Improvisation ohne Fallschirm

Der Luzerner Christoph Erb ist Saxophonist und Gründer und Kopf des Labels veto-records. Seit gut zehn Jahren ist er ausschliesslich frei improvisierend unterwegs. Ausschlaggebend dafür war ein halbjähriger Aufenthalt in Chicago. Dabei verbindet er die grösstmögliche musikalische Freiheit mit einem intensivierten Fokus auf das Wesentliche: Klang und Ausdruck.

 

Der Luzerner Saxophonist und Gründer von veto-records Christoph Erb. ©Peter Gannushkin

 

Jaronas Scheurer
Ich treffe Christoph Erb im Luzerner Neubad zum Mittagessen. Voller Energie, beinahe quirlig, dabei höchst fokussiert, scheint bei ihm dennoch das Gegenüber immer im Zentrum zu stehen. So auch in seiner Musik: Christoph Erb vereint in seiner Musik Intensität und Ausdruckswillen des Free Jazz mit reduziertem Fokus der Freien Improvisation und präzisen Klangforschungen an den Rändern des Instrumentalklangs zeitgenössischer Musik. Sein Saxophon röchelt, zirpt und quietscht. Es scheppert, klappert und zischt. Diese Klangvielfalt scheint jedoch höchst kontrolliert: Keine wilden Klangeskapaden oder chaotische Blow-Outs. Dem Klang wird Raum gelassen, damit er sich ausbreiten, entwickeln und verändern kann. Und im Zusammenspiel mit anderen Musiker:innen wird noch eine weitere Qualität Erbs hörbar: seine offenen Ohren für Interaktion und für das Gegenüber.

 


Christoph Erb (Saxophon) und Frantz Loriot (Bratsche): Iki, Album: Wabi Sabi, veto-records 2023.

 

Amsterdam, Luzern, Chicago

Christoph Erb ist in Zürich aufgewachsen. Nach der Musikschule, gründete er mit Kollegen eine Rockband. Danach ging es an die Jazzschule Luzern und er studierte dort bei Nat Su und John Voirol. Nach zwei Jahren Luzern wechselte er für ein Zwischenjahr an die Jazzschule Amsterdam: «Aber nach drei Wochen war es mir dort zu viel.» meint Erb. «Alle waren beim gleichen Dozent und alle klangen wie er.» Er schmiss die Jazzschule hin und ging an jede Jamsession, von der er Wind bekam. «Die Amsterdamer Jazz-Szene war also eigentlich meine Jazzschule.» So genoss er dort eine eigentlich wahnsinnig traditionelle Ausbildung: Zuhören, jammen, mitspielen.

Zurück in Luzern gründete er in den 00er-Jahren seine ersten Bands: erb_gut unter anderem mit Peter Schärli als Gast an der Trompete, Lila mit Hans-Peter Pfammatter an den Tasten, Flo Stoffner an der Gitarre und Julian Sartorius am Schlagzeug, Veto und BigVeto. «Ich wollte komponierte Musik mit Impro vermischen.» erinnert sich Erb. «Irgendwann waren wir mit Lila so eingespielt, dass wir gar nichts mehr abmachen mussten. Wir gingen auf die Bühne, spielten frei und liessen einfach die Themen einfliessen. Das war super.» Und dann kam Chicago…

Luzern und Chicago sind «Sister Cities». Das heisst konkret, dass die Stadt Luzern einen Atelierplatz in Chicago betreibt. Christoph Erb bewarb sich darauf und war 2011 ein halbes Jahr dort: «Eine Initialzündung.» so Erb. «Doch am Anfang war es zäh. Die Mentalität ist komplett eine andere. Auch die Art und Weise des Musikmachens. Ich bin an wahnsinnig viel Konzerte gegangen. Ich war fasziniert, wie stark der Ausdruck der dortigen Musiker war und dies mit viel weniger Technik. Für mein eigenes Spiel war diese Erkenntnis enorm wichtig. In Chicago bin ich dem ,Jazz’ sehr nahe gekommen. Eigentlich habe ich mich da zum ersten Mal gefragt: What is this thing called Jazz.»

Christoph Erb (Saxophon) und Jim Baker (Klavier): Motyl, Album: Bottervagl, veto-records/exchange 2012.

 

DIY auf allen Ebenen

Trotz Startschwierigkeiten fasste Erb Fuss und knüpfte Verbindungen, die auch über seinen halbjährigen Aufenthalt hinausreichten. Mehrere Kollaborationen mit Musiker:innen aus Chicago sind auf seinem Label veto-records erschienen und kurz vor dem Corona-Lockdown hat er ein grosses Chicago-Luzern-Festival organisiert, wofür er einige seiner Chicagoer Freund:innen nach Luzern einladen konnte. «Amsterdam und Chicago waren für mich zentral. Da fand ich zu meiner Stimme.» Und in Chicago lernte Erb dann vor allem eine Do-it-yourself-Mentalität kennen, die ihn bis heute begleitet.

Auch die Touren waren anders organisiert: «Kein Geld, auf dem Boden geschlafen, aber am Ende der Tour waren alle CDs verkauft: Entweder, du macht es mit Leib und Seele oder sonst kannst du es bleiben lassen. Wenig bis keine Fördergelder, keine Finanzierungsmöglichkeiten.» So bleibt einem nicht viel anderes übrig, als alles selber zu machen.

 

veto-records

Diese Do-it-yourself-Mentalität setzt sich auch in seinem Label veto-records fort: «Ich habe für meine erste Platte mit erb_gut lange ein Label gesucht, habe alles abgeklappert. Danach hatte ich keine Lust mehr und entschied: Ich mache es lieber selber, dann habe ich alles in der Hand.» Christoph Erb vertreibt auf veto-records nicht nur seine eigene Musik, sondern eine ganze Reihe weiterer Künstler:innen: Vor kurzem erschien das Album Close Up von Julius Amber, bestehend aus Elio Amberg am Saxophon und Julian Sartorius am Schlagzeug, und Christoph Erb ist begeistert: «Ich nehme Leute, die ich super finde und die Kick haben. Elio Amberg ist einer davon. Ich kenne ihn seit Kind, da ich sein Saxophonlehrer war. Und jetzt macht er sehr interessante Musik und wir spielen zusammen.»

 


Christoph Erb (Saxophon), Magda Mayas (Klavier), Gerry Hemingway (Schlagzeug): Under Water Falling, Album: Bathing Music, veto-records 2023.

 

Aktuelle Projekte

Mit Elio Amberg spielt er zusammen im Bassklarinettentrio Erbt Mäder am Berg? mit Niklaus Mäder. Das sei die einzige Formation, mit der er tatsächlich probt. «Die Besetzung ist sehr herausfordernd, weil wir alle dasselbe Instrument spielen.» Daneben spielt er mit dem Schlagzeuger Gerry Hemingway und der Pianistin Magda Mayas im Trio, mit dem Bratschisten Frantz Loriot im Duo und im Trio mit Emanuel Künzi am Schlagzeug und Christian Weber am Bass. 

 

Magda Mayas (Klavier), Christoph Erb (Saxophon) und Gerry Hemingway (Schlagzeug) im Trio. Zvg. von Christoph Erb.

 

So unterschiedlich diese Formationen sind, Erbs Stil ist immer gleich erkennbar: Der Ausdruckswille, die Intensität, der Fokus auf die Ränder des konventionellen Saxophonklangs. «Ich finde immer noch neue Klänge und Ausdrucksmöglichkeiten auf dem Saxophon, es ist wohl nie ausgeforscht. Für mich ist Konzerte zu spielen das Grösste. Und wenn im Konzert etwas Neues passiert – bei  mir, mit der Band und im Gesamtklang – dann bin ich danach richtig happy.. Improvisation sollte immer wieder neu sein. Hauptsache keinen Fallschirm.»
Jaronas Scheurer

Christoph Erb, veto-records, veto-records/exchange, Magda Mayas, Gerry Hemingway, Julian Sartorius, Frantz Loriot, Christian Weber, Flo Stoffner, Elio Amberg

Kommende Veranstaltungen:
Erb-Loriot Duo:
22.12.2023         Mullbau Luzern
9.1.2024             Das Institut Zürich

Erbt Mäder am Berg? Plus Thomas Lehn (Synthesizer) tourt Ende Februar 2024 in der Schweiz.

Kommende Veröffentlichungen auf veto-records:
In Kürze erscheinen zwei neue LPs mit Christoph Erb auf veto-records: Die neue Platte Wabi Sabi des Erb-Loriot Duos und die neue Platte Spazio Elle des Trios Erb Weber Künzi.

Eben erschienen als digitales Release ist das Soloalbum ACCIAIo DOLCE FUSO. Study on Extended Sax des italienischen Saxophonisten Mario Gabola auf veto-records.

Neo-Profile:
Christoph Erb, Julian Sartorius

 

Contrechamps Genève feiert das Hören

Ensemble Contrechamps Genève startete eine dichte Saison mit zahlreichen Highlights. Das Programm ist exemplarisch für die neue Ausrichtung des wichtigsten Genfer Ensemble für zeitgenössische Musik unter der künstlerischen Leitung des Perkussionisten Serge Vuille. Er übernahm Contrechamps vor fünf Jahren und hat die Ensemble-DNA seither radikal neu geprägt. Serge Vuille im Gespräch:

 

Portrait Serge Vuille © Serge Vuille

 

Gabrielle Weber
Contrechamps bespielt den grossen Konzertsaal der Victoria Hall in Genf, es eröffnet die Festivals Biennale Musica Venezia oder Sonic Matter Zürich oder es lädt ganz einfach – ohne Konzert – zu einem Vinyl- und neo.mx3.ch-Release-Hörwochenende in Genf ein. Die unterschiedlichen Veranstaltungen sind charakteristisch für die neue Ausrichtung des traditionsreichen Ensembles unter Serge Vuille.

„Contrechamps sucht ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Musik-Praktiken“, sagt Vuille. Da sind einerseits Konzerte mit Instrumentalmusik für grosses Ensemble, oft verbunden mit Komponistenpersönlichkeiten und der jungen Szene der Romandie, andererseits Projekte in Verbindung mit anderen Sparten und Musikgenres, in Kombination mit Visuellem und Performativem, Elektronik, Pop oder Jazz. Und immer geht es Vuille auch um ganz spezielle Hörerlebnisse.

Für Ersteres stand anfangs Saison beispielsweise ein Konzert zum 65. Geburtstag des Genfer Komponisten Michael Jarrell, ein „traditionelles“, dirigiertes Konzert für große Ensembles in der Victoria Hall. Contrechamps gab dazu sieben neue kurze Stücke an seine Studierenden in Auftrag. „Damit unterstützen und fördern wir die regionale Kreationsszene, das ist uns ein wichtiges Anliegen“, sagt Vuille.

