voller Länge.
Judith WegmannSimon BucherMarlies DebackerDaniel AndresPhilip GlassEdu HaubensakMorton FeldmanSimeon ten HoltHat Hut Records, Bruno Duplant, New3Art.

Kommende Veranstaltungen:
15.12.2023 – Simeon ten Holt: Canto Ostinato im Duo mit Simon Bucher, in der Sala Perriera – im Kulturzentrum Cantieri Culturali alla Zisa, Palermo (IT)
17.2.2024 Duo mit Marlies Debacker, Raum für Musik Zoglau (D)
28.2.2024 Zu Gast bei Ensemble 5 (4+1), WIM Zürich

Kommende Veröffentlichungen:
2024 erscheinen drei neue CDs von Judith Wegmann:
Kont.Takte mit dem Ensemble New3Art enthält Karlheinz Stockhausens Kontakte, ein Auftragswerk von Antoine Chessex (Geschichten der Gewalt) und einer Improvisation, Koproduktion SRF2Kultur.
Hinzu kommt eine Einspielung der Etudes von Philip Glass und die CD univers paralleles II mit dem Sound Designer und Komponisten Bruno Duplant. Alle erscheinen beim Label Hat Hut (ezz-thetics).

Neo-Profile:
Judith Wegmann, Daniel Andres, Edu HaubensakAntoine Chessex

Neue Energien: Klangkunst im Wallis

Die Biennale Son findet im Herbst 2023 zum ersten Mal statt. Mit Sion, Martigny und Sierre (und ein paar kleineren Spielorten etwas außerhalb) bespielt sie den französischsprachigen Teil des Wallis entlang der Rhône über sechs Wochen mit Klanginstallationen, Konzerten und Performances.

 

Friedemann Dupelius
Eisblau liegt auf 2.364 Metern Höhe der Lac des Dix. Seine Staumauer gilt mit 285 Metern als das höchste Bauwerk der Schweiz. Über Druckleitungen ist der Damm unter anderem mit dem Chandoline-Kraftwerk in Sion verbunden. Seit Juli 2013 fließt darin kein Wasser mehr hinab ins Rhône-Tal, die Rohre sind stillgelegt. Und doch knistert es weiter in dem modernistischen Bau, seiner Aura wegen. So stark, dass er ins Visier dreier Kuratoren geriet. Seit Mitte September ist das Kraftwerk nun die Zentrale der neuen Biennale Son. Hier erzeugen internationale Künstler:innen durch den Dialog ihrer Arbeiten mit der industriellen Architektur neue Energie. Und von hier aus versorgt die Biennale Son verschiedene Orte entlang der Rhône mit künstlerischem Strom.

 

(c) Olivier Lovey
Der Tessiner Architekt Daniele Buzzi entwarf 1934 das Kraftwerk “Chandoline”, das die Hauptausstellung der Biennale Son beherbergt.

 

Die Biennale Son präsentiert Kunstformen, die in der Romandie für gewöhnlich eher in Genf oder Lausanne stattfinden. Und doch gibt es auch hier eine Tradition und eine kleine Szene für experimentelle Musik. Seit den 90er-Jahren ist die Vereinigung Dolmen in der Region aktiv, daneben ist das etwas mehr am Pop orientierte Palp-Festival für Experimente bekannt.

 


Christian Marclay, Screenplay part 2, gespielt vom Ensemble Babel

 

Auch der klangaffine Bildende Künstler Christian Marclay kommt aus dem Wallis – genauso wie Luc Meier, Co-Kurator der Biennale Son, der sich darüber freut, dass er Marclay für die Erstausgabe des Festivals in der gemeinsamen Heimat gewinnen konnte. Der Exil-Schweizer ist mit zwei Arbeiten Teil der Hauptausstellung im Kraftwerk. Künstler:innen wie Christian Marclay sind Gründe dafür, warum die Biennale Son ins Leben gerufen wurde: „Seit langem befruchten sich Klang und Bildende Kunst gegenseitig“, sagt Luc Meier, „doch gerade in den letzten Jahren hat das nochmal deutlich zugenommen. Die Grenzen zwischen den Disziplinen werden durchlässiger. Das zeigt sich auch in Begriffen, die neuerdings in den Kunstdiskurs geschwappt sind: Man spricht etwa davon, sich auf andere, nicht-menschliche Lebensformen einzuschwingen oder mit der Umwelt zu resonieren.“

 

Die Basilique Valère auf dem südlichen Burghügel von Sion

 

Himmelblaue Rhône, spätgotische Orgel

Die Auseinandersetzung mit der Landschaft und ihres Wandels ist bei einem Kunstfestival in solch einer Umgebung unvermeidbar. In Sion ist die Rhône noch himmelblau, wirkt frisch und gesund, malerisch eingebettet in die kantigen Gebirgszüge am Horizont. Doch machen sich klimatische Veränderungen auch hier bemerkbar. Der Rhône-Gletscher ist seit vielen Jahren im Rückgang begriffen. So mikrofonierte die kanadische Klangkünstlerin Crys Cole den Grande Dixence-Staudamm und brachte den tönenden Geist des Wassers wieder in das ansonsten spukend leere Kraftwerk zurück. Und auf organisatorischer Ebene versucht die Biennale Son, ihren eigenen ökologischen Fußabdruck in den Alpen möglichst gering zu halten. Sie hält Flugzeugreisen minimal und achtet auf möglichst geringen Stromverbrauch und Materialverschleiß.

Neben Stauseen und Bergen mit Gipfelkreuzen prägen Kirchen das Landschaftsbild im Wallis. „Es ist ein traditionell katholischer Kanton und religiöser als andere Orte in der Romandie“, weiß Luc Meier. In einigen der Kapellen und Basiliken fand die Biennale Son ihre Spielorte. Meier vergleicht sie mit dem Kraftwerk in Sion: „Ohne esoterisch klingen zu wollen, aber auch in diesen Kirchen gibt es eine Art von Energie, die sich transformieren lässt. So wie wir das Kraftwerk in Schwingung versetzen können, können wir auch diese Kirchen neu resonieren lassen.“ In der Sioner Basilique de Valère findet sich eine der ältesten Orgeln der Welt, fast 600 Jahre alt. Wenn das queere Duo Judith Hamann und James Rushford dieses Instrument spielen darf, wird die Floskel von der Transformation dringlich und greifbar. „Wer durfte hier bislang eintreten? Wer durfte hier Musik machen?“, fragt Luc Meier. „Welches Echo werden solche Performances haben? In den Bergen um uns, aber auch in den sozialen Räumen, die wir dabei schaffen?“

 

Die Schwalbennestorgel der Basilique de Valère wurde 1435 gebaut

 

Begegnungen im Rhône-Tal

Diese Orte der Begegnung sind tatsächlich erst im Entstehen begriffen. Das Team der Biennale Son verlässt sich auf ein allgemein kunst- und musikinteressiertes Schweizer Publikum, das den Weg in die Alpen nicht scheut. Zugleich sieht Luc Meier aber auch das Potenzial, ein lokales Publikum neugierig zu machen. Außerdem habe das kuratorische Team darauf geachtet, dass die Live-Performances an Freitagen und Samstagen stattfinden. In Locations wie Jazzclubs und Theatern treten nahmafte Künstler:innen wie Saâdane Afif, Félicia Atkinson, Alvin Curran, David Toop oder Kassel Jaeger auf. Und wer sich eingehender mit der Geschichte klangbasierter Kunst beschäftigen möchte, kann die Ausstellung der Sammlung FRAC Franche-Comté aus dem französischen Besançon in der Médiathèque Martigny besuchen.

 


Das Eklekto Geneva Percussion Center spielt Choeur Mixte für 15 snare drums (2018) von Alexandre Babel. Beide sind zu Gast bei der Biennale Son.

