..Inspiriert vom Fussball.. – Klanglieferservice Gare du Nord Basel

Das Team des Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel, dachte sich ein spezielles Programm für die Zeit des Zuhause Bleibens aus: der Klanglieferservice.

Das Motto: Reisen in der Phantasie sind gerade in diesen Tagen nicht der schlechteste Weg, um beweglich zu bleiben und die Seele zu wärmen.

Gare du Nord: Klanglieferservice ©Alexa Früh

Wie alle Veranstaltungsorte ist auch der Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel seit Mitte März stillgelegt. Als einer der wichtigsten Musikbetriebe der zeitgenössischen Musik in der deutschen Schweiz bietet der Gare du Nord ein einzigartiges Ganzjahresprogramm. Désirée Meiser, künstlerische Leiterin, erzählt im Gespräch mit Gabrielle Weber wie der Gare du Nord die aktuelle Corona-Ausnahmesituation überbrückt. 

Désirée Meiser, die Homepage des Gare du Nord empfängt uns mit den Worten: “Wir arbeiten zu Hause”: Wie sieht ihr Tag gerade aus?

Wir staunen, dass diese Tage sehr gefüllt sind. Wir kümmern uns natürlich um die Absagen und Verschiebungen, aber auch die Planung muss weitergehen. Wir haben dafür verschiedene Chatrooms. Qualitativ funktioniert es gut. Aber quantitativ ist es manchmal anstrengend.

Sie steckten mitten in zwei grossen Saisonschwerpunkten, ‘Later Born’ und ‘Musiktheaterformen’. Nun sind alle Veranstaltungen vorerst abgesagt: Wie sieht die nahe Zukunft aus?

Im schlimmsten Fall können wir diese Spielzeit nichts mehr anbieten – sicher ist dies aber noch nicht. Am 8.Mai wäre im Rahmen von ‘Later born’ bspw. ein grosses Kooperationsprojekt angesetzt: der Stummfilm: “Die Stadt ohne Juden” (1924, Karl Breslauer) mit einer Neukomposition von Olga Neuwirth (UA WienModern, 2018), gespielt vom Sinfonieorchester Basel. Das ist ein hoch politisches Projekt und wäre uns sehr wichtig gewesen. Aber wir planen inzwischen gemeinsam mit dem Sinfonieorchester, eine Verschiebung.

Olga Neuwirth, Die Stadt ohne Juden, UA Festival WienModern, Wiener Konzerthaus 7.11.2018

Was bedeutet die aktuelle Situation für Sie, für das Team, für die an den Projekten Beteiligten?

Es ist eine große Herausforderung. Für Teile des Teams haben wir nun Kurzarbeit beantragt. Im Moment können wir die Situation noch halbwegs stemmen, aber wie es langfristig aussieht, ist offen. Wir versuchen, so solidarisch wie möglich damit umzugehen, auch in Bezug auf die Musiker und die Ensembles, die sich in einer schwierigen Lage befinden.

Der Gare du Nord rief zu Solidarität auf mit der Aktion #ichwillkeingeldzurück / #solidaritätmitfreienkünstlerinnen: das ist eine tolle und wichtige Initiative – wie entstand sie?

Die Idee haben wir von bestehenden Aktionen übernommen und finden sie wichtig und sinnvoll. Wir sind mit Ensembles im Gespräch, um gewisse Konzerte vielleicht zu verschieben, aber Vieles ist noch offen. Insbesondere von Seiten des Publikums erfahren wir großes Verständnis und große Anteilnahme für alle Kulturschaffenden.

Germán Toro-Peréz / Reise nach Comala, Hörspielfassung Juan Rulfo, GdN / IGNM Basel

“Es ist jetzt von allen eine große Flexibilität -auch im Kopf- gefordert..”

Für Ihr Publikum haben Sie ein Programm entworfen, das in die Bresche springt: den Klanglieferservice: Wie kam es dazu?

Als der Ruf nach Streamingangeboten laut wurde, kam die Idee auf, dieser Schnelllebigkeit, und dem permanent Neues bieten zu wollen, etwas entgegenzusetzen. Wir wollten Zeitfenster öffnen, um in ausgewählten Archivaufnahmen zu schmökern. Es gibt so wundervolle Sendungen, Gespräche und Konzertmitschnitte, gerade von SRF 2 Kultur.

Neue Stücke aufzuführen ist wichtig und toll. Aber viel gute bestehende Musik wird zu selten wieder in die Programme aufgenommen. Dass wir nun alle zu Hause bleiben müssen, bietet eine schöne Gelegenheit, um sich Werken zuzuwenden, die in Vergessenheit geraten sind.

Und wir waren auch inspiriert vom Fußball: weil die Spiele nicht mehr stattfinden können, begannen die Fußballfans sich gemeinsam legendäre Spiele von früher anzuschauen.. (lacht)

Was ist das Besondere am Klanglieferservice – Weshalb sollte man ihn anhören?

Wir haben Fachfrauen und Fachmänner aus der Musikszene gebeten, uns ihre persönlichen Highlights zukommen zu lassen. Da kommen nun laufend schöne Fundstücke zusammen, die immer wieder überraschen und auch für uns eine Freude sind anzuhören.

aus: Klanglieferservice GdN, Tipp: Anja Wernicke, 9.4.20

Die Begriffe ‘Physical distancing’ oder ‘social distancing’ sind omnipräsent: Spüren Sie soziale Nähe trotz der physischen Distanz – mit dem Publikum, mit dem Team..? Der Klanglieferservie steht ja auch symbolisch für das Verbindende der Musik…

Das Publikum wollen wir in der Pause nicht mit einer Mailflut überhäufen. Der Klanglieferservice soll eine Art virtuelle Verbindung darstellen, indem wir uns gemeinsam in einen virtuellen Raum begeben und uns zusammen etwas anhören. Das gibt einen gewissen Trost. Aber gemeinsam etwas in einem realen Raum zu erleben und Klang live zu hören, ist etwas Einzigartiges. Das kann nicht ersetzt werden.

Und gerade jetzt ist unser Team unglaublich kostbar. Auch über die zum Teil großen geografischen Distanzen sind wir alle hoch motiviert und haben einen starken Zusammenhalt.

Der Ausnahmezustand – eine Art ,Wachmacher’

Bietet die Corona-Zeit auch Chancen oder Potenziale?

Ein Phänomen dieses seltsamen Ausnahmezustands: er ist auch eine Art ,Wachmacher’ –  wir schätzen mit einem neuen Bewusstsein was wir hatten und haben…
Interview: Gabrielle Weber

Der Klanglieferservice startete am 30. März und stellt täglich ein persönliches Highlight auf die Homepage des GdN. Die ausgewählten Fundstücke stammen u.a. von Mark Sattler, Dramaturg Lucerne Festival, Bernhard Günther, künstlerischer Leiter der Festivals WienModern und Zeiträume Basel, Anja Wernicke, Geschäftsführung und zentrale Produktionsleitung ZeitRäume Basel, Uli Fussenegger, Leiter Neue Musik FHNW oder Désirée Meiser, künstlerische Leiterin GdN, sowie von Musikredakteurinnen und -redakteuren von SRF 2 Kultur.

Klanglieferservice / GdN

Vorgestellte Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit: Heinz Holliger und die Literatur
Klassiker der Moderne: Concorde Sonata von Charles Ives
Neue Musik im Konzert: Wassermusik, darin UA Katharina Rosenberger: Rein
neo.mx3: Antoine Chessex, écho/cide

Neo-profiles:
Gare du Nord, Antoine Chessex, Eklekto Geneva Percussion Center, Lucerne Festival, Lucerne Festival Academy, Lucerne Festival Alumni, Germán Toro-Peréz, Katharina Rosenberger

„etwas erschaffen, was Menschen bewegt“

Noch bis zum 1. Mai läuft die Eingabefrist für Impuls neue Musik – Förderrunde 2020.

Gesucht werden Musikprojekte, die zum Austausch zwischen dem deutschsprachigen und dem frankophonen Sprach- und Kulturraum in Deutschland, Frankreich und der Schweiz beitragen.

Brigitta Muntendorf, Room © Brigitta Muntendorf

Impuls neue Musik, so heisst ein länderübergreifendes Fördergefäss für zeitgenössische Musik. Seit Jahren setzt sich der Projektfonds für die Vernetzung der Musikszenen aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz ein. Ermöglicht werden ‘Ideenwerkstätten’, die einen grenzüberschreitenden Kulturaustausch konkretisieren. 2020 sind zwei neue Jurymitglieder mit dabei: die deutsche Komponistin Brigitta Muntendorf und die französische Journalistin Anne Montaron.

Mit Brigitta Muntendorf unterhielt sich mit Gabrielle Weber über Impuls neue Musik, über die spezielle heutige Situation, über digitale Vernetzung und das langfristige Potenzial von internationalem Zusammenarbeiten.

