Ein lebendes Archiv – das Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente

Erst sieben Jahre ist es alt, und schon hat es einen der drei Spezialpreise der Schweizer Musikpreise eingeheimst: Das Schweizer Museum und Zentrum elektronischer Musikinstrumente – kurz: SMEM – in Fribourg macht es die Technik, Geschichte und Praxis elektronischen Musikmachens erfahrbar.

Hochregale im Schweizer Museum für Elektronische Musik

Friedemann Dupelius
„Der Preis kam total überraschend für uns“, sagt Victorien Genna, Projektkoordinator am SMEM, „so etwas hätten wir uns frühestens in ein paar Jahren vorgestellt. Es ist wunderbar, dass wir jetzt eine anerkannte Schweizer Institution sind.“ Die längst nicht nur in der Schweiz bekannt ist. Neben Gästen aus Frankreich und Deutschland reisen auch zahlreiche Fans aus England, den USA, Japan, Australien oder Neuseeland nach Fribourg, um die beachtliche Sammlung zu bestaunen. Rund 5000 elektronische Musikinstrumente stellt das SMEM aus, darunter fast alle erdenkliche Arten von Geräten: Sampler, Drummachines, Synthesizer, Mischpulte, Effektgeräte, Verstärker, Aufnahmedevices, Mikrofone – sogar Software wie die erste Version des heute weit verbreiteten Musikprogramms Ableton Live aus dem Jahr 2001 und die entsprechend alten Computer, auf denen diese läuft.

(c) Johnma.ch
Die Hammond Novachord wurde zwischen 1938 und 1942 produziert

Meterhoch ragen die Regale an die Decke einer ehemaligen Brauerei – heute zu einem Areal für Startups und kulturelle Initiativen umfunktioniert. Doch wer nun dicke Staubschichten auf den Keyboards befürchtet, darf beruhigt aufatmen: Das SMEM versteht sich als „lebendiges Archiv“. All diese Geräte werden nicht nur professionell gewartet, sondern können auch gespielt werden. Im “Playroom des Museums steht immer eine breite Auswahl unterschiedlicher Instrumente angeschlossen bereit, darunter Klassiker wie die Drumcomputer TR-808 und TR-909 der Firma Roland. Für wenig Geld kann man sich hier eine Session buchen, die eigenen Jams auch aufnehmen und auf dem Stick mit nach Hause nehmen.

Ein Museum für Kids wie für Nerds

Auf die Frage, ob das SMEM eigentlich eine Unterscheidung zwischen akademisch geprägter, „ernster“ elektronischer Musik und ihren popkulturellen Spielarten macht, fragt Victorien Genna zurück, was ich damit eigentlich meine – und gibt damit schon eine indirekte Antwort. Er ist kein Musikwissenschaftler oder Komponist, sondern stieß als Philosophie-Student, der gerne privat mit Synthies spielt, zum SMEM. „Die FM-Synthese ist ein gutes Beispiel: Sie gelangte von den Laboren der Universitäten auf den Konsummarkt und wurde mit dem Yamaha DX7 in den 80ern weltberühmt. Bei uns kommen die Nerds auf ihre Kosten, man kann hier richtig ins Detail gehen. Aber auch fünfjährige Kinder oder jemand von 100 Jahren soll hier Spaß haben können.“

Auch Kinder haben im SMEM ihren Spass.

Der erste Schaltkreis schließt sich auf einer Zugfahrt

Dass das SMEM überhaupt existiert, war glückliche Fügung: Der Großteil der Sammlung stammt von Klemens Niklaus Trenkle – einem Schauspieler aus Basel, der seit den 70er-Jahren elektronische Instrumente sammelt. So viel, dass es seinem Vermieter irgendwann zu bunt wurde, er solle das Zeug wegschaffen. Auf einer Zugfahrt kam er mit dem Architektur-Professoren Christoph Allenspach aus Fribourg ins Gespräch. Allenspach hatte seit Jahren die Idee, ein Museum mit Musikbezug zu eröffnen und so war die erste Verkabelung unverhofft gelungen. Bald zogen die Instrumente von Basel in die Westschweiz um, ein Verein wurde gegründet und ein Team von Freiwilligen zusammen gestellt. 2017 eröffnete das Museum. Bis heute hat sich nicht viel geändert: Die Menge an Instrumenten ist groß, das Budget gering.


Victorien Genna vom SMEM hat eine Dokumentarfilm-Reihe über Instrumente aus der SMEM-Sammlung produziert.

Das SMEM lebt – neben öffentlicher Förderung und privaten Spenden – durch den Einsatz von Ehrenamtlichen, so wie es auch Victorien Genna einer war, bis er vor kurzem eine der drei festen Stellen am Museum bekam. Die Freiwilligen reparieren die Instrumente, mischen Konzerte ab oder übernehmen Barschichten dort. Der frisch erhaltene Preis ist für das Museum daher natürlich Gold wert, denn die Sammlung wächst stetig. Doch wie soll man aus einer Flut technischer Neuerscheinungen herausfiltern, welches Delay-Modul, welcher Wavetable-Synthie wirklich historisch relevant sein werden? „Manchmal kann man technische Revolutionen schnell erkennen“, sagt Victorien Genna und verweist auf den Elektron Digitakt, 2017 erschienen, „da war es schon mit dem Erscheinen klar, dass das ein wichtiger Sampler für das 21. Jahrhundert sein wird. Oft kann man aber nur spekulieren und weiß es erst nach ein paar Jahren.“ Klemens Niklaus Trenkle kauft immer noch selbst neue Instrumente für das Museum ein. „Er hat einen ziemlich guten Riecher dafür, was relevant ist oder sein wird.“

Das SMEM veranstaltet u.a. Konzerte, Workshops und Vorträge – mindestens einmal im Monat. Mehrmals im Jahr sind auch Residenz-Künstler:innen für eine bis vier Wochen zu Gast in Fribourg, um mit Instrumenten ihrer Wahl zu experimentieren. Ein künstlerisches Ergebnis ist dafür nicht verpflichtend. Doch immer wieder kommt etwas dabei heraus, das dann in der Regel auf dem Fribourger Label oos erscheint. Im Oktober steht ein Release des Wiener Musikers Oliver Thomas Johnson alias Dorian Concept an, der sich am SMEM mit dem Yamaha CS01-Synthesizer beschäftigt hat. Die polyrhythmischen Geflechte aus perkussiven Synthesizern beginnen mit jeder neuen Schichtung mehr zu grooven, die 200 Beats per Minute Geschwindigkeit merkt man dieser leichtfüßigen Musik nicht an. Es ist eben ein lebendiges Archiv, in dem Geschichte nicht nur dokumentiert, sondern auch aktiv mitgestaltet wird.
Friedemann Dupelius


Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente (SMEM)
SMEM auf Instagram
Das Online-Magazin des SMEM
Dorian Concept auf Bandcamp
Klemens Niklaus Trenkle
Das Album Unconditional Contours von Legowelt, das auch am SMEM entstand

Termine
04.09.2024 – Modular-Synthesizer-Workshop mit dem Duo OK EG (Lauren Squire & Matthew Wilson) aus Melbourne
09.09.2024 – 25 Jahre Anyma (Audiovisuelles Kunst-Kollektiv aus Fribourg): SMEM Open Doors und Konzert von Synkie
Oktober 2024 – Veröffentlichung von Dorian Concept auf ous

Metaebenen und zerstörte Faszination im Musiktheater Léo Collins

Er mischt Klang, Performance, Video und Theater mit Kochen, Sport, Krimi oder Umwelt-Aktivismus. Der junge, in Frankreich geborene und in Zürich lebende Komponist Léo Collin produziert aufrüttelnde Musiktheater-happenings. Ich besuchte ihn in seinem Atelier in der roten Fabrik in Zürich.

Léo Collin working on Corals © Lea Huser

Gabrielle Weber
Den grössten Teil seines kleinen Ateliers nimmt ein einfacher Holztisch ein. Er ist mit einem Schaltpult, Mikrofonen, Kopfhörern und Kabeln bedeckt. Eine E-Gitarre lehnt am Tisch, an den Wänden hängen grosse bunte Skizzen. Hier entwickelt Léo Collin seine immer ortsbezogenen Musiktheater: sie spielen in der freien Natur, in Industrieräumen oder Tankstellen.

Léo Collin, Video: Fastnacht, Neue Musik Rümlingen 2020.

In Tarnanzüge gekleidet stürmen Perfomer:innen aus einem Waldstück einen grasbewachsenen Hügel herab. Sie verfolgen sich gegenseitig und führen dabei fast choreografierte Handlungen aus. Fastnacht, ein Musiktheater mit Elektroakustik, uraufgeführt auf der grünen Wiese am Festival Rümlingen 2020, thematisiert eine Community, die Kriegsspiele zelebriert. Das Stück sei charakteristisch für seinen Begriff von Musiktheater und für seine Arbeitsweise. Collins interdisziplinäre ortsspezifische Musiktheater verbinden Klang mit Video, Elektronik und theatralen Aktionen und meist ist das Publikum mittendrin.