 

Und dann ist da noch die Hochschule Édhéa (École de design et haute école d’art du Valais). Im beschaulichen Sierre kann man mittlerweile einen künstlerischen Bachelor explizit im Bereich Klang studieren. Studierende und Alumni der Édhéa sind aktiv an der Biennale Son beteiligt, hinter den Kulissen und als Ausführende: Claire Frachebourg hat quer durch den Keller des Kraftwerks eine Skulptur gezogen, die an ein Boot oder eine Mumie erinnert. Den Soundtrack zum Objekt hat Frachebourg während einer Künstlerinnen-Residenz auf einem Boot aufgenommen, das von Island nach Grönland fuhr. Noch mehr klingendes Wasser, noch mehr Power fürs Kraftwerk, das endlich wieder tun darf, wofür es einst gebaut wurde: Energie erzeugen und verteilen.
Friedemann Dupelius

Biennale Son, 16.9.-29.10., Wallis
Der Podcast der Biennale Son führt ins Programm ein
Podcast bei Spotify

École de design et haute école d’art du Valais (Édhéa)Klangkunst-Sammlung; FRAC Franche ComtéWalliser Musik-Initiative DolmenFestival PalpClaire Frachebourg

neo-Profile:
Alexandre BabelEklektoFrançois BonnetEnsemble Babel

Empathisches Spekulieren: Magda Drozd

Die Zürcher Klangkünstlerin und Musikerin Magda Drozd setzt sich in Beziehung zu den Klängen und Wesen ihrer Umwelt. Dabei arbeitet sie genauso erkenntnisgeleitet und reflektiert wie spekulativ und fantastisch. Im Frühjahr 2023 erschien ihr drittes Album „Viscera“. Derweil komponiert sie Musik für Theater und Hörspiel und tritt auch als Solo-Performin in experimentellen Soundkontexten zwischen den Szenen in Erscheinung.

Friedemann Dupelius
Welche Musik würde eine Aloe Vera hören? Wozu möchte der Gummibaum im Wohnzimmer tanzen? Wäre die Playlist des Kaktus auf dem Fenstersims gespickt mit Piek Time Hits? Darüber können wir nur spekulieren. Die Zürcherin Magda Drozd hat ein ganzes Album darüber geschrieben: „Songs for Plants“ erschien Ende 2019 auf dem Luzerner Label „Präsens Editionen“ und passte nur zu gut in die Zeit, in der gefühlt alle zu Heimgärtner:innen mutierten.

 

Für die Sound-Installation “Intra-Action / Traces” (2017) zapfte Magda Drozd 200 selbst gezüchtete Kakteen an und machte ihre Klänge hörbar.

 

Ausgangspunkt war ein Kunstprojekt, das für Magda Drozd zunächst darin bestand, 200 Kakteen zu züchten. Zwei Jahre später war eine Klanginstallation daraus gewachsen: „Intra-Action / Traces“. An der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) besuchte die Künstlerin das von Marcus Maeder initiierte „treelab“. Dort fand sie die technischen Behelfsmittel, um die Klänge unterschiedlichster Pflanzen hörbar zu machen. Eine feine Nadel nimmt die Bewegungen von Flüssigkeiten in den Kapillaren (quasi den Adern) der Pflanzen ab. Mehrere Verstärker und eine Software transponieren das Innere der Pflanze dann in den menschlichen Hörbereich. Je durstiger eine Pflanze ist, desto mehr Luftblasen bewegen sich in ihren Kapillaren und desto lauter sind ihre nun klickartigen Laute.

Klänge zwischen Kapillaren und Spiel

Magda Drozd interessierte sich nicht nur für die Bioakustik der Kakteen, sondern auch für ihre eigene Position als Mensch in Bezug auf diese so andersartigen Lebewesen. Dabei ist ihr klar, dass bereits der Schritt der Transponierung ein künstlicher Kniff ist. „Ich repräsentiere die Pflanzen nicht und versuche auch nicht, so gut wie möglich ihren Klang darzustellen. Es ist letztendlich ein Spiel mit dem Material.“

Magda Drozd · Weaving into shoresDie Klanginstallation „Weaving into shores“ kombiniert Aufnahmen vom Zürichsee mit Drones aus Synthesizern und von der Violine. Wie hören wir dem See zu? Was bedeutet er für uns?

Mit den fertigen Kaktus-Instrumenten trat Magda Drozd nun ins Spiel. Sie goss die Gewächse, hörte auf deren Reaktion und bezog auch die Klänge der Erde und Keramik, wenn sie diese berührte, mit ein. „Daraus entsteht erst mal ein Klangteppich. Ich arbeite dann viel mit Frequenzverschiebungen. Unterschiedliche Aufnahmen verändere ich so, dass man nur noch eine Frequenz hört. Dann lege ich Effekte darüber und langsam entsteht aus dem Material, das nur vermeintlich die Pflanze ist, Musik.“ Diese speist sich auch aus Rhythmen oder Melodien, die sich aus den Kapillar-Klängen erkennen lassen, und die Drozd mit Synthesizern oder ihrem Herzensinstrument – der Geige – weiterspinnt. Nicht ohne Grund heißt das resultierende Album dann auch „Songs for Plants“ und nicht „Songs by Plants“.


„Painkiller“ vom Album „Songs for Plants“

 

Magda Drozd wurde 1987 in Polen geboren, wuchs in München auf und zog 2011 nach Zürich, um Theater-Dramaturgie und später Bildende Kunst an der Zürcher Hochschule der Künste zu studieren. Von Theater und Performance fand sie den Weg zur Klangkunst und der experimentellen Musik. Die verschiedenen Kunstformen und ihre Formate durchdringen und vermischen sich in ihren Arbeiten. Von 2019 bis 2021 war sie „Research Fellow“ an der ZhdK und beschäftigte sich mit Klang und Hören als Mittel der Wissensproduktion. In diese Zeit fiel auch die Arbeit an ihrem zweiten Album „18 Floors“. Der Titel bezieht sich auf das Lochergut-Hochhaus in Zürich, in dem die Künstlerin damals wohnte. Sie horchte das Gebäude und seine 18 Stockwerke in allen (ihr zugänglichen) Nischen und Winkeln ab und hielt viele Hörmomente in Fieldrecordings fest. Daraus ergaben sich Fragen wie: Was heißt urbanes Zusammenleben auf engstem Raum? Inwiefern kann man ein Wohngebäude als lebendigen Organismus verstehen? Welches Wissen kann aus genauem Hinhören an einem Ort generiert werden?“


„Dreamy Monster“ vom Album „18 Floors“

 

Hören zwischen Erkenntnis und Spekulation

„Wissen, das sich über Sound vermittelt, ist ein anderes Wissen als das, was wir für gewöhnlich gelten lassen. Es ist fragil, fluide und ephemer. Und es führte mich bald zur Spekulation. Ich habe ja nicht die Gespräche in diesem Haus aufgenommen, sondern seine harten Materialien.“ So ist „18 Floors“ zugleich die Dokumentation eines minutiösen, erkenntnisgeleiteten Hörprozesses – und die in Musik gefasste Spekulation über all die Geschichten, Wesen und geheimen Abläufe, die ein Betongebäude in sich birgt. „Mir ging es nicht darum, jeden Sound einer bestimmten Ecke oder Etage in dem Haus zuzuordnen. Ich habe vieles vermischt. Das ist für mich diese Spekulation: Es entsteht etwas Neues, das unsere Fantasie anregt: Okay, auch das kann ein Haus sein, auch so kann es klingen. Dabei geht es auch darum, durch das Hören empathisch zu werden, durch die Musik auch einen emotionalen Zugang zu einem möglichen Wissen zu bekommen.“ Zunächst sollte „18 Floors“ die Gestalt einer konzeptuellen Performance annehmen. Dass daraus ein Musikalbum wurde hat Magda Drozd der Klangkünstlerin und -forscherin Salomé Voegelin zu verdanken, mit der sie in engem Austausch stand.