Ende 2022 veranstaltete es bereits eine Hommage an Éric Gaudibert, vor zehn Jahren verstorbener Lausanner Komponist, der die Szene wesentlich prägte. Dabei führte es nebst Gaudibert 22 neue Stücke ehemaliger Studierender auf, Miniaturen von je nur zirka einer Minute Dauer, in ganz unterschiedlicher, frei gewählter Besetzung.

 


Éric Gaudibert, Skript, pour vibraphone et ensemble, Contrechamps, Bâtiment des Forces Motrices de Genève, Concours de Genève, 2009, Eigenproduktion SRG/SSR

 

In einem ganz anderen Kontext und Setting, zur Eröffnung der Biennale Musica Venezia, zeigte Contrechamps GLIA für Instrumente und Elektronik, ein Werk der 2009 verstorbenen US- Elektropionieren und Klangkünstlerin Maryanne Amacher aus dem Jahr 2005. An Amachers Schaffen interessiert Vuille auch der Aspekt spezieller gemeinsamer Hörerfahrung: Zur Festivaleröffnung in einer grossen leergeräumten und abgedunkelten Halle der umgenutzten Schiffswerft Arsenale, ging das zahlreiche Publikum (darunter auch die Autorin), umgeben von Lautsprechern, extremen Klangveränderungen umherwandernd nach: die Instrumentalist:innen spielten auf einem Podest, als vibrierende Klangskulptur, oder sie bewegten sich mit den Zuhörenden. „GLIA ist  fast eine Klanginstallation, ein Teil des Stücks spielt sich in den Innenschwingungen im Ohr ab, nicht im Raum und es basiert nicht auf einer Partitur, sondern auf mündlichen Schilderungen damals Beteiligter: das fordert einen hohen kreativen Anteil von jedem Einzelnen der Interpreten“, sagt Vuille.

 

Maryanne Amacher, ‘GLIA’ am Eröffnungskonzert der Biennale Musica Venezia, Contrechamps, Arsenale 16.10.2023 © Gabrielle Weber

 

Zurück zu den Gaudibert-Miniaturen: sie finden sich nun auf einer der eingangs erwähnten neuen Vinyl-Schallplatten und markieren den Beginn der neuen Vinyl-Reihe Contrechamps/Speckled-Toshe, zusammen mit dem Lausanner Label Speckled-Toshe. „Die 22 Kompositionsaufträge von je einer Minute, das war eine immense Arbeit und es entstanden so vielfältige Werke, dass wir die Hommage mit einem bleibenden Objekt dieser neuen Generation beschliessen wollten. Die Schallplatte ist dafür das passendste Format: es gibt kaum etwas Besseres sowohl in Bezug auf die Aufnahme- und Übertragungsqualität, als aufs Objekt“.

 


Daniel Zeas, «Eric – Cara de Tigre» für Ensemble und Tonband, eine der 22 Miniaturen auf der neuen Vinyl-Schallplatte, Contrechamps / Speckled-Toshe 2023: Der Hintergrund: Gaudibert sei Zea im Traum kurz nach dessen Tod als lachender Tiger erschienen: er habe danach lange geweint zwischen Trauer und Freude.

 

Zum Vinyl-launch lud Contrechamps wieder zu einem speziellen Hörerlebnis ein: im les 6 toits , einem angesagten Genfer Kulturzentrum auf einer ehemaligen Industriebrache, konnte man sich ein Wochenende lang in Hörlounges die neuen Vinyl-Releases und eigene Lieblings-Schallplatten zu Ohr führen. Und mit einer Vernissage wurde auch das frisch veröffentlichte Contrechamps-Audioarchiv auf neo.mx3.ch gefeiert. Dazu gab’s live-aufgenommene oder -ausgestrahlte Radiosendungen auf RTS und SRF2Kultur rund ums Hören und qualitatives Aufnehmen zeitgenössischer Musik.

Wie Vinyl stehe die SRG-online-Plattform neo.mx3.ch für eine Art des Hörens und eine Sorgfalt der Produktion: „Beide sind darin verbunden, dass sie der zeitgenössischen Musik Visibilität und Dauer verleihen – durch sorgfältige Neueditionen und die Pflege von historischen Archiven“.

Auf der Plattform für das Schweizer zeitgenössische Musikschaffen finden sich auch zahlreiche selten gespielte Werke in ungewöhnlicher Besetzung, wie Michael Jarrells «Droben schmettert ein greller Stein» von 2001 für Kontrabass, Ensemble und Elektronik.

 


Contrechamps nahm Jarrells Stück 2005 im Radiostudio Ansermet unter der Leitung von George Benjamin auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Contrechamps lädt sukzessive sein gesamtes umfangreiches Radioarchiv hoch, zurückgehend bis 1986, den frühsten Aufnahmen. Es sei wichtig, dass solche Plattformen existierten und  geschätzt  würden. „Viele der Stücke sind sonst nirgends hörbar: das ist einzigartig“, sagt Serge Vuille.

Entdecken lässt sich auch zum Beispiel Feux von Caroline Charrière. Die 1960 in Fribourg geborene Komponistin Charrière verstarb früh, bereits 2018, und Contrechamps setzt sich für ihr Werk ein. Vuille ist es auch ein Anliegen, dem Schaffen von Komponistinnen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und zu einer ausgewogeneren Genderbalance in der zeitgenössischen Musik beizutragen.

 


Feux für Flöte, Klarinette, Marimba, und Streicher von Caroline Charrière, dirigiert von Kaziboni Vimbayi, führte Contrechamps 2019 in der Genfer Victoria Hall auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Am Eröffnungskonzert des diesjährigen Zürcher Festivals Sonic matter präsentiert Contrechamps neue Stücke von drei Komponistinnen aus dem Nahen Osten für kleines elektronisches Ensemble. Da kommen weitere Leidenschaften Vuilles zusammen: „Ich interessiere mich schon lange sehr für die Szene des Nahen Ostens. Sie ist in Bezug auf Kreation, insbesondere in allem, was mit Elektronik zu tun hat, sehr lebendig“, sagt Vuille. Dass Sonic Matter dieses Jahr mit dem Gastfestival Irtijal aus Bejrut kollaboriert, sei eine hervorragende Gelegenheit zur ersten Zusammenarbeit. Und sicherlich auch für einzigartige Hörerfahrungen.
Gabrielle Weber

 

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Sonic Matter: Becoming / Contrechamps 30.11.2023, 19h (Einführung 18h)
Biennale Musica Venezia, Maryanna Amacher, GLIA / Contrechamps, 16.10.2023
Genève, Les 6 toits: Contrechamps: Partage ton Vinyle!, 20-22.10.2023

Speckled-Toshe; Contrechamps/Speckled-Toshe:
1.Vinyl: 22 Miniatures en hommage à Éric Gaudibert
2.Vinyl: Benoit Moreau, Les mortes

Sonic matter, Nilufar Habibian, Irtijal, les 6 toits

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 18.10/21.10.23: Partage ton Vinyle! Ensemble Contrechamps Genève feiert das Hören, Redaktion Gabrielle Weber
neoblog, 7.12.22: Communiquer au-delà de la musique, Autorin Gabrielle Weber
neoblog, 19.6.2019: Ensemble Contrechamps Genève – Expérimentation et héritage, auteur Gabrielle Weber

Sendungen RTS:
L’écho des pavanes, 21.10.23: Aux 6 toits, enregistrer la musique contemporaine,  auteur: Benoît Perrier
Musique d‘avenir, 30.10.23, Partage ton Vinyle, ta cassette ou ta bande Revox!  auteur: Anne Gillot

Neo-Profile:
Contrechamps, Daniel Zea, Festival Sonic Matter, Benoit Moreau

 

 

Vom Zauber der Zusammenarbeit

Bei den Donaueschinger Musiktagen 2023 bringt das Ensemble Ascolta Dunst – als käme alles zurück von Elnaz Seyedi zur Uraufführung. Es ist als Auftragswerk des Ensembles im Tandem mit der Schriftstellerin Anja Kampmann entstanden.
Elnaz Seyedi im Portrait von Friederike Kenneweg.

 

Die Komponistin Elnaz Seyedi, lächelnd, schwarz gekleidet und vor grauem Hintergrund.
Portrait der Komponistin Elnaz Seyedi. © Roya Noorinezhad

 

Friederike Kenneweg
Komponieren heißt für Elnaz Seyedi immer auch: Zusammenarbeit. Die Komponistin, die 1982 in Teheran geboren wurde und u.a. bei Younghi Pagh-Paan in Deutschland und Caspar Johannes Walter an der Hochschule für Musik Basel studiert hat, zieht viel Energie aus den ganz unterschiedlichen Begegnungen und Konstellationen, die ihre Tätigkeit mit sich bringt. Dunst – als käme alles zurück ist für Elnaz Seyedi die zweite Zusammenarbeit mit dem Ensemble Ascolta.

“Das ist schon ein Vorteil, weil die Musiker wissen, was sie von mir erwarten können, und sich dann anders auf die Arbeit mit mir einlassen können.”

 

Das Glück auf der Suche nach Klängen

Das führte zu besonderen Glücksmomenten bei den Vorproben für Seyedis Donaueschingen-Debüt, als sie mit allen Musikern des Ensembles in Einzelproben nach den richtigen Klängen für das Stück suchte. Zum Beispiel mit dem Schlagzeuger Boris Müller.

“Er holte immer noch mehr Sachen und Muscheln und Steine hervor, und am Ende sah der ganze Raum aus, als hätten da lauter Kinder acht Stunden lang gespielt, und ich bin nach Hause gefahren mit Material für drei Stücke. Das ist einfach das Schönste und gibt mir viel Energie.”

 


Auch Glasfluss von Elnaz Seyedi entstand aus einer engen Zusammenarbeit mit der Perkussionistin Vanessa Porter im Jahr 2022.

 

Wagnis: Gemeinsam komponieren

Eine besondere Form der Zusammenarbeit verbindet Elnaz Seyedi mit dem Komponisten Ehsan Khatibi, der ebenso wie sie aus dem Iran stammt und mit dem sie schon lange befreundet ist. Als sie 2019 beim Besuch des Impuls-Festivals in Graz zufällig im Hotel Zimmernachbarn waren und daraufhin viel Zeit miteinander verbrachten, stellten sie fest, wie ähnlich sie über Musik dachten und wie fruchtbar die Diskussionen über Konzerte und Musik waren. Und so kam die Idee auf, gemeinsam zu komponieren. Bereits das erste Projekt, ein Entwurf für eine Ausschreibung der Neuköllner Oper Berlin für eine Kammeroper, entfaltete einen erstaunlichen Sog. “Erst hatten wir nur eine kleine Idee, aber in drei Wochen hatten wir ein fertiges Konzept, inklusive Licht und Bühnenbild.” Auch wenn ihr Entwurf nicht genommen wurde: ein Anfang war gemacht.