«Für Fastnacht gab es wenig Zeit für Proben vor Ort und zudem wurde das Stück mehrere Male gespielt. Das erfordert eine präzise konzeptionelle Vorbereitung und genaue Anweisungen für die Performer:innen». Die Partitur für Fastnacht ist eine Audiospur, die allen Mitwirkenden mittels ‘in ear-headphones’ eigene Aktionen zuweist. In die Performance sind Rollen eingebaut, die die Handlung brechen: Die Darsteller:innen werden von einer Soundcrew mit Mikrofon (Collin selbst) und Schaltpult verfolgt. «Indem ich zeige wie eine Szene aufgezeichnet wird, zerstöre ich die Faszination. Ich mag solche Metaebenen.», meint Collin. Zur Live-Performance erhält jede Zuschauerin und jeder Zuschauer einen Kopfhörer mit Live-Sound und einem fiktiven Audiobeitrag: die Tonspur schafft eine weitere Metaebene. «Viele Menschen spielen am Wochenende zu Hause solche Kriegsspiele. Den Krieg möchten sie selbst nicht erleben müssen. Solche Dualitäten will ich zeigen».

Gebrochene Re-enactments

Collin kreiert gebrochene Re-enactment die immer auch einen persönlichen Hintergrund haben: «die Idee entstammt einer Fotografie aus der Photobastei in Zürich – eine unscheinbare Landschaft mit Apfelbäumen mit Titel ‘Verdun 2017’. Meine Familie stammt aus der Gegend. In der idyllischen Landschaft fand 1916 eine der blutigsten Schlachten des ersten Weltkriegs statt. Die Foto zeigt aber ein harmloses Motiv». Ein Ort beinhalte immer auch Geschichte, meint Collin. «Durch Klang kann ich einer malerischen Landschaft eine völlig unerwartete Ebene hinzufügen.»

Léo Collin wuchs in einem kleinen Dorf im französischen Jura auf, studierte in Lyon, Genf und zuletzt an der ZHdK in Zürich, zunächst Musikwissenschaft, dann Klavier, Elektroakustik und Komposition. Er komponiert elektronische Musik für Theater und Tanz, auch schon fürs Schauspielhaus Zürich oder das Deutsche Theater Berlin, konzipiert Musiktheater oder auch Vermittlungsprojekte bspw. fürs Sonic Matter Festival Zürich.

Collins Stücke sind immer auf spezifische Räume ausgerichtet und meist mit einer festen Gruppe von Musiker:innen entwickelt, dem Kollektiv International TOTEM (KIT). Er performt in der Regel auch selbst und bindet weitere Musik- und Kunstschaffende ein. Das Publikum ist Teil seiner Stücke, es partizipiert musikalisch oder ist mittendrin, umgeben von Lautsprechern oder mit Kopfhörern ausgestattet.

 

Léo Collin: Corals © Lea Huser

Inhaltlich aufgeladene Orte

Inhaltlich aufgeladene Ort sind auch in der Trilogie, einer dreiteiligen szenischen Arbeit mit den Titeln Baleen, Medusen und Corals, wesentlich. Corals, der dritte Teil, spielt zum Beispiel in einer Tankstelle. Sie ist das Pendant in der Menschenwelt für Korallenriffe, Mikrokosmen wie Städte, die aus dem Nichts auftauchen und kontinuierlich wachsen. «In den grossen Weiten der USA oder Australiens gibt es oft lange nichts und plötzlich eine Tankstelle voller Menschen, Essen und Benzin. Und gleichzeitig ist Benzin Inbegriff von Umweltzerstörung.»


Léo Collin, Corals, music for Gas stations, Ensemble Inverspace, Eigenproduktion SRG SSR.

Das übergreifende Thema von Trilogie ist die Sorge um das Verschwinden der Artenvielfalt. Die drei Titel Baleen, Medusen, Corals – Wale, Medusen, Korallen – stehen für unterschiedliche Meeresbewohner und deren Biosphären. «Es geht um die Nahrungskette im ‘Web food’: die Grossen essen die Kleinen», so Collin. «In meiner Jugend schwebte ‘No future’, also Kapitalismus- und Konsumkritik, über allem. Heute begleitet mich das Thema weiter».

Medusen, der zweite Teil von Léo Collins Trilogie, fand in einer trashigen Industriehalle am Rande Zürichs statt. Vier Zuschauergruppen begehen mit Kopfhörern, angeleitet von Devices auf ihren Handys oder von einem Schauspieler verschiedene Räume auf den Spuren eines vergangenen Verbrechens.

 

Ein Puzzle von Ereignissen

Die Handlung besteht aus einem Puzzle von Ereignissen: im ersten Teil, Balleen, zwischen Selbsterfahrungsgruppe, Sportevent oder TV-Koch-Show, im zweiten Teil, Medusen. zwischen Krimi, Konzert und Reality-TV: «Ich beschäftigte mich mit sehr Unterschiedlichem bevor ich Musik machte. In Trilogie gehe ich meinen Kindheits- und Jugenderinnerungen nach und setze sie in Klang um», so Collin. «Als Kind wurde ich zum Beispiel oft vor den Fernsehapparat gesetzt und schaute dann meist Sport. Später wurde mir klar, dass die Sportkommentare ihm erst diese Art Magie verleihen. Meine Arbeit konfrontiert diese Erinnerungen mit zeitgenössischer Musik, in der Hoffnung auf eine Art Emanzipation.»


Léo Collin, Trilogie: Balleen, Corals, Medusen

Trilogie begleitet Collins musikalischen Weg schon über viele Jahre. Das Stück wächst, wuchert und verändert sich laufend – wie die Biosphären innerhalb des worldwide web food.
Gabrielle Weber

Eine Erweiterung von Fastnacht, das Musiktheater Blind Test, kommt am kommenden Festival Neue Musik Rümlingen, zusammen mit Kollektiv International Totem und dem Hyper Duo am 24 und 25. August 2024 zur Aufführung.

Am 19. Juni 2025 widmet sich Léo Collin mit dem Collegium Novum Zürich, erneut der Biodiversität in: Plankton,  Musiktheater für Performer·innen, Ensemble und bewegliches Publikum (2025, UA), Zentralwäscherei Zürich.

Neo-Profiles
Léo Collin, Kollektiv International Totem (KIT), Neue Musik Rümlingen, Hyper Duo, Sonic Matter Festival, Collegium Novum Zürich

Lauren Newtons Stimmkunst

Sie ist eine Pionierin der Stimmkunst – die US-amerikanische Vokalistin Lauren Newton. Das volle Potential der Stimme zu entdecken, treibt ihr Schaffen in der Freien Improvisation, im Jazz und der Zeitgenössischen Musik voran. Mit der Schweizer experimentellen Musikszene eng verbunden, unterrichtete sie von 1993 bis 2019 an der Musikhochschule Luzern (HSLU)  Jazzgesang und Freie Improvisation.

Portrait Lauren Newton © Peter Purgar

 

Luca Koch
Die verschiedensten Formationen von langjährigen Duos, über Vokalensembles zum grossen Jazzorchester prägen ihre Karriere. Ihre Konzerte zeichnen sich durch einnehmende Tiefe und Dringlichkeit auf. Dieses Jahr feiert Lauren Newton ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum. Für die SRF Kultur-Sendung Living Past besuchte ich Lauren Newton in Tübingen in Deutschland, wo sie zuhause ist, und hörte mich mit ihr durch wegweisende Live-Aufnahmen.

 

Wink des Schicksal

Eigentlich wollte Lauren Newton in Oregon in den USA Kunst studieren, doch bekam sie dort keinen Studienplatz. Als Wink des Schicksals versuchte sie dann ihr Glück in der Musikabteilung. Schon zuhause waren sowohl Klassik wie auch Jazz präsent. Ihr Vater spielte Kontrabass und sang in Nachtclubs. Auch Lauren hatte eine solide Stimme und begann ein klassisches Gesangsstudium. In ihrem dritten Bachelorjahr durfte sie an einem Austauschjahr in Stuttgart teilnehmen. Das war unüblich für Bachelor-Studierende, doch ihr damaliger Lehrer bürgte für sie. Ein grosser Schritt, denn Deutschland wurde ihr neues Zuhause.

 


Lauren Newton, Sound Songs, Improviation solo 2006.

 

Klassik-Studentin by Day, Jazz-Rock Sängerin by Night

In Stuttgart trat Lauren Newton ihren Master in der Gesangsklasse der Opernsängerin Sylvia Geszty an und gleichzeitig tauchte sie in die junge Jazzszene der Stadt ein. An einer Jam-Session lernte sie den Trompeter Frederic Rabold kennen, der von Newtons Stimme begeistert war. Kurze Zeit später sang Lauren Newton in seiner Jazz-Rock Band der Frederic Rabold Crew. Der Mix aus einfach komponierten Themen und freier Improvisation, war ideal für sie. Konnte sie so die gelernte Technik des Studiums in der Freiheit der Improvisation ausarbeiten. Beide Tätigkeiten gingen nahtlos ineinander über, es fühlte sich nie wie ein Doppelleben an, erzählte sie mir im Interview.