 

2022 beschäftigten sich Magda Drozd und Salomé Voegelin in einer Performance mit dem Zürcher Kräutergarten von Conrad Gessner aus dem 16. Jahrhundert und unserer heutigen vieldeutigen Beziehung zu Heilpflanzen.

 

Mit ihren Arbeiten bewegt sich Magda Drozd in verschiedenen Disziplinen und Formaten: Soundinstallation, Theaterperformance, Hörspielmusik, Komposition, Forschung. „Ich bewege mich zwischen den Szenen und fühle mich da auch wohl. Das ist auch manchmal anstrengend, aber je länger ich aktiv bin, desto mehr wissen die Leute, was ich mache.“

Die Leute, die sie schon sehr lange kennen – namentlich ihre deutschen Freund:innen – sagen, Magda spräche mittlerweile in Schweizer Sprachmelodie. Das will sie so nicht stehen lassen – und auch im Gespräch mit ihr erkennt das am Süddeutschen geschulte Autorenohr nichts dergleichen. Aber vielleicht ist auch etwas dran: Zwischen und über all die herausfordernden, forschenden, schwebenden und schürfenden Soundpassagen schieben sich immer wieder Melodien – das ist selten genug in experimenteller, an Klangkunst orientierter Musik. „Ich habe keine Angst vor ein bisschen Kitsch oder emotionalen Momenten. Für mich spiegelt sich darin das Leben wieder: Es gibt Ecken und Kanten, und es gibt die runden Momente, in denen man sich von einer Melodie treiben lassen kann. Wenn ich dabei die Geige benutze ist es immer eine feine Gratwanderung, nicht zu pathetisch zu werden. Generell glaube ich, dass Melodien auch in experimenteller Musik wieder mehr im Trend liegen.“


Magda Drozd: Clipped Wings vom Album Viscera

Am Unverblümtesten hört man sie in Magda Drozds neuestem Album „Viscera“. Auch hier eröffnet der Titel wieder spekulative Räume. Musik für Eingeweide? Der Klang des Körpers? Oder vielleicht diesmal: „Songs for Humans“? Es darf weiter spekuliert werden.
Friedemann Dupelius

Konzerte & Performances
20.+23.06.23 – Musik für Charlotte Mathiessen: Der Boden ist verhältnismässig hart – ein performativer Spaziergang oder ein Protestmarsch (ZHdK Zürich)

08.07.23 – Musik für die Performance „Warp“ von Nicola Genovese (Fondazione Teatro, Lugano)

Mit Katja Brunner als Paula Rot (Spoken Word trifft auf Sound Scape):
24.06.23 – Sofalesungen, Basel
09.07.23 – 
Hinterhalt-Festival, Uster 

Solo-Konzerte
19.08.23 – Les Digitales, Luzern
25.08.23 – Natures of Pop Festival, ZHdK Zürich
09.09.23 – Les Digitales, Biel

Magda Drozd
Songs for Plants (Präsens Editionen, 2019)
18 Floors (Präsens Editionen, 2021)
Viscera (Präsens Editionen, 2023)

neo-Profile:
Magda Drozd

Verzerrte Erinnerungen, konkrete Missionen

Soyuz21, fünfköpfiges Ensemble aus Zürich, experimentiert seit seiner Gründung 2011 an der Schnittstelle von Instrumentalklang mit Elektronik und spartenübergreifenden Konzertformaten. Das neue Projekt mit Stücken von Martin Jaggi und Bernhard Lang richtet sich gleichermassen an Musikfans und Cinéasten. Mit Mats Scheidegger, E-Gitarrist und Ensembleleiter, und Martin Jaggi sprach Friedemann Dupelius.

Friedemann Dupelius
Am 6. Juli 1976 starte die sowjetische Mission Sojus 21 ihre Reise zur Raumstation Saljut 5. Mit der Crew stiegen gleich mehrere Forschungsvorhaben an Bord: Guppys (wie würden sie sich im All verhalten?), diverse Pflanzen (können sie dort draußen keimen?) und Kristalle (warum auch nicht?). Außerdem sollte Sojus 21 die Erde mit Infrarot-Teleskop, Handspektrograf, Farb- sowie Schwarzweiß-Film aus der Distanz aufzeichnen – und zugleich die Sonne beobachten. Die Nachrichtenverbindung über Satelliten wurde genauso untersucht wie die selbstständige Navigation der Station. Und vielleicht könnte sie ja sogar von militärischem Nutzen sein? Nach nur 49 Tagen ging es zurück Richtung Erde, man munkelte von Heimweh seitens der Crew.

Die Hauptbesatzung von Sojus 21 auf einer sowjetischen Briefmarke (1976) – Public domain via Wikimedia Commons, Uploader: Aklyuch at wikipedia.ru

Auch wenn das Zürcher Ensemble Soyuz 21 weder mit Guppys, Pflanzen oder Kristallen operiert, noch Interesse an kriegerischen Kontexten hat, finden sich doch Parallelen zur Namenscousine: Beiden geht es um Autonomie und Kommunikation, um Beobachtung und Experimente. Den Stolz jedoch, die Ideen hinter der Namensgebung entschlüsselt zu haben, trübt Mats Scheidegger schnell: Sein 2011 gegründetes Ensemble habe mit dieser speziellen Mission nichts zu tun. Es gehe zunächst mal um den russischen Begriff „Sojus“, der Gefährte bedeutet. Der Raumfahrt-Bezug fungiere ganz allgemein als Symbol für die Neugier darauf, künstlerische Entdeckungen zu machen. Und die 21? „Die steht für das 21. Jahrhundert! Wie originell!“, lacht Mats Scheidegger selbstironisch.

 


Yulan Yu: In den Dünen (2022), uraufgeführt von Soyuz 21 am 26.11.2022 im Ackermannshof Basel


Die Raumsonde dokumentiert Vielfalt

Aber Recht hat er. Mit seinem künstlerischen Ansatz verortet sich Soyuz 21 fest in diesem Jahrhundert. Das fünfköpfige Ensemble – gefunden hat es sich „aus musikalischen Gründen, aus dem Spielen heraus“ – bringt regelmäßig neue Kompositionen zur Uraufführung. Enge Verbindungen pflegt es u.a. zu den österreichischen Komponisten Klaus Lang und Bernhard Lang, aber auch zur jungen Generation Schweizer Komponistinnen und Komponisten. Drei Jahre lang bestand eine Kooperation mit dem Institute for Computer Music and Sound Technology (ICST) an der Zürcher Hochschule der Künste, dessen Studierende Stücke für Soyuz entwickelten. Ästhetisch herrscht bei Soyuz 21 die Vielfalt, die auch eine fotografisch ausgestattete Raumsonde dokumentieren würde. Für Improvisation ist genauso Platz wie für Elektronik, den Plattenspieler als Instrument oder die Kinoleinwand als künstlerisches Element. „Bei den Tasteninstrumenten haben wir uns weg vom Klavier, hin zu elektronischen Klängen bewegt“, erzählt Mats Scheidegger. „Da hast du einfach viel mehr Möglichkeiten. Ein Klavier ist halt immer ein Klavier, auch wenn es immer noch tolle Stücke dafür gibt.“ Auch sein eigenes Instrument erweitert der Gitarrist mit allen Regeln und Reglern der Technologie.