 

Ehrlichkeit als Voraussetzung

Mit dem Entwurf für eine Umsetzung von Der Fremde von Albert Camus, bei dem der Philosoph Johannes Abel ihr Planungsteam ergänzte, erhielten sie schon den zweiten Preis bei einem anderen Kompositionswettbewerb. Und bei den Bludenzer Tagen für zeitgemäße Musik wurde 2021 ihre gemeinsame Komposition ps: and the trees will ask the wind für Kontrabass-Paetzold-Flöte, Violine, Objekte, Audio- und Videozuspielung uraufgeführt, in dem sie zusammen die gesellschaftspolitischen Ereignisse im Iran künstlerisch verarbeiteten.

“Wir haben da inzwischen eine Art gefunden, wie wir gegenseitig miteinander genauso kritisch sein können wie mit uns selbst. Wir sind sehr ehrlich in der gemeinsamen Arbeit, und das macht es manchmal auch schwer, aber wenn wir uns mal nicht einig sind, machen wir so lange weiter, bis wir beide zufrieden sind. Und am Ende kommen wir zusammen auf eine viel bessere Lösung.”

 


In Die Zeiten – Versuch (über das Paradies) für Bariton und Klavier, das im August 2023 beim Lucerne Festival uraufgeführt wurde, vertonte Elnaz Seyedi einen Text des iranischen Dichters Ahmad Shamlou.

 

Arbeiten an neuen Orten

Inspiration zieht Elnaz Seyedi auch aus Ortswechseln, wie sie das Reisen mit sich bringt. Aus diesem Grund mag sie auch Aufenthaltsstipendien besonders. Denn der Abstand vom Alltag, findet die Komponistin, lässt einen plötzlich die Schönheit des Gewohnten erkennen, die einem sonst im Trott verborgen bleibt – ein Gedanke, den sie in Postkarte (Moorlandschaft mit Regenbogen) verarbeitet hat, das sie 2016 für das Ensemble S201 aus Essen komponierte. 2020 führte ein Aufenthaltsstipendium der Bartels Fondation sie in den Kleinen Markgräflerhof in Basel. Und als sie 2021 einige Monate im Künstlerhof Schreyahn in Niedersachsen verbrachte, war sie am Ende dieser Zeit selbst ganz erstaunt, wie produktiv sie dort gewesen war.

 

Das Orchesterstück A Mark of your breath von Elnaz Seyedi wurde vom Aufenhalt im Künstlerhaus Schreyahn inspiriert – vor allem von der Weite des Himmels und der Landschaft im Wendland.

 

‘Dunst’ – Uraufführung in Donaueschingen 2023

Auch in diesem Herbst arbeitet Elnaz Seyedi dank eines Aufenthaltsstipendiums an einem anderen Ort: im Künstlerhaus Otte in Eckernförde, wo sie ihre Arbeit mit Konzerten und Filmabenden dem dortigen Publikum nahe bringen kann. Außerdem hat sie dort gerade die Partitur von Dunst – als käme alles zurück abgeschlossen. Für das Konzertprogramm Echoräume des Ensembles Ascolta bei den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen haben sich zwei künstlerische Tandems aus einer Komponistin und einer Schriftstellerin gebildet und, dabei ganz frei in ihrer Herangehensweise, je ein gemeinsames Werk erarbeitet. In dem Stück von Elnaz Seyedi und der Autorin Anja Kampmann für zwei Stimmen und Ensemble geht es um die Ästhetik des Fragments und den Übergang zwischen Sprache und Musik.

Und wer weiß, welche kompositorischen Ideen der Aufenthalt in der Hafenstadt an der Ostsee für Elnaz Seyedi noch so mit sich bringt.
Friederike Kenneweg

 

Uraufführung Donaueschinger Musiktage: Samstag, 21. Oktober 2023, 11:00, Mozart-Saal Donaueschingen, Konzert Echoräume mit dem Ensemble Ascolta: Elnaz Seyedi und Anja Kampmann Dunst – als käme alles zurück; Iris ter Schiphorst und Felicitas Hoppe: Was wird hier eigentlich gespielt?

Elnaz SeyediDonaueschinger Musiktage 2023, Ensemble Ascolta, Younghi Pagh-Paan, Caspar Johannes Walter, Hochschule für Musik BaselAnja Kampmann, Ehsan Khatebi, Vanessa Porter, Ensemble S201, Neuköllner Oper, Künstlerhaus Otte Eckernförde, Künstlerhof Schreyahn, Bludenzer Tage für zeitgemäße Musik, Lucerne Festival, Impulsfestival Graz, Bartels Fondation

 

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 2.6.2021: Nach neuen Meeren – die Komponistin Elnaz Seyedi, Redaktion Cécile Olshausen

neo-profiles:
Elnaz SeyediDonaueschinger MusiktageLucerne Festival Contemporary Orchestra

 

 

 

Neue Energien: Klangkunst im Wallis

Die Biennale Son findet im Herbst 2023 zum ersten Mal statt. Mit Sion, Martigny und Sierre (und ein paar kleineren Spielorten etwas außerhalb) bespielt sie den französischsprachigen Teil des Wallis entlang der Rhône über sechs Wochen mit Klanginstallationen, Konzerten und Performances.

 

Friedemann Dupelius
Eisblau liegt auf 2.364 Metern Höhe der Lac des Dix. Seine Staumauer gilt mit 285 Metern als das höchste Bauwerk der Schweiz. Über Druckleitungen ist der Damm unter anderem mit dem Chandoline-Kraftwerk in Sion verbunden. Seit Juli 2013 fließt darin kein Wasser mehr hinab ins Rhône-Tal, die Rohre sind stillgelegt. Und doch knistert es weiter in dem modernistischen Bau, seiner Aura wegen. So stark, dass er ins Visier dreier Kuratoren geriet. Seit Mitte September ist das Kraftwerk nun die Zentrale der neuen Biennale Son. Hier erzeugen internationale Künstler:innen durch den Dialog ihrer Arbeiten mit der industriellen Architektur neue Energie. Und von hier aus versorgt die Biennale Son verschiedene Orte entlang der Rhône mit künstlerischem Strom.

 

(c) Olivier Lovey
Der Tessiner Architekt Daniele Buzzi entwarf 1934 das Kraftwerk “Chandoline”, das die Hauptausstellung der Biennale Son beherbergt.

 

Die Biennale Son präsentiert Kunstformen, die in der Romandie für gewöhnlich eher in Genf oder Lausanne stattfinden. Und doch gibt es auch hier eine Tradition und eine kleine Szene für experimentelle Musik. Seit den 90er-Jahren ist die Vereinigung Dolmen in der Region aktiv, daneben ist das etwas mehr am Pop orientierte Palp-Festival für Experimente bekannt.

 


Christian Marclay, Screenplay part 2, gespielt vom Ensemble Babel

 

Auch der klangaffine Bildende Künstler Christian Marclay kommt aus dem Wallis – genauso wie Luc Meier, Co-Kurator der Biennale Son, der sich darüber freut, dass er Marclay für die Erstausgabe des Festivals in der gemeinsamen Heimat gewinnen konnte. Der Exil-Schweizer ist mit zwei Arbeiten Teil der Hauptausstellung im Kraftwerk. Künstler:innen wie Christian Marclay sind Gründe dafür, warum die Biennale Son ins Leben gerufen wurde: „Seit langem befruchten sich Klang und Bildende Kunst gegenseitig“, sagt Luc Meier, „doch gerade in den letzten Jahren hat das nochmal deutlich zugenommen. Die Grenzen zwischen den Disziplinen werden durchlässiger. Das zeigt sich auch in Begriffen, die neuerdings in den Kunstdiskurs geschwappt sind: Man spricht etwa davon, sich auf andere, nicht-menschliche Lebensformen einzuschwingen oder mit der Umwelt zu resonieren.“

 

Die Basilique Valère auf dem südlichen Burghügel von Sion

 

Himmelblaue Rhône, spätgotische Orgel

Die Auseinandersetzung mit der Landschaft und ihres Wandels ist bei einem Kunstfestival in solch einer Umgebung unvermeidbar. In Sion ist die Rhône noch himmelblau, wirkt frisch und gesund, malerisch eingebettet in die kantigen Gebirgszüge am Horizont. Doch machen sich klimatische Veränderungen auch hier bemerkbar. Der Rhône-Gletscher ist seit vielen Jahren im Rückgang begriffen. So mikrofonierte die kanadische Klangkünstlerin Crys Cole den Grande Dixence-Staudamm und brachte den tönenden Geist des Wassers wieder in das ansonsten spukend leere Kraftwerk zurück. Und auf organisatorischer Ebene versucht die Biennale Son, ihren eigenen ökologischen Fußabdruck in den Alpen möglichst gering zu halten. Sie hält Flugzeugreisen minimal und achtet auf möglichst geringen Stromverbrauch und Materialverschleiß.

Neben Stauseen und Bergen mit Gipfelkreuzen prägen Kirchen das Landschaftsbild im Wallis. „Es ist ein traditionell katholischer Kanton und religiöser als andere Orte in der Romandie“, weiß Luc Meier. In einigen der Kapellen und Basiliken fand die Biennale Son ihre Spielorte. Meier vergleicht sie mit dem Kraftwerk in Sion: „Ohne esoterisch klingen zu wollen, aber auch in diesen Kirchen gibt es eine Art von Energie, die sich transformieren lässt. So wie wir das Kraftwerk in Schwingung versetzen können, können wir auch diese Kirchen neu resonieren lassen.“ In der Sioner Basilique de Valère findet sich eine der ältesten Orgeln der Welt, fast 600 Jahre alt. Wenn das queere Duo Judith Hamann und James Rushford dieses Instrument spielen darf, wird die Floskel von der Transformation dringlich und greifbar. „Wer durfte hier bislang eintreten? Wer durfte hier Musik machen?“, fragt Luc Meier. „Welches Echo werden solche Performances haben? In den Bergen um uns, aber auch in den sozialen Räumen, die wir dabei schaffen?“

 

Die Schwalbennestorgel der Basilique de Valère wurde 1435 gebaut

 

Begegnungen im Rhône-Tal

Diese Orte der Begegnung sind tatsächlich erst im Entstehen begriffen. Das Team der Biennale Son verlässt sich auf ein allgemein kunst- und musikinteressiertes Schweizer Publikum, das den Weg in die Alpen nicht scheut. Zugleich sieht Luc Meier aber auch das Potenzial, ein lokales Publikum neugierig zu machen. Außerdem habe das kuratorische Team darauf geachtet, dass die Live-Performances an Freitagen und Samstagen stattfinden. In Locations wie Jazzclubs und Theatern treten nahmafte Künstler:innen wie Saâdane Afif, Félicia Atkinson, Alvin Curran, David Toop oder Kassel Jaeger auf. Und wer sich eingehender mit der Geschichte klangbasierter Kunst beschäftigen möchte, kann die Ausstellung der Sammlung FRAC Franche-Comté aus dem französischen Besançon in der Médiathèque Martigny besuchen.