 

Vienna Art Orchestra

Die Frederic Rabold Crew wurde 1979 in die Fernseh-Sendung Bourbon Street nach Wien eingeladen, was vom Schweizer Jazzmusiker Mathias Rüegg nicht unbemerkt blieb. Er selbst gründete zwei Jahre zuvor mit Wolfgang Puschnig das Vienna Art Orchestra. Nach dem TV-Auftritt fragte er Lauren Newton sofort an, ob sie ein Teil davon werden wolle. Zehn Jahre lang war Lauren Newton ein unersetzlicher Bestandteil das Vienna Art Orchestra, welches durch dutzende Album-Produktionen und grossen Tours zu einer Instanz des experimentellen Jazz wurde. Ihre Stimme sticht mit messerscharfer Präzision und verspielter Virtuosität aus dem Jazz-Orchester heraus. Eine Zeit, die Lauren Newton um nichts in der Welt missen wollte, auch wenn die ständigen Reisen im Tourbus als einzige Frau herausfordernd waren.

Vocal Summit

Persönlich lernte ich Lauren Newton in ihrer Unterrichtstätigkeit an der Hochschule Luzern kennen. Für mich war sie nicht nur als Vokalistin mit grosser stimmlicher Bandbreite eine wichtige Figur, sondern auch als Musikerin, die grosses Interesse für andere Stimmen mitbringt. Nicht nur als Dozentin half sie ihren Studierenden ihre eigene Stimme zu entdecken, auch auf der Bühne kollaborierte sie immer wieder mit anderen Sänger:innen. Gemeinsam mit Bobby McFerrin, Urszula Dudziak, Jeanne Lee und Jay Clayton bildete sie die Gesangs-Allstar-Band: das Vocal Summit. Fünf komplett unterschiedliche Stimmen kreieren zusammen Soundscapes, die atmen. Die Arbeit mit Stimmen in grösseren Formationen führte Lauren Newton mit der Vokalensemble Timbre fort.

 

Vom Vom Zum Zum

Lauren Newton machte sich als experimentelle Vokalistin einen Namen, die sich besonders durch Klänge ausdrückt. Aber auch die Arbeit mit Text nimmt eine wichtige Rolle in ihrer Musik ein. Die Zusammenarbeit mit dem österreichischen Dichter Ernst Jandl war besonders prägend. Seine Gedichte wurden dekonstruiert und neu zusammengesetzt, Worte wurden gedreht, gedehnt und rückwärts gesprochen. Das Album Vom Vom Zum Zum auf dem Ernst Jandl selber spricht und Lauren Newton seine Worte umspielt war eine besondere Entdeckung für mich.


Pi aus Vom Vom Zum Zum, Lauren Newton mit Wolfgang Puschnig, Mathias Rüegg und Uli Scherer, 1988.

 

Duos im Gespräch

Freie Improvisation ist wie ein musikalisches Gespräch. Die Mitspieler:innen gehen aufeinander ein, kommentieren, sind sich einig oder streiten miteinander. Am besten gelänge dies im Duo, erzählt mir Lauren Newton im SWR-Studio in Tübingen.


O How We, Lauren Newton und Phil Minton performten zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne am Festival A Voix Haute in Bagnères de Bigorre, France, am 13. August 2010.

 

Duo-Aufnahmen bilden denn auch einen grossen Teil ihres Gesamtwerks. Sie kollaboriert beispielsweise mit Anthony Braxton, Phil Minton, Aki Takase und Joëlle Léandre. Besonders die Kontrabassistin Joëlle Léandre begleitet sie bis heute. Ihre Tiefe musikalische Freundschaft spiegelt sich in ihrem Interplay wider. Der reiche kernige Klang von Léandres Kontrabass-Spiel ergänzt Newtons glasklare Stimme perfekt. Erst kürzlich erschien das neue Album des Duos: Great Star Theatre, San Francisco.
Luca Koch

Lauren Newton und Joëlle Léandre © Friedrich Förster

 

Frederic Rabold, Frederic Rabold Crew, Mathias Rüegg, Bobby McFerrin, Urszula Dudziak, Jeanne LeeJay Clayton, Wolfgang Puschnig, Vienna Art Orchestra, Ernst Jandl, Anthony Braxton, Phil Minton, Aki Takase, Joëlle Léandre.

Neoprofil:
Lauren Newton

Sendung SRF Kultur:
Living Past – Lauren Newton, Pionierin der Stimmkunst, 13.02.2024, made by Luca Koch.

Cathy van Eck: Die transzendierte Rolle eines Konzertstücks

Cathy van Eck, Komponistin und Medienkünstlerin, prägt die Schweizer und internationale zeitgenössische Musikszene mit ihren subtilen und hochästhetischen Klangperformances. Ihr Stück In the Woods of Golden Resonances für Schlagzeugsolo nahm innerhalb eines Konzertabends für Schlagzeugsolo eine spezielle Rolle ein. Ein Portrait von Alexandre Babel.

Alexandre Babel
Das Motto klingt wie eine Einladung: mit dem Titel Aufbau/Abbbau kuratierte der spanische Perkussionist Miguel Angel Garcia Martin in der Reihe Friendly Takeover der Gare du Nord in Basel einen Konzertabend der ganz dem Schlagzeugsolo gewidmet war. Sechs Uraufführungen sollten die logistische Realität des professionellen Schlagzeugers durchleuchten. Denn Auf- und Abbaus des Instrumentariums für ein Konzert nehmen in der Regel oft fast ebenso viel Raum und Bedeutung ein, wie der musikalische Moment selbst. Auch wenn das Thema des Abends auf den ersten Blick anekdotisch wirkt, war es in diesem Fall die Grundlage für eine verzweigte Fragestellung, die sich alle eingeladenen Mitwirkenden mit der Schaffung eines neuen Werkes zu eigen machten. Cathy van Ecks In the Woods of Golden Resonances ist dafür ein verbindendes Beispiel.

 

Portrait Cathy van Eck zVg. Cathy van Eck.

 

In the Woods of Golden Resonances zeigt den Schlagzeuger Miguel Angel Garcia Martin im Zentrum der Bühne, in relativer Dunkelheit mit einer roten Stirnlampe, so dass das Publikum nur seine verdunkelte Silhouette erkennt. Mit langsamen und kontrollierten Bewegungen geht er zu einem Becken, das in einer Ecke der Bühne auf dem Boden liegt, hebt es an und hält es dann auf Mundhöhe in horizontaler Position. Ein deutlicher, verstärkter Atemton zeigt, dass der Performer ein Mikrofon trägt und auf das Instrument bläst, als würde er versuchen, den Staub von ihm zu entfernen. Dieser Ton wird offensichtlich elektronisch verarbeitet, und die Wiedergabe über die Lautsprecher macht den Großteil der Klangumgebung aus. “Durch das Pusten wird das ‚Volume‘ der beiden Lautsprecher im Raum höher, und es entsteht ein akustischer Feedback -Klang. Das ganze Stück besteht aus solchen Feedback-Klängen, als würde Miguel den Raum ‚beatmen‘ meint dazu Cathy van Eck.

Anschließend geht er zu einem Metallständer, auf den er sein Instrument legt. Diese einfache, aber sorgfältig choreografierte Handlung wird mit weiteren im Raum versteckten Becken mehrmals wiederholt. Es ermöglicht dem Publikum den schrittweisen und ritualisierten Aufbau einer Perkussionsinstallation auf der Bühne zu beobachten.

In Cathy van Ecks Werken steht der Musikerkörper oft im Zentrum. Die Holländerin Van Eck doktorierte an der Universität Leiden. Sie publiziert und forscht unter anderen über mögliche Verbindungen zwischen Gesten, Sensoren und Klängen und unterrichtet am Sound Arts Department der Hochschule der Künste in Bern. „Auch in In the Woods of Golden Resonances gibt es eine ziemlich starke Beziehung zwischen den Bewegungen des Performers und seinem Material. Seine Bewegungen sind nicht als eine Geste des ‚Nach aussen Zeigens‘ gemeint, mit der Bedeutung ‚ich kontrolliere den Klang‘, sondern eher als ein vorsichtiges Suchen und Wahrnehmen. Deswegen hat Miguel in dem Stück auch eine andere Haltung auf der Bühne als in den andern Stücken des Abends”, so van Eck.

 

Cathy van Eck, In the Woods of Golden Resonances, Miguel Angel Garcia Martin, UA gare du Nord Basel, 9.4.2024.

 

Die Stärke von In the Woods of Golden Resonances liegt in der repetitiven, schlichten formalen Anlage. Das Stück dient dazu, von einem Zustand A zu einem Zustand B zu gelangen und endet, sobald die Installation fertiggestellt ist. Die Partitur von Cathy van Eck sieht nicht vor, dass auf den Becken gespielt wird, wenn sie einmal aufgebaut sind. Stattdessen dienen sie als Aufbau für ein weiteres Stück des Programms, Cymbals von Barblina Meierhans. Van Ecks Stück übersetzt damit nicht nur das Thema des Konzerts genau, sondern knüpft in sich auch eine konkrete Verbindung zum nächsten Element des Abends.

