Contrechamps Genève feiert das Hören

Ensemble Contrechamps Genève startete eine dichte Saison mit zahlreichen Highlights. Das Programm ist exemplarisch für die neue Ausrichtung des wichtigsten Genfer Ensemble für zeitgenössische Musik unter der künstlerischen Leitung des Perkussionisten Serge Vuille. Er übernahm Contrechamps vor fünf Jahren und hat die Ensemble-DNA seither radikal neu geprägt. Serge Vuille im Gespräch:

 

Portrait Serge Vuille © Serge Vuille

 

Gabrielle Weber
Contrechamps bespielt den grossen Konzertsaal der Victoria Hall in Genf, es eröffnet die Festivals Biennale Musica Venezia oder Sonic Matter Zürich oder es lädt ganz einfach – ohne Konzert – zu einem Vinyl- und neo.mx3.ch-Release-Hörwochenende in Genf ein. Die unterschiedlichen Veranstaltungen sind charakteristisch für die neue Ausrichtung des traditionsreichen Ensembles unter Serge Vuille.

„Contrechamps sucht ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Musik-Praktiken“, sagt Vuille. Da sind einerseits Konzerte mit Instrumentalmusik für grosses Ensemble, oft verbunden mit Komponistenpersönlichkeiten und der jungen Szene der Romandie, andererseits Projekte in Verbindung mit anderen Sparten und Musikgenres, in Kombination mit Visuellem und Performativem, Elektronik, Pop oder Jazz. Und immer geht es Vuille auch um ganz spezielle Hörerlebnisse.

Für Ersteres stand anfangs Saison beispielsweise ein Konzert zum 65. Geburtstag des Genfer Komponisten Michael Jarrell, ein „traditionelles“, dirigiertes Konzert für große Ensembles in der Victoria Hall. Contrechamps gab dazu sieben neue kurze Stücke an seine Studierenden in Auftrag. „Damit unterstützen und fördern wir die regionale Kreationsszene, das ist uns ein wichtiges Anliegen“, sagt Vuille.

Ende 2022 veranstaltete es bereits eine Hommage an Éric Gaudibert, vor zehn Jahren verstorbener Lausanner Komponist, der die Szene wesentlich prägte. Dabei führte es nebst Gaudibert 22 neue Stücke ehemaliger Studierender auf, Miniaturen von je nur zirka einer Minute Dauer, in ganz unterschiedlicher, frei gewählter Besetzung.

 


Éric Gaudibert, Skript, pour vibraphone et ensemble, Contrechamps, Bâtiment des Forces Motrices de Genève, Concours de Genève, 2009, Eigenproduktion SRG/SSR

 

In einem ganz anderen Kontext und Setting, zur Eröffnung der Biennale Musica Venezia, zeigte Contrechamps GLIA für Instrumente und Elektronik, ein Werk der 2009 verstorbenen US- Elektropionieren und Klangkünstlerin Maryanne Amacher aus dem Jahr 2005. An Amachers Schaffen interessiert Vuille auch der Aspekt spezieller gemeinsamer Hörerfahrung: Zur Festivaleröffnung in einer grossen leergeräumten und abgedunkelten Halle der umgenutzten Schiffswerft Arsenale, ging das zahlreiche Publikum (darunter auch die Autorin), umgeben von Lautsprechern, extremen Klangveränderungen umherwandernd nach: die Instrumentalist:innen spielten auf einem Podest, als vibrierende Klangskulptur, oder sie bewegten sich mit den Zuhörenden. „GLIA ist  fast eine Klanginstallation, ein Teil des Stücks spielt sich in den Innenschwingungen im Ohr ab, nicht im Raum und es basiert nicht auf einer Partitur, sondern auf mündlichen Schilderungen damals Beteiligter: das fordert einen hohen kreativen Anteil von jedem Einzelnen der Interpreten“, sagt Vuille.

 

Maryanne Amacher, ‘GLIA’ am Eröffnungskonzert der Biennale Musica Venezia, Contrechamps, Arsenale 16.10.2023 © Gabrielle Weber

 

Zurück zu den Gaudibert-Miniaturen: sie finden sich nun auf einer der eingangs erwähnten neuen Vinyl-Schallplatten und markieren den Beginn der neuen Vinyl-Reihe Contrechamps/Speckled-Toshe, zusammen mit dem Lausanner Label Speckled-Toshe. „Die 22 Kompositionsaufträge von je einer Minute, das war eine immense Arbeit und es entstanden so vielfältige Werke, dass wir die Hommage mit einem bleibenden Objekt dieser neuen Generation beschliessen wollten. Die Schallplatte ist dafür das passendste Format: es gibt kaum etwas Besseres sowohl in Bezug auf die Aufnahme- und Übertragungsqualität, als aufs Objekt“.

 


Daniel Zeas, «Eric – Cara de Tigre» für Ensemble und Tonband, eine der 22 Miniaturen auf der neuen Vinyl-Schallplatte, Contrechamps / Speckled-Toshe 2023: Der Hintergrund: Gaudibert sei Zea im Traum kurz nach dessen Tod als lachender Tiger erschienen: er habe danach lange geweint zwischen Trauer und Freude.

 

Zum Vinyl-launch lud Contrechamps wieder zu einem speziellen Hörerlebnis ein: im les 6 toits , einem angesagten Genfer Kulturzentrum auf einer ehemaligen Industriebrache, konnte man sich ein Wochenende lang in Hörlounges die neuen Vinyl-Releases und eigene Lieblings-Schallplatten zu Ohr führen. Und mit einer Vernissage wurde auch das frisch veröffentlichte Contrechamps-Audioarchiv auf neo.mx3.ch gefeiert. Dazu gab’s live-aufgenommene oder -ausgestrahlte Radiosendungen auf RTS und SRF2Kultur rund ums Hören und qualitatives Aufnehmen zeitgenössischer Musik.

Wie Vinyl stehe die SRG-online-Plattform neo.mx3.ch für eine Art des Hörens und eine Sorgfalt der Produktion: „Beide sind darin verbunden, dass sie der zeitgenössischen Musik Visibilität und Dauer verleihen – durch sorgfältige Neueditionen und die Pflege von historischen Archiven“.

Auf der Plattform für das Schweizer zeitgenössische Musikschaffen finden sich auch zahlreiche selten gespielte Werke in ungewöhnlicher Besetzung, wie Michael Jarrells «Droben schmettert ein greller Stein» von 2001 für Kontrabass, Ensemble und Elektronik.

 


Contrechamps nahm Jarrells Stück 2005 im Radiostudio Ansermet unter der Leitung von George Benjamin auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Contrechamps lädt sukzessive sein gesamtes umfangreiches Radioarchiv hoch, zurückgehend bis 1986, den frühsten Aufnahmen. Es sei wichtig, dass solche Plattformen existierten und  geschätzt  würden. „Viele der Stücke sind sonst nirgends hörbar: das ist einzigartig“, sagt Serge Vuille.

Entdecken lässt sich auch zum Beispiel Feux von Caroline Charrière. Die 1960 in Fribourg geborene Komponistin Charrière verstarb früh, bereits 2018, und Contrechamps setzt sich für ihr Werk ein. Vuille ist es auch ein Anliegen, dem Schaffen von Komponistinnen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und zu einer ausgewogeneren Genderbalance in der zeitgenössischen Musik beizutragen.

 


Feux für Flöte, Klarinette, Marimba, und Streicher von Caroline Charrière, dirigiert von Kaziboni Vimbayi, führte Contrechamps 2019 in der Genfer Victoria Hall auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Am Eröffnungskonzert des diesjährigen Zürcher Festivals Sonic matter präsentiert Contrechamps neue Stücke von drei Komponistinnen aus dem Nahen Osten für kleines elektronisches Ensemble. Da kommen weitere Leidenschaften Vuilles zusammen: „Ich interessiere mich schon lange sehr für die Szene des Nahen Ostens. Sie ist in Bezug auf Kreation, insbesondere in allem, was mit Elektronik zu tun hat, sehr lebendig“, sagt Vuille. Dass Sonic Matter dieses Jahr mit dem Gastfestival Irtijal aus Bejrut kollaboriert, sei eine hervorragende Gelegenheit zur ersten Zusammenarbeit. Und sicherlich auch für einzigartige Hörerfahrungen.
Gabrielle Weber

 

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Sonic Matter: Becoming / Contrechamps 30.11.2023, 19h (Einführung 18h)
Biennale Musica Venezia, Maryanna Amacher, GLIA / Contrechamps, 16.10.2023
Genève, Les 6 toits: Contrechamps: Partage ton Vinyle!, 20-22.10.2023

Speckled-Toshe; Contrechamps/Speckled-Toshe:
1.Vinyl: 22 Miniatures en hommage à Éric Gaudibert
2.Vinyl: Benoit Moreau, Les mortes

Sonic matter, Nilufar Habibian, Irtijal, les 6 toits

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 18.10/21.10.23: Partage ton Vinyle! Ensemble Contrechamps Genève feiert das Hören, Redaktion Gabrielle Weber
neoblog, 7.12.22: Communiquer au-delà de la musique, Autorin Gabrielle Weber
neoblog, 19.6.2019: Ensemble Contrechamps Genève – Expérimentation et héritage, auteur Gabrielle Weber

Sendungen RTS:
L’écho des pavanes, 21.10.23: Aux 6 toits, enregistrer la musique contemporaine,  auteur: Benoît Perrier
Musique d‘avenir, 30.10.23, Partage ton Vinyle, ta cassette ou ta bande Revox!  auteur: Anne Gillot

Neo-Profile:
Contrechamps, Daniel Zea, Festival Sonic Matter, Benoit Moreau

 

 

Vom Zauber der Zusammenarbeit

Bei den Donaueschinger Musiktagen 2023 bringt das Ensemble Ascolta Dunst – als käme alles zurück von Elnaz Seyedi zur Uraufführung. Es ist als Auftragswerk des Ensembles im Tandem mit der Schriftstellerin Anja Kampmann entstanden.
Elnaz Seyedi im Portrait von Friederike Kenneweg.

 

Die Komponistin Elnaz Seyedi, lächelnd, schwarz gekleidet und vor grauem Hintergrund.
Portrait der Komponistin Elnaz Seyedi. © Roya Noorinezhad

 

Friederike Kenneweg
Komponieren heißt für Elnaz Seyedi immer auch: Zusammenarbeit. Die Komponistin, die 1982 in Teheran geboren wurde und u.a. bei Younghi Pagh-Paan in Deutschland und Caspar Johannes Walter an der Hochschule für Musik Basel studiert hat, zieht viel Energie aus den ganz unterschiedlichen Begegnungen und Konstellationen, die ihre Tätigkeit mit sich bringt. Dunst – als käme alles zurück ist für Elnaz Seyedi die zweite Zusammenarbeit mit dem Ensemble Ascolta.

“Das ist schon ein Vorteil, weil die Musiker wissen, was sie von mir erwarten können, und sich dann anders auf die Arbeit mit mir einlassen können.”

 

Das Glück auf der Suche nach Klängen

Das führte zu besonderen Glücksmomenten bei den Vorproben für Seyedis Donaueschingen-Debüt, als sie mit allen Musikern des Ensembles in Einzelproben nach den richtigen Klängen für das Stück suchte. Zum Beispiel mit dem Schlagzeuger Boris Müller.

“Er holte immer noch mehr Sachen und Muscheln und Steine hervor, und am Ende sah der ganze Raum aus, als hätten da lauter Kinder acht Stunden lang gespielt, und ich bin nach Hause gefahren mit Material für drei Stücke. Das ist einfach das Schönste und gibt mir viel Energie.”