 

Soyuz 21 beim Projekt “Spielhölle” im Flipperclub Regio Basel © Guillaume Musset

 

Neben Scheidegger gehören derzeit Philipp Meier (Tasten), Sascha Armbruster (Saxofon), Isaï Angst (Sound Design & Elektronik) und João Pacheco (Percussion) zu Soyuz 21, immer wieder stoßen auch Gastmusiker*innen hinzu, zum Beispiel Sound-Designer Nicolas Buzzi. Viele seiner Projekte setzt das Ensemble in seiner eigenen Konzertreihe um, die zumeist Halt in Basel und Zürich macht. „Wir machen uns viele Gedanken über neue Konzertformate“, sagt Mats Scheidegger. „Es gibt einen gewissen Publikumsverlust seit der Wiederöffnung der Kulturstätten. Manchmal hilft schon ein Konzerttitel oder ein Plakat, das die Leute anspringt – wie beim Konzert Schwimmkörper.“

 

Konzertplakat “Schwimmkörper” (Foto: Mats Scheidegger)

 

Das Reisen kompensiert Zeitvergeudung

Und manchmal lockt das Format selbst. Am 13. Mai soll das Publikum ins Kino strömen, egal ob Musikfan oder Cineastin. Im Zürcher Filmpodium bringt das Projekt „Constructed Memories“ zeitgenössische Musik und Film gleichberechtigt zusammen. Und da sind wir wieder zurück bei Sojus 21, der Sonde von 1976. Auch für „Constructed Memories“ haben sich zwei Gefährten zusammengetan. Auch sie haben die Welt beobachtet und mit der Kamera festgehalten, in Farbe und in Schwarzweiß. Und auch hier müssen die alten Aufnahmen aus der Distanz interpretiert werden – aus räumlicher, aber auch zeitlicher. 1999 reisten der Komponist Martin Jaggi und der Videokünstler Adrian Kelterborn durch Malawi. Damit wollten sie die Zeitvergeudung durch den Pflichtdienst beim Schweizer Militär kompensieren. 2004 folgte eine Reise durch Westafrika, genauer: Ghana, Togo und Benin. Während Kelterborn den zweiten Trip mit seiner Digitalkamera festhielt, speicherte Jaggi viele musikalische Erinnerungen: „Auf beiden Reisen sind wir an viele Konzerte gegangen. In Accra haben wir mit einem Orchester Musik gemacht, da wurde Händel gespielt.“ Auch das in Ghana entstandene Genre Highlife, ein Vorgänger des Afrobeat, spielt eine Rolle in Martin Jaggis Reisegedächtnis.

 

Martin Jaggi und Adrian Kelterborn produzierten „Constructed Memories“ bereits als Video, online erschienen auf der Webseite von Soyuz 21.

 

Aus diesem Mix aus technisch und neurologisch festgehaltenem Erinnerungen erarbeiteten Jaggi und Kelterborn die zwei Teile des audiovisuellen Stücks „Constructed Memories“. Rund 20 Jahre nach den beiden Reisen stellten die Schulfreunde fest, wie unterschiedlich und wie verzerrt ihre Erinnerungen an die gemeinsame Zeit waren. „Das war eine richtig archäologische Ausgrabung“, erinnert sich Jaggi. „Es ging uns aber weniger darum, spezifische Erinnerungen zu vertonen. Vielmehr rekonstruieren wir gewisse Daseinszustände, die wir mit den unterschiedlichen Orten verbinden.“

Dass ein Lockdown in die Produktionsphase fiel, verstärkte das Moment der Verfremdung und Re-Konstruktion der Gedächtnisschnipsel noch mehr. „Wir konnten nicht direkt zusammen arbeiten. Ich saß in Singapur fest, Adrian war in der Schweiz. Also habe ich zuerst die Musik komponiert und Adrian die Stimmungsmomente genau beschrieben. Er hat die Musik dann bebildert, ohne dass sie zuvor von Instrumenten gespielt werden konnte.“ Das Ergebnis ist ein dynamisches Mit- und In- und manchmal auch Gegeneinander von Musik und Film. Die Bilder sind körnig und pixelig, sie wabern und fließen. Die Töne zerren und schleifen, verschmelzen und überblenden mit der visuellen Ebene, um sich dann wieder von ihr zu lösen. Dabei floss sicher auch der Bewusstseinszustand der pandemischen Zeit mit ein. „Eine Reise nimmt in der Erinnerung ja einen viel größeren Platz ein als dieselbe Zeitspanne, wenn man sie zu Hause verbringt. Noch extremer ist das mit der Covid-Zeit. Wenn zwei Jahre lang jeder Tag dem andern gleicht, werden auch keine Erinnerungen gespeichert – oder nur eine“, lacht Martin Jaggi.

 


Teil 2 von „Constructed Memories“. Das Video-Material entstammt der Speicherkarte von Adrian Kelterborns Digitalkamera anno 2004.

 

Die beiden Videomusiken (oder Musikvideos) ergänzt ein Stück aus Bernhard Langs „DW“-Reihe (die Nummer 16), in der er seine popmusikalische Sozialisation musikalisch verarbeitet. Auch dabei geht es um Erinnerung und ihre verschobene Wahrnehmung im Heute. Musikalisch lassen sich diese Einflüsse wiederum in der Zeit verorten, in der Sojus 21 ins Weltall schwirrte – wir erinnern uns.
Friedemann Dupelius

Konzerte:
Martin Jaggi & Adrian Kelterborn (“Constructed Memories”) + Bernhard Lang (“DW 16”)
Sa, 13.5., 20:45: Konzertpodium im Filmpodium Zürich
So, 14.5., 20:00: Kulturmühle Horw (Luzern)


Soyuz 21Martin Jaggi, Adrian Kelterborn, Bernhard Lang, Klaus Lang, Isaï Angst, João Pacheco, Nicolas Buzzi

neo-Profile:
Soyuz 21, Martin Jaggi, Sarah Maria Sun, Mats Scheidegger, Philipp Meier, Julien Mégroz, Nicolas BuzziMusikpodium der Stadt Zürich, Forum Neue Musik Luzern

Sonic Matter: Auf den Klang kommt es an

Sonic Matter – Festival für experimentelle Musik findet dieses Jahr vom 1. bis zum 4. Dezember in Zürich zum zweiten Mal statt. Unter dem vieldeutigen Motto Rise weist das Festival über das Festival hinaus. Ein Schwerpunkt ist dabei das Musikschaffen in Subsahara-Afrika.

Friedemann Dupelius
„It matters what matters we use to think other matters with“, schreibt die Philosphin Donna Haraway. Sinngemäss übersetzt kommt es also darauf an, mit welchen Mitteln wir über etwas anderes nachdenken. Das Zürcher Festival Sonic Matter versteht Klang als so etwas, auf das es ankommt. Mit Klang und Musik können wir über Dinge nachdenken, die wiederum darüber hinausgehen. Sound kann ein Tor zur Welt sein, Zuhören eine Art der Reflexion und Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. In der zweiten Ausgabe des Festivals, das 2021 die Nachfolge der Zürcher Tage für Neue Musik angetreten hat, wird diese Perspektive deutlich.

Aufnahmen für “Play the Village” mit Manon Fantini, Léo Collin und Menschen aus Horgen bei Zürich

Mit Rise gibt nun das Mittelwort der Motto-Trias Turn – Rise – Leap den leitenden Gedankenimpuls: „Das kann im Sinne von Wachsen oder Entstehen begriffen werden – oder auch als etwas Widerständiges, Aufbegehrendes, als etwas, das Grenzen erweitern will“, erläutert Lisa Nolte. Auch sie ist Teil einer Trias. Neben der Kulturmacherin gehören die Komponistin Katharina Rosenberger und die Künstlerin und Kuratorin Julie Beauvais zu dem Kernteam, das Sonic Matter seit 2021 konzipiert. Zweierlei verdeutlicht der Untertitel „Plattform für Experimentelle Musik“: Sonic Matter denkt über die Grenzen eines Festivals hinaus. Es ist nicht nach vier dichten Veranstaltungstagen vorbei, sondern begreift sich als ein Prozess, der kontinuierlich andauert. Ausserdem signalisiert der Begriff des Experimentellen eine ästhetische Breite. Es gehe darum, „möglichst viel Spielraum für klangbasierte aktuelle Kunstformen zu haben“, so Lisa Nolte. Einerseits gibt es Formate mit zeitgenössischer Musik, wie sie sich in Europa etabliert hat – zum Beispiel im Konzert des Tonhalle-Orchesters mit Musik von Peter Ruzicka und George Enescu, oder wenn das Collegium Novum Zürich Iannis Xenakis’ Φλέγρα (Phlegra) neben einer Uraufführung von Laure M. Hiendl spielt. Doch sagt Lisa Nolte auch: „Oft geht es bei der Neuen Musik um eine ganz bestimmte Vorstellung von Qualität, die man aber nicht überall teilt. Andere Ansätze können sehr bereichernd sein.“