Der Moment der Installation, der Bühnenumbau, bildet das eigentliche Stück. Und während man normalerweise versucht, Dauer und Bedeutung des Umbaus zu reduzieren, um den musikalischen Fluss zu gewährleisten, macht In the Woods of Golden Resonances genau das Gegenteil: es nutzt diesen Zwischenraum zwischen zwei Zuständen für einen Moment der Introspektion in die Intimsphäre des Musikers. Van Ecks ästhetische Entscheidungen, wie die verträumte Atmosphäre, die durch das Halbdunkel erzeugt wird, oder der sinnliche Eindruck, den die Verstärkung der Atemgeräusche des Musikers hinterlässt, unterstreichen diese Introspektion.

Die Wirkung des Werks liegt darin, die technische Realität des Schlagzeugers mit seinem Instrumentarium auf poetische Weise heraufzubeschwören und sie gleichzeitig mit seiner Umweltrealität zu verbinden. Dabei wird auch die räumliche Dimension des Konzertraums betont. Dazu Cathy van Eck: “Die Klängen entstehen aus einem Zusammenspiel zwischen der genauen Position im Raum von Miguel, von den Becken und von den Lautsprechern, und dann natürlich auch mit der Raumakustik.”

Van Eck geht jedoch noch einen Schritt weiter: sie lädt das Publikum ein, sich als Teil des Prozesses zu fühlen: Klangeffekte wie die elektronische Bearbeitung mit hoher Lautstärke schaffen einen immersiven Eindruck, und das eigentliche ‚Ballett‘ des Schlagzeugers vermittelt dem Publikum die Illusion, es sei Teil des Prozesses. Und schließlich ‚neutralisiert‘ sie die Figur des Schlagzeugers durch den Lichteffekt auf eine einfache Silhouette, mit der sich jede:r im Publikum identifizieren kann. Van Eck erklärt dazu: “In diesem Fall war das Licht eine Entscheidung des Schlagzeugers Miguel, der mit mir und der Regie zusammengearbeitet hat. Ich kann mir dieses Stück auch gut in einer helleren Umgebung vorstellen. Für mich hängt es sehr vom Raum ab, wie das Licht gestaltet wird.

In the Woods of Golden Resonances ist Teil einer Reihe von aufeinanderfolgenden und differenzierten Werken Es unterwandert innerhalb der Reihe die üblichen Erwartungen an ein Konzertstück, während es gleichzeitig seinen primären Code respektiert. Die Klangbehandlung ist so interessant, dass es sich auch gut einfach nur ‚hören‘ lässt.

In Frage gestellt wird aber die Rolle des einzelnen Werks resp. seiner Schöpferin oder seines Schöpfers zugunsten einer Einheit, die eine Verbindung zwischen den Elementen schafft. Mir stellt sich die Frage, ob die Notwendigkeit der Kreation nicht darin liegt, dass sie von einem Zustand in einen anderen überführt?
Alexandre Babel

 

Alexandre Babel stammt aus Genf und lebt in Berlin. Komponist, Perkussionist, Kurator und Publizist, schliesst er sich mit diesem Text dem Team der neoblogger:innen an.

Neo-profiles :
Cathy van Eck, Gare du Nord, Alexandre Babel, Barblina Meierhans

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 29.01.2014: Grünes Rauschen – Klangkunst mit Cathy van Eck, Redaktion Cécile Olshausen.
Onlinetext, 28.01.2014Bei Cathy van Eck klingt Gewöhnliches ungewöhnlich, Autorin Cécile Olshausen.
Musik unserer Zeit, 16.6.2021: Alexandre Babel: Perkussionist, Komponist, Kurator, Redaktion Gabrielle Weber.
neoblog, 10.09.2021un projet est avant tout une rencontre.., Autorin Gabrielle Weber.

Sabina Meyer – Scelsi, Barock und eigene Songs

Die Sopranistin und Komponistin Sabina Meyer hat in Rom ein inspirierendes musikalisches Zuhause gefunden, in dem sie ihre Vielseitigkeit ausleben kann. Sie kombiniert Improvisation mit Jazz, zeitgenössischer Musik, Barockmusik und Elektronik. Fürs Duo Cry Baby schreibt sie eigene Songs, die sie selbst auf dem E-Bass begleitet. Ein Porträt von Friederike Kenneweg.

 

Sabina Meyer und Alberto Popolla, beide mit E-Bass auf einem Bandfoto als Duo Cry Baby. © Giulio Napolitano
Sabina Meyer und Alberto Popolla bilden das Duo ‘Cry Baby’ © Giulio Napolitano

 

Friederike Kenneweg
Bei einem Konzert in Rom spielen drei Musiker:innen zusammen. Eine Sängerin. Zwei Klarinettisten. Eigentlich ist es ein Free-Impro-Konzert. Doch dann spielen die drei einen Song, den die Sängerin geschrieben hat. Und es macht Klick.
“Das war wirklich der beste Moment des Konzerts”, so beschreibt Sabina Meyer diesen Augenblick, in dem sie und der Klarinettist Alberto Popolla merkten, dass sie zusammen an Meyers Songs weiter arbeiten wollen. Als Duo Cry Baby haben sie inzwischen einige erfolgreiche Auftritte hinter sich und die ersten Songs auch aufgenommen. Das verdichtete Erzeugnis von Sabina Meyers Werdegang.

 

Weg nach Italien

“Es war mir immer klar, dass ich nicht in Zürich bleiben möchte”, sagt Sabina Meyer. Für die Tochter einer Italienerin lag der Weg in den Süden nahe, und sie ging zum Studium der Anthropologie und Musikwissenschaft nach Bologna. Die Stadt in Norditalien bot der experimentierfreudigen jungen Künstlerin ideale Bedingungen. “In den neunziger Jahren war Bologna eine sehr offene Stadt und kulturell extrem vielfältig”, erinnert sie sich. Unter diesen günstigen Voraussetzungen begann Sabina Meyer, neben dem Studium auch als Schauspielerin, als Sängerin und Musikerin zu arbeiten. Mit der Musikgruppe Antenata vertonte sie in dieser Zeit Werke von Lyrikerinnen wie Ingeborg Bachmann, Sylvia Plath, Anne Sexton und Meret Oppenheim.

 

In Rom zur zeitgenössischen Musik

Das aufkeimenden Interesse an der zeitgenössischen Musik führte sie schließlich bis nach Rom, damals das Zentrum der italienischen Musikavantgarde. Dort traf sie auf Michiko Hirayama (1923-2018), eine japanische Sängerin, die eng mit dem italienischen Komponisten Giacinto Scelsi (1905-1988) zusammen gearbeitet hatte. “Man kann sagen: Scelsi hat sein Vokalwerk ihr gewidmet und wurde von ihr inspiriert.” Sabina Meyer nahm bei Michiko Hirayama Unterricht und vertiefte sich dabei mehr und mehr in Scelsis Werk.

 

Persönlich vermittelt: Hô 1 von Giacinto Scelsi

Besonders prägend war die Zusammenarbeit mit ihrer Lehrerin an der Partitur von Hô 1 von Giacinto Scelsi.

“Das Stück besteht eigentlich nur aus einem F,  eins in der Oktave oben und eins in der Mitte. Aber das ist eben nicht alles. Eigentlich sind da auch Vierteltöne, Dreivierteltöne, ein bisschen über und ein bisschen über dem F. In der Partitur gibt es außerdem so kleine Zeichen, die aber nicht erklärt werden. Da muss man erstmal genau herausfinden, welche Art von Vibrato das bezeichnet und an welcher Stelle man dann ein Messa di voce einsetzen soll.”

Auch die Art der Stimmfärbung lässt sich nicht aus der Partitur allein herauslesen.

“Man braucht da einen Mix zwischen klassischer Stimme und der Natürlichkeit einer ungeschulten Stimme. Das ist für diese Musik sehr wichtig, dass es nicht rein akademisch klingt.”

 


Hô 1 von Giacinto Scelsi, gesungen von Sabina Meyer.

 

Der Blick zurück im Heute: Barockmusik und Elektronik

Nicht nur die zeitgenössische Musik zog Sabina Meyer an, auch Alte Musik hat es ihr angetan. Zu ihrem Repertoire gehören Werke von John Dowland, Claudio Monteverdi und Barbara Strozzi. In ihrem Projekt “XANTO. Ninfa in Lamento” kombinierte sie Barockmusikwerke mit Video und Elektronikklängen.

 

Szenenfoto aus XANTO, Ninfa in lamento. Zwei Leinwände hintereinander, darauf das Gesicht der Sängerin Sabina Meyer mit singend geöffnetem Mund. © Folkert Uhde
Szenenfoto aus ‘XANTO, Ninfa in lamento’ von Sabina Meyer aus dem Jahr 2016. © Folkert Uhde

 

Der Weg hin zu eigenen Songs

Die Auseinandersetzung mit der Musik der Barockzeit und mit dem Werk von Giacinto Scelsi prägen die Arbeit von Sabina Meyer bis heute. Zum Beispiel die Songs Under cover of night mit dem Duo Cry Baby.