 


Auch Glasfluss von Elnaz Seyedi entstand aus einer engen Zusammenarbeit mit der Perkussionistin Vanessa Porter im Jahr 2022.

 

Wagnis: Gemeinsam komponieren

Eine besondere Form der Zusammenarbeit verbindet Elnaz Seyedi mit dem Komponisten Ehsan Khatibi, der ebenso wie sie aus dem Iran stammt und mit dem sie schon lange befreundet ist. Als sie 2019 beim Besuch des Impuls-Festivals in Graz zufällig im Hotel Zimmernachbarn waren und daraufhin viel Zeit miteinander verbrachten, stellten sie fest, wie ähnlich sie über Musik dachten und wie fruchtbar die Diskussionen über Konzerte und Musik waren. Und so kam die Idee auf, gemeinsam zu komponieren. Bereits das erste Projekt, ein Entwurf für eine Ausschreibung der Neuköllner Oper Berlin für eine Kammeroper, entfaltete einen erstaunlichen Sog. “Erst hatten wir nur eine kleine Idee, aber in drei Wochen hatten wir ein fertiges Konzept, inklusive Licht und Bühnenbild.” Auch wenn ihr Entwurf nicht genommen wurde: ein Anfang war gemacht.

 

Ehrlichkeit als Voraussetzung

Mit dem Entwurf für eine Umsetzung von Der Fremde von Albert Camus, bei dem der Philosoph Johannes Abel ihr Planungsteam ergänzte, erhielten sie schon den zweiten Preis bei einem anderen Kompositionswettbewerb. Und bei den Bludenzer Tagen für zeitgemäße Musik wurde 2021 ihre gemeinsame Komposition ps: and the trees will ask the wind für Kontrabass-Paetzold-Flöte, Violine, Objekte, Audio- und Videozuspielung uraufgeführt, in dem sie zusammen die gesellschaftspolitischen Ereignisse im Iran künstlerisch verarbeiteten.

“Wir haben da inzwischen eine Art gefunden, wie wir gegenseitig miteinander genauso kritisch sein können wie mit uns selbst. Wir sind sehr ehrlich in der gemeinsamen Arbeit, und das macht es manchmal auch schwer, aber wenn wir uns mal nicht einig sind, machen wir so lange weiter, bis wir beide zufrieden sind. Und am Ende kommen wir zusammen auf eine viel bessere Lösung.”

 


In Die Zeiten – Versuch (über das Paradies) für Bariton und Klavier, das im August 2023 beim Lucerne Festival uraufgeführt wurde, vertonte Elnaz Seyedi einen Text des iranischen Dichters Ahmad Shamlou.

 

Arbeiten an neuen Orten

Inspiration zieht Elnaz Seyedi auch aus Ortswechseln, wie sie das Reisen mit sich bringt. Aus diesem Grund mag sie auch Aufenthaltsstipendien besonders. Denn der Abstand vom Alltag, findet die Komponistin, lässt einen plötzlich die Schönheit des Gewohnten erkennen, die einem sonst im Trott verborgen bleibt – ein Gedanke, den sie in Postkarte (Moorlandschaft mit Regenbogen) verarbeitet hat, das sie 2016 für das Ensemble S201 aus Essen komponierte. 2020 führte ein Aufenthaltsstipendium der Bartels Fondation sie in den Kleinen Markgräflerhof in Basel. Und als sie 2021 einige Monate im Künstlerhof Schreyahn in Niedersachsen verbrachte, war sie am Ende dieser Zeit selbst ganz erstaunt, wie produktiv sie dort gewesen war.

 

Das Orchesterstück A Mark of your breath von Elnaz Seyedi wurde vom Aufenhalt im Künstlerhaus Schreyahn inspiriert – vor allem von der Weite des Himmels und der Landschaft im Wendland.

 

‘Dunst’ – Uraufführung in Donaueschingen 2023

Auch in diesem Herbst arbeitet Elnaz Seyedi dank eines Aufenthaltsstipendiums an einem anderen Ort: im Künstlerhaus Otte in Eckernförde, wo sie ihre Arbeit mit Konzerten und Filmabenden dem dortigen Publikum nahe bringen kann. Außerdem hat sie dort gerade die Partitur von Dunst – als käme alles zurück abgeschlossen. Für das Konzertprogramm Echoräume des Ensembles Ascolta bei den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen haben sich zwei künstlerische Tandems aus einer Komponistin und einer Schriftstellerin gebildet und, dabei ganz frei in ihrer Herangehensweise, je ein gemeinsames Werk erarbeitet. In dem Stück von Elnaz Seyedi und der Autorin Anja Kampmann für zwei Stimmen und Ensemble geht es um die Ästhetik des Fragments und den Übergang zwischen Sprache und Musik.

Und wer weiß, welche kompositorischen Ideen der Aufenthalt in der Hafenstadt an der Ostsee für Elnaz Seyedi noch so mit sich bringt.
Friederike Kenneweg

 

Uraufführung Donaueschinger Musiktage: Samstag, 21. Oktober 2023, 11:00, Mozart-Saal Donaueschingen, Konzert Echoräume mit dem Ensemble Ascolta: Elnaz Seyedi und Anja Kampmann Dunst – als käme alles zurück; Iris ter Schiphorst und Felicitas Hoppe: Was wird hier eigentlich gespielt?

Elnaz SeyediDonaueschinger Musiktage 2023, Ensemble Ascolta, Younghi Pagh-Paan, Caspar Johannes Walter, Hochschule für Musik BaselAnja Kampmann, Ehsan Khatebi, Vanessa Porter, Ensemble S201, Neuköllner Oper, Künstlerhaus Otte Eckernförde, Künstlerhof Schreyahn, Bludenzer Tage für zeitgemäße Musik, Lucerne Festival, Impulsfestival Graz, Bartels Fondation

 

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 2.6.2021: Nach neuen Meeren – die Komponistin Elnaz Seyedi, Redaktion Cécile Olshausen

neo-profiles:
Elnaz SeyediDonaueschinger MusiktageLucerne Festival Contemporary Orchestra

 

 

 

Neue Energien: Klangkunst im Wallis

Die Biennale Son findet im Herbst 2023 zum ersten Mal statt. Mit Sion, Martigny und Sierre (und ein paar kleineren Spielorten etwas außerhalb) bespielt sie den französischsprachigen Teil des Wallis entlang der Rhône über sechs Wochen mit Klanginstallationen, Konzerten und Performances.

 

Friedemann Dupelius
Eisblau liegt auf 2.364 Metern Höhe der Lac des Dix. Seine Staumauer gilt mit 285 Metern als das höchste Bauwerk der Schweiz. Über Druckleitungen ist der Damm unter anderem mit dem Chandoline-Kraftwerk in Sion verbunden. Seit Juli 2013 fließt darin kein Wasser mehr hinab ins Rhône-Tal, die Rohre sind stillgelegt. Und doch knistert es weiter in dem modernistischen Bau, seiner Aura wegen. So stark, dass er ins Visier dreier Kuratoren geriet. Seit Mitte September ist das Kraftwerk nun die Zentrale der neuen Biennale Son. Hier erzeugen internationale Künstler:innen durch den Dialog ihrer Arbeiten mit der industriellen Architektur neue Energie. Und von hier aus versorgt die Biennale Son verschiedene Orte entlang der Rhône mit künstlerischem Strom.

 

(c) Olivier Lovey
Der Tessiner Architekt Daniele Buzzi entwarf 1934 das Kraftwerk “Chandoline”, das die Hauptausstellung der Biennale Son beherbergt.

 

Die Biennale Son präsentiert Kunstformen, die in der Romandie für gewöhnlich eher in Genf oder Lausanne stattfinden. Und doch gibt es auch hier eine Tradition und eine kleine Szene für experimentelle Musik. Seit den 90er-Jahren ist die Vereinigung Dolmen in der Region aktiv, daneben ist das etwas mehr am Pop orientierte Palp-Festival für Experimente bekannt.

 


Christian Marclay, Screenplay part 2, gespielt vom Ensemble Babel

 

Auch der klangaffine Bildende Künstler Christian Marclay kommt aus dem Wallis – genauso wie Luc Meier, Co-Kurator der Biennale Son, der sich darüber freut, dass er Marclay für die Erstausgabe des Festivals in der gemeinsamen Heimat gewinnen konnte. Der Exil-Schweizer ist mit zwei Arbeiten Teil der Hauptausstellung im Kraftwerk. Künstler:innen wie Christian Marclay sind Gründe dafür, warum die Biennale Son ins Leben gerufen wurde: „Seit langem befruchten sich Klang und Bildende Kunst gegenseitig“, sagt Luc Meier, „doch gerade in den letzten Jahren hat das nochmal deutlich zugenommen. Die Grenzen zwischen den Disziplinen werden durchlässiger. Das zeigt sich auch in Begriffen, die neuerdings in den Kunstdiskurs geschwappt sind: Man spricht etwa davon, sich auf andere, nicht-menschliche Lebensformen einzuschwingen oder mit der Umwelt zu resonieren.“

 

Die Basilique Valère auf dem südlichen Burghügel von Sion

 

Himmelblaue Rhône, spätgotische Orgel

Die Auseinandersetzung mit der Landschaft und ihres Wandels ist bei einem Kunstfestival in solch einer Umgebung unvermeidbar. In Sion ist die Rhône noch himmelblau, wirkt frisch und gesund, malerisch eingebettet in die kantigen Gebirgszüge am Horizont. Doch machen sich klimatische Veränderungen auch hier bemerkbar. Der Rhône-Gletscher ist seit vielen Jahren im Rückgang begriffen. So mikrofonierte die kanadische Klangkünstlerin Crys Cole den Grande Dixence-Staudamm und brachte den tönenden Geist des Wassers wieder in das ansonsten spukend leere Kraftwerk zurück. Und auf organisatorischer Ebene versucht die Biennale Son, ihren eigenen ökologischen Fußabdruck in den Alpen möglichst gering zu halten. Sie hält Flugzeugreisen minimal und achtet auf möglichst geringen Stromverbrauch und Materialverschleiß.

Neben Stauseen und Bergen mit Gipfelkreuzen prägen Kirchen das Landschaftsbild im Wallis. „Es ist ein traditionell katholischer Kanton und religiöser als andere Orte in der Romandie“, weiß Luc Meier. In einigen der Kapellen und Basiliken fand die Biennale Son ihre Spielorte. Meier vergleicht sie mit dem Kraftwerk in Sion: „Ohne esoterisch klingen zu wollen, aber auch in diesen Kirchen gibt es eine Art von Energie, die sich transformieren lässt. So wie wir das Kraftwerk in Schwingung versetzen können, können wir auch diese Kirchen neu resonieren lassen.“ In der Sioner Basilique de Valère findet sich eine der ältesten Orgeln der Welt, fast 600 Jahre alt. Wenn das queere Duo Judith Hamann und James Rushford dieses Instrument spielen darf, wird die Floskel von der Transformation dringlich und greifbar. „Wer durfte hier bislang eintreten? Wer durfte hier Musik machen?“, fragt Luc Meier. „Welches Echo werden solche Performances haben? In den Bergen um uns, aber auch in den sozialen Räumen, die wir dabei schaffen?“

 

Die Schwalbennestorgel der Basilique de Valère wurde 1435 gebaut

 

Begegnungen im Rhône-Tal

Diese Orte der Begegnung sind tatsächlich erst im Entstehen begriffen. Das Team der Biennale Son verlässt sich auf ein allgemein kunst- und musikinteressiertes Schweizer Publikum, das den Weg in die Alpen nicht scheut. Zugleich sieht Luc Meier aber auch das Potenzial, ein lokales Publikum neugierig zu machen. Außerdem habe das kuratorische Team darauf geachtet, dass die Live-Performances an Freitagen und Samstagen stattfinden. In Locations wie Jazzclubs und Theatern treten nahmafte Künstler:innen wie Saâdane Afif, Félicia Atkinson, Alvin Curran, David Toop oder Kassel Jaeger auf. Und wer sich eingehender mit der Geschichte klangbasierter Kunst beschäftigen möchte, kann die Ausstellung der Sammlung FRAC Franche-Comté aus dem französischen Besançon in der Médiathèque Martigny besuchen.