Brigitta Muntendorf, Sie reisen viel, sind normalerweise laufend mit verschiedenen Teams und Partnern an unterschiedlichen Orten tätig: wie sieht ihre aktuelle Situation aus?

Ich arbeite momentan zu Hause – wie alle anderen Musikerinnen und Komponistinnen- und alles Geplante ist erst einmal abgesagt. Das ändern zu wollen, reisen zu wollen oder Veranstaltungen nachzutrauern, wäre unsinnig. Aber es macht Sinn, den Künstlerinnen und Künstlern zu vertrauen. Darauf zu vertrauen, dass wir kreative Menschen sind, die sich Dinge einfallen lassen können.

„Musik kann sehr viel sein und sehr viel bedeuten.“

Was möchten Sie selbst konkret in Impuls neue Musik einbringen?

Ich bin neugierig auf die Fragen, mit denen sich andere Künstlerinnen und Künstler beschäftigen, auf die Themen, die Ensembles beschäftigt, auf die Verbindungen, die gesucht werden und auf die Motivationen, dies zu tun. Mit diesem Ansatz möchte ich mir die Projekte anschauen. Künstlerisch vertrete ich die Position, dass Neue Musik ein sehr weites Feld sein kann. Und das möchte ich zulassen.

Was ist das Besondere am Impuls-Objektkredit?

Die internationale Kooperation steht im Zentrum. Und Internationalität bedeutet immer auch die Herausforderung, in einem größeren Rahmen zu denken.


Joint adventure, Ensemble C Barré und Neue Vokalsolisten, Eclat 2020

..und an der Kombination genau dieser drei Länder – Deutschland, Frankreich und der Schweiz?

Die drei Länder liegen geografisch dicht beieinander. Jedes Land hat aber gewisse Eigenarten: die Neue Musik in Frankreich bspw. basiert auch kompositorisch auf einem völlig anderen Hintergrund als diejenige in Deutschland und der Schweiz. Gleichzeitig verfolgen alle drei Länder im heutigen Praktizieren von Neuer Musik ähnliche Formate, Festivals und Strukturen. Man kommt aus unterschiedlicher kultureller Sozialisierung und findet sich in einem gemeinsamen Nenner des Präsentierens.

 „das Potenzial sich aus seiner eigenen Komfortzone weg zu bewegen“

Was ist die Herausforderung am internationalen Zusammenarbeiten?

Bereits bestehende Kontakte sind wesentlich. Vieles lässt sich nur mit vereinten Kräften stemmen – mit Partner im eigenen, aber eben auch im anderen Land. Angesichts von Impuls neue Musik stehen hier sicher Fragen im Vordergrund wie: wie hoch ist das Potenzial, sich aus seiner eigenen Komfortzone weg zu bewegen, und worin liegt im jeweiligen Projekt begründet, dass man ausgerechnet in die genannten Länder geht und zusammenarbeitet. Aber auch Neugierde kann ein Grund sein, und kann etwas bewirken, was niemand vorhergeahnt hat.

..Länderübergreifend kann man sich ja bspw. nicht oft zum brainstormen treffen..

In Bezug auf das Klima und den Klimawandel, finde ich sogar wichtig, genau zu überlegen, warum man sich trifft und warum andere Kommunikationswege evtl. nicht ausreichen. Die Qualität einer Begegnung hängt vor allem davon ab, wie viele Gedanken sich beide Seiten im Vorfeld darüber gemacht haben, nicht davon, wie oft man von A nach B reist.

Und wie sieht es mit Nachhaltigkeit aus – ist ein einmaliges Zusammenarbeiten sinnvoll?

Man kann sehr wohl in der Zusammenarbeit dafür sorgen, dass Nachhaltigkeit eine Rolle spielt. Dass man bspw. nicht nur ein einzelnes Projekt konzipiert, sondern längerfristiges Zusammenarbeiten plant. Je längerfristig angelegt, desto mehr künstlerischen Gewinn haben die beteiligten Partner davon.

Was können denn Koproduktionsprojekte besser als andere?

Bei Koproduktionsprojekten hat die Art und Weise des Kontaktes eine andere Qualität. Der Entstehungsprozess wird als solcher unterstützt. Im frühen Projektstadium fließen die spezifischen Eigenheiten und Merkmale der Beteiligten am stärksten ein.

Nun befinden wir uns gerade in einer speziellen Situation. Grenzen werden ausnahmsweise geschlossen – sehen Sie darin eine Gefährdung der grundsätzlichen Idee von Impuls?

Ich glaube, dass ein ‚sich Verbinden wollen‘ über Grenzen hinaus spätestens seit der digitalen Revolution in uns allen verankert ist, gerade bei den jüngeren Generationen. Der jetzige Zustand erfordert ein Umdenken. Es geht um grundsätzliche Fragen: wie machen wir Kunst, wie zeigen wir Kunst, welche Bedeutung hat Kunst? Aber auch: worin könnte eine neue Kraft des Sich-Verbindens und der Kooperation bestehen? Wir müssen auch digital ganz dezidiert in die Interaktionen gehen – uns dabei aber auch darüber bewusst sein, dass auch die digitale Welt Grenzen hat.

IScreen, YouScream!, Brigitta Muntendorf, Ensemble Garage, Eclat Festival

Wohin könnte sich Impuls längerfristig entwickeln? Was ist Ihre Vision?

Die Grenzen verwischen immer mehr – zu anderen Kunstformen, zwischen Musik und Performance, zwischen Musik und Intermedialität. Der Begriff der Komponistin / des Komponisten und das musikalische Material verändern sich. Hier sollte Impuls neue Musik sich stärker positionieren. Und: mir schwebt eine noch nachhaltigere Projektförderung durch den Aufbau von langfristigen Verbindungen zu Künstler*innen vor.
Interview, Gabrielle Weber

Neue Jurymitglieder ab 2020:
Brigitta Muntendorf hat nach Studien in Bremen, Köln. Paris und Kyoto, und dem Erhalt zahlreicher Preise, u.a. 2017 dem Musikautorenpreis der GEMA in der Kategorie Nachwuchs, eine Professur an der Hochschule Musik Köln inne.

Anne Montaron, Germanistin und Musikwissenschaftlerin, arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Autorin bei Radio France (France Musique).  Am bekanntesten ist ihre wöchentliche Sendung zur musikalischen Improvisation: A l’Improviste.

Impuls neue Musik wurde 2009 auf Initiative der französischen Botschaft in Deutschland, des Ministère de la Culture et de la Communication, der SACEM und des Bureau Export de la musique française gegründet. Mittlerweile gehören verschiedene Partner aus Frankreich und Deutschland zum Lenkungsausschuss des Fonds und finanzieren diesen. Träger ist seit 2020 das Institut français (Paris), verwaltet wird der Fonds in Berlin (Leitung: Sophie Aumüller).

Die Schweiz schloss sich 2018 mit der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia als Partnerin an. Für die Schweiz wirken Xavier Dayer, Komponist, Thomas Meyer, freier Musikessayist, und Bernhard Günther, künstlerischer Leiter der Festivals WienModern und ZeitRäume Basel, in der trinationalen Jury mit.


Shaker Kami, Nik Bärtsch und Percussions de Strasbourg, Jazzdor 2020

Geförderte Projekte werden an den wichtigsten internationalen Festivals gezeigt und begeistert aufgenommen. Bspw. die französisch-schweizerische Koproduktion zwischen Eklekto, Geneva Percussion Center und dem Vokalensemble NESEVEN zur Eröffnung der Wittener Tage für Neue Kammermusik 2019, das Projekt Joint Venture mit dem Marseiller Ensemble C Barré und den Neuen Vocalsolisten beim Eclat Festival Stuttgart 2020 oder das Uraufführungsprojekt Shaker Kami mit Nik Bärtsch und den Percussions de Strasbourg beim Jazzdor Festival in Straßburg 2020.

Bis 1. Mai läuft die Eingabefrist für die Förderrunde 2020. Gefragt sind gemeinsame länderübergreifende Projekte mit Spieldatum frühestens ab 1. August 2020.

Brigitta Muntendorf
Impuls neue Musik / gesamte Jury / neues online-Antragsverfahren,

Neo-Profiles:
Impuls neue Musik, Eklekto Geneva Percussion Center, Nik Bärtsch, Stefan Keller, Xavier Dayer, Trio Saeitenwind

Ma rencontre avec le futur – ANNULÉ!

Passages – so lautet das Motto des Genfer Festivals für zeitgenössische Musik Archipel. Vom 26. März bis zum 6. April widmet sich Archipel der musikalischen Vision einer Gesellschaft ohne Grenzen. Zwischen Menschen, Kulturen, Generationen und Künsten. Die Schweiz steht dabei für einen zentralen Knotenpunkt innerhalb Europas in einer Welt in Transformation. Und Musik für eine vibrierende Kunstform im Fluss, die Brücken bildet und Grenzen überwindet.