 


In dem Song Run thematisiert Sabina Meyer die Gefahren der bedingungslosen Liebe.

Die Songs für das Duo komponiert Sabina Meyer selbst. Sie schreibt auch die Texte und sie begleitet sich selbst auf dem E-Bass. Die musikalische Besetzung, die sie für ihre Songs gefunden hat, ist eher ungewöhnlich.

“Zum E-Bass, den ich selbst spiele, kommt noch ein zweiter E-Bass und die Bass-Klarinette dazu. Die Stimmung ist also sehr dunkel, nächtlich, und damit passend zum Titel Under cover of night. Ohne die Erfahrungen mit Giacinto Scelsi und der Barockmusik hätte ich diese Songs so nicht schreiben können.”
Friederike Kenneweg

 

Cry Baby, Giacinto Scelsi, Alberto Popolla, Michiko Hirayama

neo-profile:
Sabina Meyer

Klangkunst von „Sonic Architect“ Merlin Modulaw

Merlin Züllig alias Merlin Modulaw bezeichnet sich als „Sonic Architect“. Der in Paris lebende Zürcher hat Komposition und Sound Design in der Schweiz studiert und entdeckt mit seinen Verknüpfungen von Akusmatik, 3D-Klang, Sound Design und Pop-Referenzen neue künstlerische Räume.

Merlin Modulaw © Andreas Lumineau

Friedemann Dupelius
„Einen Tisch dekorieren ist komponieren, ein Blumenstrauß ist eine Komposition. Für mich ist Komposition ein sehr weiter Begriff. Auch Sound Design gehört dazu“. Merlin Züllig alias Merlin Modulaw denkt viel in Verbindungen und Assoziationen. Kaum ein Musikgenre und kaum eine gestalterische Tätigkeit gibt es, die er nicht im Zusammenhang miteinander sieht. Das zeigt sich schon früh in seiner musikalischen Biografie: Merlin Modulaw ist noch keine 30 und gehört zu einer jungen Generation, die in den 2010er-Jahren auf Online-Musikplattformen wie Soundcloud sozialisiert wurde. Hier tummelten sich Musiker:innen, die (oft aus dem Jugendzimmer heraus) ihre Stücke mit der Welt teilten, ohne dass ein Plattenlabel oder ein Vertrieb nachhelfen mussten. Angefixt von HipHop-Produktion und elektronischer Clubmusik vertiefte Modulaw seine Fähigkeiten in Komposition und Klangkunst in Studien in den Musikhochschulen in Basel und Bern. Dort kam er in Kontakt mit zeitgenössischer und akusmatischer Musik, Musik für Lautsprecher ohne sichtbare Instrumente, und vertiefte sich in das Thema 3D-Audio.

Klänge für Räume: Der „Sonic Architect“

So entstand die Selbstbezeichnung „Sonic Architect“. Denn: Ob Musiker, Komponist, Produzent, Klangkünstler oder Sound Designer, all diese Begriffe reichten für Merlin Modulaw nicht aus, um den zitierten Blumenstrauß zu beschreiben, aus dem sich seine Aktivitäten komponieren. „Sonic Architect“ bedeutet einerseits, Klänge und Musik für spezifische Räume zu gestalten, wie etwa in der Konzertreihe „Spectres“, die Modulaw gemeinsam mit Axel Kolb in Zürich veranstaltet. Hier erschließen sich Komponist:innen unterschiedlichste Räume mit Lautsprecher-Konstellationen – von großen Industriehallen über Kellergewölbe bis zu Kunstgalerien.


Die akusmatischen Kompositionen von Merlin Modulaw kombinieren Fieldrecordings und Synthesizerklänge und führen an verschiedene imaginäre Orte

Je nach Ort und künstlerischer Intention werden die Boxen im Kreis aufgestellt, frontal aufs Publikum gerichtet oder beschallen auch mal Wände und Winkel des Raumes mit elektronisch-akusmatischen Kompositionen, die speziell für diese Lautsprecher und die Räume mit ihren Eigenfrequenzen und Nachhallzeiten abgemischt und inszeniert werden. Die beteiligten Komponist:innen rotieren von Ausgabe zu Ausgabe. Im Dezember 2023 war die „Spectres“-Reihe Teil des Zürcher Sonic Matter-Festivals. Bei der „Biennale Son“ im Herbst 2023 im Wallis verräumlichte Merlin Modulaw die Klangspuren anderer Künstler:innen in einer Installation von Deborah Joyce-Holman. Er verteilte das Tonmaterial auf fünf in einer Reihe aufgestellte Lautsprecher und auf Subwoofer unter einer Sitzbank für das Publikum. Auch das ist für ihn ein eigener kompositorischer Akt, selbst wenn er die Klänge nicht selbst gestaltet hat.

Kreis aus acht Lautsprechern am Rindermarkt Zürich

„Sonic Architect“ bedeutet für Merlin Modulaw aber noch mehr: Nicht nur, mit Klängen Architektur zu betreiben, sonder auch, Identitäten zu schaffen – aus dem unbestimmten Klangstrom der Gegenwart etwas Spezifisches festzuhalten und zugänglich zu machen. Das lässt sich auf alle Tätigkeitsfelder von Merlin Modulaw übertragen, auch etwa auf seine Arbeit als Mastering-Engineer, wenn er der Musik anderer Künstler:innen den filigranen Schliff gibt, der sowohl ihre als auch seine eigene Identität in Szene setzt – oder als Sound Designer, der mit Klängen für Atmosphäre und Identität in Filmen oder Werbeclips sorgt.

„Oft nerven mich Filme mit einer markanten Filmmusik, die einfach drübergeklatscht ist und dir vorschreibt, welche Emotionen du fühlen musst. Also versuche ich, die musikalische Information bereits auf der Ebene des Sound Designs und diegetisch, also direkt in der Szene einzubringen. So könnte dann ein Wind im Hintergrund einen Moll-Akkord beinhalten, den niemand bewusst als solchen wahrnimmt, der aber die Umgebung subtil einfärbt und eine bestimmte Aura erzeugt.“

Für die Zürcher Design-Marke Casella Meyer gestaltete Merlin Modulaw das Sound Design eines Image-Videos mit der für ihn typischen Klangsprache

Klänge für Stimmen: Der Assoziierer

Die musikalischen Ergebnisse, die aus dieser Denk- und Arbeitsweise resultieren, haben andere Künstler:innen neugierig darauf gemacht, mit Merlin Modulaw zu kooperieren. Oft sind es Vokalist:innen – singend, rappend, mit der Stimme oder mit Effekten wie Autotune experimentierend –, die ihre Stimme in Modulaws Soundgewand kleiden wollen. Neun davon fanden Platz auf dem 2023 veröffentlichten Album Ignition. Auch in der Arbeit mit Vokalist:innen geht es Merlin Modulaw viel um Assoziationen: „Die Stimme ist für mich ein Referenzpunkt, an dem sich Hörer:innen schnell orientieren können. Ich kann dann Stimm-Elemente, die oft mit Popmusik im weitesten Sinne assoziiert sind, mit Referenzen aus zeitgenössischer oder elektroakustischer Musik kombinieren und damit experimentelle Musik einem anderen Publikum näherbringen.“


Das Stück C ist Teil des Modulaw-Albums Ignition und entstand in Kollaboration mit dem kalifornischen Rapper DÆMON.

Diese Kombinationen von Referenzen sind für Merlin Modulaw – neben technischen Neuerungen – die Möglichkeit, mit der Innovation in der Musik stattfinden kann. Als Grenzgänger zwischen dem Noch-Bekannten und dem So-noch-nicht-Dagewesenen hat sich Merlin Modulaw in den letzten Jahren gleich mehrere neue Räume erschlossen.
Friedemann Dupelius

 

Merlin ModulawMerlin Modulaw auf BandcampMerlin Modulaw – Ignition (Album)Konzertreihe Spectres in ZürichDeborah Joyce-Holman, Axel Kolb

neo-Profile:
Merlin ModulawFestival Sonic Matter

Uraufführung in 100 Jahren?

„Zukunftsmusik – dem Zeitgeist entkommen“ heißt ein Projekt zum 100. Geburtstag SUISA. 40 Schweizer Musikerinnen und Musiker sollten ihre Ideen zu einer Musik notieren, die erst in hundert Jahren uraufgeführt werden soll: Ein Gruß aus der Gegenwart für das Jahr 2123 zum hoffentlich 200. Geburtstag der SUISA. Am 16. April 2024 wurde das Projekt im Yehudi Menuhin Forum in Bern vorgestellt. Bettina Mittelstraß hat sich unter beteiligten Musikerinnen und Musikern umgehört.

Die Komposition des HYPER DUOs trägt als Titel die Anzahl Sekunden die von Jetzt aus bis 2123 vergehen – 3 406 699 560, hier eine Aufnahme des HYPER DUOs an einer Vinylséance am 21.11.2020 © 2020 Pablo Fernandez.