 


Das Eklekto Geneva Percussion Center spielt Choeur Mixte für 15 snare drums (2018) von Alexandre Babel. Beide sind zu Gast bei der Biennale Son.

 

Und dann ist da noch die Hochschule Édhéa (École de design et haute école d’art du Valais). Im beschaulichen Sierre kann man mittlerweile einen künstlerischen Bachelor explizit im Bereich Klang studieren. Studierende und Alumni der Édhéa sind aktiv an der Biennale Son beteiligt, hinter den Kulissen und als Ausführende: Claire Frachebourg hat quer durch den Keller des Kraftwerks eine Skulptur gezogen, die an ein Boot oder eine Mumie erinnert. Den Soundtrack zum Objekt hat Frachebourg während einer Künstlerinnen-Residenz auf einem Boot aufgenommen, das von Island nach Grönland fuhr. Noch mehr klingendes Wasser, noch mehr Power fürs Kraftwerk, das endlich wieder tun darf, wofür es einst gebaut wurde: Energie erzeugen und verteilen.
Friedemann Dupelius

Biennale Son, 16.9.-29.10., Wallis
Der Podcast der Biennale Son führt ins Programm ein
Podcast bei Spotify

École de design et haute école d’art du Valais (Édhéa)Klangkunst-Sammlung; FRAC Franche ComtéWalliser Musik-Initiative DolmenFestival PalpClaire Frachebourg

neo-Profile:
Alexandre BabelEklektoFrançois BonnetEnsemble Babel

..wie ein „elektrifiziertes Streichquartett“: Ensemble Nikel

Sommerserie zum Schweizer Musikpreis No. 3 : Ensemble Nikel.
Vibrierende und virtuose Interpretation zeitgenössischer Musik bilden die einzigartige DNA des Ensemble Nikel um den Elektrogitarristen Yaron Deutsch (*1978). Nikel tritt dabei fast als Popband auf und unterwandert das Image eines oft radikal lauten Elektrosounds. Nikel sei „radikal zeitgenössisch“ heisst es in der Begründung zum Schweizer Musikpreis 2023 ans Basler Ensemble: Yaron Deutsch, Elektrogitarrist und Ensemblegründer, im Gespräch:

 

Portrait Ensemble Nikel © Amit Elkayam

 

Gabrielle Weber
Was bedeutet der Preis für Nikel?

Es ist schlicht berührend, wenn die eigene Arbeit so unverhofft anerkannt und ausgezeichnet wird. Wir waren komplett unvorbereitet als wir informiert wurden: das macht es sehr besonders. Und ganz pragmatisch eröffnet uns der Preis neue Türen und verschafft uns zusätzliche Mittel, um grössere Pläne für unser künstlerisches Wachstum zu realisieren.

Ein ‚alternativer Kammermusikklang‘ aus einer Mischung von elektronischen und instrumentalen Klängen ist charakteristisch für das Ensemble. Sprechen wir über den Anfang von Nikel: Wie fanden Sie mit der E-Gitarre zur zeitgenössischen klassischen Musik – die  Kombination ist nicht naheliegend?

Mit der E-Gitarre war ich zunächst assimiliert in der Musik des Rock und Jazz, fühlte mich aber dort wie eine ‘Copy Cat’ einer amerikanischen Kultur, die nicht meine ist. Da stiess ich 2005 über ein Stück von Luis Andriessen: ‘Hout‘ (1991) für die Besetzung Saxophon, E-Gitarre, Percussion und Klavier. Es fühlte sich wie ein ‘Heureka’-Moment an. Das Stück mischt Musikgenres und -elemente unkompliziert. Ich fand darin eine Verbindung zu meinen europäischen Wurzeln und fühlte mich wie zuhause angekommen in der europäischen klassischen Musikavantgarde. Es gab mir eine Art Richtung vor, in welche Klangwelt ich gehen wollte.

Mit ‘Hout‘ gaben wir unser erstes Konzert in Tel Aviv 2006. Die Instrumente des Stücks wurden zur festen Besetzung von Nikel. Nach wenigen Wechseln bilden wir nun seit ungefähr zehn Jahren die feste Stammformation: Brian Archinal an der Perkussion, Antoine Françoise, Klavier, Patrick Stadler, Saxofon, und ich mit der E-Gitarre. Wir inspirieren uns gegenseitig.

 

 

Ensemble Nikel in Luzern and Bern 2016 © Markus Sepperer

 

..und was bedeutet der Name?

Drei Punkte: Zuerst wollte ich keinen Namen der Musik assoziiert. Im Namen sollte zudem ‘Metall’ als eine unserer Klangfarben anklingen. Und zuletzt erinnert Nikel an die israelische Künstlerin Lea Nikel und ihre abstrakten farbintensiven Arbeiten. Sie war In den sechziger und siebziger Jahren in Paris und New York tätig und verstarb 2005 in Tel Aviv.

 

Es ist wie wenn Wassertropfen langsam zu einem Organismus zusammenfinden.

 

Wie kam es zum Standort Schweiz..?

Dass drei von vier Mitgliedern in der Schweiz sind, ergab sich von selbst. Ich war immer ein ‘Missionar’ für Musikschaffen ohne Nationalität, für ein Modell von Ensembles ohne eine nationale oder lokale Festlegung: es geht mir darum, mit den Musikern zusammenarbeiten, die ich am spannendsten finde, die mich inspirieren, egal wo sie leben. So kam es bspw. zu Patrick Stadler in Basel. Unsere Vision ist aber eine internationale.
Es ist wie wenn Wassertropfen langsam zu einem Organismus zusammenfinden.

Ausgehend von einer Einladung für ein Konzert finden wir zusammen. Unsere Aufgabe als Künstler ist es, so faszinierend, interessant und auch gut zu sein, um einen Bedarf zu schaffen. Es geht dabei um Passion: solange wir passioniert sind, existieren wir als Gruppe.

 

Ihr erster Auftritt in Donaueschingen 2012 war legendär – diese vibrierende Energie und rasende Virtuosität bspw. in der UA von Michael Wertmüllers Stück „Skip a beat“ ist mir in bleibender Erinnerung: Wie kam’s zur Einladung?

2010 traten wir an den Darmstädter Ferienkursen auf. Der damalige neue künstlerische Leiter Thomas Schäfer wollte in seiner ersten Ausgabe neue Stimmen präsentieren und lud uns ein. Der Auftritt hatte ein grosses Echo. Kurz danach rief uns Armin Köhler, der damalige Intendant von Donaueschingen an, und lud uns zwei Jahre später ans Festival ein.

 

 

Michael Wertmüller, Skip a beat, Ensemble Nikel, UA Donaueschinger Musiktage 2012

 

Was bewirkte dieser Auftritt für Nikel?

Der Auftritt vor grossem Publikum mit internationaler Resonanz war das eine: ein Karriere-‘boost’: die Vertrautheit mit der internationalen Szene, das war sehr wichtig für unser Wachstum. Donaueschingen ermöglichte uns aber auch, vier Uraufführungen von vier substanziellen Komponist:innen zu spielen, die ihre Stücke extra für unsere Besetzung schrieben. Wir hatten nicht die finanziellen Möglichkeiten, solche Stücke selbst in Auftrag zu geben. Diese völlig unterschiedlichen Stücke spielten wir seither in der ganzen Welt.

Und dieser Mechanismus geht weiter: wenn wir eingeladen werden, geben die Festivals Stücke für uns in Auftrag. Diese behalten wir danach im Repertoire. Bei der Auswahl schlagen wir Komponist:innen vor, von denen wir begeistert sind. Und diese Begeisterung ist danach in unseren Auftritten spürbar.

 

Unser Gedächtnis neigt dazu, sich an Extreme zu erinnern

 

Die Konzerte von Nikel sind bekannt für einen oft radikal lauten Elektroniksound..

Zuerst muss ich das Prädikat ‘lautes’ Ensemble zurückweisen: Wir spielen auch viele subtile Stücke, stille, taktile Musik. Wahrscheinlich führt unsere virtuose Qualität zum Eindruck: “die Musiker können spielen, dass die Wände wackeln..”. (lacht..). Ein maskuliner Power, das ist nicht unser Ding. Unser Gedächtnis neigt dazu, sich an Extreme zu erinnern. Aber es geschieht so viel ausserhalb der Extreme, eigentlich das Meiste..

Wir sind wie ein ‘elektrifiziertes Streichquartett’, ein Organismus der sehr gut zusammen funktioniert und dessen Klang sich sehr gut mischt. Wir können ganz fein abstufen zwischen laut und leise.

2017 gab Nikel zum 10 Jahr- Jubiläum der Ensemblegründung eine umfassende CD heraus – inwiefern sind die Stücke charakteristisch für den spezifischen „Nikel-Sound“?

Das erste Jahrzehnt war sehr prägend. Aus der Vogelperspektive fasst die Sammlung und Kuration der in der Box enthaltenen Stücke unsere Charakteristika zusammen: Wir spielen immer Stücke die eklektisch sind, die Elemente mischen, aber nie zufällig oder unnötig. Eine klare musikalische, nicht eindimensionale Linie verbindet alles. Wenn man näher heranzoomt, stellt man fest, dass jedes einzelne Werk zwar die wesentlichen Merkmale der Gruppe spiegelt, dass aber unser künstlerischer Charakter nicht im Einzelnen fassbar ist.

 


Stefan Prins, Fremdkörper 2, Ensemble Nikel 2010 (Decennial-Box).

 

Sie kommen gerade zurück von einem Auftritt an den Darmstädter Ferienkursen mit neuen Stücken von Jennifer Walshe und Matthew Shlomowitz: wie war die Stimmung am Ort eines der ersten wichtigen Auftritte von Nikel?

Darmstadt war fantastisch: es war unser vierter Besuch dort. Wir kamen mit einem Stück, mit dem wir uns sowohl künstlerisch als auch persönlich sehr wohl fühlen: eine außergewöhnliche, über zwei Jahre dauernde Zusammenarbeit mit Matthew & Jennifer, die uns auch auf der Bühne begleiteten. Mit zwei ausverkauften Shows und einer sehr positiven Kritik in der New York Times war es eine perfekte Premiere für das Projekt.

 


Minor characters, Matthew Shlomowitz / Jennifer Walshe, Ensemble Nikel, UA Ferienkurse Neue Musik Darmstadt 2022.

 

Was kommt als nächstes?

Es steht ein neues Album (Radio Works) an mit Stücken, die von verschiedenen europäischen Radiosendern während der Pandemie in Auftrag gegeben und aufgenommen wurden, u.a. das Stück von Shlomowitz/Walshe. Dann folgt die Uraufführung eines vierteiligen Zyklus der Komponistin Sarah Nemtsov für Nikel und Orchester in Köln und Essen mit dem WDR Sinfonieorchester. Und unsere neue Saison in der Schweiz beginnt im Januar 2024 mit einer Uraufführung von John Menoud.
Gabrielle Weber

 

Sarah Nemtsov, Tikkun pour orchestre, Teil 1 der Tetralogie, Ensemble Nikel, Camerata Ataremac, Ensemble Vertigo, Leitung: Peter Rundel, Festival Les amplitudes 2022, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Kritik Darmstadt 2023: Seth Colter Walls, New York Times, 13.8.2023

A Decade, Decennial-Box  2017, 4 CDs mit Doku-DVD und Buch zum Ensemble.