Marc Texier, scheidender Intendant, kuratiert die diesjährige Ausgabe letztmals. Einen Ausblick in die Zukunft bildet die ganztägige Carte Blanche Ma rencontre avec le futur am 31. März, programmiert vom designierten Intendantenduo Marie Jeanson und Denis Schuler.

Gabrielle Weber
Wie soll sich Archipel in Zukunft positionieren und wie sieht die Zusammenarbeit als Duo aus? Wie bezieht sich die Carte Blanche auf die übergreifende Thematik Passages und inwiefern weist Ma rencontre avec le futur auf die zukünftige Ausrichtung des Festivals? Im Gespräch stellt sich das Intendantenduo vor und präsentiert die Carte Blanche wie auch die Sicht aufs zukünftige Festival.

Marie Jeanson kommt als Veranstalterin aus den Bereichen experimentelle und improvisierte Musik wie auch Klangkunst und radiophone Musik. Das Einbringen ihrer Schwerpunkte ins Festival bedeute Kontinuität. Denn Archipel sei zwar in der komponierten zeitgenössischen Musik verankert. Improvisierte Musik wie auch Klangkunst bildeten aber immer schon einen Teil. “Es handelt sich weniger um einen Richtungswechsel als um ein Zurückkehren der experimentellen Musik ans Festival”, so Jeanson.
Für Denis Schuler, Komponist und künstlerischer Leiter des Genfer Ensemble Vide, ist die neue Tätigkeit als Festivalintendant eine Weiterführung dessen was er aktuell tut. Die gemeinsame Co-Intendanz sei eine ideale Kombination. Denn beide brächten ihre individuelle Erfahrung und ihr Netzwerk ein. Ein gemeinsames ästhetisches Terrain und gegenseitige Neugierde sehen beide als Grundvoraussetzung der Zusammenarbeit.

Marie Jeanson & Denis Schuler © Gabrielle Weber, neo.mx3

Ma rencontre avec le futur ist in vielerlei Hinsicht repräsentativ. Denn jedes Einzelprojekt repräsentiert sie beide als Duo, beinhaltet also sowohl Komposition als auch Improvisation.

La musique c’est fait pour être vécue ensemble

Offenheit ist durchgängiges Prinzip. Das zeigt sich an der Dauer -ein ganzer Tag-, dem einheitlichen Ort -die maison communale de Plainpalais wird gesamthaft bespielt-, dem Rahmen -Gastfreundschaft mit gemeinsamen Mahlzeiten und Gefässen für den Austausch-. Denn: “Musik ist da, um zusammen gelebt zu werden”, so Schuler.

‘cohérence poétique’

Im Unterschied zur langjährigen Intendanz von Marc Texier will sich das Festival in Zukunft weniger auf die Musikschaffenden als auf das Publikum ausrichten. “Wir möchten einen Rahmen schaffen, wo man berührt wird durch eine poetische Kohärenz. Wir erzählen Geschichten und möchten in den Menschen ein Begehren wecken, wiederzukommen”, so Jeanson.

‘faire exister la création’

Am Festival-Wettbewerb um die meisten und besten Uraufführungen will Archipel nicht mitmischen. “Vielen geht es ja nur darum, die ersten zu sein, die irgendetwas tun oder zeigen”, so Schuler. Dem Duo geht es hingegen darum, die Kreation am Leben zu erhalten. “Uns interessiert die Mischung von Komposition mit dem was direkt im Moment entsteht. Bspw. wird an der Carte Blanche die holländisch-schweizerische Klangkünstlerin Cathy van Eck in ihrer Performance Klangverordnung die ganze maison communale bespielen und kurzfristig entscheiden wo sie wann auftritt.


Cathy van Eck, Klangverordnung, a performance for mobile loudspeaker horns 2012

‘partage de l’écoute’

Auch Transdisziplinarität steht nicht im Zentrum des künftigen Festivals. Vielmehr geht es um das ‘reine Hören’. “Wir möchten einen besonderen Rahmen schaffen in dem das konzentrierte Hören im Zentrum steht”, so Jeanson. Konzentration schaffe eine besondere Präsenz, die paradoxerweise der Stille fast nahekomme. An der Carte Blanche gibt es bspw. ‘Salons d’écoute‘, Räume für das reine Hören also, mit Klangdiffusionssystem (Acousmonium) und Soundingenieur. Wer will bringt eine eigene CDs zum gemeinsamen Hören und Besprechen mit.

Carte Blanche = ‘Mega-Metakonzert

Und es werden Musikschaffende zusammengeführt, die sich vorher nicht kannten. An der Carte Blanche treten bspw. Shuyue Zhao (Klarinette, China-CH) und Maximilian Haft (Geige, USA-Genf) erstmals zusammen auf. “Wir provozieren Begegnungen und schaffen den Rahmen: die Musiker*innen können in einem gegebenen Zeitrahmen spielen, was und wo sie wollen. Sie entscheiden kurzfristig, so dass es auch das Publikum überrascht wird”, so Schuler. Auch das Basler Ensemble Neuverband trifft neu auf die Improvisatorin Shuyue Zhao in einem komponierte-improvisierten Programm, u.a. mit einer Uraufführung der Komponistin Junghae Lee. Und zum Schluss tritt der Perkussionist Will Guthrie zusammen mit einem Gamelanorchester auf. Dabei geht es nicht zuletzt darum, wie verschiedene musikalische Kulturen kombiniert werden, ohne einer Art von Exotismus zu erliegen.


Shuyue Zhao, Noise fragments

Passages sind auch bei Ma rencontre avec le future zentral – zwischen Ländern, Genres, Musiker*innen und Publikum. “Ein Meta-Megakonzert mit allem was dazu gehört”, so Jeanson.
Interview Gabrielle Weber, Genf, 26. Februar 2020

Das Genfer Festival Archipel findet vom 26. März bis 6. April statt. Eingebunden sind alle wichtigen Klangkörper Genfs, zudem arbeiten zahlreiche Institutionen erstmals zusammen. Highlights bilden u.a. Coro von Luciano Berio, ein ‘Fresko’ für 40 Stimmgruppen als Koproduktion der Musikhochschulen Genf, Lausanne und Lugano in der Victoria Hall, oder eine Opern-Koproduktion mit dem Grand Théâtre de Genève.

Ma rencontre avec le futur, 31. März 2020, 12-24h: Carte Blanche – Marie Jeanson & Denis Schuler, mit: Maximilian Haft & Shuyue Zhao, Cathy van Eck, Ensemble neuverBand, Will Guthrie & Ensemble Nist-Nah

Grand théâtre de Genève, Will Guthrie & Ensemble Nist-NahCathy van Eck, Maximilian Haft, Ensemble Vide, Denis Schuler

Sendungen SRG
RTS: Musique d’avenir, Redaktion Anne Gillot
SRF2 Kultur: Musikmagazin, 21./22.3., Redaktion Florian Hauser (abgesagt)

neo-profiles: Festival Archipel, Shuyue Zhao, NeuverBand, Denis Schuler, Ensemble Vide, Cathy van Eck

Happy Birthday Nouvel Ensemble Contemporain!

Das Nouvel Ensemble Contemporain (NEC) aus La Chaux-de-Fonds feiert dieses Jahr seinen 25-jährigen Geburtstag und lädt zum Jubiläumswochenende. «Time to Party» heisst es am grossen Geburtstagskonzert am Samstagabend mit Stücken von Anton Webern, Claire-Mélanie Sinnhuber und Daniel Zea. Und am Sonntag gibt es als Finale einen Marathon an Mini-Konzerten.

Le NEC Nouvel ensemble contemporain © Pablo Fernandez, 25 mars 2017, Temple Allemand, La Chaux-de-Fonds

Jaronas Scheurer
«Wenn man nach Neuer Musik in der Schweiz fragt, fällt den meisten Menschen das NEC nicht gleich ein. Aber wenn man es dann erwähnt, dann zaubert der Name NEC ein Lächeln auf die Lippen.» – so Antoine Françoise, Pianist und künstlerischer Leiter des Nouvel Ensemble Contemporain (NEC) aus La Chaux-de-Fonds, auf die Frage, was denn die geheime Superkraft des NEC sei. Ein Lächeln auf die Lippen zaubern – das bringt die Philosophie des NEC ziemlich gut auf den Punkt. Vor rund 25 Jahren haben sich einige befreundete Musiker*innen in La Chaux-de-Fonds zusammengefunden, um gemeinsam ihrer Freude an Neuer Musik nachzugehen.

Eine Gruppe von Freund*innen – eine feste Institution

Inzwischen hat sich viel getan: Die Gruppe von Freund*innen wurde zu einer festen Institution der Schweizer Musikszene und neue Musikerinnen und Musiker sind dazu gestossen, unter anderem Antoine Françoise. Er stieg vor circa 13 Jahren als Pianist beim NEC ein und löste 2016 das Gründungsmitglied Pierre-Alain Monot als künstlerischen Leiter ab.