 

Bettina Mittelstrass
Helena Winkelman, das HYPER DUO, Joke Lanz, Martina Berther, Patrick Frank, Annette Schmucki, Fritz Hauser, Leo Hofmann oder Nik Bärtsch – das sind nur sieben von insgesamt 40 Schweizer Musikerinnen und Musikern, deren „Zukunftsmusik“ im April 2024 in einer Archivbox landete, ohne zuvor zu Gehör zu kommen. Hermetisch verschlossen wird dieses Archiv für 100 Jahre von der eidgenössischen Nationalphonothek in Lugano beaufsichtigt und im Eingangsbereich der «Città della Musica» ausgestellt. Erst 2123 wird das Archiv hoffentlich wieder geöffnet, die Musik aus dem Dornröschenschlaf geweckt und für ein Publikum gespielt, das heute noch nicht einmal geboren ist.

Leo Hofmann beschreibt seine Zukunftsmusik in grafisch gestaltetem Text.

 

 

Wie klingt die Schweiz in 100 Jahren?

Wie klingt die Schweiz in 100 Jahren? Eine erste Antwort könnte in der Archivbox schlummern. Leicht fielen die Antworten den 40 Befragten nicht. Skepsis herrschte vor. Welche Instrumente stehen in 100 Jahren überhaupt zur Verfügung? Gibt es noch westliche Notenschrift? Holzinstrumente? Oder hat der Klimawandel die Bäume dahingerafft? Man könne nicht wissen, ob man vor dem Hintergrund schwindender Ressourcen auf diesem Planeten „schlussendlich die Geige verbrennen muss, um nicht zu erfrieren, oder ob man dann die Darmseiten aufkochen muss, um nicht zu verhungern“, sagt der Schlagzeuger Fritz Hauser. Daher hat er seine Komposition in Morsezeichen hinterlegt – in der Hoffnung, dass diese archaischen Zeichen die Menschen der Zukunft zum rhythmischen Musizieren inspirieren, mit welcher Instrumentierung dann auch immer.

Fritz Hauser notiert seine Zukunftsmusik in reinem Morsecode. Hier sein Schraffur für Gong und Orchester, Basel Sinfonietta 2010, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Musik als Botschafterin des Zusammenspiels?

Bei aller Skepsis gegenüber dem, was in 100 Jahren Musik noch ausmacht oder überhaupt möglich macht – zwei gesellschaftliche Funktionen werden ihr wohl bleiben, meint die schweizerisch-niederländische Komponistin und Violinistin Helena Winkelmann: Musik als Botschafterin des Zusammenspiels und als Vermittlerin einer integrierenden guten Energie. Noch eine andere Sache bleibe menschlichen Gesellschaften wahrscheinlich erhalten, nämlich „dass die Menschen auch zukünftig Probleme mit Ihrem Zusammenleben haben werden.“

Helena Winkelmann hat daher die Anleitung zu einem „Musikrat“ der Zukunft in die Archivbox gelegt. Es ist die musikalische Variante eines tausende Jahre alten Konzepts, dem „Council of Chiefs“ indigener amerikanischer Gesellschaften. In einem Kreis übernehmen Musizierende unterschiedliche Funktionen – musikalisch wie gesellschaftlich. Es gibt zum Beispiel eine hinterfragende, eine erfinderische, eine bewahrende, eine warnende, eine erzählerische und eine entwickelnde Stimme. „Das ist dann auch die Magie von diesem ganzen Kreis, dass das, was uns wirklich weiterbringt, der Austausch von Perspektiven ist.“


Helena Winkelmann trägt zur Archivbox die Anleitung zu einem Musikrat der Zukunft bei. Auch in Geisterlieder, einem Zyklus über Gedichte in 18 europäischen Originalsprachen mit Begleitung verschiedener Instrumentalgruppen, befasst sich Helena Winkelmann mit der Überwindung von zeitlichen und regionalen Grenzen, UA 5.8.2023, Kirche Ernen, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Ein Raumschiff voller Perspektiven und Gegenwartskritik

„In diesem kleinen Raumschiff befindet sich im Grunde ein Querschnitt durch das momentane Schweizer Musikschaffen“, so beschreibt es der Musikethnologe und Kurator Johannes Rühl, Erfinder der Projekts. Neue Musik, elektronische Musik, Jazz, Pop und Volksmusik sind unter den 40 Kompositionsvorschlägen vertreten, aber auch Klanginstallationen und so verrückte Ideen wie eine Musik mit Pilzen, deren Aminosäuren man heute schon in Klänge umwandeln kann. Ein anderer Vorschlag nimmt das Geräusch von schmelzenden Gletschern auf und transportiert es in Form von DNA in eine Zukunft, in der es in den Schweizer Alpen vermutlich kein ewiges Eis mehr geben wird.

Das Geräusch von schmelzenden Gletschern transportiert Pablo Diserens in listening to glacial thaw in der Form von DNA in die Zukunft. © Clément Coudeyre.

 

Die meisten der eingereichten Vorschläge für die Archivbox wurden von einem skeptischen und gesellschaftskritischen Zeitgeist geprägt, bestätigt Johannes Rühl. Der Versuch, dem Zeitgeist zu entkommen, müsse verständlicherweise scheitern. „Wir kommen aus dem Jetzt offensichtlich nicht raus. Man hat zudem das Gefühl, dass heutzutage eine Dynamik in der Entwicklung ist, die es in der Vergangenheit so nicht gegeben hat.“ Ob das so stimmt? Wir werden 2123 nicht mehr da sein, um das zu überprüfen. Mögen die nach uns „unsere“ Zukunftsmusik spielen oder nicht.
Bettina Mittelstrass

 

Zukunftsmusik – dem Zeitgeist entkommen: 100 Jahre SUISA.
Die Idee stammt von Johannes Rühl, dem Ethnologen und Kurator von Musikprogrammen.
Città della Musica 

Sendung SRF Kultur:
Zukunftsmusik, Passage, 12.4.2014: Redaktorin Bettina Mittelstrass

Neoprofile:
Helena Winkelman, HYPER DUO, Joke Lanz, Martina Berther, Patrick Frank, Annette Schmucki, Fritz Hauser, Leo Hofmann, Nik Bärtsch, u.a.

Komponieren für Streichquartett mit dem Arditti Quartett

Es gilt als Synonym für zeitgenössische Musik für Streichquartett: das Londoner Arditti Quartett. Seit 1974 widmet sich das Quartett rund um den Violinisten Irvine Arditti ganz dem neuen und neusten Repertoire, sowohl in Konzerten und Einspielungen als auch im Arbeiten mit jungen Komponistinnen und Komponisten. Ende Februar begleitete ich die vier Musiker an einem öffentlichen Workshop an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Da machte das Quartett Halt auf seiner Konzerttournee zum 50-Jahr-Jubiläum.

 

Das Arditti Quartett an der Lecture Performance zusammen mit Isabel Mundry in der ZHdK am 28.2.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Gabrielle Weber
«Gut ist ein Stück, wenn es Zeit und Raum gut füllt», erklärt mir Irvine Arditti im Gespräch am Vorabend des Workshops, nach einer Lecture Performance. Der quirlige Stargeiger mit dem charakteristischen grauen Lockenschopf äussert sich stets etwas doppeldeutig und humorvoll. Die Musik müsse «funktionieren», unabhängig vom Stil oder der Art. Auf Qualitätskriterien lässt er sich nicht ein: «Wir spielten viele gute und auch viele schlechte Stücke. Neue Stücke müssen zuerst einmal die Chance erhalten, gespielt zu werden. Erst dann zeigt sich ob sie gut oder schlecht sind».

 

«Gut ist ein Stück, wenn es Zeit und Raum gut füllt»

Und solche Chancen bietet das Arditti Quartett. Irvine Arditti, erster Geiger und Gründer des Quartetts, Lucas Fels, Cello, Ashot Sarkissjan, zweite Geige, und Ralf Ehlers, Bratsche, sind neugierig auf das junge Musikschaffen und fördern es gezielt. Sie unterrichten begeistert, sei es an internationalen Festivals wie den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik oder an Musikhochschulen wie der ZHdK.

An der Lecture Performance erläuterten sie zunächst generelle Herausforderungen der Notation und Einstudierung neuer Stücke für Streichquartett: dies anhand von Stücken von Komponisten, die für ihre komplexe Kompositionsweise berüchtigt sind, Iannis Xenakis und Helmut Lachenmann, und die sie gemeinsam uraufgeführt hatten.


An Tetras (1983) von Iannis Xenakis exemplifizierte das Arditti Quartett in der Lecture Performance Herausforderungen des Komponierens für Streichquartett, Eigenproduktion SRG/SSR 2023.

 

Mit neun Kompositionsstudierenden probten sie am Folgetag deren neue Stücke fürs Schlusskonzert. Fast alles sind Uraufführungen. Geprobt wird im grossen Konzertsaal mit Publikum.

Schmerzquartett heisst die Komposition von Franziska Eva Wilhelm. Wilhelm stammt aus München und studiert seit Herbst 2021 in Zürich Komposition bei Isabel Mundry. Mit Jahrgang 2003 ist sie eine der jüngsten Teilnehmerinnen am Workshop.