Iannis Xenakis – Φλέγρα (Phlegra) (1975), gespielt vom Ensemble Phoenix Basel

Hören, Denken und Träumen mit Archiven

Diese Ansätze können aus anderen Musik- und Kunstformen kommen, oder auch aus lange zu wenig beachteten Orten auf der Welt. Das Duo Listening at Pungwe aus Südafrika und Simbabwe etwa hat eine ganz eigene künstlerische Umgangsweise mit Klang. Memory Biwa und Robert Machiri sammeln Musik und Fieldrecordings aus ihren Heimatregionen. Dieses Material begreifen sie als klingendes Archiv, dessen Inhalte sie in Performances und Listening Sessions neu kontextualisieren. Der namensgebende Begriff „Pungwe“ erinnert an das Ritual einer Totenwache, während der die Anwesenden in einem besonders wachsamen Zustand sind – ein Zustand, der es auch ermöglicht, von einer besseren Zukunft zu träumen oder sich für die Revolte zu motivieren.

 

Eine Live-Session von Listening at Pungwe in Kapstadt 2017

Klang- und Musik-Archive sind so ein „Matter“ (Mittel), mit dem über andere „Matters“ (Dinge, Themen) nachgedacht werden kann. In gesammelten Tonaufnahmen stecken Informationen über Geschichte, soziale und politische Umstände und vieles mehr. Und: Sie bieten Möglichkeit zur Imagination, zum Träumen davon, wie die Welt auch sein könnte. In diesem Sinne haben die Schüler:innen im Projekt Once Upon A Sound mit Roman Bruderer, Peter Nussbaumer und Iva Sanjek eigene Klangarchive angelegt, die sie beim Festival in Listening Sessions und DJ-Sets präsentieren.

Auch die Menschen aller Altersgruppen, die mit den Künstler:innen Léo Collin und Manon Fantini arbeiteten, schärften ihre Ohren auf die Klänge ihrer Umgebungen. Daraus entstand die Installation Play The Village. In den gemeinsamen Listening Sessions mit dem lauschigen Titel Weiche Kissen – heisse Ohren steht ebenso das gemeinsame Hören im Fokus. Eine ganze Symphony Of Archives lässt der marokkanische Künstler Abdellah M. Hassak im Kunstraum Walcheturm erschallen. Sonic Matter ist also auch eine riesige Ansammlung von archivierten Klängen, die in verschiedenen Veranstaltungsformaten für die offenen Ohren des Publikums zugänglich gemacht werden.


Noémi Büchi spielt am 3.12. “live from the Listening Lounge” im Kunstraum Walcheturm

Ein weiterer Schwerpunkt von Sonic Matter 2022 ist die Region Subsahara-Afrika. Neben Pungwe sind insbesondere Künstler:innen des ugandischen Musikfestivals und Labels Nyege Nyege in Zürich dabei. So steht Labelgründer Rey Sapienz hinter den Decks bei der Party in der Gessnerallee, wenn klar wird, was Lisa Nolte schon weiss: „Hören ist etwas Aktives. Das zeigt sich auch, wenn man von Musik direkt in körperliche Bewegung versetzt wird.“ Auch Tanzen ist Sonic Matter – ein klangliches Matter („Angelegenheit“) und der Moment, in dem Klang selbst als Matter („Materie“) ganz körperlich wird. Von Träumen und Sehnsüchten nach der verlorenen afrikanischen Heimat erzählen Latefa Wiersch, Rhoda Davids Abel und Dandara Modesto in ihrer interdisziplinären Performance Neon Bush Girl Society. Dabei greifen sie Legenden der geflohenen Volksgruppen Nama und Damara aus dem südlichen Afrika auf.

Neon Bush Girl Society

Sonic Matter ist immer

Auch im Sonic Matter Open Lab ist Subsahara-Afrika 2022 schwerpunktmässssig vertreten. Mit diesem dauerhaften Format unterstreicht Sonic Matter, dass es an 365 Tagen im Jahr stattfindet. Beim Open Lab arbeiten Expert:innen aus Kunst, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam an dringenden Fragen ihrer jeweiligen Region auf der Welt. Die Einzelprojekte beschäftigen sich u.a. mit indigenen Völkern in Uganda und Mosambik, mit dem kulturellen und politischen Leben südsudanesischer Flüchtlinge in Kenia oder historischen Sounds in Johannesburg. Fortlaufend wird die Online-Plattform upgedatet. Und auch das Sonic Matter Radio hält die Klang- und Denkprozesse rund um die Uhr am Laufen. Sonic Matter, das sind also nicht nur vier spannende Tage voller Musik, Klang und Kunst in Zürich – es ist auch ein Dauerzustand des Hinhörens, Nachdenkens und Erzählens rund um den Globus. Ganz nach Donna Haraway, denn Erzählungen erschaffen die Welt: „It matters what stories make worlds, what worlds make stories“.
Friedemann Dupelius

Sonic Matter: 1.-4.12.2022 in Zürich
Sonic Matter RadioSonic Matter Open Lab

Partner-Festival 2022:
Nyege Nyege (Uganda)

SRF 2 Kultur:
Sonic Matter 2021 auf dem neoblog @neo.mx3
SRF-Bericht über Sonic Matter 2021

Donna Haraway, Roman BrudererLaure M. Hiendl, Latéfa Wiersch, Manon Fantini, Rey Sapienz, Listening at Pungwe

neo-Profile:
Sonic MatterKatharina RosenbergerIannis XenakisLéo CollinCollegium NovumTonhalle-Orchester ZürichOlga KokcharovaNoémi Büchi

 

Vom Loop zum Bordun: Drehmomente von Janiv Oron

Friedemann Dupelius
Es hat etwas Putziges an sich, wie Staubsaugroboter über den Boden tänzeln. Stets auf der Suche nach ungereinigten Winkeln im Raum kreiseln sie umher, drehen sich um ihren Mittelpunkt, ruckeln vor und zurück, nach links und rechts. Die Jagd nach dem letzten Staubkorn orchestrieren sie mit einem unnachgiebigen Summen. Vergangenen Sommer packte Janiv Oron kleine Lautsprecher auf zwei dieser modernen Haushaltshilfen. In der Istanbuler Kunstgalerie Öktem Aykut schrubbten sie sich zwischen den Besucher:innen auf dem Parkett vorbei und spielten einen mobilen Soundtrack für die Gemälde von Renée Levi an den Wänden, bestehend aus Fragmenten von Kompositionen Janiv Orons und dem Surren der kleinen Sauger.

 

Janiv Oron © Flavia Schaub

 

Es scheint, als hätte Karlheinz Stockhausens Rotortisch mit seinem drehenden Lautsprecher gut 60 Jahre später die Mobilität entdeckt. Oder aber die Party-Lastzüge, wie man sie von der Zürcher Streetparade kennt, hätten die Orientierung verloren. Janiv Oron wären wahrscheinlich beide Interpretationen recht. Der Basler Musiker und Soundkünstler bewegt nicht nur seine Klangquellen, sondern auch sich selbst zwischen verschiedenen musikalischen Fixpunkten und wirbelt dabei den Staub der Gewohnheiten durcheinander. Als Teil des DJ-Duos Goldfinger Brothers spielt er seit über zwei Jahrzehnten an Partys zum Tanz auf. Im Studium der Musik und Medienkunst an der Hochschule der Künste Bern kam er in Kontakt mit Klangkunst und zeitgenössischer Komposition. Seither erweitert Oron seine Klangsprache und denkt die Werkzeuge, mit denen er in der Clubkultur gross geworden war, auf seinen neuen Pfaden weiter. Den Plattenspieler und die Vinylscheibe verwendet er als Instrumente zur Komposition und Live-Performance. Lautsprechersysteme setzt er ein, um klanglich auf Räume zu reagieren und darin neue Klangräume zu gestalten. Damit ist er nicht nur zu Gast in Galerien, sondern hat in den vergangenen Jahren auch zahlreiche Kollaborationen mit Klangkörpern der zeitgenössischen Musik und mit Tanzcompagnien entwickelt.