Antoine Françoise dirigiert das Nouvel Ensemble Contemporain in: Mathis Saunier, Palindrome for String Orchestra, am Antigel Festival Genève 2019,

Für Françoise ist der ständige Wandel essentiell. Er möchte so lange künstlerischer Leiter bleiben, wie er die Ästhetik des NEC verändern könne. Wenn ihm das nicht mehr gelänge, dann hoffe er, die Leitung an jemanden mit frischen Ideen abgeben zu können. Doch was trotz aller Veränderung bleibt, ist die gemeinsame Liebe zur Musik. So ist das NEC heute noch immer eine Gruppe von Freund*innen, die ihre Leidenschaft für Neue Musik teilen möchte.

Eine Woche lang Party

Zum 25. Geburtstag schenkt das NEC sich und La Chaux-de-Fonds eine ganze Jubiläumskonzertwoche. Die Woche beginnt mit einer Reihe von kleinen Mini-Konzerten mit Solostücken an verschiedenen Orten in der Stadt. Am Freitag wird das Ensemble dann für die «Suitcase Suite» vom Punkrock-Gitarrist Louis Jucker mit selbstgebastelten Instrumenten ausgerüstet. Am Samstagabend findet das grosse Geburtstagskonzert mit dem passenden Titel «Time to Party» statt und als Abschluss spielen die Musiker*innen des NEC am Sonntag die Solostücke der Mini-Konzerte noch öffentlich.

Portrait Daniel Zea

Gerade das Konzert am Samstag steht dabei repräsentativ für das Nouvel Ensemble Contemporain: Zuerst spielen sie die Variationen für Orchester, op. 30 von Anton Webern aus dem Jahre 1940. Ein Schlüsselwerk der Musik des 20. Jahrhunderts, das der ehemalige Leiter des NEC, Pierre-Alain Monot, für Ensemble arrangiert hat. Danach wird das Stück «Soliloque» der französischen Komponistin Claire-Mélanie Sinnhuber zu hören sein. Es ist das erste Mal, dass das NEC ein Stück von Sinnhuber spielt. Das Stück «Pocket enemy» aus dem Jahre 2017 des kolumbianischen Komponisten Daniel Zea wird den Abend abrunden. Zea hat schon öfters mit dem NEC zusammengearbeitet und «Pocket enemy» speziell für Antoine Françoise geschrieben.


Daniel Zea, Pocket enemy, Ensemble Vortex, 2017

Zuerst also ein Klassiker des 20. Jahrhunderts mit einem Gruß an den früheren Dirigenten Pierre-Alain Monot. Dann ein neueres Werk von einem Freund des Ensembles und eine Entdeckung einer neuen Komponistin – eigentlich eine gute Zusammenfassung der NEC-Philosophie. Alle drei Stücke sind für ein grösseres Ensemble geschrieben. So kommen möglichst viele Musiker*innen des NEC zum Zuge. Ganz nach der wohl einzigen Regel, nach der Françoise die Programme des NEC zusammenstellt: «Ich gestalte die Programme nicht, um dem Publikum, sondern um meinen Musiker*innen eine Freude zu machen. Und wenn die Musiker*innen glücklich sind, dann weiss ich, dass das Publikum das spürt.» Gemäss der NEC-Devise – um allen ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern…
Jaronas Scheurer

Les musiciens du NEC © 2019 Pablo Fernandez. La Chaux-de-Fonds, février 2019

Freitag, 13. März, 18:30h, Eröffnung der Festivitäten und Vernissage, Théâtre ABC, Ausstellung: Annick Burion & Pablo Fernandez (geöffnet Sa: 11-24h; So: 11h-20h), musikalische Intervention: Matthieu Grandola
20:30h Louis Jucker, The Suitcase Suite, Temple Allemand
22h Marcel Chagrin, tourneur de 78 tours
Samstag, 14. März, 20:30h, Time to party, Temple Allemand La Chaux-de-Fonds:
Anton Webern, Variations pour orchestre op. 30, nouvel arrangement pour ensemble Pierre-Alain Monod, création
Claire-Mélanie Sinnhuber, Soliloque pour ensemble
Daniel Zea, Pocket enemy pour sampler et ensemble
Sonntag, 15. März, ab 14h, Miniatures, Temple Allemand La Chaux-de-Fonds
14h Miniatures I
14:40h Pierre Jodlowski: Typologies du regard pour piano et électronique
15h Apéritif SONART
16h Miniatures II
16:40h Matthieu Grandola, flûte: Werke von Eliott Carter, Toru Takemitsu, Kaija Saariaho, Ofer Pelz
17:15h MIniatures III


25ans le NEC: SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 12./13.3.20: Redaktion Annelis Berger

Nouvel Ensemble Contemporain, Daniel Zea, Claire-Mélanie Sinnhuber, Louis JuckerSONART – Musikschaffende Schweiz

Sendungen SRG:
RTS, musique d’avenir, Redaktion: Anne Gillot
SRF 2 Kultur:
Aktuell & Kultur kompakt, 12./13.3., Redaktion Annelis Berger
Musikmagazin, 14./15.3., Redaktion Annelis Berger

Neo-Profiles: Nouvel Ensemble Contemporain, Daniel Zea

Percussion Threads from Zurich to Mzansi

Am Konzert Percussion Threads from Zurich to Mzansi treffen im Museum Rietberg Zürich, Musiker*innen und Kompositionen aus der Schweiz und Südafrika aufeinander. Danach geht’s auf Tournee durch diese beiden Länder.

Neo Muyanga, Percussion Threads from Zurich to Mzansi, rehearsal @ Museum Rietberg © Pascal Schlecht

Katja Heldt
Wie klingt klassische Musik im 21. Jahrhundert? Wie funktioniert musikalischer Austausch im Zeitalter der Dekolonisierung? Und in welchem Kontext soll dieser stattfinden?

Die Schweizer Initiative guerillaclassics macht sich mit vielfältigen Projekten auf die Suche nach Antworten und nach der aktuellen Relevanz und heutigen Formaten von klassischer Musik. Im Frühjahr 2020 geht es mit dem Ensemble Cosmic Percussion aus Zürich zusammen mit Musiker*innen vor Ort auf Tour durch Südafrika.


Cosmic Percussion Ensemble, Trailer

Den Auftakt bildet am 6. März ein Konzert im Museum Rietberg Zürich. Im Rahmen der aktuellen Ausstellung FIKTION KONGO kommen neue Stücken des Schweizer Komponisten Nik Bärtsch und des südafrikanischen Komponisten Neo Muyanga zur Aufführung.
„In der Ausstellung zum Kongo findet ein spannender Perspektivwechsel statt, bei dem junge kongolesische Künstler*innen eine Stimme bekommen. Genauso ist auch unsere Tour aufgebaut, wir arbeiten mit Musiker*innen aus der Schweiz, Angola, Kongo und Südafrika und wollen uns mit jeweils unterschiedlichen Spielweisen auseinandersetzen“, erklärt Hiromi Gut, künstlerische Leiterin und Gründerin von guerillaclassics, die das Projekt initiierte.

Radikales Neudenken von klassischer und zeitgenössischer Musik

Seit der Gründung 2017 setzt sich guerillaclassics für radikales Neudenken von klassischer und zeitgenössischer Musik, alteingesessenen Strukturen des Konzertbetriebs und dem Begriff der Hochkultur ein. Ihre vielfältigen Programme verfolgen ein klares Ziel: raus aus dem Konzerthaus und hinein in den Alltag. Je ausgefallener das Setting, desto besser, ob auf Straßen, Baustellen oder beim Schwingfest in den Bergen mit lokalem Jodelverein: guerillaclassics operiert an der Schnittstelle von Musik zu Schauspiel, Tanz und Theater und verändert mit aussergewöhnlichen Konzertformaten den Kontext von Musikerfahrungen.

„Mit guerillaclassics wollte ich die Vision umsetzen, klassische Musik zum alltäglichen Teil der Gesellschaft zu machen. Dafür muss die Musik auch ausserhalb des abgeschirmten Konzerthauses gespielt werden und in die verschiedenen Communities hineingebracht werden,“ so Hiromi Gut.

Für Gut ist in diesem Projekt der Umgang mit der Geschichte der Apartheid und den noch immer bestehenden starken sozialen Unterschieden in Südafrika wichtig: „Wir spielen unser Konzert auch zum Sonnenaufgang für die Pendler*innen in der Park Station in Johannesburg, dem grössten Bahnhof Afrikas. Dort hat es eine besondere Relevanz, wenn wir im öffentlichen Raum spielen. Klassische europäische Musik sowie der Zugang zu ihr wird in Südafrika nach wie vor mit einer weissen Minderheit in Verbindung gebracht.“

Verbindung zwischen Kulturen

Für die Südafrika-Tournee und das Konzert im Museum Rietberg haben die beiden Komponisten Nik Bärtsch und Neo Muyanga Stücke komponiert, die sich mit kulturellem Austausch aber auch mit den eigenen musikalischen Ursprüngen auseinandersetzen und sie in einen größeren Kontext bringen. Der Zürcher Komponist Nik Bärtsch bewegt sich mit seinen Werken in verschiedenen musikalischen Genres und Traditionen und sucht nach Verbindungen zwischen Kulturen.