Portrait Franziska Eva Wilhelm © Franziska Eva Wilhelm


«Schmerz hat für mich viel mit Reibung zu tun und auch der Ton der Streichinstrumente entsteht durch eine Art Reibung», meint Wilhelm. «Schmerz ist ein schwieriges Thema und ich wollte es nicht romantisieren. Es geht mir um die Wahrnehmung von Schmerz und wie er sich in Musik verkörpern lässt: um die Textur, nicht um eine Geschichte».

Humor muss sein..

Es wird konzentriert gearbeitet und auch viel gelacht: An einer Stelle verlieren die Musiker die Orientierung in der Partitur und Lucas Fels lockert mit einer Episode auf: «New York, Carnegie Hall!», das sei die laute Antwort Sergej Rachmaninoffs mitten in einem von ihm dirigierten Konzert gewesen, auf die Frage eines Musikers, wo sie im Stück seien. Der Humor baut Spannung ab und integriert die Komponierenden.


In Schmerzquartett von Franziska Wilhelm geht es um die Textur des Schmerzes, UA Konzert Arditti Quartett ZHdK, 1.3.2024.

 

“That’s all? How’s that?” fragt Irvine Arditti zum Ende der Probe von Schmerzquartett, wieder lachend. Wilhelm ist zwar zufrieden, möchte aber noch Weiteres ausprobieren. Das wird fraglos ausgeführt.

Ihr Fazit nach den Proben: «Ich habe viel über spezifische Notationen gelernt. Sie überlassen nichts dem Zufall und wenn es etwas zu entscheiden gibt, entscheidet die Person, die komponiert hat. Ich muss als Komponistin genau wissen, was ich will. Und das muss ich auch kommunizieren können.».

Das Arditti Quartett am Konzert im grossen Saal der ZHdK vom 1.3.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Die notierte Idee so exakt wie möglich in Klang umsetzen

Bei Uraufführungen geht es dem Quartett stets darum, die notierte Idee so exakt wie möglich in Klang umzusetzen. Das gelte genauso für grosse Namen wie auch für junge, noch unbekannte Musikschaffende, sagt Irvine Arditti. Mehrere hundert Streichquartette sind dem Quartett über die 50 Jahre gewidmet worden. Die meisten erarbeiteten sie zusammen mit den Komponistinnen und Komponisten.

 «I really want to play the piece the way you want it to be played», lässt er in den Proben immer wieder verlauten, zum Beispiel bei Andrzej Ojczenasz.

Ojczenasz klärt letzte Notations-Fehler gleich vorab. Das wird geschätzt. Zum Beispiel soll das Cello, gleich im ersten Takt, eine Oktave tiefer spielen. «Das beginnt ja mal schon gut», kommentieren die Musiker lachend.

Sein Quartett Maris Stella ist inspiriert von Gregorianischem Choral. «Die Struktur basiert auf dem Kontrapunkt des Chorals. Ich verbinde dadurch Tradition und Gegenwart», erläutert er.

 

Portrait Andrzej Ojczenasz zVg. Andrzej Ojczenasz

 

Andrzej Ojczenasz stammt aus Polen. Er studierte zunächst an der Krysztof Penderecki Musikhochschule in Krakau, bildete sich dann an der University of Louisville in den USA weiter und absolviert nun den Master in Komposition bei Isabel Mundry.

Gröbere Notationsfehler kommen vor..

Ashot Sarkissjan deckt etwas später einen gröberen Notationsfehler auf: Was man hören wolle, müsse man auch genauso schreiben, sagt er. Gleichzeitig spürt man, dass das Stück die Musiker überzeugt. Das Probenklima ist vertrauensvoll und Ojczenasz nimmt die Korrektur gerne an.

 


Maris Stella von Andrzej Ojczenasz basiert auf Gregorianischem Choral, Aufnahme UA Konzert Arditti Quartett ZHdK, 1.3.2024.

Gegen Schluss der Probe fragt Irvine Arditti auch ihn, ob es ihm gefallen habe: «Ja, aber..» — auch er möchte noch ein paar Stellen korrigieren.

Ojczenaszs fasst seine Learnings folgendermassen: «Präzise notieren, dann wird es auch so gespielt! Und: unbedingt sich selbst und seiner Message gegenüber ehrlich bleiben und niemand anderen darstellen wollen.»
Gabrielle Weber

Das Arditti Quartett im Konzert im grossen Saal der ZHdK am 1.3.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Am Schlusskonzert vom 1.3.2024 im grossen Konzertsaal der ZHdK waren zu hören:
Wojciech Chalpuka: Wohin jetzt? (UA)
Luis Escobar Cifuentes: Ewige Leben (UA)
Wenjie Hu: The Rift (UA)
Amir Liberson: Emptiness (UA)
Franziska Eva Wilhelm: Schmerzquartett (UA)
Nuño Fernández Ezquerra: Lienzo de Luz (2021)
Fabienne Jeannine Müller: Incertain (UA)
Pengyi Li: … Echo … (UA)
Andrzej Ojczenasz: Maris Stella (UA)
Isabel Mundry: Linien, Zeichnungen (2004)

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 3.4.&14.8.2024: Streichquartett heute, Das Arditti Quartett und der NachwuchsRedaktion Gabrielle Weber
Neue Musik im Konzert, 3.4.&14.8.2024: Das Arditti Quartett im Konzert mit jungen Komponierenden, Redaktion Gabrielle Weber

neo-profiles:
Arditti QuartetIsabel Mundry, Franziska Eva Wilhelm, Andrzej OjczenaszWojciech ChalpukaLuis Escobar CifuentesWenjie HuAmir LibersonNuño Fernández EzquerraFabienne Jeannine MüllerPengyi Li

 

Thomas Kessler – Klangutopist und Elektronikpionier ist verstorben

 

Er hat die elektronische Musik in der Schweiz weiterentwickelt wie nur wenige, und er überraschte immer wieder mit frischen Ideen: Thomas Kessler.

Wie heute Mittag bekannt wurde, ist der Schweizer Komponist im Alter von 86 Jahren gestorben. Der Nachruf von Thomas Meyer.

 

Thomas Meyer
Ein Rapper und ein Streichquartett – eine ziemlich ungewöhnliche Kombination. 2007 trat der kalifornische Slam Poet Saul Williams zusammen mit dem Arditti Quartet bei den Tagen für Neue Musik Zürich auf, um das Stück NGH-WHT zu performen. Es war nicht seine erste Begegnung in einem klassischen Rahmen. Zwei Jahre zuvor hatte er schon in Basel mit einem Orchester seine Texte rezitiert, in ‘said the shotgun to the head. Beide Stücke stammten von Thomas Kessler.

 

Thomas Kessler, Basel 29.11.2018 ©Copyright: Thomas Kessler / Priska Ketterer

 

Der Schweizer hatte sich 2001, frisch pensioniert, in Toronto auf die Suche nach dem ungewöhnlichen Sound gemacht. „Ich suchte Poetry, mit Rap, aber nicht mit einem aggressiven Bumm-Bumm-Rhythmus, sondern etwas Offeneres oder Experimentelles. Und ich suchte lange, aber plötzlich hörte ich etwas; da sprach ein Poet mit einem Cellosolo, das war phantastisch. Das hatte Rhythmus, Puls, aber nicht so, wie kommerzielle Musik klingt. Ich dachte, den Mann möchte ich kennenlernen.“ Kurz darauf stand er bei Saul Williams vor der Tür, der rappte ihm bei der ersten Begegnung gleich sein jüngstes Buch vor und meinte: Willst Du das nicht verwenden? So kam es zur Zusammenarbeit.

 


Thomas Kesslers NGH WHT für Sprecher und Streichquartett aus dem Jahr 2006/07, hier interpretiert vom Mivos Quartet und Saul Williams am Lucerne Festival, KKL Luzern 17.8.2019, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Diese Suche nach dem Unverbrauchten, diese Neugierde zeichnete Thomas Kessler zeitlebens aus. Geboren 1937 in Zürich, hatte er sich von jeher eigenständig in – und neben der Avantgarde bewegt. In den 60er Jahren gründete er in Berlin ein eigenes Studio. Bald gingen in diesem Electronic Beat Studio die jungen Rockmusiker ein und aus, entdeckten neue Geräte und entwickelten einen neuen Sound. Von da her war es kaum erstaunlich, dass sich Kessler später dem Rap zuwandte.

 

Thomas Kessler und Saul Williams © Werner Schnetz

 

Ab 1973 baute er in Basel das Elektronische Studio der Musik-Akademie auf und führte es zu internationalem Renommee. Aber auch da suchte er nach unkonventionellen Lösungen. Eine bedeutende Schiene seines Schaffens waren etwa jene live-elektronischen Stücke, bei denen die Solomusiker selber die Kontrolle über den Sound übernehmen und das Klangergebnis somit nicht mehr von einem zentral gesteuerten Mischpult beherrscht wird. Was 1974 mit dem Solo „Piano Control“ begann, kulminierte im neuen Jahrtausend in einer Serie von Orchesterstücken, Utopia genannt.“

 


Thomas Kessler, Utopia II, für Orchester und Elektronik, 2010/11, Basel Sinfonietta, Leitung Jonathan Stockhammer, Stadtcasino Basel 30.3.2014,  Eigenproduktion SRG/SSR.