 


Im Mai 2022 erschien Janiv Orons erstes Solo-Album „Easel“ beim Zürcher Label Light From Other Days. Die Stücke darauf spielte Janiv Oron mit dem analogen Synthesizer „Easel“ von Buchla ein.

 

 

Alles dreht sich

Das Motiv der Rotation ist in vielen Arbeiten von Janiv Oron augen- und ohrenfällig: „Der Mix, unendliche Loops, Umdrehungen des Geistes, Geschwindigkeit, Phasenverschiebung, allgemeine Formen der Wiederholung oder raumzeitliche Versetzung“, so beschreibt er seine Faszination für alles Drehende in der Musik. „Das sind Geräuschestrudel aus Zeit und Raum. Sie erzeugen eine dynamische oder kinetische Fülle.“ Rotierende Lautsprecher, performende Saugroboter und drehende Plattenteller kreisen durch die Kunst von Janiv Oron. Die ist bei aller kompositorischer Abstraktion stark vom Körper im Raum und von körperlichen Wahrnehmungen informiert: „Sound wandert auf die Haut und die Haut beginnt, für dich zu hören.“ Janiv Oron weiss aus dem Club, wie es sich anfühlt, von subkutanen Bässen im Zwerchfell gekitzelt zu werden.

 

Janiv Oron bei Nachtstrom 94 im Gare du Nord, Basel

 

Für sein Konzert mit der Basel Sinfonietta im Juni 2022, zum Abschluss deren Jubiläumssaison „40+1“, brachte er ein Soundsystem, das ein Freund von ihm gebaut hatte, mit in die Halle des Sportzentrum Pfaffenholz. Die zwei hohen Lautsprechertürme waren nötig, um den „Soundclash“ mit den 80 Musiker:innen des Orchesters aufnehmen zu können. Zugleich galt es, eine große Sporthalle adäquat zu beschallen. Die Sinfonietta spielte in diesem Konzert Flowing down too slow von Fausto Romitelli und Christophe Bertrands Mana. Aus diesen beiden Kompositionen sampelte Janiv Oron 64 kleine Ausschnitte, teils nur wenige Sekunden kurz, und liess sie durch verschiedene Computer-Algorithmen laufen. Das Ausgangsmaterial wurde dadurch gedehnt, verzerrt und aus seinem ursprünglichen Kontext entnommen. „Im Sampling isoliere ich Fetzen von einer Geschichte und setze sie in eine neue Erzählung ein“, erklärt er. In einem nächsten Schritt instrumentierte der Komponist Oliver Waespi 21 ausgewählte Remix-Fragmente von Janiv Oron wiederum für die Basel Sinfonietta. Oron spielte schließlich live an den Turntables mit dem Orchester. Die Schallplatten dienten hierbei, an eine Software angeschlossen, als Steuereinheit für die einzelnen Orchestersamples.
Der Titel dieser Re-Re-Komposition lautet Datendieb: „Ich arbeite in meiner Musik sehr oft mit bereits bestehendem Material. Beim Sampling ist man ein Zeitengel. Man stiehlt in der Vergangenheit, bearbeitet im Moment und denkt das Material in die Zukunft weiter.“

 

Janiv Oron mit der Basel Sinfonietta

 

Atmender Klangkern, Tanzender Tod

Ähnlich zwischen den Zeiten oszilliert auch der Loop – die (oft) auf Schallplatte gepresste Keimzelle elektronischer Tanzmusik, der sich Janiv Oron weiterhin verbunden fühlt. Im Lauf der Jahre entwickelte er dazu eine Faszination für den Bordun – in der elektronischen Musik meist als Drone bezeichnet. Im Drone kulminiert der Loop in einer Art ewiger Bewegung, die wie Stillstand anmutet, aber im Kern atmet und vibriert. Mit analogen oder digitalen elektronischen Instrumenten haucht Oron seinen Drones Leben ein und spielt sie unter anderem in Kollaborationen wie mit Christoph Dangel (Cello), Stefan Preyer (Kontrabass), Thomas Giger (Lichtkunst) und dem Kammerorchester Basel.

 


„Don Boscos Garden 1“ – mit Janiv Oron, Christoph Dangel, Stefan Preyer & Thomas Giger

 

Mit dem Kammerorchester hat Oron schon mehrfach genreübergreifende Projekte realisiert hat, etwa die drei Teile von Don Boscos Garden. Im neuesten, Ende Oktober 2022 realisiert, mischte er die vereinzelt im Don-Bosco-Gebäude spielenden Instrumentalist:innen des Kammerorchesters zu einem Remix von Mahlers 4. Sinfonie zusammen.


„Don Boscos Garden 2″ – mit dem Kammerorchester Basel, Giulia Semenzato & Anne-May Krüger

 

Im November 2022 steht eine weitere Kollaboration an. Für die Basler Tanzcompagnie MIR komponiert Janiv Oron gemeinsam mit dem Organisten Filip Hrubý eine Musik zwischen Ambient, Orgelklängen und Elektronik. Beide Orgeln der Basler Predigerkirche kommen dabei zum Einsatz. Das Stück Now here – no where. Ein Totentanz für das 21. Jahrhundert nähert sich dem abstrakten Phänomen des Todes und der eigenen Sterblichkeit an. Hierzu wurden auch acht Tanz-Laien aus Basel als „Expert:innen des Alltags“ in den Entwicklungsprozess einbezogen; eine von ihnen wird live auf der Bühne mittanzen. Auch wenn sich Janiv Oron bezüglich musikalischer Details noch bedeckt hält, kann man davon ausgehen, dass hier kein endgültiges Lied vom Tod gespielt wird. Denn: Alles dreht sich und kommt in veränderter Form wieder.
Friedemann Dupelius


Now here – no where. Ein Totentanz für das 21. Jahrhundert
9.-20.11., Predigerkirche Basel

Janiv Oron
MIR Compagnie
Christoph Dangel
Stefan Preyer
Thomas Giger

neo-Profile:
Basel Sinfonietta, Kammerorchester Basel, Oliver Waespi

Geteilte Aufmerksamkeit – Leo Hofmann und seine Hörräume

Friedemann Dupelius
„Mit welcher Maschine würdest du gerne mal essen gehen (Smartphones zählen nicht)?“ – Leo Hofmann überlegt und entscheidet sich für ein rollendes, selbstspielendes Klavier, auf dem er auch selbst mal spielen kann.
Die Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen, oder hipper formuliert: zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur:innen, sind derzeit ein beliebtes Thema in Kunst und Diskurs, nicht zuletzt ausgelöst durch die neueste Hype-Welle um Künstliche Intelligenz. In ihrem Musiktheater-Stück All watched over by machines of loving grace behandeln der Komponist Leo Hofmann und der Regisseur Benjamin van Bebber diese Relationen in intimen Bühnen-Situationen. 1967 schrieb Richard Brautigan in seinem gleichnamigen Gedicht von einer „cybernetic meadow / where mammals and computers / live together in mutually / programming harmony“, also einer „kybernetische(n) Wiese, auf der Säugetiere und Computer in programmierter Harmonie zusammenleben“.