 


Das Eklekto Geneva Percussion Center spielt Choeur Mixte für 15 snare drums (2018) von Alexandre Babel. Beide sind zu Gast bei der Biennale Son.

 

Und dann ist da noch die Hochschule Édhéa (École de design et haute école d’art du Valais). Im beschaulichen Sierre kann man mittlerweile einen künstlerischen Bachelor explizit im Bereich Klang studieren. Studierende und Alumni der Édhéa sind aktiv an der Biennale Son beteiligt, hinter den Kulissen und als Ausführende: Claire Frachebourg hat quer durch den Keller des Kraftwerks eine Skulptur gezogen, die an ein Boot oder eine Mumie erinnert. Den Soundtrack zum Objekt hat Frachebourg während einer Künstlerinnen-Residenz auf einem Boot aufgenommen, das von Island nach Grönland fuhr. Noch mehr klingendes Wasser, noch mehr Power fürs Kraftwerk, das endlich wieder tun darf, wofür es einst gebaut wurde: Energie erzeugen und verteilen.
Friedemann Dupelius

Biennale Son, 16.9.-29.10., Wallis
Der Podcast der Biennale Son führt ins Programm ein
Podcast bei Spotify

École de design et haute école d’art du Valais (Édhéa)Klangkunst-Sammlung; FRAC Franche ComtéWalliser Musik-Initiative DolmenFestival PalpClaire Frachebourg

neo-Profile:
Alexandre BabelEklektoFrançois BonnetEnsemble Babel

Ein moderner Kapellmeister – Titus Engel

Der in Berlin lebende Schweizer Dirigent Titus Engel ist ab dieser Saison Principal Conductor der Basel Sinfonietta. Ein Portrait von Jaronas Scheurer

Jaronas Scheurer
«Es gibt diese alte Kapellmeister-Tradition: Der Kapellmeister, der sozusagen im Opernhaus lebt und die ganze Musikgeschichte dirigiert, egal was kommt, und versucht, das auf möglichst gutem Niveau zu machen. Das finde ich schon irgendwie einen tollen Ansatz.» meint der Schweizer Dirigent Titus Engel einmal im Laufe des Interviews. Dementsprechend wehrt er sich auch gegen die Bezeichnung, er sei Spezialist für Neue Musik, obwohl er ab dieser Saison neuer Principal Conductor der Basel Sinfonietta ist. Das einzige Orchester der Schweiz, das sich ausschliesslich auf Musik nach 1950 spezialisiert hat. «Wenn ich Neue Musik dirigiere, z.B. eine Messiaen-Oper wie diesen Sommer in Stuttgart, dann ist eine Phrasierungs-Erfahrung z.B. von Johannes Brahms hilfreich, wenn plötzlich eine Kantilene kommt. Hingegen kann die oft sehr rhythmische Neue Musik wiederum viel helfen, wenn man bei traditioneller Musik die rhythmischen Parameter wirklich auf den Punkt bringen und schleifen möchte.» Damit sind schon einige Eckpunkte von Titus Engels Schaffen abgesteckt: eine präzise Klangsprache, eine dienende Haltung gegenüber dem jeweiligen Werk und eine grosse musikalische Breite.

 

Titus Engel, neuer Principal Conductor der Basel Sinfonietta, ©Kaupo Kikkas

 

Diese musikalische Breite war schon früh vorgezeichnet. Als Jugendlicher spielte er Kontrabass und Bassisten sind damals wie heute sehr gefragt. So war er bald in den unterschiedlichsten musikalischen Kontexten unterwegs: von Bach bis Boulez oder auch in Big Bands. Nachdem Titus Engel in Zürich und Berlin Philosophie und Musikwissenschaft studiert hatte, entschied er sich für eine Laufbahn als Dirigent und studierte in Dresden bei Christian Kluttig Dirigieren. Weitere Einflüsse kamen unter anderem von Peter Eötvös, Sir Colin Davis und Sylvain Cambreling.

Michael Wertmüller: The Blade Dancer, SWR Symphonieorchester unter Titus Engel, UA 2020 an den Donaueschinger Musiktagen

 

Steile Laufbahn

Schon in seinem zweiten Studienjahr konnte Engel die Uraufführung von Benjamin Schweitzers Oper Jakob von Gunten dirigieren. Kurz darauf wurde er musikalischer Leiter des Dresdner Ensemble Courage. Es folgten Auftritte in ganz Europa an den grossen Opernhäusern und Festivals z.B. 2020 an den Donaueschinger Musiktagen. Während die zeitgenössische Musik weiterhin einen grossen Stellenwert in seinem Repertoire einnahm, trat er auch immer wieder mit klassischer Musik oder gar mit Alter Musik hervor, so z.B. mit einer vielgelobten Inszenierung von Claudio Monteverdis Oper L’Orfeo mit dem Ensemble Resonanz 2006. Weitere Highlights von Titus Engels Laufbahn sind sicher das Dirigat von Karlheinz Stockhausens Oper Donnerstag aus dem Licht-Zyklus am Theater Basel 2016 und die Wahl als «Dirigent des Jahres» 2020 durch das Fachmagazin Opernwelt. Somit ist ein weiterer Eckpunkt Engels abgesteckt: die Oper. Obwohl – es scheint zu kurz gegriffen, Titus Engel einfach als Operndirigenten abzutun: «Für meine Arbeit ist das Zusammenspiel zwischen den Künsten wichtig.» meint er dazu. «Natürlich ist die Musik primär ein akustisches Phänomen, aber weil die Musik inhaltlich oft offen ist, glaube ich, dass die Zusammenarbeit mit anderen Kunstsparten der Musik und gerade der zeitgenössischen Musik auch guttut.» Titus Engel macht sich nicht nur bei Operninszenierungen Gedanken über den visuellen und szenischen Aspekt des Auftritts.

 

Simon Steen-Andersen: TRIO, SWR Symphonieorchester (Dir. Emilio Pomàrico), SWR Vokalensemble (Leitung Michael Alber) und SWR Big Band Leitung Thorsten Wollmann), UA 2019 an den Donaueschinger Musiktage

 

Darin spiegelt sich auch ein Vermittlungsgedanke, der Titus Engel wichtig ist, gerade wenn es um zeitgenössische Musik geht: «Mir geht es nicht um Ablenkung von der Musik, die sie in ihrem Kern schwächen würde, sondern ich glaube, gerade kreative Formate, die über das normale Konzert hinausgehen, können auch für ein breiteres Publikum interessant sein und letztlich auch die Konzentration auf die Musik schärfen.» So wird auch in der kommenden Saison der Basel Sinfonietta das konventionelle Konzertformat immer wieder gesprengt.  Beim Eröffnungskonzert am 1. Oktober 2023 wird das Stück TRIO von Simon Steen-Andersen gespielt, in dem sich ein humorvoller Dialog zwischen Videoaufnahmen von Orchesterproben und dem real spielenden Orchester entspinnt. Am 26. April 2024 spielen die Basel Sinfonietta und die Band des Zürcher Jazzpianisten Nik Bärtsch eine Neukomposition von Bärtsch, bei der das Lichtdesign eine wichtige Rolle spielen wird. Und am Schlusskonzert der Saison im Juni 2024, bei der ausschliesslich Kompositionen von Frauen gespielt werden, tritt die junge spanische Komponistin Gemma Ragués Pujol als Performerin auf und das Publikum kann beim Werk Earth Plays V von Cathy Milliken auf fossilen Steinen mitspielen. Video, Licht, Performance-Kunst oder Publikumspartizipation – für Titus Engel dürfen die Grenzen zwischen den Künsten, zwischen Musiker:innen und Publikum, zwischen den verschiedenen Musikrichtungen oder zwischen reinem Konzert und theatraler Inszenierung durchaus hinterfragt werden.

 

Die Basel Sinfonietta, ©Marc Doradzillo

 

Basel Sinfonietta – ein Orchester für die ganze Stadt

Diese Lust am Experiment und am künstlerischen Abenteuer teilt Titus Engel mit der Basel Sinfonietta. Sie ist für ihn das spannendeste Orchester der Schweiz: «Weil sie a) demokratisch organisiert ist. Das heisst, es kommt unglaublich viel Energie und Engagement vom Orchester selbst. Und b), weil sie in ihrer Offenheit für spannende Programme und ihrer Ausrichtung auf die zeitgenössische Musik total zu mir passt.» Er hat nun auch schon klare Ideen für seine Zeit bei der Basel Sinfonietta: So würde er gerne an einem eigenen «Sinfonietta-Sound» arbeiten. «Natürlich muss man in dem breiten Repertoire, was die Basel Sinfonietta spielt, sehr flexibel sein. Aber da was zu finden, was noch spezifischer ist, das interessiert mich. Also z.B. extreme Dynamik, auch mal den Mut, sehr süffig zu spielen. Dann wieder knackig und hart.» Und andererseits interessiert ihn die körperliche, performative Präsenz des Orchesters, was sich mit seinem Interesse an anderen Kunstformen verbindet. «Ich würde sehr gerne mit dem Orchester spannende Formate entwickeln: z.B. draussen am Rhein oder im Wald spielen, auch um noch ein breiteres Publikum zu erreichen. Dafür braucht es natürlich auch noch mehr Vermittlungsarbeit. Das heisst, dass wir auch Projekte machen mit gesellschaftlichen Gruppen, die nicht unbedingt ins Stadtcasino ans Orchesterkonzert gehen, dass wir zu diesen hingehen und gemeinsam Projekte entwickeln. Ich würde die Basel Sinfonietta gerne breiter in der Stadt abstützen, damit wir ein Orchester für die ganze Stadt werden.»

Titus Engel hat also einiges vor. Nur, die Basel Sinfonietta ist ein sich selbst verwaltendes Orchester. Die Musiker:innen können also bei der Programmierung mitentscheiden. Zweifellos wird er jedoch mit seinem Wunsch, die Basel Sinfonietta mittels unkonventionellen, spannenden Programmen und Formaten zu einem Orchester für die ganze Stadt Basel zu machen, bei den Mitgliedern offene Türen einrennen.
Jaronas Scheurer

 

Das Eröffnungskonzert der Basel Sinfonietta unter Titus Engel findet am 1. Oktober 2023 um 19:00 im Sportzentrum Pfaffenholz in Saint-Louis (F) statt.

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musikmagazin, 30.9.2023: Kaffeegespräch mit Titus Engel von Jaronas Scheurer.

Musik unserer Zeit, 20.2.2019: Der Derwisch: Titus Engel, Redaktion Florian Hauser.

Musikmagazin, 1.2.2014: Kaffeegespräch mit Titus Engel von Mariel Kreis, Redaktion: Florian Hauser (ab Min. 28:47).