Yaron Deutsch, Live in New York City, 2022

Yaron Deutsch, Jennifer Walshe, Matthieu Shlomowitz, Sarah Nemtsov, Peter Rundel, WDR Sinfonieorchester, Brian Archinal, Patrick Stadler, Thomas Schäfer, Armin Köhler

Schweizer Musikpreise 2023:
Grand Prix Musik: Erik Truffaz
Musikpreise:
Katharina Rosenberger, Ensemble Nikel, Carlo Balmelli, Mario Batkovic, Lucia Cadotsch, Sonja Moonear, Saadet Türköz
Spezialpreise:
Helvetiarockt, Kunstraum Walcheturm, Pronto 

Sendungen SRF Kultur:
SRF Kultur online, 11.5.23: Trompeter Erik Truffaz erhält den Grand Prix Musik, Redaktion Jodok Hess.

Musikmagazin, 22.7.23Carlo Balmelli: Ein Leben für die Blasmusik, Redaktion Annelis Berger, Musiktalk mit Carlo Balmelli (ab Min 9:40).

Musikmagazin, 17.6.23, Inspirationen mit offenem Ende: Die Vokalkünstlerin Saadet Türköz, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Saadet Türköz (ab Min 8:38).

Musikmagazin, 13.5.23, Schweizer Musikpreise 2023, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Katharina Rosenberger (ab Min 4:55)

 

neo-Profiles:
Ensemble Nikel, Michael Wertmüller, Donaueschinger Musiktage, John Menoud, Antoine Françoise, Les amplitudes, Swiss Music Prizes

Enno Poppe: Composer in Residence @Lucerne Festival 2023

Enno Poppe gilt als einer der originellsten Komponisten unserer Zeit. Die Musik des 55-Jährigen ist hochkomplex und dennoch äusserst attraktiv für die Ohren und oft spannend wie ein Krimi. Enno Poppe ist diesjähriger composer-in-residence am Lucerne Festival. Dort wird u.a. sein Werk Fett zu hören sein und das Orchesterstück Prozession. Annelis Berger hat den Komponisten getroffen.

Annelis Berger
Er ist ein Stadtmensch durch und durch: «Das Leben auf dem Land wäre mir zu kompliziert. Ich wohne sehr gerne in der Stadt, wo ich jederzeit einen Liter Milch kaufen kann, ohne viel überlegen zu müssen. Was nicht heisst, dass ich nicht auch gerne mal auf einen Berg steige oder in einen See springe». Dafür wird er in Luzern leider keine Zeit haben: «Man schafft es nicht, das weiss ich vom letzten Mal, als ich mit der Academy gearbeitet habe. Ich betreue dort rund 100 junge Menschen, die alle gierig und hungrig nach Wissen sind; die wollen von morgens bis abends arbeiten und Dinge erleben, da kann ich hinterher nicht noch auf einen Berg steigen».

 

Portrait Enno Poppe © Ricordi: Harald-Hoffmann

 

Poppe selber hat in Berlin Komposition und Dirigieren studiert, lebt bis heute in der deutschen Hauptstadt und arbeitet in ganz Europa mit den wichtigsten Ensembles für zeitgenössische Musik. Ich treffe den Komponisten in Zürich, wo er eben mit dem Ensemble Collegium Novum Zürich geprobt hat. Ein hochsommerlicher Spätnachmittag, Poppe konnte gerade noch ein Bier trinken vor dem Interview. Wir reden zuerst darüber, was seine Musik ausmacht.

«Ich mag intensive Musik, ich mag es, wenn ich die Hörer*innen mitnehme. Und ich mag expressive Musik. Aber ich muss eine neue Form von Expressivität suchen, Expressivität darf nicht nur behauptet sein, nicht aufgestülpt oder sentimental. ich kann nicht die Expressivität einer Bruckner-Sinfonie nehmen, ich muss eine finden, die mit der heutigen Zeit etwas zu tun hat, und mit den Mitteln, die heute da sind. Es ist nicht einfach ein Suchen nach neuen Klängen, sondern die Suche nach einer neuen Expressivität. Das ist etwas, was mich permanent beschäftigt.»

Exemplarisch dafür steht das Stück Prozession. «Das Werk ist eigentlich ein einziger Wachstumsprozess», meint Poppe. «Es beginnt mit einzelnen Tönen, daraus entstehen Melodien, daraus Akkorde, die ballen sich zusammen zu choralartigen Stellen, und das Stück schaukelt sich immer weiter auf, wird immer intensiver. Formal sind es neun grosse Steigerungswellen, die sechste ist die grösste, dann baut es langsam wieder ab. Jeder einzelne Musiker im Ensemble hat hier eine Solostimme und führt dann jeweils einen Teil an, bis dann der nächste Teil mit dem nächsten Soloinstrument kommt.»

 

Enno Poppe, Prozession, 2015/20, Ensemble Musikfabrik Köln, Dirigent Enno Poppe, Ensemblefestival for Contemporary Music 2020, Leipzig Kölner Philharmonie Nov. 22nd, 2020

 

Eine wichtige Inspirationsquelle für dieses Werk war für Poppe die katholische Prozession «Semana Santa» in Sevilla, die jedes Jahr in der Karwoche stattfindet. «Die laufen sieben Tage lang durch die Stadt, 24 Stunden am Stück mit Blaskapellen und Trommeln, da ist die Basler Fasnacht ein Klacks dagegen. Diese spanische Prozessionsmusik hat mit dem Stück einen tiefen Zusammenhang, ohne dass ich sie direkt zitiere.»

 

Prozession ist ein Werk, das beim Hören einen Sog entwickelt, da es tatsächlich immer dichter und dichter wird. Und dem kann man sich kaum entziehen, es vermittelt auch das Gefühl von Hartnäckigkeit: vor dieser Musik gibt’s kein Entrinnen, ihre Expressivität ist sehr direkt.

Ein kompositorisches Mittel für die Expressivität findet Enno Popp im Glissando und im Vibrato. Das zeigt sich sehr schön in Wald von 2010 für vier Streichquartette. Seit vielen Jahren beschäftige sich Enno Poppe mit dem «bewegten» Ton, u.a. auch inspiriert von der asiatischen Tradition von Tönen, die immer in Bewegung sind, das heisst, man hört nie zweimal den gleichen Ton, der Musiker, die Musikerin intoniert ihn jedes Mal anders. Damit hat Enno Poppe oft gearbeitet. «Bei Wald rutscht jeder Ton ständig, bewegt sich nach oben und unten, hin und her. In den verschiedensten Geschwindigkeiten. Das ist wiederum ungemein expressiv. Weil jeder einzelne Ton beseelt wird.»

 


Auch im Ensemblewerk Scherben beschäftigt sich Enno Poppe mit dem “bewegten” Ton, in der Aufnahme mit dem Collegium Novum Zürich, Dirigent: Enno Poppe, 2008, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Enno Poppe redet bereitwillig über seine Musik. Selten gibt es Komponisten, die dies so unverkrampft und entspannt tun. Das macht ein Treffen mit ihm sehr angenehm.

Und natürlich möchte ich mit Enno Poppe auch noch über das Werk Fett reden, einer der Höhepunkte am Lucerne Festival, dirigiert von Susanna Mälkki im grossen Saal des KKL: «Das Stück IST tatsächlich fett! Sonst dürfte es nicht so heissen», meint er schmunzelnd. In dieser Komposition verzichtet Poppe komplett auf Melodien und Themen und alles andere, was klassischerweise Sinfonik auszeichnet. Akkordballungen haben ihn hier interessiert – zunächst nur viertönige Akkorde, die immer grösser werden. «Gegen Ende haben wir 40-50-tönige Akkorde! Und zwar nicht nur Oktaven, sondern das sind mikrotonale Ballungen.»

 


Enno Poppe, Fett (2018/19): Helsinki Philharmonic Orchestra, Dirigentin Susanne Mälkki, UA 10.5.2019, Helsinki Music Center

 

Zum Schluss geht’s im Gespräch um die Arbeitsweise des Komponisten.  Das Arbeiten, sprich komponieren und dirigieren, mache ihm eigentlich immer Spass. Sonst würde er es gar nicht machen. Und manchmal, wenn er für ein neues Werk eine Tür aufstosse in eine neue klangliche Welt – so wie bei Fett die mikrotonalen Ballungen – dann sei es für ihn sehr einfach, weil er sich sehr schnell in der neuen Welt zurechtfinde. «Fett ging unheimlich schnell. Ich war so richtig in Schwung. Es war unberührtes Gelände, und das belebt mich immer, ich kann dann manchmal sehr rasch arbeiten. Für Fett habe ich zirka zehn Wochen gebraucht, mir ist es eigentlich ein Rätsel, warum es so schnell ging, weil da ja unglaublich viele Töne drin sind in diesem Werk.» Eine Leichtigkeit ist da zu spüren – und gerade das zeichnet Enno Poppes Musik auch aus: sie ist komplex und vielschichtig, aber nie sperrig. Und sie nimmt den Hörer mit auf eine Reise durch eine Welt, die nie stillsteht.
Annelis Berger

 

LUCERNE FESTIVAL, Sommerfestival 2023: Das Ensemble Intercontemporain interpretiert Werke des Composer in Residence, Enno Poppe; mit Enno Poppe als Dirigent. Luzern, 13.08.2023 © LUCERNE FESTIVAL / Priska Ketterer

 

Enno Poppe am Lucerne Festival 2023

Susanna Mälkki, Ensemble Musikfabrik

Sendungen SRF 2 Kultur:
Künste im Gespräch, 3.8.2023, Enno Poppe, Composer in Residence am Lucerne Festival, Redaktion Annelis Berger.

Musik unserer Zeit, 13.9.2023, Enno Poppe im Portrait, Redaktion Annelis Berger.

Neo-Profile:
Enno PoppeLucerne Festival Contemporary, Collegium Novum Zürich

 

 

Musik ist Kommunikation: Komponistin Katharina Rosenberger

Zum zehnten Mal werden 2023 die Schweizer Musikpreise verliehen: nebst dem Grand Prix an den Genfer Jazz-Trompeter Erik Truffaz werden am Musikfestival Bern am 8. September weitere 10 Preise und Spezialpreise vergeben. In einer Sommerserie portraitiert der neoblog einige der Preisträger:innen. Katharina Rosenberger, Komponistin, Kompositions-Professorin in Lübeck und Co-Intendantin des Zürcher Festival für zeitgenössische Musik Sonic Matter bildet den Auftakt. Katharina Rosenberger arbeitet mit intermedialen Verflechtungen zwischen Musik, Text und Bild und bindet das Publikum meist in Performanceprozesse ein. Dabei geht es ihr um Kommunikation, um Dialog und ums Partizipieren an der zeitgenössischen Musik.

Katharina Rosenberger im Interview mit Florian Hauser.