 

Leo Hofmann im Kunsthaus Langenthal

 

Die Utopie, die Brautigan beschreibt, entspringt der Hippie-Ära. Die Gegenbewegungen der 1960er-Jahre sahen in der aufkommenden Computertechnologie ein revolutionäres, humanistisches Potenzial für eine bessere Welt. Sogar die Gründungen der ersten Firmen im Silicon Valley lassen sich darauf zurückführen. Lang ist’s her.

Nach einer coronabedingten Film-Premiere von All watched over… im Jahr 2021 feierte das Stück im Mai seine Premiere in physischer Ko-Präsenz im Roxy Birsfelden. Im Juni findet sich der gemischte Chor nochmals für zwei Aufführungen im Berliner Ballhaus Ost zusammen.

 


Film: All watched over by machines of loving grace

 

Menschliche und nichtmenschliche Klangkörper

Wie die Technologien des 21. Jahrhunderts unser Zusammenleben verändern, davon handelt das Musiktheater All watched over…. Dabei geht es insbesondere um Klang. Wie lässt sich inmitten der omnipräsenten Dauerbeschallung verantwortungsvoll handeln? Wo entsteht Raum für Intimität? Und was ist das mit den Maschinen und uns? Der „extrem gemischte Chor“, den Hofmann und van Bebber für ein anderes Projekt gegründet hatten, stellt den menschlichen Part der Akteur:innen auf der Bühne. Extrem gemischt heißt, dass hier Profis und sogenannte Laien mit unterschiedlichsten Hintergründen singen. Hinzu kommen nichtmenschliche Klangkörper, etwa Lautsprecher. Hier zeigt sich ein Spezifikum der Arbeit Hofmanns und van Bebbers. „Ich bin elektronischer Komponist und denke vom Hörspiel und vom Lautsprecher aus“, sagt Leo Hofmann. „Wenn man mit fertiger Musik arbeitet, schafft das eine neue Freiheit auf der Bühne. Es stellt sich die Frage nach einer Ko-Präsenz in der Inszenierung.“

Dafür haben Hofmann und van Bebber für sich den Begriff der „Ergänzungshandlung“ gefunden. Was machen befreite Körper, wenn die Musik aus dem Lautsprecher kommt und nicht erst performt werden muss? Die Performer:innen werden zu ko-präsenten Vermittler:innen der Musik und können durch kleine Handlungen und Gesten die Aufmerksamkeit auf bestimmte musikalische Details lenken. Einen anderen Begriff finden die Musiktheatermacher beim Prinzip des „Ritournelle“ von den Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Demnach eröffnet sich die Option, einen eigenen akustischen Handlungsraum zu schaffen, etwa indem der oder die Performer:in durch leises Summen oder Murmeln ein inneres Sicherheitgefühl etabliert, aus dem heraus der Chor in All watched over… improvisatorisch agieren kann. Leo Hofmann spricht gern von einem Hörraum, in den Performer:innen und Publikum gemeinsam eintreten und in dem dadurch eine „geteilte Aufmerksamkeit“ entstehe.

 


Leo Hofmann: Ritournelle

 

Gastfreundschaft im Musik-Haushalt

Einen solchen Hörraum richtet das Duo auch im Juli bei den Musikinstallationen in in Nürnberg ein. Das Festival findet erstmals statt und möchte den Raum als zentrales Erfahrungsmoment von Musik erforschen – in bewusster Abgrenzung zu Formen wie Klanginstallation, Musiktheater oder Konzert. Leo Hofmann interpretiert die Vorgabe so: „Darin liegt für mich ein Versprechen, dass durchgehend Musik von agierenden Körpern produziert wird, die aber instabil sind.“ Wobei, könnte nicht schon eine Bar mit Hintergrundbeschallung, mit dem richtigen Framing als Musikinstallation bezeichnet werden? Anyway, bei Hofmann und van Bebber erklingt die Musik live. Für die vier Festivaltage nisten sie sich in den kollektiven Räumlichkeiten der Nürnberger Band Borgo ein und haben verschiedene Musiker:innen zu Gast. „Wir möchten Gastfreundschaft auf verschiedenen Ebenen verhandeln. Es wird kein Werk, kein Totalraum, sondern wir leben, schlafen und essen für vier Tage in diesem Raum, machen ein Tagesprogramm und unsere Gast-Musiker:innen bringen mit, was sie schon haben“, erzählt Leo Hofmann. Die Composer-Performerin Francesca Fargion etwa komponiert Schlafsongs und arbeitet mit ästhetisierten Tagebüchern. Ein Besuch bei Hofmann/van Bebber soll wie ein Hausbesuch funktionieren. Im Gegensatz zu oft autark laufenden Klanginstallationen wird dieser musikalische Haushalt erst durch seine Bewohner:innen und Gäste klanglich aktiviert. Das Publikum ist selbstverständlich ebenso in diesen Raum geteilter Aufmerksamkeit eingeladen.

 


Leo Hofmann: Kapriole, erschienen 2022 bei Präsens Editionen

 

Intime Kapriolen

Eine andere Art inszenierter Hörräume verewigte Leo Hofmann im Frühjahr 2022 auf Vinyl-Platte. Zwar ist der Absolvent der Hochschule der Künste Bern in den letzten Jahren vor allem mit seinen Musiktheater-Produktionen in Erscheinung getreten, doch schon viel früher hatte er Hörspiele und Musik produziert. Kapriole ist dennoch sein erstes „richtiges“ Musik-Album und erscheint beim umtriebigen Luzerner Label Präsens Editionen. Verteilt auf acht Tracks zeigt Leo Hofmann seine Interpretation zeitgenössischer Soundpraktiken. In seinen Live-Stücken setzt er sich häufig mit haptischen Audiotechnologien aus dem Consumerbereich, also beispielsweise Bluetooth-Boxen, auseinander. Vor allem interessiert ihn deren ästhetische und soziale Bedeutung – welche Hör-, Schutz- und Privaträume eröffnet zeitgenössische Audiotechnologie?

 

„Eigentlich höre ich privat nur Renaissance-Musik und Shoegaze-Bands.“ (Foto © Robin Hinsch)

 

Die Musik auf Kapriole klingt intim und nah, auch durch den behutsamen Einsatz von Stimme, die mitunter so wirkt, als sänge oder spräche sie nur für die Hörer:in selbst. Hofmann erzählt, dass die größte Herausforderung für ihn war, Platz im Hörraum zu schaffen. „Ich höre oft, dass meine Musik sehr dicht ist und viel Aufmerksamkeit erfordert. Bei der Arbeit an dem Album habe ich immer wieder entdichtet, weggenommen und Klänge im Hintergrund gelassen. Aber man soll auch jederzeit hinhören und etwas entdecken können.“ Ob in geteilter Aufmerksamkeit vor der Musiktheaterbühne oder auf der inneren Bühne zwischen zwei Ohrstöpseln: In den Hörräumen von Leo Hofmann kann man sich aufgehoben fühlen.
Friedemann Dupelius

 

11.+12. Juni, Ballhaus Ost, Berlin: Leo Hofmann & Benjamin van Bebber: All watched over by machines of loving grace

Hofmann/van Bebber im Interview über All watched over…

7.-10. Juli: Musikinstallationen Nürnberg – Festival for Space Time Body Musics 

Leo HofmannBenjamin van BebberPräsens Editionen, Richard Brautigan, Gilles Deleuze, Félix Guattari

neo-Profil: Leo Hofmann

Poetischer Norden, Elektronische Nacht

Friedemann Dupelius
„Man muss schon eine Poetin sein, um im Norden zu leben“, sagt Cosima Weiter und lacht laut. Die Frankoschweizerin muss wissen, wovon sie spricht, hat sie doch mehrmals den hohen Norden Europas bereist – und sich dabei ziemlich wohl gefühlt. Kein Wunder, sie ist ja auch Poetin, Soundpoetin, um genau zu sein. „Ich will das aber nicht idealisieren“, räumt sie ein. Eine besondere Mentalität hat sie jedoch ausmachen können, als sie die nördlichen Regionen Finnlands und Norwegens bereiste, um den szenischen Kaija Saariaho-Abend Nord mit dem Ensemble Contrechamps vorzubereiten. Gemeinsam mit dem Video-Künstler Alexandre Simon fing Cosima Weiter nicht nur Bilder und Klänge, sondern auch Eindrücke von den Menschen ein, die dort leben, wo Nord spielen wird. „Wenn du in der Großstadt lebst und jemanden Neues triffst, den du nicht magst, gehst du einfach weiter. Dort aber, wo so wenige Menschen leben, strengst du dich an, die andere Person zu verstehen. Weit weg von allem zu sein heißt, offen zu sein“, erzählt Weiter.