 

„Ich wollte das ultimative Live-Elektronik-Stück zu machen, eine Utopie. Ich brauche dafür achtzig Steckdosen auf der Bühne, mehr nicht. Jeder Orchestermusiker kommt mit seinem eigenen Setup, mit einem kleinen Köfferchen, in dem der Synthesizer oder ein Laptop liegt. Er steckt die Kabel ein; neben dem Stuhl steht ein Lautsprecher und fertig. Keiner mischt im Saal den Sound zusammen; keine Lautsprecher rundherum.  Der Klang kommt vom Podium, aus den Musikern heraus.“ Die Orchester hatten tatsächlich Spass daran, diesen neuartigen Mischsound selber entstehen zu lassen, einen Klang, so Kessler, „wie er so noch nie gehört wurde“.

 


Thomas Kessler, Utopia III für Orchester (in fünf Gruppen) und multiple Live-Elektronik, Tonhalle-Orchester Zürich, Leitung Pierre-André Valade, Tonhalle Zürich 18.10.2016, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Er war ein quer- und eigenständig denkender Komponist, und doch wäre es falsch, Thomas Kessler auf den Technikfreak oder den genreübergreifenden Innovator zu beschränken. All das wurde nie zum Selbstzweck, sondern mündete jeweils in ein erfrischendes, sensibel ausformuliertes und durchaus mitreissendes musikalisches Endergebnis.
Thomas Meyer

 

Thomas Kessler, Basel, den 29.11.2018  © Thomas Kessler / Priska Ketterer

 

Saul WilliamsElektronische Studio der Musik-Akademie Basel

Sendungen SRF Kultur:
Neue Musik im Konzert, Oratorium von Thomas Kessler und Lukas Bärfuss, 5.1.2022, Redaktion Florian Hauser.
Musik unserer Zeit, My lady Soul I, 28.10.2020, Redaktion Florian Hauser.
neoblog, 8.8.2019: „Ein Mischklang, den man noch nie gehört hat: Thomas Kessler – composer in residence am Lucerne Festival, Autor Thomas Meyer

Neo-Profil:
Thomas Kessler

Daniel Zea komponiert für Kartonschachteln und Avatare

Der kolumbianisch-schweizerische Komponist Daniel Zea versteht Klang als plastische Materie. Er verbindet in seinem Werk Klänge, Bewegung, Elektronik und Video mit digitalen Setups. Ein Portrait von Jaronas Scheurer.

Jaronas Scheurer
«Ich komponiere Musik eher als Designer denn als Komponist», meint Daniel Zea im Laufe unseres Interviews. «Mich beschäftigen Dinge wie Symmetrie bzw. Asymmetrie, Ergonomie und Balance und ich verstehe Klang als plastische Materie.» Und Industriedesign hat er auch studiert in Kolumbien, bevor er in Bogotá bei Harold Vasquez-Castañeda ein Kompositionsstudium aufnahm, bevor er nach Genf kam, um bei Eric Gaudibert an der haute école de musique (HEM) fertig zu studieren. Bevor er in Den Hague zwei Jahre am Institut für Sonologie studierte, bevor er das Ensemble Vortex mitgründete und bevor er in Genf an der HEM interaktives Design zu unterrichten begann: Daniel Zeas CV ist lange und vielseitig – Industriedesigner, Komponist, Audiodesigner, Medienkünstler, Programmierer.

 

Daniel Zea als Avatar in seinem Stück “Autorretrato”. © Daniel Zea

 

Daniel Zea schreibt meistens Musik für ein komplexes Netzwerk: Interpret:innen, selbst entwickelte und herkömmliche Instrumente, Elektronik, Videoprojektionen und Computerprogramme werden miteinander verbunden. «Wenn ich mit interaktiven Systemen arbeite, ist es eigentlich jeweils ein Design Projekt: Ich entwickle ein Setup, das Hardware, Software und menschliche Interaktion so verbindet, dass Klang, dass Musik entsteht.» Seine Werke verbinden Bewegung und Klang und resultieren in selbst entwickelten Instrumenten oder in sich in Echtzeit generierenden Partituren – wie z.B. im Stück Box Tsunami von 2021.

 

Daniel Zea hat Box Tsunami 2021 während der Corona-Pandemie für die vier Musiker:innen des Concept Store Quartets komponiert.

 

Box Tsunami

Die Unmenge an verschickten Paketen als Symbol für den Konsumwahn war Ausgangspunkt für Zea: «Ein Mensch vor einer leeren Schachtel – das ist schon sehr poetisch. Was bedeutet das? Wieso sitzt der Mensch da? Wieso ist die Schachtel leer?» Und so beginnt Box Tsunami denn auch: Die vier Musiker:innen sitzen mit ihren Instrumenten und einem Laptop vor grossen Kartonschachteln. Diese sind oben offen und weisses Licht scheint heraus. Es klopft, raschelt und knarzt in den Schachteln. Die Musiker:innen schauen konzentriert auf ihre Laptops und legen zarte, filigrane Klänge über das Rumpeln aus den Schachteln – alle für sich, ohne gross aufeinander zu achten.

Zea hat für Box Tsunami zuerst die klingenden Schachteln entwickelt. Er stattete die Schachteln mit kleinen elektrischen Hämmern und sogenannten Transducern aus, die als eine Art Lautsprecher Signale übertragen. So wird die Kartonschachtel zu einem Instrument, das er elektronisch ansteuert. Die Signale sind jedoch eher leise, weshalb auch die vier Musiker:innen nur leise und zart spielen können. Um die Musiker:innen und die Schachteln kompositorisch zu verknüpfen, werden die elektrischen Hämmer von der Perkussionist:in mittels einem Midi-Drumpad angesteuert. Ein interaktiver Loop verknüpft Musiker:innen und Kartonschachteln und die Partitur wird daraus in Echtzeit generiert. Ähnlich wie während den Corona-Lockdowns sitzen alle gebannt vor ihren Bildschirmen. Sie sind von den Handlungen der anderen und vor allem von den technologischen Kommunikationsmitteln abhängig, aber begegnen sich gar nie dabei. Und darum herum türmen sich die Kartonschachteln aus den Online-Käufen – Box Tsunami.

 

In In Daniel Zeas Selbstporträt und der Soloshow Autorretrato von 2023 sieht man ihn vor einer Kamera sitzen und auf der Leinwand einen überlebensgrossen Avatar von ihm.

 

Autorretrato

Das Setting für Zeas Komposition Autorretrato (Selbstporträt) ist simpler: Zea selbst sitzt vor einer Kamera und auf der Leinwand hinter ihm sieht man einen Avatar, der dieselben Gesichtsbewegungen ausführt. Ein digitaler Doppelgänger. Mit seinen Gesichtsbewegungen kann Zea Klänge ansteuern und manipulieren. Mit der Zeit wird die Leinwand von unterschiedlichen Objekten wie einer Cola-Dose, High Heels, einer Handgranate oder einem Kruzifix bevölkert. Gemacht ist das mittels einer App für Facetracking, die Zea mit dem Audioprogramm verknüpft. Für Autorretrato ist Zea Komponist, Audiodesigner, Softwareentwickler und Interpret in eins. «Das Schwierigste daran war sicherlich das Performen», meinte Zea. «Ich bin es nicht gewohnt, alleine in der Mitte der Bühne zu stehen, und vor der Premiere war ich dementsprechend nervös. Es ist auch ein sehr persönliches Stück. Das ist einerseits riskant, aber es erlaubt mir auch Dinge zu sagen und zu tun, die ich sonst nicht machen würde.»

Autorretrato ist neu und Zea bezeichnet es als «Work in progress»: «Ich würde das Stück gerne noch ausarbeiten und einige Teile ausbauen. Wir arbeiten jeden Tag irgendwie an unserem Selbstporträt weiter», so Daniel Zea. Und so baut Zea weiter: Verbindet Klang und Bewegung, untersucht kompositorisch die subtilsten Regungen des Gesichts, entwickelt Instrumente und bettet dies alles in seinen gesellschaftspolitischen Überlegungen ein.
Jaronas Scheurer

 

Portrait Daniel Zea © Vincent Capes

 

Vom 30. April bis am 5. Mai 2024 widmet sich das Festival les Amplitudes in La Chaux-de-Fonds dem Werk von Daniel Zea. Unter anderem spielt das von Zea mitgegründete Ensemble Vortex Werke von ihm, es wird sein neues Werk für Orchester uraufgeführt und während der ganzen Zeit findet eine Klanginstallation von Daniel Zea und Alexandre Joly statt.

Nejc Grm, Alicja Pilarczyk, Pablo González Balaguer

Sendungen SRF Kultur:
neoblog, 14.10.2020: la ville – une composition géante, auteur Anya Leveillé
neoblog, 23.01.2022 : Portrait unserer Zeit, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile: Daniel Zea, Concept Store Quartet, Ensemble Vortex, Eric Gaudibert, Jeanne Larrouturou