 

Portrait Katharina Rosenberger © Hans Gut

 

Florian Hauser
Einen der begehrten Schweizer Musikpreise zu bekommen, ist schon etwas Besonderes und zeugt von hoher Wertschätzung Ihrer Arbeit. Wie sieht es demgegenüber mit der Wertschätzung Ihrer künstlerischen Arbeit im Alltag aus? Sie müssen ja tun, was Sie tun müssen und wollen. Und das ist ja nicht unbedingt massenkompatibel. Sie machen keine Blockbusterfilme… Wie reagiert Ihr Publikum auf ihre Kunst?

Ich bin immer sehr berührt, wenn Menschen auf mich zukommen und auf meine Musik reagieren. Es sind Personen, die ich nicht kenne oder auch Personen, die keine Insider sind, also nicht selber Musiker*innen. Oft reagieren sie sehr positiv – und oft geht es ihnen dabei darum, etwas Neues entdeckt zu haben. Wenn sie sich auf dieses Neue, Ungekannte eingelassen haben und dann positiv überrascht sind, macht mich das sehr glücklich. Eigentlich sind das ja dann die idealen Fans, die mit Offenheit kommen und einfach mal reinhören wollen… Es gibt natürlich auch Momente in denen das Publikum sehr zweischneidig reagiert. Von: ‘um Gottes Willen, was war denn das für ein Stück!’ bis zu: ‘Wow, das ist das Tollste, was ich seit langem gehört habe’.

 

Die Kommunikation mit dem Publikum ist Ihnen ja per se sehr wichtig. Sie interagieren mit den Leuten, Sie binden sie auch in Performanceprozesse ein. Warum?

Lassen Sie mich mit einem Beispiel antworten: Ein Duett (innerhalb einer Videooper, die am Theaterspektakel Zürich uraufgeführt wurde) habe ich La Chasse genannt. Zwei Sängerinnen stehen sich in einer gewissen Distanz gegenüber. Das Publikum sieht sie nur im Profil. Und dann beginnen die Stimmen sich zu jagen. Anfangs nur mit Klängen wie wah, wah, wah wah! Sehr abstrakt, sehr reduziert. Es gibt keine Melodie. Und es ist nicht so einfach, sich das anzuhören. Aber als Leute aus dem Publikum auf mich zukamen und von der Erfahrung erzählt haben, wie gewaltig diese Klänge im Raum waren, wie sehr sich die Körper in die Struktur der Musik eingliederten, ging mir ein Licht auf: Die Verbindungen zwischen Klang und Raum, den Performerinnen und dem Publikum sind unheimlich wichtig. Es geht primär nicht nur um die Musik selbst, also dass die Musik auch nur sich selbst genügt, sondern es geht wirklich um Dialog und Austausch mit dem Publikum, mit der Umgebung.


La Chasse von Katharina Rosenberger in einer Instrumentalinterpretation durch das Landmann-/Stadler-Saxofonduo, aufgenommen in NYC 2018.

 

Erzählen Sie noch von einem anderen Beispiel!

Das Projekt Urban morphology. Das ist eine begehbare Konzertinstallation, die musiktheatralische Elemente hat und auch partizipativ ist. Das Publikum ist eingeladen, aktiv mitzumachen. Es geht um den Städtewandel: Was passiert, wenn zum Beispiel durch luxuriöse Neubauten Nachbarschaften, in denen wir aufgewachsen sind, verschwinden? Wenn das, dem ich mich zugehörig fühle, plötzlich nicht mehr existiert? Also Orte, in denen ganz viele Erinnerungen Platz haben: Wenn das wie weggewischt ist, was passiert dann mit uns? Was passiert, wenn diese Strukturen weg sind, die architektonischen, die sozialen, die klanglichen Komponenten, an denen wir uns orientieren?

Das Publikum konnte sich entscheiden, wie es sich bewegt. Ob es zuerst zu einer Performance-Insel geht oder sich ein Video ansieht, ob es eine ganz normale Konzertsituationen mit einem sehr fokussierten Zuhören will oder in einer Installation Velo fährt, um Elektrizität zu erzeugen und Licht zu spenden.

Das Publikum konnte also mitentscheiden, wie es die verschiedenen Informationen zusammenbaut. Bei solchen Projekten merke ich immer wieder, wie wichtig die intermedialen Verbindungen zwischen Text und Musik sind, zwischen Bild und Musik, den Räumen, den Körpern. Wie sich Räume öffnen fürs Publikum, wo es an Situationen anknüpfen kann, die mit ihren eigenem Alltag zu tun haben. Daraus ergeben sich immer wieder neue Fragen: wie höre ich Musik, wie wird Musik aufgeführt? Und es ergeben sich neue Erkenntnisse. Das ist faszinierend.

 

Sie sind sehr kommunikativ…

Ja klar. Ich mag es auch sehr, mit Musikerinnen, mit denen ich zusammenarbeite, über längere Zeiten in Kontakt zu sein.

 

Es gibt Komponisten, Komponistinnen, Kollegen, Kolleginnen von Ihnen, für die ist es vollkommen ausreichend, am Kompositionsschreibtisch zu sitzen und Strukturen zu entwerfen. Das war für Sie nie eine Option?

Doch schon. Das eine schliesst das andere nicht aus, oder? Es gibt natürlich Phasen, da bin ich enorm zurückgezogen. Aber wenn ich mich jetzt mit Städten auseinandersetze, dann will ich durch diese Strassen laufen, die Menschen kennenlernen. Um den Kern, den Inhalt eines Projekts zu erforschen. Zum Beispiel auch bei der Installation quartet – bodies in performance, wo ich nur die Rückenmuskulatur von vier Musiker*innen gefilmt habe. Man kann sich ja vorstellen, dass je nach Musikinstrument die vielen, vielen Jahre, die man übt, die Rückenmuskulatur jeweils ganz anders formen. Jede Performance hatte ihr eigenes Bild im Endlosschwarz, es kam nur der Rücken vor, der gespielt hat. Und das war wieder eine ganz neue Art für das Publikum, Performance zu erleben. Also Klang durch die Muskulatur zu sehen.

 


Auch in Katharina Rosenbergers Klang- und Videoinstallation The journey wurden die Sänger:innen aus ungewohnt-nahen Perspektiven gefilmt, Neue Vokalsolisten Stuttgart, Regie Lutger Engels 2020

 

Es sind jeweils lange Wege zum Ergebnis, gemeinsame Wege. Aber wie kommen Sie auf solche Ideen? Sie laufen mit weit ausgefahrenen ästhetischen Antennen durch die Welt und zack, springt sie ein Thema, eine Thematik an?

Mein roter Faden ist: Im Mittelpunkt steht der Mensch, sei es jetzt der Performer mit seinem, ihrem Körper, sei es das Publikum mit seinen Ohren, Augen, Körpern. Und um was geht es? Was berührt uns eigentlich? Das ist die Frage. Was für eine Bedeutung hat die Musik auch in Zeiten der Krisen, der Zeiten, der Umorientierung? Ich will jetzt nicht behaupten, dass ich als Künstlerin das wegweisend in meinen Stücken präsentiere. Aber es geht um das Hinterfragen, das Hinter-Sinnen durch neue klangliche, bildliche Situationen. Darum, sich mit dem Moment auseinanderzusetzen. Also das ist nicht ein Muss. Ein Publikum muss nie müssen. Aber ich möchte die Türen öffnen, dass es möglich ist.
Florian Hauser

 

Portrait Katharina Rosenberger © Kaspar Ruoff


Schweizer Musikpreise 2023:
Grand Prix Musik: Erik Truffaz
Musikpreise:
Katharina Rosenberger, Ensemble Nikel, Carlo Balmelli, Mario Batkovic, Lucia Cadotsch, Sonja Moonear, Saadet Türköz
Spezialpreise:
Helvetiarockt, Kunstraum Walcheturm, Pronto 

Sendungen SRF Kultur:
Musikmagazin, 13.5.23, Schweizer Musikpreise 2023, Redaktion Florian Hauser, Café mit Katharina Rosenberger (ab Min 4:55)

SRF Kultur online, 11.5.23: Trompeter Erik Truffaz erhält den Grand Prix Musik, Redaktion Jodok Hess:

Musik unserer Zeit, 11.1.2023: Komponieren! Mit Katharina Rosenberger, Redaktion Florian Hauser

Musik unserer Zeit, 8.12.2021: «Sonic Matter» – ein aussergewöhnliches Musikfestival in Zürich, Redaktion Moritz Weber

Musik unserer Zeit, 8.8.2018: Shift – eine Begegnung mit der Komponistin Katharina Rosenberger, Redaktion Cécile Olshausen

neoprofiles:
Katharina Rosenberger, Swiss Music PrizesFestival Sonic Matter, Ensemble Nikel, Kunstraum Walcheturm

 

 

Durch Musik eins werden mit der Natur

Toshio Hosokawa ist der bekannteste japanische Komponist und diese Saison Creative Chair beim Tonhalle Orchester Zürich. Hosokawa verbindet in seiner Tonsprache die westliche neue Musik mit traditioneller japanischer Musik. Moritz Weber unterhielt sich mit dem Komponisten.

 

Moritz Weber
Vor drei Jahren komponierte Toshio Hosokawa im Auftrag des Pianisten Rudolf Buchbinder eine Variation über den berühmten Walzer von Diabelli in C-Dur, über welchen einst Beethoven seine monumentalen 33 Veränderungen komponiert hatte. «Ich liebe Klavierklänge», sagt Hosokawa im Gespräch, «aber in diesem Walzer hat es sehr viele Töne». Seine Variation klingt denn auch wie in Zeitlupe, er lässt einzelnen Tönen viel Zeit, um sich zu entfalten. Wegen des langsamen Tempos sei das Stück typisch für ihn, sagt der japanische Komponist, und sogar die tonalen Elemente passten zu seiner Musiksprache, denn in den letzten 2 bis 3 Jahren habe er sich wieder mehr für tonale Musik interessiert, «und ich möchte in Zukunft auch tonale Musik komponieren.»

 

Über das Studium in Deutschland zur traditionellen japanischen Musik

Zu seiner eigenen Klangsprache, die fernöstliche und westliche Ästhetik verbindet, fand er über einen Umweg. «Meine Familie war sehr japanisch», sagt er. Mit einem Ikebana-Meister als Grossvater, der auch Nō-Gesang und die Teezermonie liebte, und einer Mutter, die immer Koto spielte, war ihm das dann doch etwas «zu viel». Für ihn waren die traditionellen japanischen Künste damals altmodisch, «langweilig» gar.

Da er sich als Klavierstudent insbesondere für das klassisch-romantische Repertoire begeisterte, wie für die späten Klaviersonaten von Beethoven, ging Hosokawa nach Deutschland, um bei Isang Yun (in Berlin) und Klaus Huber (in Freiburg i. B.) Komposition zu studieren.

 


Klaus Huber, Kompositionsprofessor von Toshio Hosokawa mit seinem fernöstlich inspirierten Stück Plainte – Lieber spaltet mein Herz, Contrechamps 2018, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Am Meta-Musikfestival im Berlin der 1970er-Jahre wurde neue Musik aus Europa mit traditioneller Musik aus aller Welt kombiniert. György Ligeti mit indonesischer Gamelanmusik, Karlheinz Stockhausens Mantra mit Tempelmusik aus Japan. Dort hörte und erlebte Hosokawa von Europa aus die Musik seiner Heimat ganz anders und entdeckte ihre Schönheit. Gemischt mit Heimweh und dank der Ermunterung seiner Lehrer begann Hosokawa in seinem Stil die fernöstliche Klangsprache und Philosophie mit der europäischen zu verschmelzen.