Nik Bärtsch, Ronin: Modul 45

Für die Reise komponierte Bärtsch das Stück COSMIC APPROPRIATION für die vier Perkussionisten des Cosmic Percussion Ensemble. Seinen Ansatz beschreibt er folgendermassen: „Beim Komponieren nutze ich gerne Instrumente und rituelle Techniken aus verschiedenen Weltregionen. Dabei interessiert mich weniger die Herkunft der Instrumente, sondern vielmehr wie Klang und Spieltechniken genutzt werden können. Ich glaube nicht, dass Musik eine universelle Sprache ist, aber ich denke, dass es gewisse universelle Codes, Affinitäten sowie Resonanz- und Bewegungsräume gibt, die bei der Produktion und Rezeption von Musik zum Einsatz kommen.“

Portrait Nik Bärtsch © Hiromi Gut

Auch Neo Muyanga verwendet in seiner Komposition verschiedene perkussive Traditionen und traditionelle Instrumente wie das Ngoni oder uHadi sowie die Stimme. Das Stück verbindet notierte Elemente und Improvisation und ist so konzipiert, dass Spielweisen aus den verschiedenen Regionen wie z.B. der Xhosa-Tradition einbezogen werden können.
Das Publikum wird aufgefordert, sich auf die Suche nach den Ursprüngen und Wurzeln von Musik zu machen und in ungewöhnlichen Kontexten sowohl etwas Neues zu entdecken als auch das Alte neu zu hören.
Katja Heldt

Trailer guerillaclassics: Percussion Threads from Zurich to Mzansi

Konzerte 
6.03.2020, 19h: Rietberg Museum Zürich (ausverkauft)
8.04.2020, 19:30h: Club Exil, Zürich, Zusatz-Konzert mit den kongolesischen Musiker*innen nach der Tour

Nik Bärtsch, guerillaclassics, Cosmic Percussion Ensemble, Museum Reitberg, Neo Muyanga

Neo-Profiles: Nik Bärtsch, guerilla classics, Cosmic Percussion Ensemble

reclaim postmodernity – ABGESAGT!

Patrick Frank, Komponist und Kulturwissenschaftler, kuratiert als Gast die laufende Saison des Zürcher Ensemble Tzara. Dabei heraus kam eine sogenannte ‘Metakomposition’, die sich über die drei Konzerte der Saison erstreckt und laufend entwickelt: ein Konzert in drei Teilen also. Am 21. März 2020 steht nun der dritte Teil in der Gessnerallee an: “Das Glück des Nein-Sagens – reclaim postmodernity”.

Ensemble Tzara / Simone Keller, Das Glück des Ja-Sagens, Teil 1 © Chris Müller

Gabrielle Weber
Instrumentale Stücke fürs gängige Konzertsetting zu schreiben ist seine Sache nicht. Vielmehr denkt Patrick Frank gründlich über den Musikbetrieb nach und rüttelt mit seinen Werken an den Grundfesten heutigen zeitgenössischen Musikschaffens. Denn er erklärt nicht nur komponiertes musikalisches Material zum Werk sondern genauso sehr den zugehörigen Kontext wie bspw. den gesellschaftlichen Rahmen oder die Aufführungsgegebenheiten. Und oft ist auch das Publikum an seinen Stücken beteiligt oder sind die Musikerinnen als Performer im Einsatz.

Von Frank selbst ist denn auch kaum etwas zu hören. Seine ‘Metakomposition’ für das Ensemble Tzara liegt in der Idee, dem Konzept, vergleichbar einem Werk der visuellen Konzeptkunst. Als Gastkomponist lud Frank den norwegischen Komponisten Trond Reinholdtsen ein, gleichfalls bekannt fürs intelligent-humoristische Hinterfragen des institutionellen Musikbetriebs. Und auch Reinholdtsens Musik liegt mehr im Konzept als in der Musik.


Trond Reinholdtsen, Ensemble Tzara, Unsichtbare Musik 2009

Zum Klingen kommen durch Tzara hingegen Werke u.a. von Franz Schubert, Galina Ustwolskaia, Arvo Pärt oder Alvin Lucier. Dazu gibt’s Texte von Hugo Ball, Tristan Tzara und natürlich Nietzsche. Alles wohl koordiniert von Frank und Reinholdtsen aus dem Off.

Unter dem Titel “Das Glück des Ja-Sagens” verwebt Frank seine Metakomposition mit der Philosophie Friedrich Nietzsches. Die drei Teile spielen in einem Zürcher Stadtwald, einer Privatwohnung und schliesslich im Theaterhaus Gessnerallee: die Spielorte stehen für die ‚Sphären’ Natur, Privatheit und Öffentlichkeit. Aber auch für Schlüsselbegriffe des Philosophen.

Achtstündige Performance

Publikumsumfragen im jeweils vorangehenden Teil bestimmen die Ausgestaltung der weiteren Teile massgeblich. Das Resultat der ersten Befragung stellte Frank dann anhand einer Powerpoint Präsentation im Teil zwei vor. Das Fazit: “Der Wunsch nach mehr Musik, mehr Performance und mehr Struktur führte zu einer durchstrukturierten achtstündigen Performance”.

“Nicht enden wollend….” war denn auch eine der Hauptregieanweisungen des langen Abends in einer Privatwohnung in Zürich, in der das Publikum in die Rolle von Mitbewohnern schlüpfte. Die vermeintliche Privatheit aber war aufgrund von Franks Meta-Komposition gänzlich durchgetaktet. Die acht Stunden waren präzise in verschiedene Aktionen gegliedert, und das Involvieren des Publikums mit ein kalkuliert.

Trond Reinholdtsen, UA Ensemble Tzara, Das Glück des Ja-Sagens, Teil 2 © Chris Müller

Von Reinholdtsens war/ist gleichwohl eine mehrteilige ‘Welturaufführung’ (für Streichquartett und Video) zu erleben: War Teil eins diffus im Wald verteilt, fand diese in Teil zwei in einem äusserst kleinen Raum statt: “Die klaustrophobische Stimmung gehört zum Stück”, so Reinholdtsen. Auch da ging es weniger um die Musik als um das gemeinschaftliche, etwas gruselige Erlebnis.

Im Ausgang offene Beziehungsgeschichte

Auch eine dreiteilige musikalische Beziehungsgeschichte verbindet die Teile als roter Faden: Das Konzept von Reinholdtsen, die Musik von Arvo Pärt, das Paar gespielt in Personalunion vom Performer Malte Scholz.


Patrick Frank / Trond Reinholdtsen, Ensemble Tzara, Arvo Pärt / Spiegel im Spiegel, Das Glück des Ja-Sagens, Teil 1

Der Schluss einer Folge verweist jeweils auf den nächsten Teil. Gegen Ende von Teil zwei entfacht ein ‘falsch’ gewähltes Geschenk einen Disput (Mann zur Frau, das von ihr geschenkte Hemd kommentierend: “Schatz, du weisst doch, dass ich keine Karoos mag..“). In der Folge wird dem vom Mann der Frau mitgebrachten Ring seine naheliegende Bedeutung bis auf Weiteres vorenthalten. Sie: “ein Ring: heisst das etwa…?” Er: “Ich bin mir nun nicht mehr so sicher, ich muss darüber nachdenken. Ich sage es dir dann im Teil drei”.

Wie die Geschichte weiter geht und was genau zu hören sein wird, ergibt sich aus einer Umfrage im Teil zwei. Die Fortsetzung wird sicherlich auch mit Nietzsche zu tun haben…

Und: der Erfolg von Teil zwei war so überwältigend, dass Frank bereits eine längere Weiterführung des Projekts ankündigte.
Gabrielle Weber

Am 21. März in der Zürcher Gessenerallee erfahren Sie mehr: Ensemble Tzara, Saison 19/20, Teil 3, Das Glück des Nein-Sagens – reclaim postmodernity.

Patrick Frank, Das Glück de Ja-Sagens, Teil 2 © Chris Müller

Wir freuen uns über Ihre Kommentare auf dem neoblog!

Gessnerallee Zürich, 21.3.20, 20h: “Das Glück des Nein-Sagens – reclaim postmodernity

Mehr erfahren: Ensemble TzaraPatrick Frank, Trond Reinholdtsen
Neoblog: Kuration als Meta-Kompostition: Das Glück des Ja-Sagens

Neo-profiles: Ensemble Tzara, Patrick Frank, Simone Keller

Chan e See dänke?