Neo-Profile:
Titus Engel, Basel Sinfonietta, Gemma Ragués, Michael Wertmüller, Simon Steen-Andersen, Nik Bärtsch, Donaueschinger Musiktage

Kunstraum Walcheturm – der unmögliche Musikraum mitten in Zürich

Sommerserie zum Schweizer Musikpreis No. 3 :  Spezialpreis an den Kunstraum Walcheturm – der Konzertort nehme «eine herausragende Stellung für die Weiterentwicklung der experimentellen Musik und Kunst in der Schweiz ein», so die Begründung der Jury.
Jaronas Scheurer sprach mit dem künstlerischen Leiter Patrick Huber.

 

Der Kunstraum Walcheturm im Zeughaushof Zürich ©Lorenzo Pusterla

 

Jaronas Scheurer
Patrick Huber treffe ich, als er gerade den Aufbau einer Party überwacht, die am selben Abend stattfindet. Die Party hat sich eingemietet und es gibt viel zu erklären und zu verhandeln. Zudem steht Huber kurz vor seinen Ferien: Zwischen Diskussionen mit den Tontechniker:innen, Einweisungen für das Barpersonal und letzten Ferienvorbereitungen findet er trotzdem Zeit für das Interview. Das Dazwischen-Sein, zwischen verschiedenen Projekten, zwischen Partys, experimenteller Musik, zeitgenössischer Kunst, Experimentalfilm. Dieses Dazwischen-Sein scheint Modus Operandi für Patrick Huber und den Kunstraum Walcheturm: «Diesen Ort sollte es eigentlich gar nicht geben.» meint er im Laufe des Interviews.

Dieser Ort – der Kunstraum Walcheturm auf dem alten Zeughaushof circa 10 Minuten Gehdistanz vom Zürcher Hauptbahnhof – ist der wichtigste Veranstaltungsort für zeitgenössische und experimentelle Musik in Zürich und hat dieses Jahr einen der Spezialpreise Musik des Bundesamts für Kultur (BAK) erhalten.

Galerie Walcheturm

Wie kam es dazu, dass der Walcheturm heute vor allem für spannende Konzerte und weniger für aufregende Kunst bekannt ist? Immerhin wurde der Walcheturm in den 1950er als Verein zur Förderung von junger Schweizer Kunst und Künstlern gegründet. Und in den 1980er-Jahren formten die heute international renommierten Kunsthändler:innen Eva Presenhuber und Iwan Wirth die Galerie Walcheturm, wie der Kunstraum, benannt nach dem ersten Standort an der Walchestrasse, damals hiess, zu einem der wichtigsten Akteure der Zürcher Kunstszene. «Irgendwann wurde klar», meint Patrick Huber, «dass ein Verein nicht das richtige Vehikel ist für ein derart kommerzielles Unterfangen wie eine international agierende Galerie.» Es kam Mitte der 1990er zu einer Abspaltung, aus der dann u.a. die Galerien Eva Presenhuber sowie Hauser&Wirth entsprangen. Der Verein Walcheturm durchlebte danach eine schwierige Phase, bevor 1999 die Leitung des Vereins Patrick Huber übergeben wurde. Huber bewarb sich mit der Vision, die Galerie zu einem Kunstraum zu machen: «Ein Bruch – keine Galerie, kein Kunstmarkt – ein Kunstraum.» wie Huber seine damalige Idee skizzierte.

 

Marc Zeier: ‘Daphnia Heart Beat’, Flügel, Bassboxe and Daphnia magna Modell, Kunstraum Walcheturm 2017 ©Lorenzo Pusterla

 


Luigi Archetti: LAVA – Part 01, Label Karluk 2021

 

Die Galerie wird zum Kunstraum

Patrick Huber selbst hatte damals schon vielfältige Erfahrung im Organisieren von Ausstellungen, Partys und Festivals. Seit den 1980er Jahren organisierte er Partys: Techno, Hiphop, Drum’n’Bass, kuratierte Ausstellungen in Offspaces und seit 1998 das Experimentalfilmfestival VideoEx.

«Als ich die Leitung des Vereins übernommen habe, gab es sozusagen keine Mitglieder und in der Galerie nicht einmal einen Hammer, um Nägel für die Kunstwerke einzuschlagen.» Das brachte jedoch auch Vorteile mit sich, denn so konnte er von Grund auf Neues schaffen. Dies gelang ihm einerseits dank einem grossen Netzwerk an Freund:innen und andererseits dank seiner Erfahrung als Partyorganisator. «Die ersten paar Jahre haben Partys, oft Techno-Partys, den Kunstraum finanziert.» Die Einnahmen der grossen Partys am Abend wurden in den Kunstraum und in die Ausstellungen am Tag gesteckt. «Ich wusste damals gar nicht, dass man Gesuche für finanzielle Unterstützung stellen kann.» meint Huber lachend. Doch schon bald musste der Kunstraum Walcheturm umziehen. Glücklicherweise bekamen sie eine Zusage für den jetzigen Ort im alten Zeughaushof. «Den Schlüssel haben wir im Januar 2002 bekommen. Den Schlüssel für einen staubigen Raum. Draussen waren es 5 Grad und drinnen auch. Kies am Boden, sonst nichts. Es war nicht viel Geld da, aber ganz viel Hilfe, eine ganze Gruppe von Menschen: Jemand konnte einen Bagger fahren und hat ein paar Kubik Kies rausgebaggert. Jemand konnte stromern, jemand Heizungen montieren usw.» beschreibt Huber den Umzug. «Und im Mai war der Boden drin und das Experimentalfilmfestival VideoEx fand das erste Mal hier statt. Im August gab es dann noch eine offizielle Eröffnung mit einem Projekt mit 12 Schlagzeugern. Eine Performance, die immer noch unter Kunst lief, aber da spielten halt zwölf Schlagzeuger.»

 

Katharina Rosenberger: Ausstellung “quartet”, Kunstraum Walcheturm 2018 ©Lorenzo Pusterla

 


Katharina Rosenberger: REIN, Basel Sinfonietta unter Baldur Brönnimann, UA 2019 in Basel

 

Von der zeitgenössischen Kunst zur experimentellen Musik

Der Wandel vom Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst hin zum Veranstaltungsort für experimentelle Musik schien sich also schon bei der Eröffnung abzuzeichnen. «Mich hat die zeitgenössische, experimentelle Musik interessiert. Ich fand das spannend. Aber es schien auch eine Notwendigkeit für einen solchen Raum in Zürich zu gebe. Denn Raum für zeitgenössische Kunst gab es in Zürich schon immer.» erläutert Patrick Huber diesen Wandel.

 

Julian Sartorius: Locked Grooves Record Release, Kunstraum Walcheturm 2021 ©Lorenzo Pusterla

 


Julian Sartorius: Locked Groove 093, Label OUS 2021

 

Heute finden vor allem Konzerte im Walcheturm statt. Neben einigen wichtigen Festivals wie das VideoEx, das Sonic Matter, das Taktlos Zürich oder das FemaleClassics, spielen im Walcheturm Musiker:innen und Ensembles irgendwo zwischen Noise, Freier Improvisation, Neuer Musik, Klangkunst und Free Jazz. Und die Konzertanfragen trudeln zahlreich bei Patrick Huber ein. Doch das Problem bei der Programmierung ist die Finanzierung. Der Kunstraum Walcheturm wird vom Kanton Zürich unterstützt, was knapp für die Miete des Raums reicht. Darüber hinaus, haben sie sozusagen kein Budget. «Das Erstaunliche am Walcheturm ist die musikalische Diversität trotz den engen finanziellen Leitplanken.» so Huber. Damit das funktioniert, ist eine ordentliche Portion Pragmatismus und gesunder Menschenverstand gefragt. Konkret funktioniert es so, dass die Gruppen, die im Walcheturm spielen, den Walcheturm je nach Höhe der eigenen Finanzierung bezahlen. «Wenn die andere Seite eine Yacht hat, dann soll bitte auf unserer Seite auch ein bisschen Geld ankommen. Aber wenn die in einem kleinen Ruderboot sitzen, dann können wir auch rumrudern. Das haben wir ja schon immer gemacht.» meint Huber lachend. «Auf dem Papier geht unsere Rechnung eigentlich nicht auf. Aber irgendwie geht es dann doch.»

Und so machen sie weiter – dieser unmögliche Raum mitten in Zürich: Zwei bis vier Konzerte pro Woche, mit der Hilfe von Freund:innen, mit einer gesunden Portion Pragmatismus und vor allem mit viel Liebe und Engagement für die Musik.
Jaronas Scheurer

 

Die Saison 2023/2024 des Kunstraum Walcheturm begann am 2. September mit einem Jubiläumskonzert des Collegium Novum Zürich.
Weitere Anlässe im September:
7. September – CD Release «The Five»,
9. September – Guy Mintus Songbook,
14. September – IGNM Konzert: Tomoko Sauvage und Christoph Rüttimann mit «Kakteenmusik / Wasserschalen»,
16. September – Zapparoli, Hofmann und Lorenz,
21. September – Insub Meta Orchestra,
22. September – Under the Olive Tree,
29. September – News3Art plays Stockhausens «Kontakte».

 

Sendungen SRF Kultur:
SRF Kultur online, 11.5.23: Trompeter Erik Truffaz erhält den Grand Prix Musik, Redaktion Jodok Hess.
Musikmagazin, 22.7.23Carlo Balmelli: Ein Leben für die Blasmusik, Redaktion Annelis Berger, Musiktalk mit Carlo Balmelli (ab Min 9:40).
Musikmagazin, 17.6.23, Inspirationen mit offenem Ende: Die Vokalkünstlerin Saadet Türköz, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Saadet Türköz (ab Min 8:38).
Musikmagazin, 13.5.23, Schweizer Musikpreise 2023, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Katharina Rosenberger (ab Min 4:55)

 

Neo-profiles:
Kunstraum Walcheturm, Luigi Archetti, Katharina Rosenberger, Julian Sartorius, Collegium Novum Zürich, Martin Lorenz, Sebastian Hofmann, Insub Meta Orchestra, Sonic Matter.

..wie ein „elektrifiziertes Streichquartett“: Ensemble Nikel

Sommerserie zum Schweizer Musikpreis No. 3 : Ensemble Nikel.
Vibrierende und virtuose Interpretation zeitgenössischer Musik bilden die einzigartige DNA des Ensemble Nikel um den Elektrogitarristen Yaron Deutsch (*1978). Nikel tritt dabei fast als Popband auf und unterwandert das Image eines oft radikal lauten Elektrosounds. Nikel sei „radikal zeitgenössisch“ heisst es in der Begründung zum Schweizer Musikpreis 2023 ans Basler Ensemble: Yaron Deutsch, Elektrogitarrist und Ensemblegründer, im Gespräch:

 

Portrait Ensemble Nikel © Amit Elkayam

 

Gabrielle Weber
Was bedeutet der Preis für Nikel?