 

Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Ästhetik

Ein wichtiger Unterschied zwischen europäischer und japanischer Musik sei, dass letztere keine absolute Musik sei, sondern immer als Atmosphäre oder Hintergrund für bestimmte Ereignisse wie Zeremonien oder Tänze. Sie sei an einen Ort gebunden. Die europäische Musik hingegen sei eine Architektur, die an den unterschiedlichsten Orten gespielt werden könne, so wie man eine Skulptur oder ein Gemälde irgendwo hin transportieren kann, so Hosokawa.

 

Portrait Toshio Hosokawa © KazIshikawa zVg. Tonhalle-Orchester Zürich

 

«In der japanischen Musiktradition ist der Einzelton sehr wichtig. Ich sage immer, unsere Musik sei eine Kaligraphie in Zeit und Raum, und eine musikalische Linie ist wie ein Pinselstrich, mit Anfang und Ende». Die Töne seien vertikale Ereignisse, wie ein kalligraphischer Pinselstrich auf einem weissen Papier. Ganz im Gegensatz zu den zu Motiven verbundenen Tongruppen der westlichen Musik, z.B. das berühmte «ta-ta-ta-taaaaaa» aus Beethovens 5. Sinfonie, singt Hosokawa vor.

 

Nō-Theater und Gagaku-Musik

«In den Stücken des traditionellen japanischen Nō-Theaters aus dem 12. oder 13. Jahrhundert geht es um Seelenheilung, und dieser Gedanke ist auch sehr wichtig für mich», sagt Hosokawa: «Die Verstorbenen kommen zurück, erzählen vom Jenseits, heilen ihre Seelen durch Tanz und Gesang und kehren dann zurück ins Reich der Toten». Musikalisch ist der «Kalligraphie-Gesang» prägend, wie auch das Schlagzeug: Heftige Schläge, welche die Zeit quasi vertikal durchschneiden. Es werden nicht grosse horizontale Räume eröffnet, sondern die Impulse sind für sich selbst Ereignisse. Darauf weise er auch immer hin, wenn er mit Musiker:innen an seinen Stücken arbeite, wie diese Saison als Creative Chair beim Tonhalle-Orchester Zürich. «Diese heftigen vertikalen Einschnitte, sie sind stärker als normale Einsätze, auch die plötzlichen Änderungen in der Dynamik. Ich sage immer: Denken sie beim Spielen, sie malen eine Kalligraphie. Denken sie nicht zu formal, sondern dass jeder Moment ein wichtigster Moment ist, jeder Moment eine Ewigkeit.»

 

 


Toshio Hosokawa, Ferne Landschaft III – Seascapes of Fukuyama (1996), Basel Sinfonietta, Dirigent Baldur Brönnimann 2016, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Hosokawa gefallen auch die mikrotonalen Färbungen, welche bei der Gestaltung von Tönen im Nō-Theater wichtig sind. «Um die Zentraltöne herum gibt es immer kleine Veränderungen, und diese möchte ich hören, denn sie machen die Töne lebendig». Auch hier singt er im Interview einen langgezogenen Ton vor und zeichnet dazu mit der Hand in der Luft den Tonverlauf nach.

 

Der Mutterakkord der Shô

Die etwa 500 Jahre ältere und ursprünglich aus China und Korea stammende japanischen Gagaku-Musik ist eine zeremonielle Hofmusik. Der Klang der japanischen Mundorgel Shô ist hier omnipräsent. Er symbolisiert im Hintergrund die Ewigkeit, während darüber Melodieinstrumente wie Hichiriki oder die Drachenflöte Ryūteki klangliche Kalligraphien «zeichnen».

Mit der Shô sei es auch möglich, den Atem und kreisende Zeit unmittelbar erfahrbar zu machen. Hosokawa nennt das den «Mutterakkord», und er hat diverse Stücke für oder mit Shô geschrieben. Auch diese Kreisläufe seien für ihn sehr wichtig, wie auch der Gedanke, dass Gagaku eher eine kosmische Musik ist als eine menschlich-emotionale.

 

Naturkatastrophen als Opernstoff

Toshio Hosokawa ist mit seiner einzigartigen Tonsprache und seinen Kompositionen in allen Gattungen weltberühmt geworden. Viele seiner Werke drehen sich um Naturkatastrophen wie um das verheerende Tohoku-Erdbeben, Tsunami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima. «Mein Ziel ist es, durch Musik und durchs Komponieren eins zu werden mit der Natur. Eigentlich ist die japanische Natur sehr schön mit ihren Jahreszeiten, aber sie ist nicht immer freundlich zu den Menschen. Diese Tatsache habe ich erfahren als der Tsunami kam, und ich begann, ganz anders über Natur nachzudenken. Mit meiner vierten Oper Stilles Meer wollte ich ein Klagelied für die Opfer dieses einschneidenden Ereignisses oder ein Requiem für die Toten schreiben.» Nicht nur die Urgewalt hat Hosokawa darin auskomponiert, sondern die schrecklichen Bilder des Verlusts, wie Kinderschuhe oder Spielzeug, welche in den Überschwemmungsgebieten treiben.

 


Toshio Hosokawa, die Oper Stilles Meer ist für Toshio Hosokawa ein Klagelied an die Opfer des Tsunami von 2011, UA Staatsoper Hamburg 2016

 

 

Momentan komponiert Hosokawa seine sechste Oper, auch sie wird sich wieder um Naturkatastrophen drehen. Eine junges Paar, ein Japaner und ein Flüchtling aus der Ukraine, besucht darin verwüstete Orte, verschiedene «Höllen» im Sinne von Dantes Inferno, wo sie die Auswirkungen der Naturkatastrophen sehen, so Hosokawa. Die Oper soll in der Spielzeit 2025/26 uraufgeführt werden.

 

Innere und äussere Ruhe

Um seine innere Ruhe zu finden, geht Hosokawa gerne in den Wald oder ans Meer in der Nähe seines Wohnortes in Nagano. Er meditiert auch täglich, still sitzend und nichts tuend für ein paar Minuten. Eine Kraftquelle für seine kontemplative Zustandsmusik, welche durchsetzt ist von eruptiven Ausbrüchen.

Seine Musik soll auch für das Publikum ein Ort der Kontemplation sein, ein Ort des Gebets. «In Japan gibt es sehr viele geschnitzte Holzstatuen von anonymen Künstler:innen, bei welchen die Menschen beten. Ich möchte, dass meine Musik eine ähnliche Bedeutung hat. Sie kann die Menschen vielleicht nicht retten, aber irgendwie schützen.»

Die Spiritualität spielt auch in seinen jüngsten Werken eine Rolle: Ceremony für Flöte und Orchester (UA 2022) und Prayer für Violine und Orchester (UA 2023).

 

Das Soloinstrument sei auch in diesen beiden Stücken wie ein Schamane, ein Vermittler zwischen dem Dies- und dem Jenseits, so Hosokawa, er empfange und höre die Urkraft Ki (気). «Diesen Gedanken finde ich sehr interessant: Komponieren, nicht als ein Ausdruck eines Menschen oder seines Egos, sondern als Empfangen von dem, was schon da ist; die Urkraft der Klänge, den bald lieblichen, bald dramatischen Fluss der Töne. «Das Orchester repräsentiert dabei die Natur. Diese ist also in und um das Soloinstrument bzw. den Schamanen. Er kommuniziert mit ihr, trägt Konflikte aus, und soll zum Schluss zu einer Harmonie mit ihr findet».

Hosokawa sieht sich als ein Vertoner dieser Urkraft, und sagt: «auch ich möchte ein Schamane werden» – wenn er es nicht schon ist.

Wenn er mit Orchestern oder Musiker:innen seine Werke einstudiert, wie jetzt während seiner Zeit als Creative Chair des Tonhalle Orchesters Zürich, sei es vor allem das Zeitgefühl, woran man manchmal etwas mehr arbeiten müsse.
Moritz Weber

Tonhalle-Orchester Zürich: Toshio Hosokawa, Creative Chair, Saison 2022/23
Konzerte: Sonntag, 26.3. Kammermusik
Mittwoch, 29.3.23: Meditation to the victims of Tsunami für Orchester.

 

Rudolf Buchbinder, Isang Yun, Klaus Huber, Shô, Hichiriki, Ryūteki, Gamelan, Karlheinz Stockhausen, Gagaku, György Ligeti, Koto, Metamusikfestival Berlin

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 22.3.23, 20h, 25.3.23, 21h: Musikschamane und Vertoner der Urkraft, Autor Moritz Weber

Neo-Profile:
Toshio Hosokawa, Tonhalle-Orchester Zürich, Klaus Huber

 

Grösstmögliche Freiheit – Ligetis Atmosphères neu interpretiert

«Tuns contemporans», Biennale für Neue Musik Graubünden, findet vom 29.3. bis zum 2.4. zum dritten Mal statt. Mit Motto «100 Jahre Ligeti» beleuchtet es den wegweisenden Komponisten auch aus heutiger Sicht. Atmosphères, Ligetis monumentales Orchesterwerk bekannt aus Kubriks «Space Odyssee 2001», kommt im Theater Chur als raumumspannende Klanginstallation zur Neuinterpretation. Ein Gespräch mit Martina Mutzner, Initiatorin und künstlerische Leiterin des Projekts.

 

28. Mai 2023: 100. Geburtstag György Ligeti

Gyoergy Ligeti, Februar 1992 Stadttheater Bern ©Alessandro della Valle

 

Gabrielle Weber
Wenn ein Schlüsselwerk der musikalischen Avantgarde unerwartet grosse Verbreitung fand, dann sicherlich Atmosphères von György Ligeti. Stanley Kubriks Weltraumepos «Space Odyssee 2001» von 1968 trug dazu bei, dass Ligetis eindrückliches Orchesterwerk, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 1961, weltweit berühmt ist: im Film begleitet es eine fast zehnminütige Kamerafahrt durch abstrakt-verfliessende Weltraum-Farbfelder, die zum Fortschrittlichsten gehören, was 1968 an Kamera- und Tricktechnik möglich war. Oder war es umgekehrt: begleitet das Bild die Musik?

 

Klangfarbenflächenkomposition

 

Atmosphères, Ligetis mikropolyphones 87-stimmiges Orchesterwerk verschaffte ihm bereits davor in Fachkreisen den grossen Durchbruch. Sein neuer kompositorischer Ansatz, bei dem Klangfarben und -flächen strukturelle Elemente ablösen, wurde mit Begeisterung aufgenommen: bei der Uraufführung in Donaueschingen wurde es auf Wunsch des Publikums gleich zweimal gespielt. Mit Kubrik hingegen stand Ligeti jahrelang im Rechtsstreit, da dieser Atmosphèreszunächst ohne den Komponisten anzufragen und ohne ihn zu entgelten verwendete.

 


György Ligeti, Atmosphères, Sinfonieorchester Basel, 2015, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Das Churer Vermittlungsprojekt nimmt die Idee des Komponierens mit Klangfarbenflächen wie auch den Bekanntheitsgrad des Werks zum Ausgangspunkt. In einer immersiven partizipativen Konzert-klanginstallation ersteht Ligetis Atmosphères neu, interpretiert durch 81 Stimmgruppen: über ein halbes Jahr entwickelten Schulklassen, semiprofessionelle Musiker:innen und Laien, die Mitglieder zwischen 7 und 77 Jahren alt, ihre eigenen Klangflächen. In Workshops, begleitet von Musiker:innen des Churer ensemble ö! und der Kammerphilharmonie Graubünden, entstanden so die einzelnen Schichten eines grossen Gesamtklangs.

In diesen kann man nun während des ganzen Festivals im Innenbereich des Theaters Chur, übertragen über ein Lautsprechersystem und eingebettet in eine Lichtszenografie à la Kubrik, eintauchen.