Eine musikalische Hommage an Biel
Zur Uraufführung von Jean-Luc Darbellays Melodram Belena am 19. Februar 2020 im Kongresshaus Biel

Sinfonie Orchester Biel Solothurn © Joel Schweizer

Cécile Olshausen
Das Sinfonie-Orchester Biel Solothurn (SOBS) feiert in dieser Saison sein 50-Jahr-Jubiläum. Chefdirigent Kaspar Zehnder hat zu diesem Anlass dem Berner Komponisten Jean-Luc Darbellay einen Kompositionsauftrag erteilt. Er wünschte sich ein Werk, zweisprachig, mit Bezug zu Biel und Umgebung.

Darbellay entschied sich, mit zwei ihm nahestehenden Schriftstellern zusammenzuarbeiten: mit dem Westschweizer Poeten und Romancier François Debluë und dem Deutschschweizer Mundart-Dichter Guy Krneta. Den vielschichtigen Texten hat sich Darbellay musikalisch in Form des Melodrams genähert.

Portrait Jean-Luc Darbellay

Rousseau und das Melodram

Das Melodram ist heute ein ziemlich vergessenes Genre aus dem späten 18. Jahrhundert. Zwischen und über der Musik wird gesprochen anstatt gesungen. Erfinder dieser Gattung ist kein geringerer als der in Genf geborene französisch-schweizerische Philosoph und eben auch Komponist Jean-Jacques Rousseau. Er hat 1770 mit Pygmalion das erste Melodram der Musikgeschichte komponiert.

Und mit Rousseau sind wir schon inmitten von Darbellays Komposition, denn François Debluës Text rankt sich um einen fiktiven Brief Robert Walsers über Jean-Jacques Rousseau, nämlich über dessen Aufenthalt auf der St. Petersinsel im Bielersee. Rousseau verlebte dort im Herbst 1765 nach eigener Aussage die schönste Zeit seines Lebens. Der Berner Geheime Rat aber wies den berühmten Aufklärer aus. Und auch in Môtier (Val-de-Travers), wo er mit seiner Gefährtin Thérèse Levasseur lebte, war er nicht mehr willkommen, und es wurde – so geht die Geschichte – mit Steinen nach ihnen geworfen. Dies regt Debluë zu einer weiten Rêverie über Steine an. Je sais le langage des pierres.

Guy Krneta reagiert auf Debluës Text mit einer artistischen berndeutschen Sprachstudie und entwickelt am Ufer des Bielersees einen Monolog über Wasser Chan e See dänke? Was würd’r dänke, wen’r chönnt dänke? und Steine Het e Schtei mau grännet?

 

Portrait Guy Krneta © Guy Krneta

Schifere und «Steineln»

Zentrale Verbindung zwischen den Texten von Debluë und Krneta ist das Steinewerfen übers Wasser – ds’Schifere wie man auf Berndeutsch sagt. Bei Krneta: Wen e Schtei über ds Wasser gumpet, vo Oberflächi zu Oberflächi, chan i ahne, wi’s isch gsi, wo d Schteine no gläbt hei, wo si gfloge sy wi Vögu. Bei Debluë sind es runde weiche Kieselsteine, die übers Wasser hüpfen; wenn Kinder da wären, würde man sich nun im «Steineln» messen. Mais il n’y a pas d’enfant – eine Anspielung an Rousseau, der seine Kinder in Waisenhäuser gegeben hat.


,Wenn ich denke‘, Guy Krneta für Jean-Luc Darbellay, Play SRF, Morgengeschichte, 5.10.2019

Jean-Luc Darbellay hat zu dieser komplexen literarischen Vorlage eine Musik geschrieben, die nicht die Konkurrenz zur Literatur sucht, vielmehr will er mit seiner Komposition die Texte unterstützen. Die Sprecherin soll sich frei entfalten können; deshalb wird sie nie in eine exakte Rhythmik eingebunden. Manchmal übernimmt die Musik eine illustrierende Funktion, zum Beispiel bei den Steinen, die übers Wasser fliegen. Oftmals lässt Darbellay aber auch einfach einen Akkord liegen oder er verzichtet ganz auf Musik. So kommen die gesprochenen Sprachen in ihrem Duktus und in ihrer Eigenheit zur vollen Wirkung.


Jean-Luc Darbellay, Pour une part d’enfance, für Sprecherin und Ensemble, Melodram über einen Text von François Debluë, 2018

Und auch der Titel des Melodrams «Belena» nimmt Bezug auf Biel. Denn Biel lässt sich sprachgeschichtlich auf den Namen Bĕlĕna zurückführen. Was es damit genau auf sich hat, weiss die Forschung bis heute nicht. Keltische Sonnengöttin? Oder Belenus als Gott der Macht? Man rätselt noch – aber der Titel passt zu diesem durch und durch «bielerischen» musiktheatralischen Werk.
Cécile Olshausen


Jean-Luc Darbellay, Belena, UA 19.2.2020 SOBS

Das Sinfonie-Orchester Biel Solothurn macht Einspielungen von Uraufführungen im Rahmen seiner Sinfoniekonzerte laufend auf neo.mx3 zugänglich. Hören Sie hier auch die jüngste Aufnahme von Jost Meiers Konzert für Violoncello und Orchester in der Aufnahme der Uraufführung vom 13. November 2019 im Kongresshaus Biel:

Jost Meier, Konzert für Violoncello und Orchester, UA 13.11.2019 SOBS

Carnaval Bilingue, 6. Sinfoniekonzert SOBS, 19. Februar 2020, 19:30h, Kongresshaus Biel, Sinfonie-Orchester Biel Solothurn, Kaspar Zehnder – Leitung, Isabelle Freymond – Sprecherin
Programm:
Antonin Dvorak, Carnaval, Konzertouvertüre op. 92
Jean-Luc Darbellay, Belena, Melodramatisches Konzert für eine Sprecherin und Orchester
Joseph Lauber, Sinfonie Nr.1

Sinfonie Orchester Biel Solothurn, Jean-Luc Darbellay, Guy Krneta

Sendungen SRF 2 Kultur: Im Konzertsaal, Do, 26.3.2020, Di, 19.5.2020

neo-profiles: Jean-Luc Darbellay, Sinfonie Orchester Biel Solothurn

 

Der Tausendsassa der Neuen Musik

Heinz Holliger zum 80. ist das nächste Konzert der Basel Sinfonietta gewidmet. Bei dieser Gelegenheit wird die neue SRG-Plattform neo.mx3.ch für die Deutsche Schweiz lanciert.

Heinz Holliger © Daniel Vass

Thomas Meyer
„Tausendsassa“ ist das dritte Konzert dieser Saison überschrieben, das die Basel Sinfonietta unter der Leitung von Peter Rundel vorstellt. Mit dem Titel gemeint ist jener Schweizer Komponist, Oboist, Dirigent, Pianist u.a., der seit über sechs Jahrzehnten massgeblich am Glanz helvetischen Musikschaffens beteiligt ist: Heinz Holliger. Es kommt mir ein bisschen überflüssig hervor, hier nochmals all die Verdienste dieser Musikerpersönlichkeit aufzuzählen, die er sich dabei erworben hat, angefangen von seinen vorzüglichen Interpretationen über seinen instrumentalen Erfindungsreichtum (die Oboe klingt nach Holliger anders als früher) bis hin zu seinen Kompositionen, ganz abgesehen von seiner Begeisterung für seine KollegInnen und für die Literatur. Der Platz würde ohnehin nicht reichen.

Vielmehr möchte ich – das als persönliche Reminiszenz – den unbedingten, glühenden Furor hervorheben, mit der sich dieser Vollblutmusiker engagiert. Begegnet bin ich ihm erstmals, als ich vor vielen Jahrzehnten seinen Siebengesang hörte. Vom ersten Ton der Oboe weg bleibt man durchdrungen von dieser Musik, die sich in all den Jahrzehnten zwar deutlich gewandelt, dabei aber nichts von ihrer Intensität verloren hat. 


Heinz Holliger, (S)irato, Monodie für grosses Orchester (1992), Basel Sinfonietta Musicaltheater Basel 2020

Nach seinem 80. Geburtstag am vergangenen 21. Mai ist ihm vielerorts gehuldigt worden. Er hat es angenommen – und sich bei der Gelegenheit weiter für die Musik eingesetzt. Die Musik-Akademie Basel, wo er allerdings nie studierte oder fest unterrichtete, hat so derzeit einen Fokus auf Holliger gesetzt. Bis 9. März noch sind zahlreiche Veranstaltungen angesagt. In der Vera Oeri-Bibliothek ist zudem eine höchst informative Ausstellung über den Musiker zu sehen.