 

Vier Stücke von Kaija Saariaho sind Teil der Inszenierung “Nord” von Cosima Weiter & Alexandre Simon © Andrew Campbell

 

In Nord bricht eine Frau in Finnland auf, um eben dort hin zu wandern, wo man weit weg von allem ist: in den Norden. Während dieses durch und durch romantischen Unterfangens begegnet sie unterschiedlichen Menschen, die verschieden auf sie reagieren. Die einen lässt sie neidisch, andere voller Bewunderung, und einen sogar mit Liebes-kummer zurück. „Ich wollte die Geschichte eigentlich feministisch erzählen“, sagt Cosima Weiter, „und dass es als Frau nicht einfach ist, alleine ins Nirgendwo zu wandern. Aber als ich im Norden war, musste ich das verwerfen – dort sind alle gleich. Das kennen wir hier in Mitteleuropa so nicht. Es kümmert keinen, ob du eine Frau bist, du kannst tun und lassen, was du willst.“

 

Zeit, Raum, Klang

Eine Frau, die seit Jahrzehnten tut und komponiert, was sie möchte ist die Finnin Kaija Saariaho. Ihre Musik steht im Zentrum der szenischen Erzählung, die von drei Schauspieler:innen vor einer großen Film-Leinwand verkörpert wird. „Es war uns sehr wichtig, dass Saariahos Musik in dem Stück respektiert und nicht gekürzt wird, dass sie einen großen Raum erhält.“ Mit Nocturne (1994) in der Fassung für Solo-Viola, Aure (2011) für Cello und Viola, Petals (1988) für Cello und Elektronik sowie Fleurs de neige (1998) in der Fassung für Streichquartett bilden vier Saariaho-Kompositionen die musikalische Basis für die Erzählung. (So schwer deren Reminiszenz an das Winterreisen-Topos zu ignorieren ist: Ironischerweise gibt Cosima Weiter zu, erst mit dem Interview für neo.mx3 daran zu denken.) Um die langsame, behutsame Musik herum tut sich eine Klanglandschaft auf, die Weiter und Simon gemeinsam mit Lau Nau und Bertrand Siffert aus eigenen Aufnahmen und Einsprengseln anderer Musik gestaltet haben. „Es gibt drei Dinge, die mich in der Musik und der Poesie interessieren: Zeit, Raum und Klang“, sagt Cosima Weiter, „und in Saariahos Musik finde ich das alles.“ In Nord leiht die Soundpoetin der Protagonistin ihre Stimme, entkörperlicht wiedergegeben über Lautsprecher.
Man muss schon eine Poetin sein, um vom Norden zu erzählen.

 


Kaija Saariaho, Graal Théâtre, Contrechamps, Eigenproduktion SRG/SSR 2009

 

Nuit de l’électroacoustique

Eine ganz andere Erzählung spinnt Contrechamps am 19.3., wenn das Ensemble zu seiner ersten Nuit de l’électroacoustique lädt. Fast wäre sie ausgefallen: Aufgrund von Lieferengpässen konnte die Renovierung der postindustriellen Räumlichkeiten, die Contrechamps künftig als Arbeits- und Begegnungsort beziehen wird, nicht rechtzeitig abgeschlossen werden. Eigentlich hätte das Les 6 Toits auf dem Genfer ZIC-Gelände mit der Nuit eingeweiht werden sollen. Dankbarerweise fand man kurzfristig Exil im Pavillon ADC, einem Zentrum für zeitgenössischen Tanz in Genf. Von Beginn an in die Kuration und Organisation mit eingebunden war auch der Genfer Subkultur-Club Cave 12, der gemeinsam mit Contrechamps die Nuit de l’électroacoustique präsentiert. Dass nun auch noch der Pavillon ADC mit von der Partie ist, sollte einer gesunden Durchmischung des Publikums nur zuträglich sein.

 


Heinz Holliger, Cardiophonie, Contrechamps, Oboe: Béatrice Laplante, Eigenproduktion SRG/SSR 2018

 

„Teile unseres Stammpublikums werden sicher mit Heinz Holliger vertrauter sein“, vermutet Serge Vuille, der künstlerische Leiter von Contrechamps. Holliger ist mit Cardiophonie für Oboe und Elektronik vertreten. „Andere Leute, die aus der elektronischen Musikszene kommen, können wir bspw. mit Phill Niblock, Jessica Ekomane oder Beatriz Ferreyra locken.“ Bereits mit den zwei letztgenannten Namen spannt sich ein großer Bogen: Hier die junge Künstlerin, die seit wenigen Jahren mit scharfsinnigen Performances auf sich aufmerksam macht, etwa neulich beim Festival MaerzMusik Berlin – da die 84-jährige Pionierin, die schon in den 1960ern mit Pierre Schaeffer gearbeitet hat. „Wir möchten Verbindungen herstellen“, sagt Vuille, „etwa zwischen rein elektronischer Musik und akustischen Instrumenten in Verbindung mit Elektronik, oder zwischen neuen und alten Tools – wer weiß, vielleicht bringt Beatriz Ferreyra alte Bandmaschinen mit?“

 

Jessica Ekomane spielt bei der Nuit de l’électroacoustique © Camille Blake

 

Lockerheit und Fokus

Für das Kurator:innen-Kollektiv von Contrechamps und Cave 12 war eine Mischung nicht nur aus alt und jung, sondern auch aus internationalen Headlinern und lokalen Akteur:innen der freien Genfer Szene wichtig. Letztere ist mit Performances von Salômé Guillemin und d’incise vertreten. Hinzu kommen drei neue Auftragsstücke für kleine Contrechamps-Besetzungen plus Live-Elektronik – eine Reminiszenz an die IRCAM-Schule, wie Serge Vuille findet.

 


d’incise, Le désir certain, 2019 (Insub.records & Moving Furniture Records)

 

Die Nuit de l’électroacoustique soll aus der Lockerheit heraus zu einem fokussierten Hören verlocken. Das Publikum kann umherwandern. „Wir möchten mit der Veranstaltung zeigen, dass man elektronische Musik auch auf eine konzentrierte Weise hören kann – ob man dabei sitzt oder sich bewegt.“ Und wer möchte, kann sich eine Auszeit vom fünfstündigen Programm an der Bar nehmen. Oder die Virtual Reality-Installation von Raphaël Raccuia und Nicolas Carrel begehen: sie lädt zum Entdecken der Zukunft, denn von der hat elektronische Musik seit ihren Anfängen erzählt.
Friedemann Dupelius

Contrechamps im Frühjahr 2022:
Nord: 7.-20.2., Le Grütli, Genf
Nuit de l’électroacoustique: 19.3., 19-24 Uhr, Pavillon ADC, Genf

ContrechampsCosima Weiter & Alexandre SimonKaija SaariahoBeatriz FerreyraJessica EkomanePhill NiblockLe GrütliPavillon ADCCave 12

Radio-Features SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 9.10.2019: Johannes Knapp und Serge Vuille – zwei junge Querdenker am Ruder, Redaktion Theresa Beyer / Moritz Weber
neoblog, 19.6.19: Ensemble Contrechamps Genève, expérimentation et héritage, Interview mit Serge Vuille von Gabrielle Weber

neo-Profile:
Contrechamps, Heinz Holliger, d’incise, Serge Vuille