 

Apparitions für Orchester (1958/59) ist eines der ersten Werke, in denen György Ligeti mit Klangflächen komponierte, Aufnahme mit der Basel Sinfonietta unter Johannes Kalitzke, 2003, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ligetis Idee der grösstmöglichen kompositorischen Freiheit habe den Ausschlag zur Wahl dieses Vermittlungsprojekts gegeben, so Martina Mutzner, die Projektverantwortliche.

«György Ligeti hat mit Atmosphères ein Stück geschrieben, das sich gegen die damals gängigen Kompositionsdogmen wendete. Atmosphères steht stellvertretend für einen freigeistigen Umgang mit künstlerischem Material und im übertragenen Sinne auch mit dem Menschen“. Es gebe kein richtig oder falsch. Deshalb sei es so geeignet für ein partizipatives Projekt mit Laien-Musiker:innen.

 

Inventarisieren und Botanisieren

Sie seien einen „umgekehrten Weg gegangen“. Zuerst hätten sie, inspiriert von Atmosphères, improvisiert, Klänge entwickelt und aufgezeichnet. «Wir sammelten die Klangflächen. Es war wie ein Inventarisieren oder Botanisieren“, meint Mutzner. David Sontòn Caflisch, künstlerischer Leiter der Biennale, erstellte dann aus den Einspielungen Partituren für Instrumentalparts. Flöten-, Harfen- und Streichergruppen ergänzen nun die vokalen und geräuschhaften Klangflächen zu den vorgegebenen 87-Stimmen Ligetis.

Entstanden ist eine kompositorische Assoziation zu Ligetis Klangflächenkomposition im weitesten Sinne, und damit etwas komplett Neues: dies passe zum Konzept der Biennale mit Ligeti im Zentrum, der mit Mentorinnen und Schülerinnen in Beziehung gesetzt werde. An den vier grossen Konzerten im Theater Chur stehen u.a. Werke von Béla Bartók und Sándor Veress, Komponisten die Ligeti prägten, aber auch von Detlef Müller-Siemens, Michael Jarrell oder Alberto Posadas, die er wiederum prägte, sowie Uraufführungen im Dialog mit Ligetis Oeuvre.

 

Michael Jarrell, music for a while pour orchestre 1995, ensemble contrechamps, Dirigent Jürg Henneberger, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ihre Leidenschaft für Neue Musik und deren Vermittlung bringt Mutzner ins Projekt ein: „Atmosphères wählten wir auch, da es durch Stanley Kubricks Space Odyssey Eingang in die Populärkultur gefunden hat. Viele Leute haben es schon gehört, aber wissen nicht, was es ist.“ Von den Mitwirkenden und auch den Ensembleleitenden, hätten einige noch kaum mit zeitgenössischer Musik zu tun gehabt. „Die Aufnahmen klangen schlussendlich so, als würden sie regelmässig in einem Ensemble für zeitgenössische Musik proben. Die Musizierenden waren in diesem vielbeschworenen Flow, und das überträgt sich auf die Zuhörenden“, so Mutzner.

Konsequente Öffnung von Neuer Musik

Die konsequente Öffnung von Neuer Musik für ein breiteres Publikum ist generelles Anliegen der Churer Biennale. Fanden die Konzerte pandemiebedingt 2021 nur online statt, so wird auch diese Ausgabe gesamthaft online live-gestreamt. Zudem setzt sich die «tuns contemporans» auch nachhaltig für eine ausgewogenere Gendermischung im Klassikbetrieb und für eine Erneuerung des Orchesterrepertoires ein: 2021 fand erstmals ein «Call for Scores for ladies only!» statt, aus dem drei Uraufführungen von Komponistinnen hervorgingen. Auch diese Ausgabe kommen drei neue Stücke zur Uraufführung. Gewählt wurden aus 78 eingereichten Werken Los tiempos del alma für kleines Ensemble der kürzlich verstorbenen jungen argentinischen Komponistin Patricia Martinez (*1973-2022), von Areum Lee (*1989) aus Korea leer für grosses Ensemble und la via isoscele della sera für Streichorchester der Italienerin Caterina di Cecca (*1984).

 

Oscar Bianchi, Contingency für Ensemble (2017), aufgezeichnet mit dem Ensemble der Lucerne Festival Alumni, dirigiert von Baldur Brönnimann, 2020, Eigenproduktion SRG SSR.

 

Die Zusammenarbeit mit dem Orchestra della Svizzera Italiana im Konzert am Samstagabend – u.a. kommt von Oscar Bianchi Exordium von 2015 zur Aufführung – und die Verpflichtung von Mario Venzago als Gastdirigent oder das Abschlusskonzert mit dem Ensemble Vocal Origen, im roten Turm zuoberst auf dem Julierpass, garantieren dieser dritten Festivalausgabe Synergien und eine Öffnung der Neuen Musik über das Lokale hinaus.
Gabrielle Weber

 

Roter Turm auf dem Julierpass © Benjamin Hofer

 

Tuns contemporans – Biennale für Neue Musik Graubünden 2023
Atmosphères: partizipatives generationenübergreifendes Konzertprojekt: Teilnehmende –Profimusiker*innen, passionierte semiprofessionelle Musiker*innen, Musikschüler*innen und begeisterte Laien

 

György Ligeti, Detlev Müller-Siemens, Alberto Posadas, Béla Bartók, Sándor Veress, Origen Festival Cultural, Mario Venzago, Caterina di Cecca, Areum Lee, Patricia Martinez, Martina Mutzner: Musiksalon

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 24.5.2023: György Ligeti 100: Autor Michael Kunkel
neoblog, 7.4.2021: tuns contemporans 2021 – Graubünden trifft Welt, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile:
György Ligeti, tuns contemporans, Ensemble ö!, Kammerphilharmonie Graubünden, David Sontòn Caflisch, Oscar Bianchi, Michael Jarrell, Ensemble Vocal Origen

Stimme – Schweigen – Persona

Die junge Komponistin Anda Kryeziu bringt den Kultfilm «Persona» von Ingmar Bergman für das Theater Basel als Musiktheater auf die Bühne. Eine musikalische Reflexion über die Themen Stimme, Schweigen und Identität.

 

Die Komponistin Anda Kryeziu, ©Jetmid Idrizi

 

Jaronas Scheurer
Ich treffe Anda Kryeziu an einem regnerischen Februarabend in der Basler Innenstadt zum Interview. Die letzte Probephase für ihr Musiktheater «Persona», basierend auf dem gleichnamigen Film des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, hat gerade begonnen und ihr steht ein stressiger Endprobe-Monat bevor. Für sie bedeutet das, von Montag bis Samstag jeweils den ganzen Tag Proben und in der Nacht Revisionsarbeiten. Gleichzeitig lastet eine gehörige Portion Druck auf der knapp 30-jährigen Komponistin – ein abendfüllendes Musiktheater für das renommierte Theater Basel zu schreiben, ist nicht allen vergönnt. So könnte man auf jeden Fall meinen. Doch Anda Kryeziu wirkt beim Interview erstaunlich entspannt und gelöst.

Die kosovarische Komponistin studierte in Bern Klavier und Komposition bei Dieter Ammann, danach in Basel und Berlin bei Caspar Johannes Walter und Daniel Ott Komposition und elektroakustische Musik und intermediale Komposition bei Wolfgang Heiniger. Inzwischen hat sich schon eine erstaunlich umfangreiche Werkliste angehäuft: Musiktheatrale Werke, Performances, Orchesterkompositionen, Werke für Instrumentalbesetzungen mit oder ohne Elektronik, multimediale Kompositionen, Installationen und akusmatische Stücke. Kryeziu wechselt mühelos zwischen verschiedenen Formaten und Besetzungen und präsentierte ihre Werke schon an renommierten Festivals wie Impuls Festival Graz, Neue Musik Rümlingen oder der Münchener Biennale. Ihr reiches und diverses Portfolio ist vielleicht der Grund für ihre Gelassenheit angesichts des renommierten Auftrags vom Theater Basel.

 


Anda Kryeziu: «Infuse: Playtime» (2021), Ensemble Recherche.

 

«Persona» von Bergman

Für das Theater Basel vertont sie den Film «Persona» von Ingmar Bergman als «ambivalentes musiktheatrales Format, oszillierend zwischen Oper, Theater und Performance», wie sie das Werk selbst bezeichnet, für eine Sopranistin, eine Performerin, vier Instrumente und Elektronik. Der Kultfilm von Bergman aus dem Jahre 1966 dreht sich um zwei Frauen, die Schauspielerin Elisabeth Vogler und die Krankenpflegerin Alma. Elisabeth hat plötzlich aufgehört zu sprechen und wird daher in Begleitung von Alma zur Kur in eine Villa am Meer geschickt. Durch das Schweigen von Elisabeth übernimmt Alma das Sprechen und erzählt Elisabeth von ihren innersten Wünschen, Träumen und von gutgehüteten Geheimnissen aus ihre Vergangenheit. Es entwickelt sich eine komplexe Beziehung zwischen den zwei Frauen und das Schweigen von Elisabeth nimmt dabei ganz unterschiedliche Facetten an, von überheblicher Distanz über empathische Teilnahme bis hin zu passiver Aggressivität. Mehr und mehr verschwimmen die Grenzen zwischen den zwei Protagonistinnen. Der Film von Bergman ist einerseits ein exaktes Psychogramm dieser ungewöhnlichen Beziehung, andererseits eine Reflexion darüber, was eine Person eigentlich ausmacht und ob wir nicht nur aus unterschiedlichen Masken bestehen.

Inwiefern macht die Stimme unsere Identität aus und was geschieht mit einer Identität, wenn der Faktor Stimme plötzlich wegfällt? Anda Kryeziu, die Regisseurin Caterina Cianfarini und die Dramaturgin Meret Kündig interessierten sich also vor allem für «Persona», weil darin Stimme, Schweigen und Identität in enger Verknüpfung verhandelt werden.

 

Anda Kryeziu: «co-» (2016-2017), gespielt von Theo Nabicht (Kontrabassklarinette), Seth Josel (E-Gitarre) und Gabriella Strümpel (Cello) vom Ensemble KNM Berlin.


Wie komponiert man Schweigen?

Das Schweigen der Hauptfigur Elisabeth ist ein zentraler Aspekt in «Persona». Doch, wie komponiert man eigentlich Schweigen? Musik besteht ja aus Klängen und Schweigen gerade nicht. Wobei, wie Anda Kryeziu betont, «Schweigen nicht dasselbe ist wie Stille. Schweigen ist die Entscheidung, nicht zu sprechen, und Stille ist die Absenz von Klängen.»

Das Schweigen musste Kryeziu jedoch gar nicht aktiv komponieren: «Das Schweigen war schon konzeptuell da und war eigentlich Auslöser für alle anderen musikalischen Ideen im Stück. Dieses Schweigen ist für mich das stärkste und krasseste Stilmittel, das mir in diesem Projekt zur Verfügung steht. Mit dem Schweigen von Elisabeth versuche ich die ganze Dynamik und Energie des Werks zu gestalten und es dient uns in vielen musikalischen und dramatischen Situationen als zündender Funke.»

Anda Kryeziu sieht im Schweigen der einen Hauptfigur eine willkommene Herausforderung und komponierte es als wichtigen Faktor mit. Ähnlich sieht es mit der Stimme der anderen Hauptfigur aus. Die Krankenpflegerin Alma übernimmt in Anbetracht der schweigenden Elisabeth das Sprechen für beide. Für Kryeziu ist die Stimme der Sopranistin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, die die Rolle der Alma übernimmt, Ausgangspunkt ihrer Komposition. «Die menschliche Stimme ist ein komplexes Kommunikationsmittel, ein ganzes Paket an Informationen, ein semiotisches System, über das man ganz viel über Identität erfahren kann.» so Kryeziu.