Der komponierende Interpret

Und nun erscheint seine Musik auch bei der Basel Sinfonietta, gleich in mehreren Facetten. Da ist zum einen der Komponist mit seinem Orchesterstück (S)irató von 1992. Da ist aber auch der komponierende Interpret in den beiden Liszt-Transkriptionen, bei denen Holliger nicht einfach späte Klavierstücke orchestriert, sondern sie gleichsam ins Orchester weiterkomponiert hat. Es sei der „Versuch, die beiden wie erratische Blöcke, aber auch wie Wegweiser ins Unbekannte in der Musiklandschaft des späten 19. Jahrhunderts stehenden Enigmen des alten Liszt „hinüber zu schieben“ (zu transkribieren) in meine eigene Art zu sprechen, zu denken, – die Stücke aus meinem Unterbewusstsein wieder heraufzuholen…“

Heinz Holliger © Priska Ketterer / Lucerne Festival
Heinz Holliger © Priska Ketterer/ Lucerne Festival

Schliesslich setzte sich Holliger ja zeitlebens für die Musik seiner KollegInnen ein, gab Aufträge für neue Oboenstücke oder dirigierte ihre Stücke.
So ist hier das Orchesterwerk Tenebrae des 2017 verstorbenen Klaus Huber zu hören.


Klaus Huber, Tenebrae für grosses Orchester (1966/67), Basel Sinfonietta, Musicaltheater Basel 2020

Ausserdem erklingt ein ganz junges Werk. Die Schweizer Erstaufführung des deutschen Komponisten, Pianisten und Sänger Steffen Wick: Autobiography, ein Auftragswerk der Basel Sinfonietta, beschreibt jenen Moment, in dem ein ganzes Leben kondensiert an einem vorbeigleitet.

Steffen Wick, Autobiography, UA 2020 Basel Sinfonietta

Deutschschweizer Lancierung neo.mx3

Vorgestellt wird bei dieser so günstigen Gelegenheit schliesslich auch diese neue gesamthelvetische Plattform für zeitgenössisches Schweizer Musikschaffen, die die SRG im Sommer 2019 als Pilotprojekt lanciert hat: neo.mx3.ch.
Sie bietet einen Einblick insbesondere ins aktuelle komponierte wie improvisierte Musikschaffen hierzulande. Aber auch internationale Ereignisse mit Schweizbezug werden reflektiert wie kürzlich die Uraufführung der neuen Oper „Orlando“ von Olga Neuwirth in Wien mit Beteiligung des Schweizer Perkussions-Solisten Lucas Niggli.

Es ist ein Ort der Vorschauen, Porträts und Debatten, aber auch der Diskussionen in dem von Redaktorin Gabrielle Weber betreuten neo-blog. Zudem können sich Musikschaffende, Ensembles und Kulturinstitutionen hier selbst präsentieren, in Ton, Video, Bild und Text.
Endlich – muss man sagen, denn neo.mx3.ch schliesst eine lange klaffende Lücke im Schweizer Musikleben.

Angesagt ist nun also die offizielle Deutschschweizer Eröffnung: Im Rahmen des Konzerts stellen wir neo.mx3 mit einem kurzen Surprise-Talk erstmals einem Publikum in der deutschen Schweiz vor – und in der Pause gibt es eine weitere kleine Surprise..
Thomas Meyer

Über Ihre Kommentare auf dem neoblog zu Text, Konzert, neo.mx3-Launch oder auch zu den Heinz Holliger-Sendungen auf SRF 2 Kultur freuen wir uns!

2.2.2020, 19h, 3. Abo-Konzert Basel Sinfonietta, Musicaltheater Basel, Leitung: Peter Rundel
18:15h Einführung: Florian Hauser im Gespräch mit Heinz Holliger

Programm:
Heinz Holliger, Zwei Liszt-Transkriptionen (1986)
Klaus Huber, Tenebrae (1966/67)
Stephen Wick, Autobiography (2017, CH-Erstaufführung)
Heinz Holliger, (S)irató (1992)

Lancierung neo.mx3: Nach der Pause: Surprise-Talk:
Florian Hauser im Gespräch mit:
Barbara Gysi, Leiterin Radios & Musik SRF Kultur
Gabrielle Weber, Redaktorin / Kuratorin neo.mx3
Katharina Rosenberger, Komponistin

Basel Sinfonietta, Heinz Holligersonic space Basel / FHNWMondrian Ensemble, Klaus HuberSteffen Wick

SRF 2 Kultur
:
Kultur-Aktualität, 21.6.2019: Neue Schweizer Plattform für zeitgenössische Musik

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 15.1.2020, 20h: Heinz Holliger und die Literatur
Neue Musik im Konzert, Mittwoch, 15.1.2020, 21h: Portraitkonzert Heinz Holliger
Musikmagazin mit Moritz Weber, Aktuell, 1./2.2.2020

neo-profiles
: Heinz Holliger, Basel Sinfonietta, Klaus Huber, Mondrian Ensemble, Katharina Rosenberger

 

Melancholische Eleganz

Concerto en Sol – so heisst das neue Cellokonzert des Grossmeisters Wolfgang Rihm. Ab dem 20. Januar ist es auf Uraufführungstournee mit dem Kammerorchester Basel zu erleben. ‘Sol‘ steht dabei nicht nur für die Tonart, sondern ist zugleich Inbegriff für die Widmungsträgerin, die Ausnahmecellistin Sol Gabetta.
Im Gespräch gibt Wolfgang Rihm Auskunft zum Hintergrund, zum speziellen Lebensabschnitt, in dem das Stück entstand, aber auch zu Inspiration und Interpretation seiner Werke.

Wolfgang Rihm Portrait ©Wolfgang Rihm

Gabrielle Weber
Herr Rihm, anfangs 2019 erhielten Sie den Autorenpreis für Ihr ‘Lebenswerk’. Ihr Schaffensrausch hält an. Sie sind (heute) ein sehr gefragter Komponist, werden mit Preisen überhäuft und können sich vor Aufträgen und Anfragen kaum retten: Was braucht es, um Sie für einen Kompositionsauftrag zu gewinnen, wie kam es zum neuen Werk für das Kammerorchester Basel?
Vor über fünf Jahren liess Sol Gabetta bei mir anfragen, ob ich ein Konzertwerk für sie schreiben wolle. Ich freute mich sehr darüber und machte mich an die Arbeit. Meine schwere Erkrankung kam dazwischen und die Skizzen blieben liegen. Als ich 2017 wieder auftauchte, versuchte ich alsbald an dem Stück weiter zu arbeiten. Das gelang relativ gut und ich hatte grosse Freude an der Arbeit, die ich noch im Jahr 2017 abschliessen konnte.

Was ist die Grundidee des Stücks?
Das Stück ist ganz auf die Widmungsträgerin bezogen, deren melancholische Eleganz und kraftvolle Linienführung ich sehr schätze. Ich wollte von Anfang an kein schweres Geschütz auffahren, sondern im Bereich von Durchsichtigkeit und nicht nach aussen gekehrter Beweglichkeit mich aufhalten. Am liebsten war mir der Gedanke, dass sich alles aus einer Gesanglichkeit heraus entwickelt – aber das ist ja ein Gedanke, dem fast alle meine Konzertwerke verpflichtet sind.

Inspiration – eine Art des Begeistertseins

Von Ihnen stammt die Aussage: ‘Inspiration ist das Einzige, was ein Künstler besitzt – es geht darum, die Inspiration in die Tat umzusetzen’: Was bedeutet für Sie ‘Inspiration’?
Inspiration? Vielleicht ist das eine Art des Begeistertseins? Ich spüre das dann daran, dass von allen beteiligten Entscheidungen immer viele andere Wege ausgehen können, die dorthin führen, wo ich mit meinen Gedanken noch gar nicht hinwollte. Mein Rat: wenn ein Künstler “konsequent” sein will, sollte er nicht inspiriert sein wollen – das würde nur verwirren. Aber da ich begabt für Verwirrung bin…


Wolfgang Rihm ‘Marsyas‘, Lucerne Festival Academy, Leitung: George Benjamin , 1.9.2019

Den Solopart schreiben Sie der Argentinisch-Schweizerischen Cellistin Sol Gabetta auf den Leib. Gabettas Spielweise zeichnet Temperament und Innigkeit aus. Sie meint selbst dazu, dass sie fast auf dem Cello tanze, und innerlich beim Spielen singe: (Wie) lassen Sie sich von einer charakteristischen Interpretin wie Sol Gabetta inspirieren?
Ich versuche mir vorzustellen, wie die Interpretin oder der Interpret wohl mit meinen Noten umgeht – ansonsten schreibe ich, was ich mir als Musik vorstelle.

Dmitrij Schostakovitsch, 2. Cellokonzert, hr-Sinfonieorchester | Frankfurt Radio Symphony, Sol Gabetta, Pablo Heras-Casado, Alte Oper Frankfurt, 14. Juni 2019

Von ihren Interpreten verlangen Sie meist ‘das Äusserste’, wodurch Dinge gewagt werden, die vor der gemeinsamen Arbeit unvorstellbar waren- wie holen Sie ein solch ‘verstecktes’ Potential aus den Interpreten heraus?
Das müssen Sie die Interpreten fragen… Ich denke: das Wichtigste ist, dass es überhaupt etwas zu interpretieren gibt, dass also eine Fülle von Möglichkeiten sich auftut, mit denen selbst der Komponist nicht gerechnet hat. Interpretation ist das Gegenteil von ‘Execution’. Die beste Interpretation ist wohl die, die viel Unabsehbares offenlässt und die uns, die Hörer, nicht zustopft mit scheinbaren Gewissheiten.