Es ist schlicht berührend, wenn die eigene Arbeit so unverhofft anerkannt und ausgezeichnet wird. Wir waren komplett unvorbereitet als wir informiert wurden: das macht es sehr besonders. Und ganz pragmatisch eröffnet uns der Preis neue Türen und verschafft uns zusätzliche Mittel, um grössere Pläne für unser künstlerisches Wachstum zu realisieren.

Ein ‚alternativer Kammermusikklang‘ aus einer Mischung von elektronischen und instrumentalen Klängen ist charakteristisch für das Ensemble. Sprechen wir über den Anfang von Nikel: Wie fanden Sie mit der E-Gitarre zur zeitgenössischen klassischen Musik – die  Kombination ist nicht naheliegend?

Mit der E-Gitarre war ich zunächst assimiliert in der Musik des Rock und Jazz, fühlte mich aber dort wie eine ‘Copy Cat’ einer amerikanischen Kultur, die nicht meine ist. Da stiess ich 2005 über ein Stück von Luis Andriessen: ‘Hout‘ (1991) für die Besetzung Saxophon, E-Gitarre, Percussion und Klavier. Es fühlte sich wie ein ‘Heureka’-Moment an. Das Stück mischt Musikgenres und -elemente unkompliziert. Ich fand darin eine Verbindung zu meinen europäischen Wurzeln und fühlte mich wie zuhause angekommen in der europäischen klassischen Musikavantgarde. Es gab mir eine Art Richtung vor, in welche Klangwelt ich gehen wollte.

Mit ‘Hout‘ gaben wir unser erstes Konzert in Tel Aviv 2006. Die Instrumente des Stücks wurden zur festen Besetzung von Nikel. Nach wenigen Wechseln bilden wir nun seit ungefähr zehn Jahren die feste Stammformation: Brian Archinal an der Perkussion, Antoine Françoise, Klavier, Patrick Stadler, Saxofon, und ich mit der E-Gitarre. Wir inspirieren uns gegenseitig.

 

 

Ensemble Nikel in Luzern and Bern 2016 © Markus Sepperer

 

..und was bedeutet der Name?

Drei Punkte: Zuerst wollte ich keinen Namen der Musik assoziiert. Im Namen sollte zudem ‘Metall’ als eine unserer Klangfarben anklingen. Und zuletzt erinnert Nikel an die israelische Künstlerin Lea Nikel und ihre abstrakten farbintensiven Arbeiten. Sie war In den sechziger und siebziger Jahren in Paris und New York tätig und verstarb 2005 in Tel Aviv.

 

Es ist wie wenn Wassertropfen langsam zu einem Organismus zusammenfinden.

 

Wie kam es zum Standort Schweiz..?

Dass drei von vier Mitgliedern in der Schweiz sind, ergab sich von selbst. Ich war immer ein ‘Missionar’ für Musikschaffen ohne Nationalität, für ein Modell von Ensembles ohne eine nationale oder lokale Festlegung: es geht mir darum, mit den Musikern zusammenarbeiten, die ich am spannendsten finde, die mich inspirieren, egal wo sie leben. So kam es bspw. zu Patrick Stadler in Basel. Unsere Vision ist aber eine internationale.
Es ist wie wenn Wassertropfen langsam zu einem Organismus zusammenfinden.

Ausgehend von einer Einladung für ein Konzert finden wir zusammen. Unsere Aufgabe als Künstler ist es, so faszinierend, interessant und auch gut zu sein, um einen Bedarf zu schaffen. Es geht dabei um Passion: solange wir passioniert sind, existieren wir als Gruppe.

 

Ihr erster Auftritt in Donaueschingen 2012 war legendär – diese vibrierende Energie und rasende Virtuosität bspw. in der UA von Michael Wertmüllers Stück „Skip a beat“ ist mir in bleibender Erinnerung: Wie kam’s zur Einladung?

2010 traten wir an den Darmstädter Ferienkursen auf. Der damalige neue künstlerische Leiter Thomas Schäfer wollte in seiner ersten Ausgabe neue Stimmen präsentieren und lud uns ein. Der Auftritt hatte ein grosses Echo. Kurz danach rief uns Armin Köhler, der damalige Intendant von Donaueschingen an, und lud uns zwei Jahre später ans Festival ein.

 

 

Michael Wertmüller, Skip a beat, Ensemble Nikel, UA Donaueschinger Musiktage 2012

 

Was bewirkte dieser Auftritt für Nikel?

Der Auftritt vor grossem Publikum mit internationaler Resonanz war das eine: ein Karriere-‘boost’: die Vertrautheit mit der internationalen Szene, das war sehr wichtig für unser Wachstum. Donaueschingen ermöglichte uns aber auch, vier Uraufführungen von vier substanziellen Komponist:innen zu spielen, die ihre Stücke extra für unsere Besetzung schrieben. Wir hatten nicht die finanziellen Möglichkeiten, solche Stücke selbst in Auftrag zu geben. Diese völlig unterschiedlichen Stücke spielten wir seither in der ganzen Welt.

Und dieser Mechanismus geht weiter: wenn wir eingeladen werden, geben die Festivals Stücke für uns in Auftrag. Diese behalten wir danach im Repertoire. Bei der Auswahl schlagen wir Komponist:innen vor, von denen wir begeistert sind. Und diese Begeisterung ist danach in unseren Auftritten spürbar.

 

Unser Gedächtnis neigt dazu, sich an Extreme zu erinnern

 

Die Konzerte von Nikel sind bekannt für einen oft radikal lauten Elektroniksound..

Zuerst muss ich das Prädikat ‘lautes’ Ensemble zurückweisen: Wir spielen auch viele subtile Stücke, stille, taktile Musik. Wahrscheinlich führt unsere virtuose Qualität zum Eindruck: “die Musiker können spielen, dass die Wände wackeln..”. (lacht..). Ein maskuliner Power, das ist nicht unser Ding. Unser Gedächtnis neigt dazu, sich an Extreme zu erinnern. Aber es geschieht so viel ausserhalb der Extreme, eigentlich das Meiste..

Wir sind wie ein ‘elektrifiziertes Streichquartett’, ein Organismus der sehr gut zusammen funktioniert und dessen Klang sich sehr gut mischt. Wir können ganz fein abstufen zwischen laut und leise.

2017 gab Nikel zum 10 Jahr- Jubiläum der Ensemblegründung eine umfassende CD heraus – inwiefern sind die Stücke charakteristisch für den spezifischen „Nikel-Sound“?

Das erste Jahrzehnt war sehr prägend. Aus der Vogelperspektive fasst die Sammlung und Kuration der in der Box enthaltenen Stücke unsere Charakteristika zusammen: Wir spielen immer Stücke die eklektisch sind, die Elemente mischen, aber nie zufällig oder unnötig. Eine klare musikalische, nicht eindimensionale Linie verbindet alles. Wenn man näher heranzoomt, stellt man fest, dass jedes einzelne Werk zwar die wesentlichen Merkmale der Gruppe spiegelt, dass aber unser künstlerischer Charakter nicht im Einzelnen fassbar ist.

 


Stefan Prins, Fremdkörper 2, Ensemble Nikel 2010 (Decennial-Box).

 

Sie kommen gerade zurück von einem Auftritt an den Darmstädter Ferienkursen mit neuen Stücken von Jennifer Walshe und Matthew Shlomowitz: wie war die Stimmung am Ort eines der ersten wichtigen Auftritte von Nikel?

Darmstadt war fantastisch: es war unser vierter Besuch dort. Wir kamen mit einem Stück, mit dem wir uns sowohl künstlerisch als auch persönlich sehr wohl fühlen: eine außergewöhnliche, über zwei Jahre dauernde Zusammenarbeit mit Matthew & Jennifer, die uns auch auf der Bühne begleiteten. Mit zwei ausverkauften Shows und einer sehr positiven Kritik in der New York Times war es eine perfekte Premiere für das Projekt.

 


Minor characters, Matthew Shlomowitz / Jennifer Walshe, Ensemble Nikel, UA Ferienkurse Neue Musik Darmstadt 2022.

 

Was kommt als nächstes?

Es steht ein neues Album (Radio Works) an mit Stücken, die von verschiedenen europäischen Radiosendern während der Pandemie in Auftrag gegeben und aufgenommen wurden, u.a. das Stück von Shlomowitz/Walshe. Dann folgt die Uraufführung eines vierteiligen Zyklus der Komponistin Sarah Nemtsov für Nikel und Orchester in Köln und Essen mit dem WDR Sinfonieorchester. Und unsere neue Saison in der Schweiz beginnt im Januar 2024 mit einer Uraufführung von John Menoud.
Gabrielle Weber

 

Sarah Nemtsov, Tikkun pour orchestre, Teil 1 der Tetralogie, Ensemble Nikel, Camerata Ataremac, Ensemble Vertigo, Leitung: Peter Rundel, Festival Les amplitudes 2022, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Kritik Darmstadt 2023: Seth Colter Walls, New York Times, 13.8.2023

A Decade, Decennial-Box  2017, 4 CDs mit Doku-DVD und Buch zum Ensemble.

Yaron Deutsch, Live in New York City, 2022

Yaron Deutsch, Jennifer Walshe, Matthieu Shlomowitz, Sarah Nemtsov, Peter Rundel, WDR Sinfonieorchester, Brian Archinal, Patrick Stadler, Thomas Schäfer, Armin Köhler

Schweizer Musikpreise 2023:
Grand Prix Musik: Erik Truffaz
Musikpreise:
Katharina Rosenberger, Ensemble Nikel, Carlo Balmelli, Mario Batkovic, Lucia Cadotsch, Sonja Moonear, Saadet Türköz
Spezialpreise:
Helvetiarockt, Kunstraum Walcheturm, Pronto 

Sendungen SRF Kultur:
SRF Kultur online, 11.5.23: Trompeter Erik Truffaz erhält den Grand Prix Musik, Redaktion Jodok Hess.

Musikmagazin, 22.7.23Carlo Balmelli: Ein Leben für die Blasmusik, Redaktion Annelis Berger, Musiktalk mit Carlo Balmelli (ab Min 9:40).

Musikmagazin, 17.6.23, Inspirationen mit offenem Ende: Die Vokalkünstlerin Saadet Türköz, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Saadet Türköz (ab Min 8:38).

Musikmagazin, 13.5.23, Schweizer Musikpreise 2023, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Katharina Rosenberger (ab Min 4:55)

 

neo-Profiles:
Ensemble Nikel, Michael Wertmüller, Donaueschinger Musiktage, John Menoud, Antoine Françoise, Les amplitudes, Swiss Music Prizes

Enno Poppe: Composer in Residence @Lucerne Festival 2023

Enno Poppe gilt als einer der originellsten Komponisten unserer Zeit. Die Musik des 55-Jährigen ist hochkomplex und dennoch äusserst attraktiv für die Ohren und oft spannend wie ein Krimi. Enno Poppe ist diesjähriger composer-in-residence am Lucerne Festival. Dort wird u.a. sein Werk Fett zu hören sein und das Orchesterstück Prozession. Annelis Berger hat den Komponisten getroffen.