Die Stimme von Guðmundsdóttir wird von Kryeziu mittels elektronischen Mitteln verfremdet, verzerrt und vervielfacht. «Mit den Veränderungen des Stimmklangs kann ich auch die Wahrnehmung der sprechenden Person verändern. Sie kann plötzlich männlich, kindlich oder total zerstört klingen.»

 


Anda Kryeziu: “Kreiswanderung im Raum”, aus der Produktion “Grosse Reise in entgegengesetzter Richtung” an der Münchener Biennale 2022. Jens Ruland (Perkussion) und Ensemble Hand Werk.

 

Die Stimme aus den Instrumenten heraus

Zudem setzt Kryeziu die Stimme mit unterschiedlichen Gegenübern in Beziehung: Durch Loops spricht die Stimme von Guðmundsdóttir mit sich selbst, durch das raumfüllende Abspielen und Wiederaufnehmen tritt sie auch in einen Dialog mit dem Raum und mithilfe sogenannter Transduktoren kann Kryeziu den Stimmklang oder einzelne Schnipsel der Stimme auf die vier Instrumente projizieren. Die Stimme spricht dann sozusagen aus den Instrumenten heraus. Eine stimmige Metapher dafür, dass eine Identität in enger Verbindung und in stetiger Wechselwirkung mit der Aussenwelt interagiert.

Eine Stimme, die aus vielen Instrumenten heraus spricht – das ist vielleicht auch ein passendes Bild für das Schaffen von Kryeziu. Immer wieder taucht das Thema Identität in ihrem vielfältigen Schaffen auf. «Das Thema Identität kommt für mich nie alleine, weil es für mich nicht aus dem soziopolitischen Kontext ausgekoppelt werden kann. Wir existieren nicht als abstrakte Entitäten. Wir sind so, wie wir sind, wegen unserer Umgebung, wegen unserer Geschichte und Biografie.», so Kryeziu. Ihre Werke seien zwar nie autobiografisch, aber vielleicht liege dennoch in ihrer migrantischen Biografie ein Grund, wieso das Thema Identität immer wieder auftauche.
Jaronas Scheurer

 

Das Musiktheater «Persona» ist eine Produktion des Theater Basel und wird am 4., 6., 7., 15., 16. und 17. März 2023 im Gare du Nord gezeigt, mit: Álfheiður Erla Guðmundsdóttir: Sopran, Alice Gartenschläger: Performance, Jeanne Larrouturou: Perkussion, Chris Moy: Gitarre, Maria Emmi Franz: Cello und Aleksander Gabrýs: Kontrabass.

Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Ensemble Hand Werk, Jens Ruland, Wolfgang Heiniger, Caspar Johannes Walter, Theo Nabicht, Seth Josel, Gabriella Strümpel, Ensemble KNM Berlin, Ensemble Recherche

Neo-Profile:
Anda Kryeziu, Aleksander Gabrýs, Jeanne Larrouturou, Concept Store Quartet, Daniel Ott, Gare du Nord, Dieter Ammann

Improvisierte Musik in Genf – Die Welt der AMR

Die AMR (l’Association pour l’encouragement de la Musique impRovisée) aus Genf ist die älteste Schweizer Institution für improvisierte Musik. 1973 gegründet, hat sie sich von Anfang an nicht nur für improvisierte Konzerte, sondern auch für Probemöglichkeiten und Unterricht in improvisierter Musik eingesetzt. Ihr beinahe 50-jähriges Engagement wird nun mit dem Spezialpreis Musik 2022 gewürdigt.

Das “Sud des Alpes” der AMR

Jaronas Scheurer
Gerade in Nischen-Genres wie z.B. der improvisierten Musik geschieht die meiste Arbeit ehrenamtlich. Die Gagen für die Musiker:innen sind tief, die Arbeit hinter den Kulissen basiert auf Good Will, das wenige Stiftungsgeld für die Veranstalter:innen ist knapp. Die Corona-Pandemie, während der über Monate keine Konzerte durchgeführt werden konnten und noch länger keine Planungssicherheit existierte, hat diesen Missstand noch verschärft. Nicht so in Genf – die AMR, l’Association pour l’encouragement de la Musique impRovisée, zahlte sowohl den Musiker:innen, die gebucht waren, aber nicht spielten konnten, als auch den Techniker:innen und den Barleuten, die nicht arbeiten konnten, trotzdem Lohn. Das ist nicht nur äusserst löblich, sondern auch ziemlich ungewöhnlich. «Das Geld hatten wir und wir hatten sie ja gebucht; und die Musiker:innen waren schlechter dran als wir Organisator:innen.», erklärt Brooks Giger, Sekretär der Programmkommission der AMR und selber Kontrabassist.

 


John Menoud: Which way does the blood red river flow? Nouvel Ensemble Contemporain und der Trompeter Mazen Kerbaj, 2017. John Menoud ist Mitglied der Programmkommission der AMR.

 

Fixstern der kulturellen Landschaft Genf

Die AMR gibt es nun schon seit 1973, seit beinahe fünfzig Jahren. In den 70er-Jahren brodelte die Free Jazz-Szene in Europa. Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald & Co. in Deutschland, Irène Schweizer und Pierre Favre in der Schweiz. In England gab es John Stevens und sein «Spontaneous Music Ensemble» oder das Improvisationsensemble AMM. Und in den USA ging sowieso die Post ab: Charles Mingus, Alice und John Coltrane, Ornette Coleman, Sam Rivers usw. In Genf fanden sich damals ein paar Musiker:innen zusammen, die sich dieser Musik hingaben. So entstand die Idee der AMR. Schon bei der Gründung der AMR 1973 war den Mitgliedern klar, dass es nicht nur darum geht, der improvisierten Musik eine Bühne zu bereiten und Konzerte zu veranstalten. «Da war diese grosse Lust der Gründungsmitglieder der AMR, etwas zu haben, wo sie sich wiederfinden. Wo sie zusammen arbeiten und kreieren können. Wo sie diese Musik in Konzerten hören und im Unterricht weitergeben können.» – so Brooks Giger. Die AMR wollte von Anfang an nicht nur Konzertveranstalterin, sondern auch Musikschule und Vermieterin von Proberäumen sein. Mit diesem Konzept stiess sie bei der Stadt Genf auf offene Ohren und schon bald erhielt sie ein finanzielles Fundament zur Verwirklichung ihrer Idee. «Wir hatten auch einfach sehr, sehr viel Glück, dass wir in den 70er die Unterstützung von der Stadt erhielten und sie bis heute erhalten», bemerkt Brooks Giger zur Sondersituation Genf. 1981 konnte die AMR dann ein Gebäude an der Rue des Alpes mieten, das «Sud des Alpes»; bis heute Zentrum und Sitz der AMR. Bis 2006 wurde das «Sud des Alpes» schrittweise umgebaut. Und heute befinden sich dort nicht nur die Büros der AMR, sondern auch 13 Proberäume (inklusive zwei grosse für grössere Ensembles) und zwei Konzertsäle, einer im Keller für 50 Personen und einer im EG für 120 Personen. Inzwischen gehört die AMR fest zur kulturellen Landschaft der Stadt Genf. Brooks Giger beschreibt das so: «Wenn jemand in den Hotels der Stadt fragt, wo man Jazz hören kann – AMR. Wenn jemand Musiker:innen für einen Gig sucht – AMR.» Sie seien inzwischen eine feste Grösse für Jazz und improvisierte Musik in Genf, dadurch bekämen sie immer noch Geld von der Stadt – «on croise les doigts» meint Brooks Giger dazu.

Aus der Gründungszeit der AMR 1973

 

Konzertprogramm zwischen lokaler Szene und internationalen Grössen

Die finanzielle Unterstützung der Stadt Genf ist auch an Bedingungen geknüpft, so müssen mindestens 60 Prozent der auftretenden Musiker:innen in der Region zuhause sein. Das Programmieren der 250 bis 300 jährlichen Konzerte und der zwei Festivals ist also immer auch ein Balanceakt zwischen lokalen Künstler:innen, nationalen Grössen und internationalen Gäste. Auch die am AMR durchgeführten Workshops zeigen das Gelernte in regelmässigen Konzerte. So kann es gut sein, dass in derselben Woche der New Yorker Starsaxofonist Chris Potter mit seinem Quartett, eine südafrikanisch-schweizerische Combo, eine lokale Jazzband und der Funk-Workshops der AMR auftritt. Nicht nur durch das Konzertprogramm weht ein fairer Wind: So sind die Angestellten der AMR allesamt selbst Musiker:innen. Dank der Teilzeit-Anstellung zwischen 30-60% in der AMR ist ihnen eine feste Existenzgrundlage gewiss. Auch auftretende Musiker:innen, die in der Schweiz wohnhaft sind, können sich von der AMR anstellen lassen, was gewisse Sozialleistungen sicher stellt. Die Eintrittspreise sind moderat, so dass sich auch nicht so vermögende Menschen das AMR-Konzert leisten können. Und vor einigen Jahren hat sich eine Gruppe gegründet, die sich für ein geschlechtlich ausgeglichenes Konzertprogramm einsetzt.

 

Die Genfer Band Noe Tavelli & The Argonauts am AMR Jazz Festival 2022

 

Ein Genfer Bijou für improvisierte Musik

Die AMR steht im Jahr 2022 auf festen Beinen: Sie hat einen Ort mit den benötigten Räumlichkeiten für Unterricht, Konzerte und Proben, die finanzielle Unterstützung scheint längerfristig gesichert, die AMR ist gut durch die Coronapandemie gekommen und präsentiert nun wieder ein buntes, interessantes Konzertprogramm. Vor allem aber hat die AMR eine lebendige und engagierte Musikszene im Rücken. Das Engagement der AMR für improvisierte Musik wurde nun auch durch das Bundesamt für Kultur mit dem Spezialpreis Musik 2022 gewürdigt: «Der Verein ist ein Mikrokosmos der Kultur, der Gleichstellung, der Auseinandersetzung und des Wachstums.» schreibt das BAK als Begründung.

 

Nasheet Waits Equality Quartet am AMR Jazz Festival 2013, ©Juan Carlos Hernandez

Brooks Giger sieht Wachstum jedoch nicht als oberste Priorität. «Wir machen schon so viel mit den Konzerten, den Festivals, den Workshops und den Proberäumen. Man braucht nicht unbedingt mehr zu machen. Was wir haben, ist schon ein Bijou, ein Diamant. Den müssen wir auch einfach weiterhin polieren und pflegen.»

Nächstes Jahr wird die AMR 50 Jahre alt. Da wird es natürlich auch noch einige Besonderheiten geben, so sind eine Fotoausstellung in den Bains de Pâquis in Genf und eine Publikation mit Fotos und Essays geplant. Des Weiteren ist ein Dokumentarfilm über die AMR gerade in der Mache. Und natürlich gibt’s im «Sud des Alpes» auch weiterhin einfach viel gute, improvisierte Musik aus Genf, der Schweiz und aller Welt zu hören.
Jaronas Scheurer

 

Die Website der AMR und ihr Konzertprogramm.
Die Laudatio der Jury des Schweizer Musikpreis 2022 für die AMR.
Der YouTube-Kanal der AMR.

Neo-Profile:
John Menoud, d’incise, Alexander Babel, Daniel Zea