Melancholie – ja. Aber eben nicht allzu viel Schwärze

Jedes neue Werk bringt also auch für Sie etwas Unerwartetes mit sich: wurden Sie beim Komponieren von ‘Concerto en Sol’ selbst überrascht?
Ich hoffe, dass das Stück wie ein natürlicher Fluss sich entwickelt. Als würde ein Ereignis wie von selbst aus dem Zusammenhang sich ergeben und ein nächstes Ereignis hervorrufen.
Was mich überraschte: dass ich nach der langen Krankheitserfahrung vor drei Jahren das Stück in einer relativen Leichtigkeit halten konnte. Melancholie – ja. Aber eben nicht allzu viel Schwärze.

Sol Gabetta © Julia Wesely

Was dürfen wir klanglich erwarten, worauf dürfen wir uns speziell freuen?
Dass eine Art des ungezwungenen – unspektakulären Gelingens möglich sein kann…
Interview Gabrielle Weber

Das Programm stellt Igor Strawinskys 1947 für Paul Sacher komponiertes Concerto in Re, ein Auftragswerk des KOB zum 20Jahr-Jubiläum des Orchesters, Wolfgang Rihms Concerto en Sol gegenüber. Dazu kommt Felix Mendelssohns ‘schottische’ Sinfonie.

Das Konzert in Genf wird von RTS aufgezeichnet und steht ab dem 22. Januar auf neo.mx3 in ganzer Länge zum Nachhören zur Verfügung.

Über Feedbacks zu den einzelnen Konzerten im Neoblog freuen wir uns!

Concerto für SolKammerorchester Basel, Leitung Sylvain Cambreling
Igor Strawinsky, Concerto in Re für Paul Sacher, UA KOB 1947
Wolfgang Rihm, Concerto en Sol für Sol Gabetta, Auftragswerk KOB, UA
Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 3 a-moll Op. 56 (‘Schottische‘)

Konzerte
Montag, 20.1., 20h: Genf, Victoria Hall
Dienstag, 21.1. 19:30h: Zürich, Tonhalle Maag
Mittwoch, 22.1. 19:30h: Bern, Kultur Casino
Donnerstag, 23.1., 19:30h: Basel, Martinskirche
Freitag, 24.1., 20:30h: Grenoble | F, MC2: Auditorium
Sonntag, 26.1., 20h: Freiburg | D, Konzerthaus

Sendungen SRG:
21.1.20: Kritik UA Genf in Kultur kompakt
22.1.20, 22h: SRF Kulturplatz
25.1.20, 10h / 26.1., 20h: Musikmagazin, Café mit Sol Gabetta
30.1.20, 20h: RTS Espace deux: Le concert du jeudi
20.2.20, 20h: SRF 2 Kultur: Im Konzertsaal

neo-profiles: Kammerorchester Basel, Lucerne Festival Academy, Lucerne Festival Alumni, Sol Gabetta, Wolfgang Rihm

Die Aktionsgruppe GRiNM entwickelt sich

Eine diversere und femininere Neue Musik-Praxis: Vision, Option oder Must?
Mitte November trafen sich internationale Akteure in der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) drei Tage lang zum Austausch über Erfahrungen und Zukunftsvisionen.
Positionen-Redakteur Bastian Zimmermann war dabei und zieht sein Fazit.

GRiNM Network-Conference ZHdK © Gender Relations in New Music/ Gözde Filinta

Aus vielen Teilen Europas, teils sogar global wie aus Kanada, und natürlich Berlin kam man zusammen. Ziel war es, sich gegenseitig Projekte und Strategien zur Entfaltung einer diverseren und genderparitätischen Musikwelt zu präsentieren, voneinander zu lernen und bestenfalls neue Projekte zusammen zu er- und beschließen. Und obgleich über sogenannten „Netzwerktreffen“ zumeist der eher unangenehme Wunsch eines „Outcomes“ schwebt, kann man diesem Wochenende einen generellen „Flow“ attestieren. Das mag sicherlich daran liegen, dass die anwesenden Co-GRiNM-Gründer*innen Meredith Nicoll, Brandon Farnsworth, Lucien Danzeisen oder Rosanna Lovell sowie alle Hinzugestoßenen ein echtes Anliegen treibt: Die horrende Schieflage im Musikbetrieb mit teilweise 100prozentiger weißer Männerwirtschaft soll bewusst gemacht und ganz konkret in eine gegenteilige „noch härtere Schieflage“ gebracht werden. Durch Aktionen wie statistische Analysen, deren Publikation und die Aufforderung zur Veränderung machte GRiNM derart erfolgreich auf die Disbalance aufmerksam, dass derzeit vakante künstlerische Leitungspositionen kaum mehr ‘nur’ männlich besetzt werden.

Karlheinz Stockhausen: Mikrophonien, 1966, Filmstill © Gender Relations in New Music

Diese Aufmerksamkeit hat zur Folge, dass sich auch zahlreiche leitende männliche Akteure, zur in Zürich stattfindenden Reflektion des Musikbetriebs und des eigenen Schaffens darin einfanden. So berichtete z.B. Thorbjørn Tønder Hansen vom Ultima Festival in Oslo über die Herausforderungen in einem großen Komplex von Kooperationspartnern und Geldgebern Änderungen oder Experimente wie ein All-Female-Festival durchzusetzen. Dahlia Borsche diskutierte diese Schwierigkeiten innerhalb des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst).

Das auch im Norden angesiedelte Netzwerk für Frauen und nicht-binäre Personen Konstmusiksystrar (Kunstmusikschwestern), vertreten durch Anna Jackobsson und Rosanna Gunnarsson, präsentierte u.a. eine mögliche radikale Satzung der Durchbrechung gängiger Kurationskonventionen: Die durch Calls eingegangenen Werke werden allein im Losverfahren erwählt – eine in viele Richtung das aktuelle Antragsdenken herausfordernde Setzung, die im Anschluss noch weiter diskutiert wurde.

Konstmusiksystrar – sisters in contemporary music ©Hampus Andersson

Auch gab es Versuche, die Idee einer „Global Music Network Initiative“ zu diskutieren, was sich aber hinsichtlich der Fragen von Inklusion und Exklusion musikalischer Genres und Praxen als ein etwas utopisches Unterfangen herausstellte.

Die drei Tage starteten jeweils mit einer Keynote u.a. mit einem brillanten rhetorischen wie analytischen Vortrag von der am King’s College in London lehrenden Christina Scharff zum Denken von Geschlechterkategorien in zeitgenössischer Musik. Am Produktivsten stellten sich jedoch die mehrfach initiierten, moderierten, aber offenen Diskussionsrunden unter den rund 40 Teilnehmer*innen heraus: Anhand einzelner Statements, wie etwa mit den erstarkenden rechten Bewegung im kuratorisch/künstlerischen Kontext umzugehen sei, diskutierte die Gruppe angeregt und pointiert Lösungen. Und das innerhalb eines GRiNM-Rahmens, in dem sich in Zukunft immer mehr Menschen zusammenfinden können, die etwas in dem maßgeblich hierarchisch organisierten Musikbetrieb ändern wollen.
Bastian Zimmermann

Jüngste Engagements aus der Schweiz stellten Serge Vuille für Contrechamps Geneve, die ZHdK und die FHNW, das Global Music-Network Norient, Katharina Rosenberger aus San Diego oder SONART, Musikschaffende Schweiz, vor.

Überläufer – Eine performative Klang-Raum-Komposition zu Wandel und Migration (Trailer), UA 2019 ©ZeitRäume Basel 2019

In der Schweiz ist noch Einiges zu tun: Diskutieren Sie mit, teilen Sie Ihre Erfahrungen und Vorschläge auf dem Neo-Blog. Wir freuen uns, zu Gender und Diversity in der Neuen Musik im Austausch zu sein.
Einen tollen Start ins neue Jahr wünscht:
Gabrielle Weber, Redaktorin/Kuratorin neo.mx3.ch

GRiNM, positionen.BerlinEnsemble Contrechamps Genève, FHNW | Sonic Space Basel, Norient-Space, SONART – Musikschaffende Schweiz, Katharina Rosenberger

Read also: Neo-Blog:
GRiNM? = [GRiNäM]!: Interview with Brandon Farnsworth by Gabrielle Weber
Ensemble Contrechamps Genève – Expérimentation et héritage: Interview Serge Vuille / Contrechamps by Gabrielle Weber

Neo-profiles: Zürcher Hochschule der Künste, Contrechamps, Festival ZeitRäume BaselKatharina Rosenberger