Annelis Berger
Er ist ein Stadtmensch durch und durch: «Das Leben auf dem Land wäre mir zu kompliziert. Ich wohne sehr gerne in der Stadt, wo ich jederzeit einen Liter Milch kaufen kann, ohne viel überlegen zu müssen. Was nicht heisst, dass ich nicht auch gerne mal auf einen Berg steige oder in einen See springe». Dafür wird er in Luzern leider keine Zeit haben: «Man schafft es nicht, das weiss ich vom letzten Mal, als ich mit der Academy gearbeitet habe. Ich betreue dort rund 100 junge Menschen, die alle gierig und hungrig nach Wissen sind; die wollen von morgens bis abends arbeiten und Dinge erleben, da kann ich hinterher nicht noch auf einen Berg steigen».

 

Portrait Enno Poppe © Ricordi: Harald-Hoffmann

 

Poppe selber hat in Berlin Komposition und Dirigieren studiert, lebt bis heute in der deutschen Hauptstadt und arbeitet in ganz Europa mit den wichtigsten Ensembles für zeitgenössische Musik. Ich treffe den Komponisten in Zürich, wo er eben mit dem Ensemble Collegium Novum Zürich geprobt hat. Ein hochsommerlicher Spätnachmittag, Poppe konnte gerade noch ein Bier trinken vor dem Interview. Wir reden zuerst darüber, was seine Musik ausmacht.

«Ich mag intensive Musik, ich mag es, wenn ich die Hörer*innen mitnehme. Und ich mag expressive Musik. Aber ich muss eine neue Form von Expressivität suchen, Expressivität darf nicht nur behauptet sein, nicht aufgestülpt oder sentimental. ich kann nicht die Expressivität einer Bruckner-Sinfonie nehmen, ich muss eine finden, die mit der heutigen Zeit etwas zu tun hat, und mit den Mitteln, die heute da sind. Es ist nicht einfach ein Suchen nach neuen Klängen, sondern die Suche nach einer neuen Expressivität. Das ist etwas, was mich permanent beschäftigt.»

Exemplarisch dafür steht das Stück Prozession. «Das Werk ist eigentlich ein einziger Wachstumsprozess», meint Poppe. «Es beginnt mit einzelnen Tönen, daraus entstehen Melodien, daraus Akkorde, die ballen sich zusammen zu choralartigen Stellen, und das Stück schaukelt sich immer weiter auf, wird immer intensiver. Formal sind es neun grosse Steigerungswellen, die sechste ist die grösste, dann baut es langsam wieder ab. Jeder einzelne Musiker im Ensemble hat hier eine Solostimme und führt dann jeweils einen Teil an, bis dann der nächste Teil mit dem nächsten Soloinstrument kommt.»

 

Enno Poppe, Prozession, 2015/20, Ensemble Musikfabrik Köln, Dirigent Enno Poppe, Ensemblefestival for Contemporary Music 2020, Leipzig Kölner Philharmonie Nov. 22nd, 2020

 

Eine wichtige Inspirationsquelle für dieses Werk war für Poppe die katholische Prozession «Semana Santa» in Sevilla, die jedes Jahr in der Karwoche stattfindet. «Die laufen sieben Tage lang durch die Stadt, 24 Stunden am Stück mit Blaskapellen und Trommeln, da ist die Basler Fasnacht ein Klacks dagegen. Diese spanische Prozessionsmusik hat mit dem Stück einen tiefen Zusammenhang, ohne dass ich sie direkt zitiere.»

 

Prozession ist ein Werk, das beim Hören einen Sog entwickelt, da es tatsächlich immer dichter und dichter wird. Und dem kann man sich kaum entziehen, es vermittelt auch das Gefühl von Hartnäckigkeit: vor dieser Musik gibt’s kein Entrinnen, ihre Expressivität ist sehr direkt.

Ein kompositorisches Mittel für die Expressivität findet Enno Popp im Glissando und im Vibrato. Das zeigt sich sehr schön in Wald von 2010 für vier Streichquartette. Seit vielen Jahren beschäftige sich Enno Poppe mit dem «bewegten» Ton, u.a. auch inspiriert von der asiatischen Tradition von Tönen, die immer in Bewegung sind, das heisst, man hört nie zweimal den gleichen Ton, der Musiker, die Musikerin intoniert ihn jedes Mal anders. Damit hat Enno Poppe oft gearbeitet. «Bei Wald rutscht jeder Ton ständig, bewegt sich nach oben und unten, hin und her. In den verschiedensten Geschwindigkeiten. Das ist wiederum ungemein expressiv. Weil jeder einzelne Ton beseelt wird.»

 


Auch im Ensemblewerk Scherben beschäftigt sich Enno Poppe mit dem “bewegten” Ton, in der Aufnahme mit dem Collegium Novum Zürich, Dirigent: Enno Poppe, 2008, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Enno Poppe redet bereitwillig über seine Musik. Selten gibt es Komponisten, die dies so unverkrampft und entspannt tun. Das macht ein Treffen mit ihm sehr angenehm.

Und natürlich möchte ich mit Enno Poppe auch noch über das Werk Fett reden, einer der Höhepunkte am Lucerne Festival, dirigiert von Susanna Mälkki im grossen Saal des KKL: «Das Stück IST tatsächlich fett! Sonst dürfte es nicht so heissen», meint er schmunzelnd. In dieser Komposition verzichtet Poppe komplett auf Melodien und Themen und alles andere, was klassischerweise Sinfonik auszeichnet. Akkordballungen haben ihn hier interessiert – zunächst nur viertönige Akkorde, die immer grösser werden. «Gegen Ende haben wir 40-50-tönige Akkorde! Und zwar nicht nur Oktaven, sondern das sind mikrotonale Ballungen.»

 


Enno Poppe, Fett (2018/19): Helsinki Philharmonic Orchestra, Dirigentin Susanne Mälkki, UA 10.5.2019, Helsinki Music Center

 

Zum Schluss geht’s im Gespräch um die Arbeitsweise des Komponisten.  Das Arbeiten, sprich komponieren und dirigieren, mache ihm eigentlich immer Spass. Sonst würde er es gar nicht machen. Und manchmal, wenn er für ein neues Werk eine Tür aufstosse in eine neue klangliche Welt – so wie bei Fett die mikrotonalen Ballungen – dann sei es für ihn sehr einfach, weil er sich sehr schnell in der neuen Welt zurechtfinde. «Fett ging unheimlich schnell. Ich war so richtig in Schwung. Es war unberührtes Gelände, und das belebt mich immer, ich kann dann manchmal sehr rasch arbeiten. Für Fett habe ich zirka zehn Wochen gebraucht, mir ist es eigentlich ein Rätsel, warum es so schnell ging, weil da ja unglaublich viele Töne drin sind in diesem Werk.» Eine Leichtigkeit ist da zu spüren – und gerade das zeichnet Enno Poppes Musik auch aus: sie ist komplex und vielschichtig, aber nie sperrig. Und sie nimmt den Hörer mit auf eine Reise durch eine Welt, die nie stillsteht.
Annelis Berger

 

LUCERNE FESTIVAL, Sommerfestival 2023: Das Ensemble Intercontemporain interpretiert Werke des Composer in Residence, Enno Poppe; mit Enno Poppe als Dirigent. Luzern, 13.08.2023 © LUCERNE FESTIVAL / Priska Ketterer

 

Enno Poppe am Lucerne Festival 2023

Susanna Mälkki, Ensemble Musikfabrik

Sendungen SRF 2 Kultur:
Künste im Gespräch, 3.8.2023, Enno Poppe, Composer in Residence am Lucerne Festival, Redaktion Annelis Berger.

Musik unserer Zeit, 13.9.2023, Enno Poppe im Portrait, Redaktion Annelis Berger.

Neo-Profile:
Enno PoppeLucerne Festival Contemporary, Collegium Novum Zürich

 

 

Musik und Leben als Einheit

Es sind viele Rollen, in denen Roland Dahinden auftritt: als Komponist, Posaunist, Klangkünstler, Improvisator, Dirigent… Bei den diesjährigen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik stellt er Werke des US-amerikanischen Komponisten Anthony Braxton vor, mit dem ihn eine langjährige Zusammenarbeit verbindet.

 

Roland Dahinden mit zum Dirigieren erhobenen Hand vor schwarzem Hintergrund
Roland Dahinden. Foto: Marek Bouda

 

Friederike Kenneweg
Von morgens bis abends auf unterschiedliche Art mit Musik erfüllt – so kann man sich wohl den Alltag von Roland Dahinden vorstellen. Zwei Stunden sind immer für seine Posaunenetüden reserviert, denen er sich schon seit nunmehr 40 Jahren täglich widmet. Eine Zeit der vollen Konzentration auf sein Instrument, in der nichts anderes Platz hat. “Das ist etwas, auf das ich mich jeden Tag freue”, sagt Dahinden. “Und danach freue ich mich genauso darauf, die Partitur aufzuschlagen, die als nächstes dran ist, oder an meinen Kompositionen zu arbeiten, zu proben, oder was sonst gerade auf dem Plan steht. So hat alles seinen Platz.”

 

Roland Dahinden und HIldegard Kleeb, fotografiert von Gary Soskin
Roland Dahinden und Hildegard Kleeb. Foto: Gary Soskin

 

Ein Duo seit langem: Dahinden/Kleeb

Wenn er zu Hause ist, sind da außerdem meistens Klavierklänge, wenn seine Ehefrau, die Pianistin Hildegard Kleeb, für die nächsten Auftritte übt. Schon seit 1987 spielen die beiden als Duo miteinander, aber auch in verschiedenen Trio-Konstellationen, zum Beispiel mit dem Perkussionisten Alexandre Babel oder dem Elektromusiker Cameron Harris. Und beide verfolgen dazu auf unterschiedliche Weise ihre jeweilige Solokarriere, spielen aber auch noch in ganz anderen Projekten oder Konstellationen zusammen.

“Wir sprechen über Musik, wenn wir morgens aufstehen, und oft auch noch, wenn wir abends schlafen gehen”, erzählt Roland Dahinden. “Das ist sehr wertvoll, dass man diese Begeisterung so lange mit jemandem teilen und das gemeinsam leben kann.”

 

Das Stück “Panorama” für Posaune und Klavier von Alvin Lucier aus dem Jahr 1993, gespielt vom Duo Dahinden/Kleeb

 

Begegnungen mit Anthony Braxton, Alvin Lucier, John Cage

Gemeinsam mit Hildegard Kleeb erlebte Roland Dahinden in den 1990er Jahren eine für ihn sehr prägende Zeit in den USA. Denn von 1992 bis 1995 konnte er an der Wesleyan University als Assistent von Alvin Lucier und Anthony Braxton arbeiten und deren besondere Herangehensweise an Klangkunst, Improvisation und Jazz genau kennen lernen. Dass dieser Aufenthalt überhaupt möglich war, verdankte er der Fürsprache keines geringeren als John Cage, der für das Duo Dahinden/ Kleeb 1991 mit Two5 sogar ein eigenes Werk komponierte.

 

Anthony Braxton und Roland Dahinden, fotografiert von Marek Bouda
Anthony Braxton und Roland Dahinden. Foto: Marek Bouda

 

Dirigieren in Prag

Sein guter Kontakt zu Anthony Braxton und die genaue Kenntnis seiner Musik, die sich zwischen fixierter Musik und Improvisation bewegt, führten dazu, dass Roland Dahinden im Jahr 2021 mit dem Prague Music Performance Orchestra  einige von Braxtons Stücken aus der Serie der Language Type Music einstudierte. Und das Ensemble, selbst in seiner Ausrichtung zwischen auskomponierter zeitgenössischer Musik, Improvisation und Jazz angesiedelt, war mit der Zusammenarbeit so zufrieden, dass sie ihn als festen Dirigenten anfragten. Die 55 Musiker:innen des Ensembles stehen alle auch noch mit eigenen musikalischen Projekten in der Öffentlichkeit und bringen je eigene Ansätze und Herangehensweisen mit. Diese zu einem Gesamtklang zusammenzuführen, ist immer wieder eine Herausforderung, sagt Dahinden – aber eine, der er sich nur zu gerne stellt.

 

 

Anthony Braxton in Darmstadt

In diesem Jahr widmet sich das PMP-Orchester unter der Leitung von Roland Dahinden der Uraufführung eines Monumentalwerks von Anthony Braxton: der Oper Trillium X. Die viereinhalbstündige Multimedia-Oper, an der Braxton über fünf Jahre gearbeitet hat, besteht aus vier Akten, und setzt sich mit den Auswirkungen des Turbokapitalismus auseinander – mit globalen Katastrophen,  mit nuklearen Bedrohungen und dem Zusammenleben von Mensch und Roboter.  Nach der ersten und auch erstmal einzigen Aufführung des Stückes am 1. August in Prag reist das Ensemble zu den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, um dort eine Aufnahme dieses großen Werkes zu realisieren. Beim Pre-Opening-Konzert in Darmstadt wird das PMP Orchestra unter der Leitung von Roland Dahinden dort eine Version der Language Music von Anthony Braxton zur Aufführung bringen. In Darmstadt hat Roland Dahinden außerdem noch einen Auftritt als Posaunist, wenn in einem eigens für diesen Anlass zusammen gestellten Ensemble das neue Stück Thundermusic von Anthony Braxton zur Uraufführung gebracht wird.

Nach diesem ereignisreichen Sommer soll es für Roland Dahinden dann erst mal wieder mit der Arbeit an eigenen Kompositionen weiter gehen. Sicher ist: der Alltag im Hause Dahinden/Kleeb bleibt weiter von Musik erfüllt, wie auch immer sie klingt. Und die nächste reizvolle Herausforderung lässt sicher nicht lange auf sich warten.
Friederike Kenneweg

 

Roland Dahinden Hildegard Kleeb PMP Orchestra Wesleyan University Internationale Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt

Termine:

5. August 2023: Language Music mit Anthony Braxton und dem PMP Orchestra unter der Leitung von Roland Dahinden, 17 Uhr, Edith-Steinschule, Darmstadt im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse 2023

7. August 2023: Uraufführung von Thunder Music von Anthony Braxton, u.a. mit Roland Dahinden an der Posaune, 19:30 in der Lichtenbergschule Darmstadt

Neo Profile:
Roland Dahinden Hildegard Kleeb Alexandre Babel

Klangwandern im Tessin auf den Spuren von Utopisten

Das Basellandschaftliche Neue Musik-Festival Rümlingen, das Tessiner Pendant la Via Lattea und die Associazione Olocene im Onsernonetal laden gemeinsam ins Tessin zu einem speziellen Klangwanderungs-Festival ein. Unter dem Motto Finisterre  kann man sich vom 28.7. bis zum 1.8., gemeinsam entlang symbolträchtiger Orte auf die Suche nach dem Ende der alten und einer besseren neuen Welt begeben: auf dem Monte Verità, der alten via delle Vose im Onsernonetal und auf den Brissago-Inseln.

Gabrielle Weber
Sich auf den Spuren vergangener Weltverbesserer mit Musik und Kunst in die Natur begeben: Dazu lädt das gemeinsame Festival an vier Tagen ein: Ausreichend Zeit also, um ausgehend von den gesellschaftlichen Utopien der natur- und körpernahen Kommune des Monte Verità alternative Lebensentwürfe zu entdecken. Sie werden durch zahlreiche internationale Kunstschaffende wie Isabel Mundry, Carola Baukholt, Jürg Kienberger, Mario Pagliarani oder der New Yorker Komponistin Du Yun und dem Norweger Trond Reinholdtsen in neuen, auf konkrete Orte, Visionen und Visionäre bezogenen Werken zum Leben erweckt.

 

“Het Geluid”  bei Proben auf dem Walkürefelsen / Monte Verità ©Johannes Rühl

 

Ausgangspunkt bildet der Monte Verità, ein Hügel oberhalb Asconas, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem magischen Ort für Zivilisationsfliehende und Sinnsuchende wurde. Zum Festivalauftakt wird er am ersten Tag bereits ab Sonnenaufgang mit neuen Werken und Installationen von Manos Tsangaris, Trond Reinholdtsen oder Lukas Berchtold bespielt.

Den “Berg der Wahrheit” erwarben 1900 der Sohn eines belgischen Industriellen mit seiner Geliebten, der Münchener Pianistin und Musiklehrerin Ida Hofmann. Auf dem anfangs 1,5 Hektar großen Stück Land realisierten sie ihren Traum eines naturnahen Lebens in klassenloser Freiheit, abseits von Industrialisierung, Kapitalismus und Materialismus. Zahlreiche namhafte Schriftsteller, Künstler:innen, Intellektuelle und Anarchisten aus ganz Europa und Übersee schlossen sich an, später Emigrant:innen der Weltkriege. 1913 folgte bspw. Rudolf Laban, Münchner Choreograf, und eröffnete seine wegweisende Tanzschule für Ausdruckstanz. Licht, Luft, Wasser und Sonne bildeten Elixier für eine Seele-Geist-Körper-Einheit, gelebt in Eurythmie, Feminismus, Gartenarbeit und Sonnenbad in luftigem Gewand oder freiem Körper.

Auch der 2005 verstorbene Schweizer Kurator Harald Szeemann, Leiter der Kasseler documenta5 1972,  fing Feuer und machte das Tessin ab den siebziger Jahren zu seiner Wahlheimat. Den Hügel bezeichnete er als «Ort an dem unsere Stirn den Himmel berührt..». Er sammelte alles was er dazu fand, und vereinte es 1978 in der Ausstellung «Monte verità – le mammelle della verità / die Brüste der Wahrheit». Sie tourte international, in Zürich, Berlin, München und Wien, und machte den Berg berühmt. Die 2017 wieder eröffnete Originalausstellung ist während des Festivals zugänglich. Die neuen Werke auf dem Berg lehnen sich an Ausdruckstanz, Naturverbundenheit und Wagnerverehrung der Kommune an.

 

“Het Geluid” bei Proben auf dem Walkürefelsen / Monte Verità ©Johannes Rühl

 

An den Folgetagen geht es auf Spuren weiterer historischer Tessiner Sinnsuchender.

La Via Lattea («Milchstrasse»), das Tessiner Kooperationsfestival, macht sich auf die Fährte des heiligen Brendan.  Der irische Mönch suchte gemäss mittelalterlichen Legende auf einer abenteuerlichen Schifffahrt mit weiteren fratres das irdische Paradies auf einer sagenumwobenen Insel. Das Festival mit dem klingenden Namen verbindet Theater mit Mitteln der Musik und Musik mit Mitteln des Theaters. Es ist im Mendrisiotto im Sottoceneri, südlich des Ceneri, beheimatet und bringt in der Regel historisch-kulturelle Orte um und auf dem Lago di Lugano, dem Ceresio, zum Klingen.

 

La Via Lattea 10, Argonauti 2013, Trailer

 

Dieses Jahr ist es erstmals in Locarno zu Gast und bespielt den Lagio Maggiore: ausgehend von einem Konzertspektakel in der romanischen Chiesa di San Vittore in Locarno Muralto und einem theatralen Spaziergang durch die Gassen von Muralto, unternimmt es Brendans Schiffsroute, begleitet von Musik. Ziel sind nächtlich-meditative Konzerte unter freiem Himmel auf denBrissago Inseln.

Dort ist u.a. die Uraufführung von Composizione per l’Isola di San Pancrazio ,, für verschiedene Gegenstände und 16 Spielende von Mario Pagliarani, Komponist und künstlerischer Leiter von La Via Lattea zu hören.

 


Mario Pagliarani, Debussy – Le jet d’eau, UA Lugano 2009, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Die Täler rund um Locarno waren ab den sechziger Jahren bei Hyppie-Aussteigerkommunen beliebt. Im Onsernone-Tal, auf der alten Via delle Vose, begegnen den Besucher:innen historische Figuren in neuer Gestalt und werden historische Orte neu belebt. Isabel Mundry bspw. wählte für ihr neues Stück Niva-Engramme die kulturhistorisch aufgeladene Kapelle des Oratorio Giovanni Nepumoceno von Niva. Die Niva-Engramme basieren auf einer Motette von Claudio Monteverdi, die sie für Solo-Viola übersetzt und im Dialog mit dem Ort fragmentiert. Mundrys Wahl fiel auf die Kapelle und deren Einschreibung als faszinierendem Ort, an dem ein Visionär verschiedene Kulturen und Religionen im abgelegenen Tessiner Tal zusammenführte. Eine Vision, die ihr zeitgemässer scheint als die für sie – wenn auch –reizvolle Zivilisationsflucht des Monte Verità, wie Isabel Mundry im Gespräch für den neoblog erläutert.
Gabrielle Weber

 


«Komponieren als Form des Zuhörens», Audiointerview mit Isabel Mundry, exklusiv für den neoblog, 17.7.2023, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Sendungen SFR 2 Kultur:
MusikMagazin, 29.7.2023, Redaktion Lea Hagmann: Cafégespräch Mario Pagliarani mit Gabrielle Weber
Musik unserer Zeit, 20.9.2023: Festival Rümlingen im Tessin, Redaktion Gabrielle Weber

Neo-Profile:
Neue Musik RümlingenIsabel Mundry, Mario Pagliarani